Ein Reich aus Schnee und Verrat - Saskia Stanner - E-Book

Ein Reich aus Schnee und Verrat E-Book

Saskia Stanner

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Beschreibung

Endlich zu Hause, und doch fühlt es sich nicht danach an: Obwohl Viola nach Frystandra zurückgekehrt ist, steht ihr noch eine lange Reise zum Palast bevor. Mit Noah und Matti an ihrer Seite entdeckt sie zum ersten Mal die Schattenseiten in ihrem Reich. Nur eine Person kann daran etwas ändern: ihr Vater, der König Frystandras. Doch kann Viola sich auf seine Unterstützung verlassen oder kostet sie der Traum von Gerechtigkeit Kopf und Kragen - und den Mann, den sie liebt?

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Saskia Stanner

Ein Reich aus Schnee und Verrat

Rückkehr nach Frystandra 2

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Saskia Stanner

Lektorat: Klaudia Szabo (www.wortverzierer.de)

Korrektorat: Cara Rogaschewski (www.wortverzierer.de)

Cover: Anna Hein (www.weltenecho-design.de)

Satz: Emily Bähr (www.emilybaehr.de)

Saskia Stanner, Altstockach 4, 85664 Hohenlinden

ISBN: 9783754656556

www.saskia-stanner.de

Für Klaudi,

ohne dich gäbe es das Buch in dieser Form nicht.

1.

Du bist zu Hause.

Dieser Gedanke ging mir unablässig durch den Kopf und trotzdem konnte ich es nicht glauben. Es fühlte sich nicht so an. In diesem Wald, der mit jedem Schritt dunkler wurde, kam es mir vor, als würde ich nicht hergehören. Sogar weniger als in den ersten Monaten in der Menschenwelt.

Ein Jahr lang hatte ich nach einem Rückweg gesucht. Hatte Rückschläge hingenommen und endlich mit Noah den Schlüssel gefunden. Nur hatte sich alles viel zu schnell in einen Albtraum verwandelt, aus dem ich nicht aufwachte. Egal, wie fest ich mir in den Arm kniff.

Mein Blick wanderte zu Svea, die Noah fest in den Armen hielt. Immer wieder sagte mir eine Stimme im Kopf, dass sie nur schlief. Dass sie gleich aufwachen würde und alles wie früher wurde. Doch ich wusste, dass das nicht stimmte. Sie hatte sich geopfert, damit sich das Portal öffnete. Damit sich mein Wunsch erfüllte.

Ich biss mir auf die Unterlippe, um das Schluchzen zu unterdrücken, das in meiner Kehle aufstieg. Die Tränen waren versiegt. In mir war nichts außer dieser großen Leere, die mich zu einer Marionette machte. Wie ferngesteuert folgte ich Matti zu einem Ort, der eine Falle sein könnte. Schließlich war ich die Prinzessin und die Rebellen wollten das Königshaus stürzen. Zumindest hatte ich das über die Rebellen gewusst.

Dass Matti mich bei dem Angriff auf den Palast nicht umgebracht hatte, sprach für ihn. Gleichzeitig konnte es das verlorene Vertrauen nicht wiederherstellen. Er war zu einem Fremden geworden.

Natürlich war mir bewusst, dass er sich den Rebellen vor allem für seinen kranken Sohn angeschlossen hatte. Etwas, was ich ihm niemals übelnehmen könnte. Trotzdem hatte er mich belogen und nur er war schuld, dass das Portal überhaupt zerstört worden war. Das war kein Auftrag der Rebellen gewesen, sondern seine Entscheidung.

Ich hatte die Personen verloren, denen ich mein Herz anvertraut hatte. Deren Beweggründe ich nie hinterfragt hatte. Svea und Matti waren immer an meiner Seite gewesen und ich hatte keine Zweifel daran gehabt, dass ich ihnen vertrauen konnte. Jetzt war die eine tot und der andere hatte offenbart, dass er mich all die Jahre belogen hatte. Schmerzhaft zog sich mein Herz bei diesem Gedanken zusammen.

Um mich abzulenken, ließ ich den Blick über die Bäume schweifen. Hier sah es aus wie in den Wäldern auf der Erde, als ich mit Svea spazieren gegangen war. Nadelbäume, wohin das Auge reichte, und kein Anzeichen einer Siedlung. Ein wenig fühlte ich mich an die Märchen erinnert, in denen sich die Hauptfiguren verliefen. Genauso ging es mir. Nicht nur innerlich war ich verloren. Würde Matti uns nicht so zielsicher führen, wüsste ich nicht, ob wir nicht im Kreis liefen.

»Wartest du auch jeden Moment darauf, dass uns irgendetwas anspringt?«, durchbrach Noahs Stimme meine Gedanken. »Ich fühle mich wie in einem Horrorfilm.«

Bisher war diese Überlegung nur in der hintersten Ecke meines Kopfes gewesen. Es gab zu viel, das mich beschäftigte. Trotzdem nickte ich. Die Stille war wirklich gruselig. Sollten wir nicht Vögel hören oder Spuren von Tieren sehen? Der schneebedeckte Boden war komplett rein, abgesehen von Mattis Fußabdrücken. Er ging einige Meter vor uns.

»Alles ist komisch«, erwiderte ich. »Es fühlt sich so unwirklich an. Wie geht es dir? Ist dir schon kalt?«

Mir konnten die niedrigen Temperaturen nichts anhaben. Bei Noah sah das jedoch anders aus. Er war dafür nicht geschaffen. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein. Gleichzeitig war ich unglaublich froh, dass er nicht zurückgeblieben war. Zwar war das egoistisch, aber ich war erleichtert, nicht vollkommen allein zu sein, sondern seinen Rückhalt zu haben.

Er zuckte als Antwort nur die Schultern. »Bisher ist alles gut. Mir war klar, dass mich kein schöner Sommerurlaub erwartet. Mit der Winterjacke lässt es sich aushalten.« Sein durchdringender Blick schien sich in mich zu graben. Als versuchte er zu ergründen, was in mir vorging. »Du bist nicht schuld«, erklärte er plötzlich.

Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch. »Woran? Dass ich dein Leben weggenommen habe? Dass Svea gestorben ist? Noah, du kannst nicht sagen, dass ich nicht schuld bin. Es ist so. Schließlich war es mein Eissplitter, der sie getroffen hat. Der fast dich erwischt hätte, wenn sie sich nicht dazwischengeworfen hätte. Am besten sollte ich hier im Nirgendwo bleiben, wo ich keiner Person begegne. Dann wäre ich zumindest keine Gefahr.«

Sofort schüttelte er den Kopf und schnaubte empört. »Bist du verrückt? Gestern hast du mir noch von deinen tollen Ideen für Frystandra erzählt. Willst du das einfach aufgeben?«

Ich seufzte. Nein, eigentlich wollte ich das nicht. Was ich im Flugzeug gesagt hatte, galt immer noch. Nur war alles schwieriger geworden. Statt im Palast waren wir auf der anderen Seite des Landes herausgekommen, wenn wir Mattis Einschätzung vertrauten. Im Moment könnte er mir alles erzählen und mir bliebe nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, weil ich mich in meinem Land nicht auskannte. »Gerade ist es einfach zu viel. Ich fühle mich so verloren wie schon lange nicht mehr. Was bin ich für eine Kronprinzessin, dass ich mich in meinem eigenen Reich nicht auskenne? Mein Beschützer ist ein Verräter und meine engste Vertraute ist tot. Ich habe mir das alles anders vorgestellt«, murmelte ich und wandte den Blick ab, wobei ich mit einem Blinzeln gegen die Tränen kämpfte.

Noah blieb kurz stehen, um Sveas Körper neu auf seinen Armen zu positionieren. Dafür, dass er sie schon einige Zeit trug, merkte ich ihm kaum etwas an, abgesehen von den leichten Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Viola, du kannst immer auf mich zählen. Wir schaffen das.«

Das liebte ich an ihm. Seinen unerschütterlichen Optimismus. Obwohl er mit Sveas Leiche den Beweis für meine Unfähigkeit trug, war er überzeugt, dass ich eine gute Königin sein würde. Mit seiner Hilfe fand ich hoffentlich meinen Glauben daran wieder.

Ein Heulen ließ mich zusammenzucken. Das erste Geräusch, das ich nicht unserer Gruppe zuordnen konnte. Ein Schauder durchfuhr mich und lenkte mich von meinen tristen Gedanken ab. Stattdessen knisterte die Anspannung in meinem Körper. Schnell schlossen wir zu Matti auf. Auch er blieb stehen und blickte sich um. »Das muss ein wilder Schneewolf sein«, erklärte er. »Das Schefas-Gebirge ist bekannt dafür, dass hier die letzten freilebenden Tiere dieser Art hausen.«

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Im Gegensatz zu diesen Wesen war meine Svea tot. Wir würden nie wieder miteinander sprechen. Sie könnte mich nie wieder für einen Fehler anmotzen. Ich hatte es gehasst, wenn sie sich wie eine große Schwester benommen hatte. Aber jetzt wünschte ich mir das zurück. Von mir aus könnte sie mich tagelang ignorieren, solange sie da wäre. Nicht nur ihr lebloser Körper, sondern auch ihre Seele.

Da außer dem Heulen nichts zu hören war, setzten wir unseren Weg fort. »Wie lang dauert es denn noch?«, wollte ich wissen. Während wir durch den Wald gestapft waren, hatte ich das Zeitgefühl verloren und mein Handy war keine Hilfe, solange ich nicht wusste, ob die Zeit auf der Erde und in Frystandra gleich verlief.

»Nicht mehr lang«, erwiderte er und drehte sich wieder zu uns um. »Soll ich euch etwas abnehmen? Svea oder die Taschen?«

Gleichzeitig schüttelten Noah und ich den Kopf, was er mit einem Schulterzucken akzeptierte. Dass seine Mundwinkel jedoch hinabwanderten, entging mir nicht. Dabei sollte es ihn nicht wundern. Nicht nach dem, was wir herausgefunden hatten.

»Ich vertraue ihm nicht«, bestätigte Noah meine Einschätzung leise, als ein paar Meter zwischen uns und Matti lagen.

Wenn es für mich nur so einfach wäre. Bei ihm klang es leicht, aber ich konnte nicht bestimmen, wie ich für Matti empfand. Das unbändige Vertrauen war verschwunden. Da ging es mir wie Noah. Nur war es durch Unsicherheit ersetzt worden.

Ich wusste nicht mehr, was Matti wollte. Alle Informationen, die ich in den letzten Stunden erhalten hatte, hatten mein Bild von ihm durcheinandergewirbelt.

Das Verrückteste jedoch war, dass ich ihm die Gründe für seine Taten nicht übelnehmen konnte. Er wollte nur seine Familie beschützen. Verdammt, er hatte diese Personen aufgegeben, um mich nicht töten zu müssen. Konnte ich da an ihm zweifeln?

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Matti uns in eine Falle lockte. Er hatte so viele Chancen gehabt, mich umzubringen. Wenn das sein Auftrag war, musste er mich nicht zu den Rebellen bringen. Er könnte es einfach erledigen, und wenn er Noah auch tötete, erfuhr niemand, dass er seinen Auftrag vor einem Jahr nicht vernünftig ausgeführt hatte.

Ein Teil von mir stellte sich dieses Szenario vor. Dass er mich auslieferte, aus denselben Gründen, aus denen er den Rebellen beigetreten war. Um seine Familie zu retten.

»Ohne ihn wäre ich hier verloren«, antwortete ich deswegen ausweichend. »Ich kenne mich überhaupt nicht aus.«

»Trotzdem sollten wir nicht unvorsichtig werden. Bist du bereit, deine Kräfte zu benutzen, um uns zu verteidigen? Ich glaube, dabei bin ich dir keine große Hilfe.«

Meine Magie ruhte momentan in meinem Körper. Das Kribbeln hatte aufgehört und ich fühlte mich, als hätte es diesen Ausbruch vor wenigen Stunden nie gegeben. Lag es daran, dass ich wieder in Frystandra war? Hatte das Einfluss auf meine Fähigkeiten? Oder hatte mich der letzte Zauber ausgelaugt?

Egal, was es war, die Bilder in meinem Kopf ließen sich nicht ausblenden. Wenn ich nur daran dachte, meine Magie zu benutzen, sah ich Svea vor mir, die von dem Eissplitter getroffen wurde. Meinem Eissplitter. Selbst der Gedanke, einen kleinen Schneeball zu formen, beschwor in mir die beklemmende Angst herauf, dass es wieder passieren könnte. Dass ich die Kontrolle verlor und jemanden verletzte, den ich liebte.

»Viola?« Noah stieß mich mit der Schulter an. »Nicht stehen bleiben, sonst verlaufen wir uns wirklich.«

Mir war nicht bewusst gewesen, dass ich stehen geblieben war. »Tut mir leid«, stammelte ich und setzte mich in Bewegung. »Bitte zähl nicht auf meine Kräfte.«

»Wieso nicht?« Noah klang besorgt. »Was ist los?«

»Ich habe meine Schneewölfin umgebracht. Weil ich meine Magie nicht unter Kontrolle hatte. Wer sagt mir, dass das nicht wieder passiert? Dass ich beim nächsten Mal nicht dich verletze? Davor hatte ich in der Menschenwelt Angst und jetzt ist genau dieser Fall eingetreten. Meine Fähigkeiten sind gefährlich. Es ist besser, wenn ich sie nicht mehr benutze.« Nur mit Mühe hielt ich meine zittrige Stimme gesenkt. Auf keinen Fall wollte ich, dass Matti mitbekam, welche Ängste mich beschäftigten.

»Viola.« Jetzt war es Noah, der direkt vor mich trat und stehen blieb. »Ich sage es noch einmal. Es ist nicht deine Schuld. Du darfst nicht aufgeben. Nimm es als Ansporn, deine Kräfte besser kennenzulernen. Damit so etwas nie wieder passiert.«

Wenn er das sagte, klang es, als müsste ich nur mit dem Finger schnipsen und schon wären all meine Probleme gelöst. Aber so war es nicht. »Zwing mich zu nichts«, flüsterte ich, während mir ein Schauder über den Rücken rann. »Ich bin nicht so weit.«

Noah legte Svea auf dem Boden ab und zog mich in seine Arme. Sofort fühlte ich mich geborgen und sicher, wie in einer unbezwingbaren Festung. Leise Schluchzer entfuhren mir und ich atmete schwer.

»Sie hätte nicht sterben dürfen. Wir hätten eine andere Lösung finden müssen. Wieso musste das passieren? Wieso haben die Götter das zugelassen? Macht es ihnen Spaß, mit mir zu spielen? Mir einen Dolch ins Herz zu rammen, der es immer mehr zerreißt?« Die Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln gesammelt hatten, rannen mir nun über die Wangen. Es tat gut, sie loszulassen und mich an Noah zu klammern. Es war befreiend, mir kurz zu erlauben, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Nicht zu versuchen, stark zu sein.

»Mein Vater hat mal gesagt, dass alles im Leben einen Grund hat. Manchmal erkennen wir ihn erst später, aber er war überzeugt, dass es Schicksal gibt. Vielleicht ist es dein Schicksal, einen schmerzhaften Pfad zu gehen, um die beste Königin Frystandras zu werden«, versuchte Noah mich aufzumuntern und tippte mein Kinn hoch. In seinen Augen stand Zuversicht geschrieben. Nur fühlte sie sich falsch an.

»Danke«, flüsterte ich und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. Ich versuchte alle positiven Gefühle für ihn in diesen Kuss zu legen. Damit er verstand, wie froh ich war, dass er für mich da war. Wir wussten zwar nicht, was Svea hatte sagen wollen, aber seine Vermutung war nicht schlecht. Wahrscheinlich hatte sie sich gewünscht, dass er ihre Rolle übernahm, damit ich nicht allein blieb. »Danke, dass du da bist.«

»Immer«, erwiderte Noah und lächelte. »Solange du mich brauchst, werde ich nicht von deiner Seite weichen.«

Ob ihm bewusst war, dass ich darauf am liebsten für immer geantwortet hätte? Denn ich konnte mir keine Zeit vorstellen, in der ich seinen Rückhalt nicht brauchen würde.

Ein Räuspern ließ uns auseinanderfahren. Matti hatte sich uns genähert und stand neben Sveas Körper. »Ich würde euch empfehlen, das zu vertagen. Vor allem um Noah vor der Kälte zu schützen.«

»Mir ist überhaupt nicht kalt«, wandte dieser sofort ein. »Zumindest nicht kälter als in einem normalen Winter.«

Noch, schien Mattis skeptischer Blick zu sagen, bevor er vorwurfsvoll zu mir wanderte. »Wir müssen uns überlegen, wie wir ihn schützen. Die Reise zum Palast ist weit und ich weiß nicht, ob wir jede Nacht eine überdachte Unterkunft mit Feuer finden.«

Dieser Gedanke war mir auch schon gekommen. Bisher war mir außer vielen Decken allerdings keine Möglichkeit eingefallen, Noah zu wärmen. »Können wir das später besprechen, bei deiner mysteriösen Bekannten zum Beispiel? Du meintest doch, dass wir uns beeilen sollen.«

Als Antwort wandte Matti sich zum Gehen, wofür ich dankbar war. Auch Noah hob Svea auf und wir folgten ihm.

Es kam mir vor, als hätte die Umarmung das Chaos in meinem Kopf etwas beseitigt und dafür gesorgt, dass ich mich besser auf meine Sinne und die Umgebung konzentrieren konnte. Zwar war es noch unnatürlich still, aber zumindest bedeutete das, dass uns niemand folgte. Gleichzeitig versuchte ich, Anzeichen menschlichen Lebens zu entdecken, erkannte jedoch nichts. Wo genau Matti uns hinführte, blieb unklar. Wie er sich überhaupt zurechtfand, sowieso.

Jeder Baum ähnelte dem anderen. Nichts deutete auf Einwirkung von außen hin, nichts auf jegliche Art von Zivilisation. Das Gebiet wirkte vollkommen verlassen.

Umso lauter kam mir das Knacken von Ästen vor, das die Stille durchschnitt. Erst dachte ich, dass es sich nur um einen Zweig handelte, der unter der Last des Schnees gebrochen war. Doch dann hörte ich es erneut, gepaart mit Schritten. Schritten, die immer näher kamen.

2.

Sofort stellte Matti sich schützend vor mich. Sein Blick wanderte wie meiner über die Umgebung. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich erstarrte. Gleichzeitig kehrte das gefährliche Kribbeln in meinen Körper zurück.

Ich versuchte, ruhig zu atmen, aber es klappte nicht. Zu schnell dröhnte der Puls in meinen Ohren. Das Kribbeln wurde immer stärker, meine Magie rauschte ungebremst durch meinen Körper und baute Druck auf, dem ich womöglich nicht standhalten konnte.

Kurz schloss ich die Augen, um alles auszublenden und mir zumindest in Gedanken Ruhe zu verschaffen. Aber das war leichter gesagt als getan. In meinem Kopf tauchten die Erinnerungen an Sveas Tod auf und das Knirschen der Schritte im Schnee konnte ich auch nicht ignorieren.

Immer schneller ging mein Atem, leise war dieser definitiv nicht mehr. Egal, was ich tat, es änderte nichts.

Dann spürte ich, wie Noah meine Hand in seine nahm und drückte. Langsam öffnete ich die Augen und sah direkt in seine. Svea hatte er zwischen uns abgelegt, und statt auf die Gefahr zu achten, betrachtete er nur mich.

Ohne etwas zu sagen, gab er mir mit Handbewegungen meinen Atemrhythmus vor. Dabei kam es mir vor, als würden mich seine blauen Augen gefangen nehmen, denn die Umgebung blendete ich aus. Natürlich vergaß ich nicht, dass verdächtige Geräusche näher kamen, aber sie wurden zu einem Hintergrundrauschen. Gemeinsam mit Noah schaffte ich es, die Angst, die meine Kräfte befeuerte, im Zaum zu halten. Das Kribbeln blieb bestehen, aber erdrückte mich nicht mehr schmerzhaft.

Als ich mich von ihm wegdrehte und wieder auf den Wald achtete, stellte ich fest, dass die Schritte verdammt nah waren. Das Knirschen des Schnees war deutlicher zu hören. Trotzdem entdeckte ich niemanden. Der Wald wirkte immer noch verlassen. Kein Lüftchen regte sich und auch an den Ästen war keine Bewegung zu entdecken.

»Schau auf den Boden«, wies Matti mich leise an.

Da entdeckte ich sie. Fußspuren, nur etwa zwei Baumreihen entfernt. Die Person musste einen ähnlichen Zauber benutzen wie ich bei meinem Einbruch in das Nationalarchiv.

In meiner Vorstellung stand uns ein großer Mann gegenüber, der uns zu den Rebellen bringen würde. Dann würde sich zeigen, für welche Seite Matti sich entschied. Jetzt konnte ich mir noch einbilden, dass er mich vor allem Unheil beschützte, aber umgeben von seinen Verbündeten wusste ich nicht, wie er reagieren würde. Ein Schauder lief mir über den Rücken.

»Zeig dich, wer auch immer du bist!« Mattis Stimme nahm einen bedrohlichen Klang an und er schob mich hinter sich. Über seiner anderen Hand schwebte ein Schneeball, so groß wie ein Apfel, und ich war überzeugt, dass sich darin schmerzhafte Eissplitter befanden.

Die Person musste sich nicht zeigen. Ein mit Splittern gespickter Schneeball war zwar keine Lappalie, aber im Moment war Matti im Nachteil. Solang wir nur die Fußspuren sahen, war das Werfen schwer, weswegen ich den Blick nicht von den Abdrücken abwandte. Ich wollte vorbereitet sein.

Ein Flimmern legte sich über die Stelle und jetzt wurden auch die Schneeflocken sichtbar, hinter denen sich die Person gekonnt verbarg. Ich versuchte zu erkennen, mit wem wir es zu tun hatten, doch bevor ich lang rätseln konnte, lösten sich die letzten Spuren des Zaubers auf und eine ältere Frau stand vor uns. Sie betrachtete uns aus sicherer Entfernung und kniff die Augen zusammen. »Matti, bist du das?«

Mein Beschützer nickte und mir fiel auf, dass er erleichtert, fast freudig lächelte. Dann ging er zu ihr und die beiden umarmten sich. Damit hatte ich nicht gerechnet. War das die Person, zu der er uns führen wollte?

Erleichterung durchströmte mich bei dem Gedanken, wobei sich auch Sorge dazumischte. Diese Frau war mächtig, das hatte sie uns bewiesen. Blieb nur die Frage, ob sie Freund oder Feind war. Gerade wirkte sie vor allem froh, Matti wiederzusehen, aber das verstand ich. Schließlich war er einige Zeit verschwunden gewesen.

Ihre Reaktion auf mich würde zeigen, ob sie eine Gefahr darstellte. Und auch, ob ich Matti vertrauen konnte oder ob er mich in eine Falle geführt hatte. Der Puls dröhnte in meinen Ohren und ich klammerte mich noch fester an Noahs Hand.

Mit leuchtenden Augen drehte Matti sich zu uns um. »Darf ich vorstellen? Meine Mutter Franka.«

Mein Mund klappte auf. Hatte er wirklich Mutter gesagt? Als er davon gesprochen hatte, dass er jemanden in dieser Gegend kannte, hatte ich nicht gedacht, dass er ein Familienmitglied meinte. Obwohl es jetzt Sinn ergab, wieso er sich in dem Wald so gut auskannte. Er musste hier aufgewachsen sein.

»Und wer sind deine Begleiter? Karen war älter. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du hast dich für immer verabschiedet, um die Prinzessin zu schützen.« Die Art und Weise, wie sie meinen Titel aussprach, zeigte sofort, dass sie von mir und vom Königshaus wenig hielt.

»Das sind besagte Prinzessin Viola und ihr Freund Noah, ein Mensch aus der anderen Welt. Können wir den Rest bei dir besprechen? Noah ist die Temperaturen nicht gewöhnt«, erklärte Matti seiner Mutter.

Ihr Blick wanderte skeptisch über uns und ich fühlte mich, als würde sie mich damit erdolchen. In mir kämpfte der Fluchtinstinkt gegen den Teil an, der Matti vertraute. Mochte sie mich nur nicht oder war sie ebenfalls ein Teil der Rebellen? Bisher hatte Matti nichts dergleichen erwähnt, aber die Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass ich nicht zu viel darauf geben sollte. Doch von meinen Sorgen versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und reckte das Kinn. So leicht ließ ich mich nicht unterkriegen.

Sie seufzte. »Na gut, kommt mit. Ich kann nicht zulassen, dass ihr erfriert. Auch wenn es bei dem Prinzesschen keine Tragödie wäre.«

Ich erwiderte nichts. Alle Antwortmöglichkeiten schwankten zwischen unsicherem Nachfragen und patzigen Worten. Nichts, womit ich meinen ersten Eindruck verbessern konnte. Wahrscheinlich würde ich noch früh genug hören, was sie an mir auszusetzen hatte.

Als wir uns in Bewegung setzten, fiel ihr Blick auf Svea und ihre Augen weiteten sich. »Was ist mit dem Schneewolf passiert?«

Hilfesuchend blickte ich zu Matti. Auf keinen Fall wollte ich, dass sie erfuhr, dass ich Schuld an Sveas Tod trug. Das würde ihr Bild von mir nur verschlechtern. Hoffentlich verstand er mich so blind wie vor unserer Flucht.

»Sie ist gestorben, als wir das Portal nach Frystandra erschaffen haben«, erklärte Matti und ich nickte ihm steif, aber dankbar an. Das war keine Lüge, gleichzeitig ließ es Interpretationsraum offen.

»Oh nein.« Es kam mir vor, als zeigte seine Mutter zum ersten Mal Gefühle. Sogar Tränen meinte ich in ihren Augen zu sehen, aber das war wahrscheinlich nur dem Licht geschuldet. Dann sah sie wieder mich an. »Ist das deine?«

Ich nickte und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. »Ja, sie …« Weiter kam ich nicht, denn meine Stimme brach nach dem anfänglich schwachen Flüstern.

»Wir sollten sie noch heute bestatten. Solange der Körper in unserer Welt verweilt, wird ihre Seele kein neues Zuhause finden«, stellte Mattis Mutter fest und wandte sich zum Gehen. »Folgt mir. Vor meiner Hütte können wir einen Scheiterhaufen errichten.«

Heute? Natürlich war mir klar gewesen, dass wir Svea nicht allzu lang mitnehmen konnten. Trotzdem wollte ich noch nicht Abschied nehmen. Das ging viel zu schnell. Sie war erst vor wenigen Stunden gestorben. Bekam ich keinen Aufschub, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nicht mehr da war, bevor ich sie gehen ließ?

Wie ein Roboter folgte ich unserer Gruppe, wobei ich mich wie von allem abgeschirmt fühlte. Noah versuchte mehrmals ein Gespräch anzufangen, gab jedoch auf, als ich nur einsilbig antwortete. Selbst die Unterhaltung zwischen Matti und seiner Mutter kam nicht in meinem Kopf an.

Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, wie mein Herz in noch kleinere Scherben brach. Mein Blick wanderte immer wieder zu Sveas Leiche. Sie würde die Augen kein weiteres Mal öffnen. Das wusste ich, weh tat es trotzdem. Nur weil ich sie bei mir hatte, würde sie nicht wieder lebendig werden. Ich musste sie in meinen Erinnerungen weiterleben lassen. Doch im Moment waren diese dominiert von ihrem Tod.

Vielleicht kannst du damit abschließen, wenn der Scheiterhaufen brennt.

Das war möglich. Ein konsequenter Endpunkt. Allerdings wollte ich nicht, dass es zu Ende war. Doch daran konnte ich nichts mehr ändern. Es war zu spät.

Erstaunlich schnell erreichten wir eine weitläufige Lichtung, die im Gegensatz zum Rest des Waldes hell war. »Willkommen in meinem Zuhause«, meinte Mattis Mutter und im selben Moment erschien auf der freien Fläche ein kleines, zweistöckiges Haus. Es bestand aus Stein und Holz und aus seinem Kamin entwich dichter Rauch. Es war unglaublich, was diese Frau mit ihren Kräften anstellen konnte. Im Vergleich dazu fühlte ich mich noch schlechter.

Auch Noahs Augen weiteten sich. »Wow«, flüsterte er.

Franka lächelte. »Irgendwie muss ich mich vor den schrecklichen Steuereintreibern des Höllenhofs verstecken.«

Schuldbewusst senkte ich den Blick. Matti hatte erwähnt, dass die Abgaben immer höher geworden waren. Aber zumindest wusste ich jetzt, dass sie mich nicht als Person, sondern in meiner Funktion als Prinzessin hasste.

»Wenn ich zurück im Palast bin, ändere ich das«, versicherte ich und versuchte, überzeugend zu wirken.

Sie winkte ab. »Papperlapapp. Das sagen alle und am Ende zahlen wir doch mehr und verlieren unsere Familie.«

Wir stellten unsere Taschen in einem gemütlichen Wohnzimmer ab, das mich durch das viele Holz an Noahs Zuhause erinnerte. Zwei Sofas standen vor einem Kamin, in dem knisternde Flammen flackerten. Dank der wohligen Wärme öffnete ich meine Jacke ein wenig und atmete tief ein.

»Die kannst du gleich wieder schließen«, herrschte Franka mich an. »Wir müssen die Feuerbestattung vorbereiten.«

Ohne uns eine Chance zu geben, zu widersprechen, schickte sie uns nach draußen zu einem großen Stapel Holz. »Aufschichten, sodass alles brennt«, wies sie uns an. »Matti weiß, wie es geht. Ich kümmere mich derweil um den Körper.«

Sofort erstarrte ich zu Eis. »Was machen Sie mit ihr? Bitte tun Sie ihr nichts.«

»Keine Sorge. Es handelt sich nur um ein paar Rituale, die den Übergang in die Geisterwelt vereinfachen. Ich werde deine geliebte Schneewölfin weder zerfleischen noch sonst wie verunstalten.«

»Meine Mutter kennt sich aus«, kam Matti ihr zu Hilfe. »Früher hat sie Schneewölfe gezüchtet.«

Ich kniff die Augen zusammen und funkelte Franka wütend an. »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst …« Mehr sagte ich nicht, denn um ehrlich zu sein wusste ich nicht, was ich ihr entgegensetzen konnte. Ohne meine Kräfte war ich hilflos und auch meine Kenntnisse bezüglich Bestattungen waren dürftig. Trotzdem wollte ich mich nicht so einfach geschlagen geben. Nicht, wenn es um meine Schneewölfin ging.

Sie verdrehte nur die Augen. »Drohungen scheinen das Einzige zu sein, was im Königshaus gelehrt wird«, murmelte sie, ehe sie im Haus verschwand.

»Müssen wir Svea wirklich schon heute bestatten? Können wir nicht einen Tag warten?«, versuchte ich bei Matti mein Glück. Er hatte mir zumindest früher offener gegenübergestanden.

Doch er lächelte mich mitleidig an, bevor er die ersten Holzstämme ergriff. »Morgen wird die Welt nicht anders aussehen, Viola. Glaub mir, es ist einfacher, das so schnell wie möglich hinter dich zu bringen. Dann können wir uns darauf konzentrieren, einen Weg in den Palast zu finden. Außerdem kannst du so richtig Abschied nehmen.«

Problemlos hob Matti drei Stämme hoch und trug sie zu einem Platz einige Meter entfernt, auf dem der Schnee plattgetreten wirkte.

Kaum war er weg, streichelte Noah mir über den Rücken. »Es ist besser, wenn wir es hinter uns bringen. Ich spreche aus Erfahrung. Erst mit der Bestattung kann man anfangen, alles aufzuarbeiten. Lass uns ihr ein schönes Geleit ins Jenseits geben.«

»Aber dann ist sie endgültig weg«, flüsterte ich mit unterdrückten Tränen. »Dann habe ich nichts mehr, was ich ansehen kann, wenn ich mich frage, was sie gesagt hätte.«

Sanft zog er mich an sich. »Svea hat gesagt, sie wird in Gedanken immer bei dir sein. Solange du sie hier …« Er tippte an meine Stirn. »… nicht vergisst, ist sie bei dir und gibt ihre Kommentare zu allen Entscheidungen ab. Das war früher auch so, oder?«

Lächelnd dachte ich daran zurück, dass ich mir vor dem Einbruch vorgestellt hatte, was Svea sagen würde. Auch jetzt würde sie wahrscheinlich unwillig zugeben, dass Noah recht hatte. Diese Leiche war nicht mehr meine Schneewölfin. Trotzdem fühlte es sich falsch an, sie gehen zu lassen. Die Wunde war noch zu frisch.

»He, vom Rumstehen baut sich der Scheiterhaufen nicht auf!«, drang Frankas Stimme zu uns rüber. Sie hatte ein Fenster geöffnet und beobachtete uns. »Matti, sag dem Prinzesschen, dass außerhalb des Hofs jeder anpacken muss.«

»Ich hasse sie«, knurrte ich, bevor ich nach einem Stamm griff und ihn schulterte.

Nach und nach schichteten wir eine kleine Plattform auf, auf der später Sveas Leiche liegen würde. Nicht so groß wie die im Palast, aber unsere Mittel waren nun einmal begrenzt.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als wir endlich fertig waren. Wie aufs Stichwort trat Franka aus der Haustür. »Hat unsere Hoheit mitgearbeitet?«

»Ja.« Matti klang so genervt, wie ich mich fühlte. Er ging zu ihr und redete leise, aber bestimmt auf sie ein.

»Willst du Svea tragen oder soll ich die Aufgabe übernehmen?«, fragte Noah und verhinderte damit, dass ich mich genauer auf das Gespräch konzentrieren konnte.

Mein Blick wanderte zwischen dem Haus und dem Scheiterhaufen hin und her. Eigentlich war die Strecke nicht weit und wir sprachen über meine engste Vertraute. Da sollte ich selbst die Kraft aufbringen. »Ich mache es«, verkündete ich und schluckte den Kloß im Hals hinunter. »Das bin ich ihr schuldig.«

Bevor Noah erneut erklären konnte, dass ich nicht für ihren Tod verantwortlich war, stapfte ich in Richtung des Hauses.

Svea war schwerer als gedacht, aber ich versuchte mir das nicht anmerken zu lassen. Als Kind hatte ich sie oft durch den Palastgarten getragen. Aber damals war sie deutlich kleiner und leichter gewesen.

Schwer schnaufend legte ich sie auf dem Holz ab und trat ein paar Schritte zurück. »Danke Svea, für alles«, flüsterte ich und spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. »Du warst die beste Begleiterin, die ich mir wünschen konnte. Danke, dass du mir immer die Meinung gesagt hast, selbst wenn ich sie nicht hören wollte. Dass du mich getröstet hast, wenn ich aufgeben wollte. Deinetwegen habe ich mich nie allein gefühlt, weil ich immer jemanden zum Reden und Spielen hatte. Ich werde dich vermissen und sehne den Tag herbei, an dem wir uns wiedersehen.«

Inzwischen rannen mir die Tränen in Sturzbächen über die Wangen und ich schluchzte laut auf. Sie hätte ein Staatsbegräbnis verdient und nicht diese kleine Feier im Nirgendwo.

Noah trat zu mir und zog mich in seine Arme. Kurz gestattete ich mir, mich von meiner Trauer verschlingen zu lassen. Den Schmerz meines gebrochenen Herzens zuzulassen und ihn nicht zu ignorieren. Mein Magen fühlte sich wie ein unlösbarer Knoten an und der Druck auf meiner Brust erschwerte mir das Atmen.

Matti hielt mir eine brennende Fackel entgegen, als ich mich von Noah löste. »Willst du?«

Ich nickte. Mit zittrigen Händen umklammerte ich die Fackel und hielt sie an die Enden der obersten Stämme. Es dauerte einen Moment, doch dann griff das Feuer auf das Holz über.

Schnell loderte der ganze Scheiterhaufen lichterloh. Der Rauch stieg mir in Augen und Nase, trotzdem trat ich keinen Schritt zurück. Der Geruch verbrannten Fleisches löste einen Würgereiz in mir aus und ich schloss die Lider, um an etwas Schönes zu denken.

In meinem Kopf spielten sich alle Erinnerungen an Svea ab. Unsere erste Begegnung, als meine Eltern mir zu meinem dritten Geburtstag das kleine weiße Fellknäuel geschenkt hatten. Die gemeinsamen Entdeckungstouren durch den Palast, bei denen wir uns am Anfang oft verlaufen hatten und uns erst wieder auskannten, wenn uns eine Wache den Weg zeigte. Jede Diskussion mit ihr erschien mir plötzlich angenehm. Sie war immer mein Gewissen gewesen.

Jetzt musste ich ohne sie auskommen.

Ein erneuter Stich fuhr in mein Herz und unwillkürlich legte ich die Hand auf die Brust. Kivan und Morita, achtet auf sie, bat ich unsere Götter. Dann versuchte ich, meine Atmung zu stabilisieren. Wenigstens hatte ich sie gehabt. Dafür musste ich dankbar sein.

Ich öffnete die Augen und starrte auf den brennenden Scheiterhaufen. Ein letztes Mal nickte ich in die Richtung von Sveas Leiche. Dann wandte ich mich ab und ließ zu, dass Noah mich in seine Arme nahm.

3.

Nur wenig später saßen wir über eine Karte gebeugt am großen Esstisch. Nachdem das Feuer herabgebrannt war, hatte Franka uns einen Eintopf serviert. Erst als ich den Geruch der Mahlzeit aufgeschnappt hatte, war mir bewusst geworden, wie hungrig ich war. Schließlich hatte ich seit knapp einem Tag nichts zu mir genommen. Das belegte Sandwich aus dem Museumsladen war nicht das Wahre gewesen.

»Hier liegt der Palast.« Matti deutete auf eine Stelle, an der ich eine Krone entdeckte. Dann legte er den Finger auf einen Punkt westlich des Schefas-Gebirges, direkt im Waldstück, das sich fast bis zur Küste erstreckte. »In diesem Gebiet befinden wir uns.«

Sein Blick sagte alles. Es würde ein langer Weg zum Königshof werden. Nicht nur müssten wir die Berge überqueren, sondern auch die Wälder waren meines Wissens nach kein Zuckerschlecken. Außerdem war da noch die Hochebene, auf der sich das Schloss befand. Dort würden die Wachen uns von Weitem sehen. Wer wusste, wie sie reagierten.

Ich seufzte. »Und es gibt keine Möglichkeit, direkt durch das Gebirge zu gehen? Einen Schleichweg, von dem nur die Einheimischen wissen?« Dabei wanderte mein Blick zu Franka, aber die schüttelte den Kopf.

»Viel zu unsicher für unerfahrene Wanderer. Erst recht in der dunklen Zeit.«

Verwirrt zog Noah die Augenbrauen zusammen. »Dunkle Zeit?«

»So nennen wir die Jahreszeit, wenn die Tage kurz sind und die Temperaturen noch kälter. Man könnte es mit dem Winter vergleichen«, erklärte ich.

»Okay«, murmelte er und lächelte mich dankbar an. »Also müssen wir zum Ozean. Habe ich das richtig im Kopf?«

Matti nickte. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Von Selira aus gibt es viele Wege an den Ausläufern des Gebirges vorbei. Selbst eine Kutsche wäre eine Möglichkeit, wenn wir Glück haben.«

»Wieso lieferst du sie nicht an einem der Wachposten ab? Dann sollen die sich darum kümmern, dass die Prinzessin zurück ins Schloss kommt«, warf Franka ein. »Das wäre das Leichteste für beide Seiten.«

Doch Matti schüttelte sofort den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann. Es könnte sein, dass die Rebellen Teile des Palastes infiltriert haben. Dann ist Viola bei den Wachen nicht sicher.«

Ein Schauder rann über meinen Rücken. »Gibt es die Rebellen überhaupt noch?«, wollte ich wissen. »Was ist passiert, seit wir verschwunden sind? Ist hier auch nur ein Jahr vergangen?« Diese Frage arbeitete schon länger in mir, aber ich hatte mich nicht getraut, sie während des Essens zu stellen. Stattdessen hatte ich mich immer wieder nach Hinweisen auf die derzeitige Lage des Reichs umgesehen. Gefunden hatte ich wie erwartet nichts. Zeitungen gab es in Frystandra nicht und Flugblätter wurden selten in solchen Mengen gedruckt, dass die Bewohner sie mit nach Hause nahmen.

Franka setzte sich auf das Sofa. »Der König ist immer noch König und als Strafe hat er die Steuern erneut erhöht. Der Angriff auf den Palast wurde zurückgeschlagen und die Rebellen halten sich bedeckt. Und ja, auch hier ist nur ein Jahr vergangen.«

Erleichtert atmete ich auf und ein Lächeln glitt auf mein Gesicht. Das waren gute Neuigkeiten. Es hatte sich im Gegensatz zu meinen schlimmsten Befürchtungen nichts verändert.

»Natürlich. Die Bürger leiden, aber solange es der Prinzessin gut geht, ist das unwichtig«, fauchte Franka mich an.

»Ich bin froh, dass nicht mehr Zeit vergangen ist«, entgegnete ich und stemmte die Hände in die Hüfte. Dieses Mal würde ich mich nicht zurückhalten. »Es tut mir leid, dass mein Vater die Steuern erhöht hat, aber dafür kann ich nichts. Denn wie du weißt, war ich in einer anderen Welt.«

»Und wie kommen wir nun nach Selira?«, brachte Noah das Thema auf unsere Planung zurück, bevor wir weiterstreiten konnten. Denn ich sah Franka an, dass sie noch etwas erwidern wollte. Aber zu meinem Erstaunen reichte ein Blick meines Freundes aus, um sie zum Schweigen zu bringen. Nur änderte das nichts an ihrem wütenden Gesichtsausdruck.

Matti schürzte die Lippen. »Zu Fuß durch den Wald. Bis zum ersten Dorf ist es sicherlich ein Tagesmarsch, aber dort können wir in einem Gasthaus übernachten.« Dann wandte er sich seiner Mutter zu. »Hast du noch Kontakt zu den Rebellen?«

»Ein wenig«, erwiderte sie. »Schließlich will ich ab und zu meine Enkel zu Gesicht bekommen.«

»Sie sind bei ihnen?« In seiner Stimme schwang tiefe Panik mit. »Geht es Milo schlechter? Oder sind sie ein Druckmittel, sollte ich wieder auftauchen?«

Franka schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, es geht ihnen gut. Elia brauchte jemanden, der sie beschützt, und im Hauptquartier war das am besten möglich. Du darfst nicht vergessen, der Ernährer der Familie ging mit deinem Verschwinden verloren.«

Schuldbewusst senkte Matti den Blick. »Ich weiß.«

Je mehr ich über ihn und seine Familie erfuhr, desto weniger verstand ich, wieso er die Entscheidung getroffen hatte, mit mir in eine andere Welt zu flüchten. Steckte mehr dahinter, als er mir bisher erzählt hatte? Gab es einen größeren Plan der Rebellen, den ich nicht erkannte? Vielleicht wäre es doch besser, ohne ihn weiterzugehen.

Ich lenkte meinen Blick zurück zur Karte. Wenn wir die mitnähmen, wäre es sogar mir möglich, einen Weg zu finden. Es würde länger dauern, aber ich müsste mich nicht die ganze Zeit über fragen, ob ich Matti vertrauen konnte oder ob er uns in eine Falle führte. Das wäre eine Erleichterung für meine Nerven.

»Dann geh am besten zu deiner Familie und wir machen uns allein auf den Weg«, schlug ich vor und versuchte meine Idee mit einem gütigen Tonfall zu überspielen. »Du warst lang genug von ihnen getrennt. Sie vermissen dich sicher.«

Hilfesuchend sah ich Franka an, die sofort nickte. »Genau, Matti. Du hast deine Aufgabe erfüllt. Stell endlich deine Familie über die Prinzessin.«

»Nein.« Mattis Antwort kam klar und schnell. In seinen Augen blitzte Wut auf, die ich nur selten bei ihm erlebte. »Auf keinen Fall lasse ich zu, dass Viola sich verläuft. Du weißt überhaupt nicht, wo du hinmusst.«

»Aber ich habe eine Karte«, entgegnete ich. »Kartenlesen habe ich gelernt.«

Er lachte trocken auf. »Ja, genau. Nur hilft dir das wenig, wenn du im Wald stehst und die Bäume nicht unterscheiden kannst. Ich durchschaue dich, junge Dame. Du vertraust mir nicht und willst mich loswerden.«

»Ist das eine Überraschung, nachdem du mich eigentlich umbringen solltest?« Erleichtert stellte ich fest, dass meine Stimme einen festen Klang hatte. Kein Zittern war zu bemerken. Dabei jagte mir dieser Gedanke einen Schauder über den Rücken.

Franka schnappte nach Luft. Das hatte sie anscheinend noch nicht gewusst.

»Das wichtige Wort ist eigentlich. Ich habe es nicht getan. Verdammt, Viola, ich habe meine Familie deinetwegen aufgegeben. Reicht dir das nicht, um meine Loyalität zu beweisen?« Mattis Stimme überschlug sich und die Ader auf seiner Stirn pulsierte.

»Wer sagt mir, dass das kein großer Plan der Rebellen ist? Du könntest mich immer noch anlügen. Damit scheinst du ja keine Probleme zu haben«, konterte ich und lehnte mich mit verengten Augen über den Tisch. »Ja, bisher hast du den Auftrag nicht ausgeführt, aber deine Sabotage meiner Suche zeigt, dass du die Rebellen glauben lassen willst, dass ich tot bin. Weil es um deine Familie geht, und die ist dir verständlicherweise mehr wert als ich.«

»Das mit der Sabotage spielt doch keine Rolle. Wir sind nicht mehr auf der Erde. Ich habe …«

Weiter kam Matti nicht, denn Noah trat zwischen uns und hob abwehrend die Hände. »Halt. Bevor wir weiter diskutieren und überlegen, was wir machen, solltet ihr euch aussprechen. So geht das nicht weiter. Wir brauchen eine Vertrauensbasis, um zusammenzuarbeiten.« Er drehte sich zu mir um. »Ich verstehe dich, Viola, und stimme dir voll zu. Aber wir können nicht auf ihn verzichten. Du hast selbst gesagt, dass du dich außerhalb des Palasts nicht auskennst.«

Schwer atmend sah ich Matti an, der nickte. »Lass uns hinausgehen«, schlug er vor.

Ich folgte ihm nicht direkt. Stattdessen warf ich noch einen Blick auf die Karte, um mich daran zu erinnern, wo wir uns befanden. Weit weg vom Palast. Dann wandte ich mich Noah zu, der mir eine Strähne hinters Ohr strich. »Alles wird gut«, flüsterte er. »Du musst ihm zumindest so weit vertrauen, dass er uns in die nächste Stadt bringt.«

Dort konnten wir überlegen, wie es weiterging. Dieser Satz schwebte unausgesprochen zwischen uns. So ungern ich es zugab, Noah hatte recht. Eine vernünftige Aussprache könnte einige Fragen beantworten, die ich in dem Chaos seit der Offenbarung nicht gestellt hatte.

Draußen blieb Matti kurz vor dem Scheiterhaufen stehen. »Wenn du willst, erzähle ich dir alles über die Rebellen, was du verlangst«, begann er das Gespräch.

Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. »Wieso? Damit hintergehst du sie.«

Er zuckte mit den Schultern. »Meine Ansichten haben sich schon verändert, bevor wir auf die Erde geflüchtet sind. Dein Vater mag kein guter König sein, aber du wärst umso besser. Den Grundsatz, das ganze Königshaus auszulöschen, kann ich nicht mehr mittragen. Du gehörst auf den Thron. Ich tue das nicht nur für dich, sondern auch für meine Familie und die Möglichkeit, dass wir endlich friedlich zusammenleben können.«

Nach Noah war er schon der Zweite, der das sagte. Obwohl es mich freute, baute es unglaublichen Druck auf. Was, wenn ich ihre Erwartungen enttäuschte? Ich wusste doch gar nicht, wie das Regieren funktionierte. Mir fehlte die Erfahrung und vorbereitet hatten meine Lehrer und meine Mutter mich darauf nie.

»Für mich warst du immer eine Vaterfigur«, begann ich, meine Gefühle offenzulegen. »Zu dir bin ich mit Problemen gegangen und du hast mir geholfen.

---ENDE DER LESEPROBE---