Ein Kind um jeden Preis? - Angelika Walser - E-Book

Ein Kind um jeden Preis? E-Book

Angelika Walser

3,9

  • Herausgeber: Tyrolia
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Unfruchtbarkeit ist in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in den Industriestaaten, ein immer größeres Problem geworden. Schätzungen zufolge sind in Europa rund 12 bis 15 Prozent der Paare im fortpflanzungsfähigen Alter ungewollt kinderlos, d. h. jedes fünfte bis sechste Paar ist betroffen. Die Angebote der Reproduktionsmedizin sind verlockend: Künstliche Befruchtung im Reagenzglas und andere Methoden versprechen Abhilfe. Doch diese Eingriffe sind nicht so erfolgversprechend, wie sie angepriesen werden. Zwar werden knapp ein Drittel der Frauen schwanger, doch die Chance, das Kind auf die Welt zu bringen, ist um vieles geringer. Zu den physischen Belastungen, die vor allem die Frau trifft, kommt es auch zu seelischen Problemen für die Partnerschaft. Und viele Paare stellen sich im Laufe dieses Prozesses die Frage, ob sie ihr Handeln verantworten können oder nicht. Denn sie erfahren nach und nach, dass die Befriedigung ihres Bedürfnisses nach einem Kind zahlreiche Probleme, Einschränkungen und Konsequenzen nach sich zieht. Dieses Buch ist für Paare gedacht, die unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch leiden und sich eine Orientierungshilfe wünschen, weil sie der christlichen Gesinnung noch eine Stimme in ihrer Entscheidung einräumen möchten. Es zeigt zunächst die Methoden sowie die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Reproduktionsmedizin auf. Anschließend geht die Autorin auf die Folgeprobleme wie Samen- und Eizellspende, Leihmutterschaft und Präimplantationsdiagnostik ein und stellt die katholische und evangelische Position zur künstlichen Befruchtung vor. Ein Kapitel ist vor allem den Frauen gewidmet. Darin führt die Autorin aus, wie Frauen, deren Körper maßgeblich betroffen ist, zu ihrer eigenen Stimme finden, um selbstbestimmt zu entscheiden. Das letzte Kapitel zeigt Alternativen wie Adoption auf bzw. wie ein Leben ohne Kinder glücken kann.

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ANGELIKA WALSER

EIN KIND UM JEDEN PREIS?

Unerfüllter Kinderwunschund künstliche Befruchtung

Eine Orientierung

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2014

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien

ISBN 978-3-7022-3332-7 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3358-7 (E-Book)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyroliaverlag.at

INHALT

Ein persönliches Vorwort

1. DIE ERFAHRUNG DES UNERFÜLLTEN KINDERWUNSCHES

Einige Fakten und Ursachen

Wieso eigentlich der Wunsch nach einem Kind?

2. REPRODUKTIONSMEDIZIN ALS LÖSUNG?

Methoden, Erfolg und Risiken der Reproduktionsmedizin

Rechtliche Rahmenbedingungen in Österreich, der Schweiz und Deutschland

Ökonomische Rahmenbedingungen in Österreich, der Schweiz und Deutschland

3. ETHISCHE ÜBERLEGUNGEN

Prokreative Freiheit und reproduktive Autonomie

Verantwortung und Fürsorge für ein Kind

4. ETHISCHE FOLGEPROBLEME DER REPRODUKTIONSMEDIZIN IN DER DISKUSSION

Heterosexuelle und homosexuelle Elternschaft

Samen- und Eizellspende

Embryonenspende, Leihschwangerschaft und Leihmutterschaft

Ungeborenes Leben

Präimplantationsdiagnostik

Verbrauchende Embryonenforschung

5. POSITIONIERUNGEN

Die katholische Position: Lehramtliche Dokumente und philosophisch-theologische Argumente

Die evangelische Position: Lehramtliche Dokumente und philosophisch-theologische Argumente

Feministische und geschlechtersensible Positionen

6. KOMPETENZEN FÜR EINE VERANTWORTETE UND SELBSTBESTIMMTE ENTSCHEIDUNG: DIE SUCHE NACH DER EIGENEN STIMME

Wahrnehmungskompetenz

Deutungskompetenz

Intersubjektive/kommunikative Kompetenz

Moralisch-normative Kompetenz

7. DIE FRAGE NACH ALTERNATIVEN MÖGLICHKEITEN DES UMGANGS MIT UNERFÜLLTEM KINDERWUNSCH

Alternative Therapien

Adoption

Verzicht auf Kinder

Ein persönliches Nachwort und Danksagung

Anmerkungen

EIN PERSÖNLICHES VORWORT

Irgendwo im großen Wiener Allgemeinen Krankenhaus stand vor vielen Jahren eine Wartebank vor einer der Ambulanzen in der Klinischen Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. Auf dieser Wartebank habe ich damals Platz genommen – in der Hand die Überweisung meines Frauenarztes zur „Abklärung der Ursache des unerfüllten Kinderwunsches“. Ich erinnere mich noch genau daran, welche Frauen den Wartesaal damals betreten und schließlich wie die Hühner auf der Stange neben mir Platz genommen haben: direkt neben mir eine Dame im grauen Business-Look, die die ganze Zeit nervös auf ihrem Notebook herumtippte und vollkommen abwesend zu sein schien; neben der Business-Lady eine Ausländerin mittleren Alters mit Kopftuch, die ich als Türkin zu identifizieren glaubte und die leise mit ihrem Mann sprach. So unterschiedlich wir drei waren – die Business-Lady, die Türkin und ich – wir hatten offensichtlich alle drei dasselbe Problem. Irgendwo in unserer Krankenakte tauchte das Wort „infertil“ auf. Wir wünschten uns ein Kind, doch ging unser Wunsch nicht in Erfüllung.

Als ich später zur Entfernung eines Myoms stationär im AKH aufgenommen wurde, lernte ich noch viele andere Frauen kennen, die mir die Augen für die Tatsache öffneten, dass ein unerfüllter Kinderwunsch weder auf ein gewisses Alter noch auf eine gewisse Schicht beschränkt sind. Da waren „mittelalterliche“ Akademikerinnen wie ich; da waren aber auch ganz junge Frauen, Angestellte in leitender und nichtleitender Position, Hausfrauen und Lehrerinnen, Supermarktverkäuferinnen, Pferdeliebhaberinnen aus Bosnien, der Türkei, Österreich und Deutschland. In vielen Gesprächen haben wir damals gerätselt: „Warum klappt es nicht? Was machen wir falsch? Was sagt dein Partner dazu? Wie geht ihr damit um? Wie kriegt ihr das hin mit dem Timing?“ Wer schon einmal Patient oder Patientin in einem Krankenhaus war, der weiß, dass man dort mit völlig Fremden manchmal über sehr intime Dinge spricht. Der Schutz des Nichtwissens voneinander und die gemeinsame Situation, in der man sich befindet, erlaubt eine Nähe, die oft nicht einmal vertrauten Menschen vorbehalten ist. So erfuhr ich allerhand von den Abteilungsgenossinnen: Die eine hatte sich einen Hund gekauft, damit „ich wenigstens etwas zum Kuscheln habe“, die andere ein Pferd; die dritte war beschäftigt, die mit den Untersuchungen anfallenden häufigen Aufenthalte in der Klinik vor ihrem Chef zu verschleiern. Die vierte klagte über die mangelnde Sensibilität ihres Mannes, „dem das alles allmählich auf die Nerven geht“. Und die fünfte berichtete mir schließlich in einer stillen Stunde, dass bereits acht Abgänge hinter ihr lagen, dass sie aber unbedingt weitermachen würde, bis sie endlich das ersehnte Kind in den Armen halten würde. Es war dieses Gespräch zusammen mit einer Beratung bei einem freundlichen und besonnenen Arzt der Abteilung, die mich damals zum Entschluss brachten, die IVF für mich nicht in Anspruch zu nehmen. Ich wusste sehr genau, dass ich den psychischen Belastungen mehrfacher Behandlungszyklen nicht gewachsen sein würde. Aus meiner wissenschaftlichen Lektüre als theologische Ethikerin war ich außerdem über die physische Belastung informiert, welche Frauen bei reproduktionsmedizinischen Methoden in unterschiedlichem Maße erwartet. So verließ ich das AKH um ein Myom leichter, aber natürlich auch ohne Kind. Die Untersuchungen waren ergebnislos verlaufen, ebenso die Untersuchungen meines Mannes.

Wir warteten weiter auf ein Kind, das wir angeblich bekommen konnten, aber nicht bekamen. Kurz nach meinem Aufenthalt entschieden wir uns für eine Inlandsadoption und bekamen nach vierjähriger Wartezeit von der Wiener Magistratsabteilung 11 den ersehnten Anruf: „Wir hätten da ein Baby für Sie!“ Wir zogen mit unserer Adoptivtochter in den Wiener Wald, ich erhielt zwei Jahre später ein Stipendium für meine Habilitation, trat eine Stelle an der Universität Wien am Institut für theologische Ethik an – und stellte fest, dass ich schwanger war. Seitdem toben zwei kleine Mädchen bei uns durchs Haus und verlangen uns ab, was alle Kinder ihren Eltern abverlangen: Geduld, gute Nerven, Zeit und Geld und viele schlaflose Nächte.

Ich kenne Paare, die einen anderen Weg gegangen sind als wir und die IVF oder andere Methoden der Reproduktionsmedizin gewählt haben – manchmal waren sie erfolgreich und brauchen heute Geduld, gute Nerven, Zeit und Geld und mehr Schlaf. Andere haben sich irgendwann damit abgefunden, keine Kinder zu bekommen. Manche wollen schlichtweg keine und sind sehr glücklich miteinander, auch ohne Kinder. Andere wiederum betreuen Pflegekinder oder haben Patenschaften in Ländern übernommen, wo Kinder jeden Tag ums Überleben kämpfen.

Was ich damit sagen will: Es gibt keinen Königsweg, um mit dem unerfüllten Kinderwunsch leben zu lernen. Letztlich muss jedes Paar einen Weg für sich finden und dieser Weg ist mühsam, verläuft oft abseits der Leistungsbilanzen und den geglückten Karrieren, die einem im Laufe des Lebens so präsentiert werden. Schmerzen gehören dazu, Wut und Trauer, Sprachlosigkeit und Enttäuschung.

Ethische Überlegungen, um die es auf den folgenden Seiten gehen soll, haben hier zunächst – so scheint es – kaum einen Platz. Ethik als „Kopfarbeit am Guten“ erscheint oft als relativ abstraktes Unternehmen, als nüchtern-rationale Abwägung der eigenen Handlungsziele und ihrer Folgen. Im Gefühlsgemenge eines unerfüllten Kinderwunsches verschaffen sich ethische Reflektionen – wenn überhaupt – nur leise Gehör. Das mag daran liegen, dass ethisches Nachdenken immer eine gewisse Distanz zum eigenen Handeln erforderlich macht, eine Portion Rationalität. Allein mit Wut und Trauer im Bauch lässt sich Ethik nicht betreiben, gänzlich ohne sie aber auch nicht. Der Schmerz oder auch der Zorn darüber, dass etwas nicht so ist, wie es sein soll oder wie wir es zumindest gerne hätten, ist ein starker Antrieb ethischer Reflektion. Ohne diese Erfahrung des Schmerzes verkommt Ethik zu einer Ansammlung formaler Rechtssätze, die dann für „ethical correctness“ sorgen, aber auch seltsam leer und blass bleiben.

Die folgenden Seiten sind also aus der Erfahrung des Schmerzes ungewollter Kinderlosigkeit geschrieben. Sie geben keine Auskunft darüber, wie „man ethisch korrekt mit den Angeboten der Reproduktionsmedizin“ umgeht, noch verstehen sie sich als pure Ansammlung reiner Information. Sie spiegeln das Ringen einer katholisch-theologischen Ethikerin wider, die sich einerseits mit dem vielversprechenden Angebot der Reproduktionsmedizin konfrontiert sieht, andererseits vor den ethischen Problemen, die sich mit dieser Technologie ergeben, aber nicht die Augen verschließen will. Das Attribut „katholisch-theologisch“ spielt insofern eine Rolle, als beide christliche Kirchen, insbesondere die katholische Kirche, der Reproduktionsmedizin skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen und gute Gründe dafür haben. Allerdings bleibt deswegen keinem Paar mit unerfülltem Kinderwunsch – ob christlich oder nicht – das eigene Nachdenken und das Ringen um eine eigene Entscheidung erspart. Um verantwortliche Entscheidungen treffen zu können, muss man letztlich „die eigene Stimme“ finden, wie eine schöne Übersetzung für Autonomie in der feministischen Literatur lautet. Dies ist nicht zuletzt deshalb notwendig, weil man mit seinen Entscheidungen ein ganzes Leben lang leben muss. Im Konzert der vielen Stimmen und unter zunehmend liberalen Rahmenbedingungen heute die ureigene zu finden ist allerdings ein mühsamer Weg. Wenn dieses kleine Buch auf diesem Weg ein wenig zum Nachdenken beitragen kann und hier und da im Gefühlschaos ein wenig Innehalten schafft, dann hat es seinen Zweck bereits erfüllt.

1. DIE ERFAHRUNG DES UNERFÜLLTEN KINDERWUNSCHES

Einige Fakten und Ursachen

Unfruchtbarkeit ist in den letzten Jahrzehnten, insbesondere in den Industriestaaten, ein immer größeres Problem geworden. Schätzungen zufolge sind in Europa ca. 10–15 Prozent der Paare im fortpflanzungsfähigen Alter ungewollt kinderlos, d. h. ca. jedes fünfte bis sechste Paar hat Mühe bei der Erfüllung des Kinderwunsches. 10 Prozent der Paare benötigen länger als zwei Jahre, um Kinder zu bekommen, 3–4 Prozent der Paare bleiben dauerhaft ungewollt kinderlos. Wie schon gesagt – die Zahlen sind Schätzungen, die in der Literatur über ungewollte Kinderlosigkeit immer wieder genannt werden. Tatsächlich sind genaue weltweite, europaweite und länderspezifische statistische Angaben äußerst schwierig zu erhalten, denn erstens kennt die Forschung verschiedene Arten von Infertilität und es ist zweitens davon auszugehen, dass viele ungewollt kinderlose Paare statistisch gar nicht erfasst sind. Jenseits aller Erhebungen kann jedoch als gesichert gelten, dass unfreiwillige Kinderlosigkeit oder Infertilität in den letzten Jahrzehnten weltweit immer mehr als Problem wahrgenommen wird. Die WHO bezeichnet unfreiwillige Kinderlosigkeit bzw. Infertilität bereits offiziell als Krankheit („disease“). Von „Infertilität“ im klinischen Sinne spricht man laut WHO-Definition, wenn nach zwölf Monaten ungeschütztem und regelmäßigem Geschlechtsverkehr keine Schwangerschaft eingetreten ist.1

Die WHO hat die Staaten der UNO aufgefordert, sich dem Problem zu stellen und regelmäßig Berichte über die Bevölkerungsentwicklung vorzulegen. Auch die Wissenschaft bzw. die Medien sind auf das Thema aufmerksam geworden und die kaum überschaubare Flut der empirischen Studien, Publikationen und Artikel über unfreiwillige Kinderlosigkeit und Bevölkerungsrückgang reißt derzeit nicht ab. Versucht man sich einen Überblick zu verschaffen, stellt man sehr schnell fest, wie stark die Publikationen von bestimmten Interessen geleitet werden, so dass die Objektivität von Zahlen und Fakten oftmals erheblich in Frage gestellt werden muss. Soll eine Studie letztlich Handlungsempfehlungen für die Politik erstellen und bestimmte politische Maßnahmen stützen? Werden Studien im Interesse der Pharmaindustrie erstellt? Stehen Lebensschutzaktionen dahinter? Den angeblichen Zahlen und Fakten ist nicht immer zu trauen, daher sollen hier auch keine Studien genannt werden. Klar ist eines: Unfreiwillige Kinderlosigkeit ist ein ernsthaftes individuelles und gesellschaftliches Problem. Die Ursachen sind dabei sehr vielfältig: An erster Stelle wird in der Literatur meist genannt, dass der Kinderwunsch bei Frauen heute in einer späteren Lebensphase auftritt als noch vor 40 Jahren. So ist das Durchschnittsalter bei der Geburt des ersten Kindes in den meisten europäischen Ländern 29 Jahre2 – rein biologisch gesehen bereits nicht mehr die fruchtbarste Phase in einem Frauenleben. Es dauert seine Zeit, bis Frauen ihre Ausbildungen beendet haben, ins Erwerbsleben eingetreten sind und dazu noch den richtigen Partner gefunden haben, mit dem sie gerne Kinder haben wollen. Mithilfe moderner Methoden der Empfängnisverhütung lässt sich Fruchtbarkeit auch lange Zeit gut kontrollieren, so dass das „Projekt Kind“ plan- und steuerbar erscheint. Leider stellt sich nach Absetzen der Verhütungsmaßnahmen oftmals heraus, dass es viel leichter war, eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern, als eine gewollte herbeizuführen.

Das relativ hohe Alter der Erstgebärenden ist aber nur ein Grund unter vielen anderen, der in manchen Abhandlungen leider dazu verwendet wird, Frauen die Schuld zuzuweisen – nach dem Motto: In früheren Zeiten ohne Emanzipation und Selbstverwirklichungsbestrebungen der Frauen war die Welt halt noch in Ordnung … Solchen Behauptungen ist entgegenzuhalten, dass die Wissenschaft heute viele andere gewichtige Gründe nennt, weshalb immer mehr Paare über Infertilität klagen: So wächst der seriös begründete Verdacht, dass sich Umweltgifte, insbesondere Pestizide, ungünstig auf das sensible Hormonsystem von Männern und Frauen auswirken. Dazu kommen Abgase, Schwermetalle und weitere Umweltgifte. Leider müssen Umweltmediziner feststellen, dass trotz der sich mehrenden wissenschaftlichen Hinweise auf den Zusammenhang von Schadstoffbelastung und Unfruchtbarkeit der politische Wille und die finanziellen Ressourcen fehlen, um in aufwändigen Studien diesen Zusammenhang wissenschaftlich zweifelsfrei belegen zu können. Die Ergebnisse dieser Studien wären möglicherweise unangenehm für Industrie, Wirtschaft und Politik gleichermaßen. So muss es fürs erste bei der Feststellung bleiben, dass die männliche Spermienqualität weltweit in den letzten Jahrzehnten stetig abnimmt, wobei hier nicht nur Umweltgifte eine Rolle spielen: Nikotin, Alkohol, Übergewicht und Stress sind ebenfalls Faktoren, die zu den andrologischen Ursachen von Infertilität gehören. Dazu kommen Entzündungen, Infektionen, Fehlbildungen und Verletzungen der Samenleiter und Hoden, die manchmal bereits in der Kindheit angelegt wurden und nie erkannt worden sind. Heute wird davon ausgegangen, dass die Ursachen für Infertilität in etwa zu gleichen Teilen bei Mann oder Frau bzw. bei beiden gemeinsam liegen, wobei es neben dem bereits genannten sozialen Grund – dem hohen Alter der Erstgebärenden – und den ökologischen Gründen meist handfeste medizinische Gründe gibt, weshalb sich der Kinderwunsch nicht erfüllen will: So rückt in letzter Zeit die zweithäufigste Krankheit bei Frauen im gebärfähigen Alter, die Endometriose, in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Endometriose ist eine gutartige chronische Krankheit, bei der sich Teile der Gebärmutterschleimhaut im Bauchraum ansiedeln und nicht nur extreme Menstruationsschmerzen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr verursachen, sondern auch in vielen Fällen Kinderlosigkeit.3 Dazu kommt eine ganze Palette von Ursachen bei der Frau, die schon länger bekannt ist, wie Schädigungen der Eierstöcke und Eileiter, Infektionen und andere Erkrankungen, Chromosomenanomalien u. v. a. Manchmal werden auch psychische Ursachen genannt, doch sollte man mit Diagnosen in diesem Bereich besonders vorsichtig sein, weil sie gerne von selbst ernannten Hobbypsychologen und -psychologinnen beansprucht werden, um kinderlosen Paaren Schuldgefühle zu verursachen und ihr ohnehin schon beeinträchtigtes Selbstwertgefühl erheblich herabzusetzen. Auch von Selbstdiagnosen im psychischen Bereich ist – genau wie bei jeder anderen Ursachenforschung – abzuraten! Zunächst einmal sollten bei der Suche nach der Ursache für einen unerfüllten Kinderwunsch die Fachleute der medizinischen Fachabteilungen aufgesucht werden. Durchaus häufig kann die Ursache jedoch nicht ermittelt werden, so dass rein medizinisch auch keine Maßnahmen eingeleitet werden können. Alternativtherapeutische Maßnahmen – angefangen von Homöopathie bis hin zu Bachblütentropfen – können dann dem Gefühl entgegenkommen, „etwas machen zu wollen“. Viele Paare entscheiden sich jedoch aus dem Bedürfnis heraus, etwas zu unternehmen und „weil das Angebot ja existiert“, für die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Methoden.

Wieso eigentlich der Wunsch nach einem Kind?

Mit jedem Kind beginnt die Welt ganz neu. Hier wird ein Anfang gemacht, der all die Hoffnung und den Zauber in sich birgt, die Anfänge immer begleiten. Die Philosophin Hannah Arendt hat dies mit dem Begriff der „Natalität“ (= Geburtlichkeit) ausgedrückt, der die Fähigkeit jedes Neuankömmlings auf dieser Welt zum Ausdruck bringt, auf unüberbietbare Weise seinen persönlichen Lebensfaden in die großen Netze des Lebens einzufädeln4. Ein neugeborenes Kind steht symbolisch für diese Möglichkeit des absoluten Neubeginns und so ist es kein Wunder, dass der Kinderwunsch Hand in Hand mit Phantasien und Sehnsüchten geht, die sich – wie alle Wünsche und Sehnsüchte – wenig an der Realität orientieren. So manches an diesem Wunsch würden Psychotherapeuten wohl als Projektion bezeichnen. Nichtsdestoweniger ist der Kinderwunsch vermutlich einer der bedeutendsten und tiefsten Wünsche, die Menschen haben können. Er ist in gewissem Sinne die Sehnsucht nach dem Neuanfang der Welt im eigenen Leben. Natürlich gibt es weitere Gründe für den Kinderwunsch, und die folgende Liste beansprucht sicher keine Vollständigkeit und kann individuell fortgeführt werden: Da ist der Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und etwas von dem weiterzugeben, was man selbst als wertvoll erlebt; da ist die Lust auf Zukunft, auf Neues, auf Entdeckungen aller Art und auf Abenteuer, die Lust auf Spiel und zweckfreie Freude. Wo in einer durchgestylten und durchgetakteten, oft zermürbenden westlichen Arbeitswelt lässt sich diese zweckfreie Freude noch erfahren? Kinder bringen Chaos und Anarchie ins Leben, aber eben auch neue Ideen, neue Entdeckungen und neue Ansichten. Sie kosten ihren Eltern den letzten Nerv, aber lehren sie viel über das Leben und über sich selbst. Gestresste Manager mögen teure Outdoor-Aktivitäten und Selbsterfahrungskurse buchen – Eltern bekommen dasselbe normalerweise gratis auf dem Spielplatz.

Insbesondere für Frauen spielt auch der Wunsch eine Rolle, sich selbst als „schwanger“ und damit als kreativ in einem nie gekannten Ausmaß zu erfahren. Ein verändertes Körpergefühl und die „Erdenschwere“ einer Schwangerschaft sowie das einmalige Gefühl, zumindest für einige Monate „Zwei-in-Einer“ zu sein, ist eine Erfahrung, die viele Frauen gerne machen möchten, vorausgesetzt, dass es ihnen gut geht und sie die Zeit der Schwangerschaft wirklich genießen können. Immer wieder berichten Frauen leider auch, dass sie als Schwangere zum ersten Mal wirklich explizit Beachtung und Zuwendung bzw. Respekt erfahren haben. Tatsächlich ist die Rolle der Mutter traditionell eine hochgeachtete Rolle, die manche Frau auf wohltuende Weise vergessen lässt, wie wenig geachtet und beachtet sie als Nicht-Mutter in Familie und Arbeitsplatz war. Kinderlose Frauen gelten zumindest in der deutschsprachigen Welt nach wie vor häufig als „karrieregeil“ und machtbesessen und diese Beurteilung ändert sich leider nur langsam.

Angesichts der vielen Facetten des Kinderwunsches wird klar: Die Sehnsucht nach einem Kind ist nie ausschließlich nur der Wunsch nach einem Kind um des Kindes willen – sozusagen zu seinem eigenen Wohl –, sondern selbstverständlich immer auch ein Wunsch der Eltern, der sich mit vielen anderen Wünschen verknüpft. Die Vorstellung, Kinder dürften ausschließlich nur um ihrer selbst willen gewollt werden, war und ist eine fromme Illusion. Früher wünschten sich auch in unseren Breitengraden Bauernfamilien viele Kinder, um für den anstrengenden Arbeitsalltag viele Helfer und im Alter eine Absicherung zu haben und der Wunsch nach Beistand im Alter spielt auch heute noch für viele Menschen eine Rolle, wenn sie sich Kinder wünschen.

Es gibt auch Motive für den Kinderwunsch, über die man durchaus nachdenken und diskutieren sollte: der Wunsch, eine kaputte Beziehung durch ein Kind zu kitten; der Wunsch, wenigstens einen Menschen zum Kuscheln zu haben; der Wunsch nach Macht und Kontrolle über jemanden, der zumindest zeitweise abhängig von den Erwachsenen ist; der Wunsch, ein kaputtes Selbstwertgefühl mithilfe der Selbstbestätigung durch ein Kind zu reparieren. Sich selbst solch fragwürdige Motive einzugestehen und die psychische Ursache für solche Impulse verstehen zu lernen, ist außerordentlich schwierig und ohne therapeutische Hilfe von außen fast unmöglich. Eine Klärung ist jedoch deshalb notwendig, weil ein kleiner Mensch weder Spielball noch Kuscheltier ist und – frei nach Kants Definition von Menschenwürde – nicht ausschließlich Mittel zum Zweck werden darf.

Mit solchen Gedanken verbunden ist eine wichtige Erkenntnis: Der Wunsch nach einem Kind ist nicht einfach vergleichbar mit anderen Wünschen. Es geht hier neben dem berechtigten Wunsch nach einem eigenen glücklichen Leben um eine weitere Person, die das eigene Leben zwar nachhaltig verändern wird, aber grundsätzlich auch ihrerseits und völlig berechtigt Ansprüche stellt und stellen darf. Diese Erkenntnis ist letztlich der Grund, weshalb man ethisch aus dem noch so großen Wunsch nach einem Kind noch kein Recht auf ein Kind ableiten kann.

Bevor diesem Gedanken aber nachgegangen werden soll, sei fürs Erste das Wohl von Paaren in den Blick genommen, die sich ein Kind wünschen. Wie zu Beginn dieses Kapitels gesagt: Der Wunsch nach einem Kind ist ein tiefer und ernster Wunsch. Es gibt gute Gründe, ihm Priorität einzuräumen und die Ethik spricht nicht umsonst vom Kinderwunsch als einem „primordialen Wunsch“, also einem Wunsch allererster Ordnung. „Sich Kinder wünschen“ ist etwas anderes als „sich gut kleiden wollen“ oder „immer etwas Gutes zu essen haben“. Der Kinderwunsch verweist auf tiefe Bedürfnisse, die vermutlich allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur oder Herkunft eigen sind: Ein Kind verleiht einer Liebesbeziehung buchstäblich Ausdruck, lässt sie gewissermaßen Fleisch und Blut werden. Es bestätigt eine Liebesbeziehung und übersteigt sie gleichzeitig auf eine weitere Person hin; ein Kind verbindet die Reihe der Generationen und lässt seine Eltern zum Glied in der langen Kette des Lebens werden, die sich vom Gestern nach Morgen spannt; in einem Kind bleibt auf der Welt etwas von seinen Eltern zurück, auch wenn diese schon lange nicht mehr da sind. Es schenkt dem eigenen vergänglichen Leben daher einen tiefen Sinn, der in den Mühen des Alltags oft selten aufblitzt, aber nichtsdestotrotz vorhanden ist und von jedem, der sich Kinder wünscht, erahnt wird. So gesehen ist der Kinderwunsch in gewissem Sinne Ausdruck des Wunsches nach Unsterblichkeit.

Angesichts des bisher Gesagten ist es kein Wunder, dass Paare, die sich aus ganzem Herzen ein Kind wünschen und keines bekommen, in eine schwere und umfassende Krise geraten können, die an den Tiefen der Existenz rütteln kann. Sie betrifft die eigene psychische und möglicherweise auch physische Gesundheit und hat Auswirkungen sozialer und letztlich sogar spiritueller Art.

Eine besondere Schwierigkeit stellt dabei die Tatsache dar, dass sich die Erinnerung an den unerfüllten Kinderwunsch zumindest bei Frauen sozusagen körperlich im Takt einstellt. Die allmonatlichen Schmerzen der Menstruation erinnern in sehr eindrücklicher Weise an die nach wie vor existierende Leere im Bauch. Viele Ratgeber und Websites berichten von der Verzweiflung von Frauen, sich immer wieder aufs Neue bei der monatlichen Blutung dem Entrinnen des Lebens stellen zu müssen. Tatsächlich: Die Erfahrung ungewollter Kinderlosigkeit ist vergleichbar mit einer immer wiederkehrenden Erfahrung des Todes, ist die Erfahrung des „Nichts“, dem die meisten Menschen in ihrem Leben normalerweise und mit gutem Grunde sehr gerne aus dem Weg gehen. Wo „etwas“ sein sollte, ist „nichts“. Wo neues Leben wachsen sollte, wächst nichts.5 Die Pläne für ein schönes Leben mit einer Familie platzen alle vier Wochen erneut wie eine Seifenblase. Übrig bleiben Ohnmacht, Frustration, manchmal auch Zorn auf sich selbst und auf den Partner: Warum funktioniert nicht, was doch angeblich die natürlichste Sache der Welt ist? Wer ist schuld, er oder sie oder beide? Soll man oder frau „es“ einmal mit einem anderen Partner/einer anderen Partnerin ausprobieren? Und: Warum bekommen Leute Kinder, die offensichtlich dazu völlig ungeeignet sind? Leute, die ihre Kinder quälen und missbrauchen? Warum man selbst nicht? Gibt es irgendwelche verborgenen Ursachen – einen Gendefekt in der Familie, einen Defekt in der eigenen Psyche? Die Suche nach der Ursache kann qualvolle und selbstzerstörerische Züge annehmen.

Vor allem Frauen berichten von zunehmendem Zorn und sogar Hass auf den eigenen Körper: Wieso kann dieser Körper, in dem man sich bisher durchaus zuhause gefühlt hat, einem anderen kleinen Körper keinen Schutz und Geborgenheit bieten? Man bereitet sich doch auf die Möglichkeit einer Schwangerschaft vor, ernährt sich gesund, treibt Sport usw.? Wieso verweigert er eine Schwangerschaft und spült Monat für Monat nutzlose Keimzellen aus? Stimmt etwas nicht mit ihm? Liegt es etwa an der Beziehung, die zu Unfruchtbarkeit verdammt scheint?

Partnerschaften werden durch den unerfüllten Kinderwunsch in erheblichem Maße belastet und auf die Probe gestellt. Dies betrifft auch das Sexualleben von Paaren. Wo früher Intimität, Zärtlichkeit und Lust herrschten, regieren jetzt diverse Methoden und Instrumente der Fruchtbarkeitsmessung. Genauestens wird die Zeit des Eisprungs bestimmt, und selbstverständlich ist „Sex nach Plan“ nun an der Tagesordnung. Spontaneität ist hier ebenso wenig möglich wie die Erlaubnis zu Lustlosigkeit. Alles wird dem Diktat des Eisprungs untergeordnet. Sollte es „wieder nicht geklappt haben“, regieren Selbstbeschimpfung oder Zorn auf den anderen.