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Was sagt die Bibel? Was sagt der Koran? Im interreligiösen Dialog für ein tieferes Lebensverständnis Ein Buch steht jeweils im Zentrum ihres Glaubens: Bei den Christinnen und Christen ist es die Bibel, die Musliminnen und Muslime greifen zum Koran. Beide Heilige Schriften haben eine große Bedeutung, zeigen überraschend viele Parallelen in ihren Grundthemen, Fragen und Figuren auf und kommen trotzdem (allein schon entstehungsbedingt) zu unterschiedlichen Ausführungen. Was sagen die Bibel und der Koran zum Gewissen, Staat, Frieden, zur Schöpfung, Gewalt, zu Frauen, Gender und Homosexualität usw. – also allgemein zu Fragen des Lebens? Die katholisch-theologische Ethikerin Angelika Walser (Universität Salzburg) und der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide (Universität Münster in Westfalen) geben in diesem Buch die jeweiligen Antworten ihrer Heiligen Schrift in übersichtlicher und gut lesbarer Form.
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Seitenzahl: 146
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Angelika Walser
Mouhanad Khorchide
Eine Gegenüberstellungzu Fragen des Lebens
Herausgegeben von denSalzburger NachrichtenRedaktion Josef Bruckmoser
Vorwort
Gott und Welt
Schöpfung
Himmel
Hölle
Gott
Göttin
Verantwortung und Schicksal
Kismet
Fasten
Gewalt
Frieden
Wunder
Gut und Böse
Gewissen
Das Böse
Nächstenliebe
Barmherzigkeit
Erlösung
Mann und Frau
Adam und Eva
Gender
Frauen
Maria
Homosexualität
Wir und die Anderen
Fremde
Ungläubige
Juden
Staat
Macht
Dank
Verwendete Abkürzungen der biblischen Bücher
Verwendete griechische Wörter
Bibel und Koran – größer könnten die Gegensätze nicht sein. Christentum und Islam – da geht viel mehr gegeneinander als miteinander. Das ist der erste Eindruck, wenn es um die beiden Religionen geht, die mit dem Judentum ein gemeinsames Schicksal teilen: Sie gründen auf einem Buch, einer „heiligen Schrift“. Beinahe 2000 Jahre haben Christinnen und Christen ihre Bibel wortwörtlich verstanden. Evangelikale Gruppierungen halten bis heute daran fest, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe. Ebenso sind viele Musliminnen und Muslime überzeugt, dass der Engel Gabriel dem Propheten Muhammad die Verse des Korans Satz für Satz diktiert habe. Wort von Allah, nur im arabischen Original gültig.
Was sagen Bibel und Koran wirklich zu zentralen Fragen des Lebens und des Glaubens? Und was ist davon heute – noch – gültig? Wie kann, darf oder soll eine Bibelstelle, ein Koranvers heute ausgelegt werden?
Die katholisch-theologische Ethikerin Angelika Walser, Salzburg, und der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide, Münster, ringen in diesem Buch um eine zeitgemäße und verständliche Auslegung von Bibel und Koran. Sie tun das immer im Blick auf die jeweils andere Religion und in dem Bemühen, neben dem Trennenden und Gegensätzlichen das Verbindende und Gemeinsame zu sehen. Angelika Walser legt in Zusammenarbeit mit der Bibelwissenschafterin Marlies Gielen eine Auslegung der Bibel vor, die wissenschaftlich verlässlich Antworten auf die Fragen von heute gibt. Mouhanad Khorchide gehört zu jenen führenden Islam-Experten, die genau unterscheiden zwischen dem, was im Koran historisch bedingt und daher nicht mehr wortwörtlich gültig ist, und was der Koran den Menschen des 21. Jahrhunderts zu sagen hat.
Dieses Buch, das auf eine Reihe von Kolumnen in den „Salzburger Nachrichten“ zurückgreift, wirft einen völlig neuen Blick auf die beiden „heiligen Bücher“, auf ihre Bedeutung und ihre Auslegung. „Bibel trifft Koran“ ist eine einzigartige Zusammenschau, die es bisher in dieser Form nicht gegeben hat. Im Zentrum steht ein Verständnis von Bibel und Koran, das einem menschenwürdigen Leben und Glauben auf der Höhe der Zeit dient.
Josef Bruckmoser
Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Gott erschuf den Menschen als sein Bild; als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.
Bibel, Gen 1,26.27
Der Anfang der Welt und des Lebens ist zu Beginn der Bibel zwei Mal nacheinander und auf ganz unterschiedliche Weise überliefert: in Gen 1 und 2. Beide Kapitel enthalten weder naturwissenschaftliche noch historische Fakten. Sie erzählen vielmehr von einer mythischen Urzeit, also von Grundgegebenheiten des Menschen und der Welt in ihrer Beziehung zu ihrem Schöpfer. Gen 1,26–28 entstammt der im 6. Jahrhundert v. Chr. im babylonischen Exil verfassten „Priesterschrift“. Diese ist eine Quellenschrift des Alten Testaments, die ihre Namensgebung ihrem Interesse an der Erhaltung des rechten Kults verdankt. Ihre Verfasser setzen den Götterkämpfen des babylonischen Schöpfungsmythos ihre Idee eines einzigen Schöpfergottes entgegen: Der Mensch wird als Teil seiner Schöpfung vorgestellt, wobei ihm eine Sonderstellung zukommt. Im Gegensatz zu den Göttern der altorientalischen Welt, die in Kultstatuen verehrt wurden, ist laut dem hebräischen Urtext der Mensch „Statue Gottes“, was in der griechischen Übersetzung mit „Bild Gottes“ wiedergegeben wird. In Ägypten und Assyrien wurde außerdem der Pharao oder der König als Repräsentant Gottes auf Erden verehrt. Er sollte die göttliche Weltordnung beschützen und verteidigen.
Die Priesterschrift wendet die Metapher „Statue Gottes“ nun auf alle Menschen an – eine einzigartige Demokratisierung und Aufwertung, deren Konsequenzen noch in Ethik und Recht des 21. Jahrhunderts wirksam sind. Jeder Mensch, von der Bettlerin auf Salzburgs Straßen über den Flüchtling bis zum Transsexuellen, ist kraft seines Geschaffenseins „Statue Gottes“ und damit seine Repräsentantin, sein Repräsentant. Allein die Tatsache, dass Frauen entgegen Vers 27 und auf Basis einer neutestamentlichen Stelle (1 Kor 11,7) bis ins 20. Jahrhundert hinein nur eine „abgeleitete Gottebenbildlichkeit“ vom Mann zugestanden wurde, zeigt, wie sehr Bibelverse die herkömmliche Geschlechterordnung durcheinanderbringen können.
Um die vertraute Unterordnung der Frau zu wahren, beriefen sich die Kirchenväter lieber auf den zweiten, historisch gesehen älteren Schöpfungsbericht, in dem Gott zunächst einen „Erdling“ formt (’ādāmāh heißt Erde), ihm den Lebensatem einhaucht und aus einer seiner Rippen „die Frau“ erschafft. Diese Aussage wird in der heutigen theologischen Ethik unter Berufung auf Gen 2,23 im Sinne der Verwandtschaft und Gemeinsamkeit zwischen den Geschlechtern interpretiert – und eben nicht im Sinne von Nachrangigkeit und Unterordnung der Frau. Dass das paradiesische Geschlechterverhältnis zwischen Adam und Eva leider nicht von Dauer ist, davon erzählt Gen 3, der „Fall des Menschen“.
In Gen 1 ist von all dem nicht die Rede. Nachdem der Schöpfergott in Vers 28 alles Lebendige unter seinen Segen gestellt hat, erteilt er seinen „Bildern“ den Auftrag, sich die Erde „untertan“ zu machen, wie es die Lutherbibel übersetzt hat. Dies ist fälschlicherweise immer wieder als Freibrief für Ausbeutung missverstanden und dem jüdisch-christlichen Erbe als Ursache für die ökologische Krise angelastet worden. Tatsächlich steht im hebräischen Text die Anweisung an die königlichen Menschen: „Setzt euren Fuß auf sie!“ Dies ist ein durchaus ambivalentes Bild, das jedoch von gesundem Realismus zeugt: Menschen haben de facto die Macht, die Schöpfung zu zerstören. Doch wird ihnen die Verantwortung anvertraut, das Lebenshaus Gottes mit allen Geschöpfen zu bewahren, um es dem Schöpfer irgendwann heil wieder zurückgeben zu können.
Und wahrlich, wir erschufen den Menschen aus einer Substanz aus Lehm. Alsdann setzten wir ihn als Samentropfen an eine sichere Ruhestätte. Dann bildeten wir den Tropfen zu einem Blutklumpen; (…) dann bildeten wir aus dem Fleischklumpen Knochen; dann bekleideten wir den Menschen mit Fleisch; dann entwickelten wir es zu einer anderen Schöpfung.
Koran, Sure 23:12–14
Diese Verse stammen aus der mekkanischen Phase, in der der Koran immer wieder die Allmacht Gottes als Schöpfer des Menschen betonte. Daher werden die Entstehungsphasen des Embryos ausführlich beschrieben. Die traditionelle Exegese hat sich dabei auf unterschiedliche Aspekte konzentriert. Im Mittelpunkt stand die Frage nach der endgültigen Menschwerdung des Embryos. Einen Anhaltspunkt sahen die Exegeten in Sure 23, Vers 14: „… dann entwickelten wir es zu einer anderen Schöpfung.“ Dies wurde als Übergang zum Menschen interpretiert, dem nun in einem letzten Schritt Gottes Geist eingehaucht wird. Erst durch dieses Einhauchen, das an anderer Stelle im Koran erwähnt wird, soll der Mensch endgültig zum Menschen geworden sein. Einige Gelehrte meinten, dies geschehe 40 Tage nach der Befruchtung, andere sprechen von 120 Tagen. Beide Parteien berufen sich zudem auf unterschiedliche Aussagen des Propheten Muhammad, deren Authentizität jedoch umstritten ist.
Im 20. Jahrhundert etablierte sich die „wissenschaftliche Exegese“. Diese versucht in einer gewissen Apologetik zu zeigen, dass im Koran naturwissenschaftliche Phänomene beschrieben werden, die erst die moderne Wissenschaft bestätigen konnte. Darin sehen einige ein Beglaubigungswunder für den Koran, denn wenn dieser Detailerkenntnisse beinhalte, zu denen die Menschen im 7. Jahrhundert keinen Zugang haben konnten, dann müsse dieses Buch einen göttlichen Ursprung haben. Allerdings brachte diese Art der Exegese manche Exegeten in Verlegenheit, da sie ihre Auslegungen den Entwicklungen der Naturwissenschaften immer wieder anpassen mussten. Nicht selten kamen sie dadurch zu widersprüchlichen Aussagen, die sie aus dem Koran abgeleitet haben wollen. Man denke an lange Diskussionen darüber, ob die Erde rund oder flach sei. Was nun die in den oben zitierten Versen dargestellten Entwicklungsphasen des Embryos betrifft, so zeigt eine historisch-kritische Betrachtung, dass diese im 7. Jahrhundert keineswegs etwas Neues waren. Vielmehr wurden sie bereits von dem griechischen Arzt Galen im 2. Jahrhundert in ähnlicher Abfolge beschrieben. Der Koran baut hier also auf dem Vorwissen der Gemeinde auf, um die Schöpferkraft Gottes zu betonen. Hatte die wissenschaftliche Exegese im 20. Jahrhundert ihre Blütezeit, wird sie heute stark kritisiert, weil ihre Erkenntnisse sehr vage und zum großen Teil apologetischer Natur sind.
Viele heutige Exegeten sehen in solchen koranischen Versen, die Naturphänomene ansprechen, eine Einladung, sich wissenschaftlich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen. Es liegt nicht in der Absicht des Korans, wissenschaftliche oder historische Erkenntnisse zu liefern, sondern die Menschen anzuhalten, sich wissenschaftlich damit zu beschäftigen. Gerade wenn es um die Schöpfung geht, soll durch solche Verse gezeigt werden, dass Gott nicht zaubert, sondern die Schöpfung durch Naturgesetze und Gesetzmäßigkeiten hervorbringt, die er in die Welt gesetzt hat. Viele moderne Exegeten sehen eine konstruktive Brücke darin, die Rede von der Schöpfung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinbaren. Daher gibt es heute eine Reihe von Gelehrten, die auch von der Evolution als von Gott gewolltem Weg der Entstehung der Schöpfung sprechen. Sufische Exegeten sehen in solchen Versen darüber hinaus einen metaphorischen Verweis auf den Ursprung des Menschen aus einfachen Substanzen (Lehm, Samentropfen), um ihn zu Demut und Bescheidenheit aufzurufen und ihn stets zu „erden“.
Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor? Dieser Jesus, der von euch fort in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen.
Bibel, Apg 1,11
Das griechische Wort „ouranos“ (οὐρανός), der Himmel, kommt im Neuen Testament 274-mal vor, vor allem in der Verbindung mit Jesu Botschaft vom „Königreich Gottes“, das häufig auch als „Reich der Himmel“ bezeichnet wird. Wenn Jesu Jünger in der Apostelgeschichte, die ca. 90 n. Chr. entstanden ist und von der ersten Etappe der Geschichte der Kirche im Römischen Reich erzählt, „zum Himmel empor schauen“, wird das antike orientalische Weltbild vorausgesetzt: Meer, Erde und Himmel bilden miteinander das Weltgebäude. Über der flachen Erdscheibe, die vom Ozean umspült ist, wölbt sich das Firmament gleich einer Schale oder Hohlkugel. Darüber befindet sich der himmlische Ozean (Gen 1,8). Vom Himmel herunter kommt daher das Wasser, die indoeuropäische Wortwurzel von „ouranos“ bedeutet vermutlich „Befeuchter“ oder „Befruchter“. Andererseits hat „Himmel“ in allen alten Kulturen immer auch eine metaphysische Bedeutung im Sinne von: das, was über den Menschen Macht hat, sprich: die Götter.
Vieles im heutigen christlich-himmlischen Personeninventar stammt aus der Welt des Alten Testaments: Der „König, der auf den Wolken reitet“, ist ein Gottesbild, das Israel vom Baalskult der kanaanäischen Religion übernommen hat (Dtn 33,26). Der himmlische Hofstaat des ugaritischen Göttervaters El ist noch heute im Chor der Engel präsent. Einst umfasste er viele Götter, die über den Menschen Gericht hielten (Ps 82). Als sich langsam der Monotheismus durchsetzte, wurden diese jedoch zu JHWHS Dienern degradiert, genau wie die Gestirne am Himmel im Laufe der Geschichte entmythologisiert wurden: von himmlisch-göttlichen Kräften zu den von Gott geschaffenen „Lampen“, mit deren Hilfe man den Kalender berechnen kann (Gen 1,14).
„Im Himmel“, das heißt bei Gott, wohnt auch die hoheitsvolle Gestalt des Menschensohns, dem Gott die endzeitliche Herrschaft über die Erde anvertraut (Dan 7,13 ff.). Im Neuen Testament wird diese Gestalt mit Jesus Christus identifiziert, der als Sohn Gottes „vom Himmel herabgestiegen ist“ und wieder in die göttliche Lichtwelt hinaufsteigt. Dort bereitet er im Haus seines Vaters eine Wohnung für all jene vor, die an ihn glauben (Joh 14,2). Die rabbinische Tradition bezeichnet diese paradiesische Nähe zu Gott als den „siebten Himmel“.
Von dieser Einsicht bis zu den ersten ökumenischen Konzilien mit ihrem Glaubensbekenntnis zu Jesus Christus als dem wahren Menschen und wahren Gott (endgültig Chalcedon 451 n. Chr.) dauert es noch Jahrhunderte, doch liegt hier eine der biblischen Wurzeln. Wenn der Mensch Jesus in den Himmel auffährt, heißt das, er gehört eindeutig auch auf die Seite Gottes. Für christliche Spiritualität ist das bis heute bedeutsam: Himmlische Aufwärtsbewegung ist undenkbar ohne Einsatz auf dem Boden irdischer Tatsachen.
Siehe, für die Gottesfürchtigen gibt es [im Paradies] Gewinn: Obstgärten und Weinstöcke, und gleichaltrige Frauen mit schwellenden Brüsten, und Becher, bis zum Rand gefüllt. Weder Geschwätz noch Lüge hören sie dort, als Lohn von deinem Herrn, als Gabe, als Entgelt vom Herrn der Himmel und der Erde und dessen, was dazwischen ist, vom Erbarmer.
Koran, Sure 78:31–37
Der zitierte Vers stammt aus der frühmekkanischen Phase zu Beginn der Verkündigung Muhammads. Die üppigen Beschreibungen des Paradieses sind kennzeichnend für diese erste Phase, da sie mit dem Lebensstil und den Erwartungen der Adressaten Muhammads in dieser Periode korrespondieren. Der Koran verwendet dabei für die Bezeichnung des Paradieses hauptsächlich das arabische Wort „Dschanna“, das bereits in der vorislamischen Poesie für „Garten“ verwendet wurde. Während allerdings die koranischen Schilderungen in der gesamten mekkanischen Periode (610–622) das Paradies als Ort sinnlicher Genüsse erscheinen lassen, nimmt in der medinensischen Periode (622–632) die geistige Dimension zu, welche die Gottesnähe anspricht.
Innerhalb der klassischen Exegese trifft man auf ein wortwörtliches Verständnis. Entsprechend fasst sie das Paradies im materiellen Sinne als Raum der physischen Vergnügungen auf. Die Diskussion innerhalb der systematischen Theologie darüber, ob die Wiederauferstehung am Jüngsten Tag eine physische (den Körper betreffend) oder rein geistige (die Seele betreffend) sei, wurde in der Exegese weniger reflektiert. In der islamischen Mystik finden wir hingegen Auslegungen des Paradieses, die darin eine rein metaphorische Rede sehen. Denn es gehe nicht um sinnliche Genüsse, sondern um eine bildhafte Beschreibung vom Zustand der Glückseligkeit in Gottes Nähe. Die Mystikerin Rābi’a al-’Adawiyya (gest. 801) brachte dies in ihrer berühmten Aussage auf den Punkt: „Ich würde so gerne das Höllenfeuer löschen und das Paradies mit Feuer anzünden, damit die Menschen nicht aus Angst vor der Hölle bzw. Hoffnung auf das Paradies handeln.“ Vielmehr sollen die Menschen aus Liebe und im Nachvollzug der göttlichen Liebe ethisch korrekt handeln. Auch der Gelehrte Al-Gazali (gest. 1111) sieht die endgültige Glückseligkeit in der Nähe zu Gott, das Gelangen in seine Gegenwart sei der wahre paradiesische Zustand. Alle koranischen Bilder vom Paradies liest er als metaphorische Rede für diesen Zustand der Gottesnähe.
Diese Auslegung Al-Gazalis würden heute nur wenige Exegeten teilen. Das Paradies wird weiterhin vorwiegend als materieller Raum der sinnlichen Genüsse verstanden. Einige religiöse Erzieher setzen die Rede vom Paradies gar als Motivation für mehr Religiosität ein. Dabei ist hoch problematisch, dass dadurch das Gute nicht um des Guten willen angestrebt wird, sondern wegen der erwarteten Belohnung. Die Gott-Mensch-Beziehung wird auf reine Nützlichkeit reduziert, man betet Gott an, um zu den materiellen Vergnügungen im Paradies zu gelangen. Daher sieht Al-Gazali in dieser Form der Beziehung zu Gott den Monotheismus bedroht, weil es weniger um Gott und die Liebe zu ihm an sich geht, sondern um den Nutzen aus der Beziehung des Menschen zu Gott.
Extremistische Gruppierungen setzen heute die Rede vom Paradies verstärkt dazu ein, um vor allem junge Menschen zu rekrutieren. Dabei ist die Rede von den vielen paradiesischen Jungfrauen für junge Männer eine wichtige Motivation. Im Gegensatz dazu ist die mystische Lesart der koranischen Bilder vom Paradies wichtig, um sich in einem anderen Horizont als dem der sinnlichen Genüsse zu bewegen. Das Paradies als Zustand der Nähe zu Gott zu lesen – auch hier und jetzt auf der Erde, indem man im Alltag als „Hand Gottes“, als Hand der Liebe und Barmherzigkeit handelt –, verleiht der Rede vom Paradies eine zugleich spirituelle und soziale Dimension. Diese kann dem Gläubigen zu seiner inneren Vervollkommnung verhelfen.
Dann wird er zu denen auf der Linken sagen: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“
Bibel, Mt 25,41
Mit Feuer spielt der zitierte Vers auf ein im Süden Jerusalems gelegenes Tal an, das für Kinderopfer verwendet wurde. In den außerbiblischen Schriften der jüdischen Apokalyptik ab dem 2. Jahrhundert v. Chr. wird dieses Tal als endzeitlicher Strafort benannt: die „gehenna“ (= Feuerhölle, aram.). Dabei schwingen viele andere Vorstellungen der antiken Welt mit: Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, spricht häufiger vom „abyssos“ (ἄβυσσος), von Abgrund oder Tiefe, bzw. vom „hades“ (ᾅδης) als Übersetzung des hebräischen Begriffs „scheol“. Die „scheol“ ist das Land der Finsternis und der Schatten, in dem gottverlassene Existenzen wohnen, fernab jeder Beziehung zu ihrem Schöpfer (Ijob 10,21 f; Ps 6,6). Wann immer Krankheit, Krieg und Tod drohen, drängt die „scheol“ gierig in den Kreis der Lebenden und schnappt nach ihnen mit geöffnetem Schlund (Spr 1,12; Ijob 24,19; Jes 15,14).
Erst in der jüdischen Apokalyptik und durch die iranisch-hellenistisch beeinflusste Lehre von der Unsterblichkeit der Seele kommt langsam die Vorstellung auf, dass es einen Ort geben muss, an dem eine Richterfigur (Gott oder der Menschensohn) die Gerechten belohnt und die Ungerechten bestraft. Was einst der Aufenthaltsort aller Toten war, die „scheol“, entwickelt sich in den religiösen Gruppierungen der Pharisäer und Essener zur Hoffnung auf die Wiederherstellung von Gerechtigkeit – eine Hoffnung, die möglicherweise nicht zuletzt auch der Erfahrung der Ohnmacht in Zeiten der römischen Fremdherrschaft geschuldet war.