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Mit ihrem Debüt »Das Blütenstaubzimmer« wurde Zoë Jenny, erst 23jährig, schlagartig berühmt. In ihrem dritten Roman schildert sie die Liebe zwischen Ayse und Christian, dem türkischen Mädchen, das vom Bruder streng bewacht wird, und dem Jungen, der einen Rechten zum Freund hat. Eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte, erzählt in der klaren, unverwechselbaren Sprache einer Autorin, die schon heute zu den großen Stimmen der Gegenwartsliteratur zählt.
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Seitenzahl: 165
Zoë Jenny wurde 1974 in Basel geboren und ist dort sowie in Carona (Tessin) und Griechenland aufgewachsen. Sie veröffentlichte die Romane »Das Blütenstaubzimmer« (1997); »Der Ruf des Muschelhorns« (2000) und »Ein schnelles Leben« (2002), die in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurden (u. a. beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis). Zoë Jenny lebt in Zürich.
Mit ihrem Debüt »Das Blütenstaubzimmer« wurde Zoë Jenny, erst 23jährig, schlagartig berühmt. In ihrem dritten Roman schildert sie die Liebe zwischen Ayse und Christian, dem türkischen Mädchen, das vom Bruder streng bewacht wird, und dem Jungen, der einen Rechten zum Freund hat. Eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte, erzählt in der klaren, unverwechselbaren Sprache einer Autorin, die schon heute zu den großen Stimmen der Gegenwartsliteratur zählt.
»Behutsam spürt sie den Gedanken ihrer jugendlichen Protagonisten nach, zeichnet Abbilder der Verzweiflung, ohne jemals in einen angestrengt juvenilen Ton zu verfallen. Im Gegenteil, Zoë Jenny beobachtet, ohne zu beurteilen.« Freie Presse (Wien)
»…ein überzeugend gebauter Text; ein gut lesbares Buch.« Hermann Stadtmagazin Cottbus
»Der Roman hinterlässt Eindrücke, die nach dem Lesen nicht so schnell verblassen!« Unbekanntes Medium
»Jenny liebt schlichte, poetisch aufgeladene Sätze… ihre Prosa abstrahiert das Konkrete.« Märkische Allgemeine Zeitung
»Eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte der vielgelobten Autorin des Debüts ›Das Blütenstaubzimmer‹.« EMMA
»Anrührender Stoff, meisterhaft erzählt.« Bremervörder Zeitung
»Unglaublich eindrücklich werden die Wünsche und Sehnsüchte der jungen Frau geschildert.« Unbekanntes Medium
»Die einfühlsame, vielschichtige Sprache ist fesselnd und ergreifend…« Unbekanntes Medium
»Zoë Jennys Buch ist ein Stück Aufklärung, auch weil sie keine Klischees wie etwa das von den ›armen türkischen Eltern‹ bedient…« Schweizer Buchhandel
»…eine einfühlsame Romeo-und-Julia-Lovestory…« MAXI
»Wie schon in den vorangegangenen Bestsellern ›Das Blütenstaubzimmer‹ und ›Der Ruf des Muschelhorns‹ entwickelt die auffällig junge Autorin auch binnen weniger Seiten eine ungemein dichte Atmosphäre, die von unerwarteten Wendungen subtil aufgewühlt wird.« Ticket Köln
»Zoë Jenny findet in dieser neuen, sehr aufgeschlossen erzählten Geschichte intensive Sätze, um die zart sprossende Liebesgeschichte aufblühen zu lassen. Und glasklare, schmerzliche Worte, wenn die Katastrophe ihren Lauf nimmt.« Main Post
»Zoe Jennys Roman lebt nicht von der Rasanz der Handlung oder von deren Unvorhersehbarkeit. Er besticht vielmehr durch die sparsame Zeichnung der Figuren und Situationen sowie durch ein engmaschiges Bedeutungsnetz…« Neue Frankfurter Presse
»Auch dieser Roman ist wieder durchsetzt mit Bildern von lapidarer Eindringlichkeit, die einmal mehr Zoë Jennys bemerkenswertes poetisches Talent sichtbar machen.« Thüringische Landeszeitung
»Ohne Pathos, ohne Analysiererei erzählt Jenny die Geschichte einer jungen Liebe. Einer Liebe, die mehr als Parabel des Erwachsenwerdens erscheint.« Lippische Neueste Nachrichten
»Der Lebensatem einer geborenen Erzählerin berührt den Leser…« Rheinischer Merkur
»Zoë Jenny ist ein Phänomen und wird auch von ihrer Generation als Exotin bestaunt und bewundert.« Unbekanntes Medium
»Niemand schreibt beiläufig große Dramen wie Zoe Jenny.« Petra
»Zoë Jenny ist ein starkes Stück Literatur gelungen.« Schweizer Buchhandel
»Wie Zoë Jenny diese Liebesgeschichte einfädelt, ist schlichtweg großartig.« ORB
»Sie reiht Sätze aneinander wie Perlen auf eine Schnur, sie sind schlicht, aber glänzend.« Chemnitzer Freie Presse
»Zoë Jennys Sätze sind klar und rein wie Bergwasser …« Sonntagsblick
»Anrührender Stoff, meisterhaft erzählt.« Bremervörder Zeitung
»Ein unverwechselbarer, gleichzeitig märchenhafter wie tiefernster Habitus.« Frankfurter Neue Presse
»Das hat etwas von Pop-Art mit ihren leuchtenden Farben und den Konturen, die keine Unschärfen zulassen.« Neue Zuger Zeitung
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Zoë Jenny
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Impressum
Meinem Vater
Sie ist selbst Vogel und Nest –
sie ist selbst Wesen und selbst Eigenschaften –
selbst Schwinge und selbst Feder –
selbst Luft und selbst Flug –
selbst Jäger und selbst Beute –
selbst Gebetsrichtung und selbst Beter –
selbst Suchender und Gesuchter –
selbst Erster und selbst Letzter –
selbst Fürst und selbst Untertan –
selbst Schwert und selbst Scheide. –
Sie ist Hag und auch Baum –
sie ist Zweig und auch Frucht –
ist Vogel und Nest.
Ahmad Ghazzali aus Sawanih
Nachdichtung Annemarie Schimmel
Ich wollte fortkommen, so weit weg wie nur irgend möglich. Aber nicht dorthin, nicht an den Ort, an den man geplant hat, mich hinzuschicken, wenn meine Zeit hier zu Ende geht. Auf keinen Fall werde ich ihnen folgen und tun, was sie verlangen. Das aber werde ich niemandem sagen, auch Matteo nicht.
Die Morgendämmerung ist noch nicht hereingebrochen, das Fenster ein schwarzes Rechteck. Die Bettdecke hinter mir ist zurückgeschlagen, die Innenseite warm und feucht. Ich wünschte, ich würde noch darunter liegen und schlafen; nicht hier am Tisch sitzen, nicht wach sein, nicht in diesem Haus. Es ist völlig still, alle schlafen. Aber manchmal denke ich, daß Ata die ganze Nacht wach oben unterm Dach sitzt, wie ein lauerndes Tier mit geöffneten Augen. Ich stelle sie mir wie einen Vogel mit riesigen Schwingen vor. Sie hockt auf ihren roten Kelimkissen vor dem kleinen Fenster, starrt in den Nachthimmel und wartet auf mich. In dem Moment, wenn ich ins Zimmer komme, regen sich ihre Schwingen und falten sich auf. Auf ihrem breiten weißen Rücken wird sie mich mitnehmen. Gemeinsam reisen wir ins Innere der Nacht, die eine Höhle ist, aber so weit, daß man keine Zeit haben wird, bis an ihr Ende zu kommen.
Aber wahrscheinlich schläft Ata, tief in ihren Decken und Kissen versunken, und denkt überhaupt nicht daran, das Haus zu verlassen. Tatsächlich wäre sie die letzte, die gehen würde, sie wird auch bleiben, wenn ich und Zafir schon längst woanders sind. Sie wird im Haus zurückbleiben wie in einer Festung. Wird wie immer für die Mahlzeiten und die frische Wäsche sorgen und der Mutter abends die Haare kämmen. Sie wird mein Zimmer und das Zafirs genau so belassen, wie wir es zurückgelassen haben.
Ich bin aufgewacht, weil ich wieder von dem fremden Mädchen träumte, besser gesagt, von ihrem Schatten, den ich damals vor dem Fenster gesehen habe. Ein in die Tiefe stürzender Schatten. Sie hatte sich kurz nach der Pause einfach vom Dach der Schule gestürzt. Wir rannten alle an die Fenster und starrten hinunter, wo sie reglos, wie eingepflanzt, mit dem Gesicht nach unten am Boden lag. Ich habe kein Blut gesehen, aber an der Art, wie der Körper dalag, flach und innerlich zerquetscht, ahnte ich, daß aus diesem Körper kein Atem mehr kam. Zwischen Strumpf und Hosenbein konnte man einen Streifen ihres nackten Beines erkennen. An diesen Streifen heller Haut erinnere ich mich genau, nicht aber an ihr Gesicht, als sie noch lebte.
Irgendwelche Männer hatten dann die Konturen ihres zerschmetterten Körpers mit Kreide nachgezeichnet, bevor sie ihn abtransportierten. Das alles ist schon ein Jahr her. Niemand spricht mehr darüber, auch ich denke kaum noch daran. Aber manchmal träume ich davon, wie der Körper vom Dach fällt und im Hof dumpf aufprallt. Ich höre das trockene, kratzende Geräusch, das die Kreide am Boden macht.
Ich habe das Mädchen nicht gekannt, sie war eine Klasse über mir, und unsere Wege kreuzten sich nur zufällig. Vielleicht bin ich ihr manchmal auf der Treppe begegnet und habe ihr zugenickt. Es erschreckt mich, daß jemand so einen Plan in sich haben kann, während er dabei lacht und lebt und ganz gewöhnlich aussieht. Ich bedauerte, nie mit ihr gesprochen zu haben. Noch Wochen danach machte es mir angst, daß sie durch das gleiche Tor gegangen war, sich in denselben Zimmern aufgehalten, täglich dieselben Menschen gesehen, dieselbe Luft geatmet hatte und dann von einer Sekunde auf die andere einfach weg war. Niemand wußte, warum sie es getan hatte. Es gab dafür keinen ersichtlichen Grund. »Das ist wie eine Krankheit«, hatte Zafir zu mir gesagt, »die einen haben sie und bringen sich eben um. Sie können gar nichts dagegen tun, es ist, wie wenn sie einem Gesetz folgten.«
Aber das glaube ich nicht. Es gibt kein Gesetz, daß man sterben muß, bevor man angefangen hat zu leben.
»Geh weg!« habe ich im Traum gerufen, während ich auf sie hinunterstarrte, wie sie mit verrenkten Armen und Beinen im Hof lag. Aber im Traum hat sie sich umgedreht und gelacht.
»Verschwinde endlich«, rief ich, aber ihr Lachen stieg nur noch lauter zu mir hoch. Ich war oben und sie unten. Sie war tot und ich lebte; aber sie lachte. Ich hielt mir die Ohren zu. Ihr Lachen verfolgte mich. Noch während ich träumte, wollte ich aufwachen. Ich sah mich selbst von tief unten aufsteigen und mich hochziehen an einer endlos langen Leiter. Es war so anstrengend, daß ich, als ich endlich aufwachte, völlig verschwitzt war und der Stoff des Nachthemdes an meiner Brust klebte. Ich hatte einen trockenen Mund. Hastig tastete ich nach dem Lichtschalter, wie aus Angst, es könnte für immer dunkel bleiben.
Langsam blättert die Nacht von den Bäumen, vor dem Fenster kann ich jetzt die Silhouette der Silberweide erkennen. Ich höre das Geschrei der Krähen. Sie versammeln sich in den Bäumen, hocken in den Baumkronen und verstecken sich. Irgendwo knackt eine Wasserleitung. Ata ist immer die erste, die aufsteht. Ihr Badezimmer befindet sich genau über meinem Zimmer. Meistens wache ich auf wegen diesen Wassergeräuschen. Sie beruhigen mich, es ist, als ob sich das Haus, nachdem es die Nacht hindurch tot gewesen war, wieder aufrichtet. Die Leitungen und Wasserrohre durchziehen das Haus wie Adern, die sich am Morgen wieder auffüllen. Ein Geräusch mündet in das andere, in den großen morgendlichen Strom von Stimmen, Schritten, Wasserplätschern und sich öffnenden Türen. Bald werde ich selber, verbunden mit den anderen, ein Teil dieses Stromes sein, der durch das Haus zirkuliert.
Nachdem ich geduscht habe, kommt Zafir ins Badezimmer. Er setzt sich auf den Badewannenrand und sieht mir dabei zu, wie ich vor dem Spiegel das Gesicht eincreme. Er fragt mich, ob ich mit ihm im Auto zur Schule fahren will, obwohl er genau weiß, daß ich nein sagen werde. Er weiß, daß Sezen mich abholt. Aber es genügt ihm nicht, mich nach dem Unterricht nach Hause zu fahren. Am liebsten würde er mich überallhin begleiten. »Ich will nicht, daß du in dieser Stadt alleine herumläufst.«
Er übertreibt. Er sagt, die ganze Stadt sei voller Mörder, Verbrecher und Vergewaltiger. Wenn er in der Zeitung über irgendein Verbrechen liest, kommt er und zeigt es mir. »Siehst du?« sagt er dann vorwurfsvoll, die Zeitung wie einen Beweis in der Hand.
Sezen wartet auf mich, an den Birnbaum gelehnt, die Augen geschlossen, als würde sie noch schlafen. Zur Begrüßung küssen wir uns dreimal; je einen Kuß auf die Wange und einen auf den Mund. Sie spitzt dabei die Lippen, und ich wische mir danach den Mund ab, weil sie Lippenstift trägt.
Wir fahren mit der Bahn, und manchmal stellen wir uns vor, einfach woanders hinzufahren. Und ich liebe sie, weil sie aussieht, wie eine, die auf einer großen Reise ist und gerade darüber nachdenkt, wohin sie als nächstes gehen soll.
* * *
Ayse öffnete das Fenster. Vom Schulhof drang die Musik und das Brettern der Skateboards bis in ihr Versteck hoch. Die hinterste Kabine der Mädchentoilette im zweiten Stock des Schulhauses war Ayses und Sezens Versteck. Zafir hatte sie früher oft ins Schulgebäude geschickt, wenn sich Ayse in den Pausen bei den anderen auf dem Hof aufgehalten hatte, aber seit Sezen die Kabine mit dem Fenster entdeckt hatte, schloß sie sich mit ihr freiwillig ein. Denn von hier oben konnten sie den ganzen Hof überblicken, ohne selber gesehen zu werden, und Sezen konnte in Ruhe rauchen. Es war ihr Rauchzimmer, Versteck und Spionageposten in einem. »Einen besseren Platz kann man gar nicht haben«, hatte Sezen begeistert gesagt. Mit ihrer geklauten Kamera, die sie immer in ihrer Tasche bei sich trug, fotografierte sie manchmal aus dem Fenster.
Jetzt lehnte sie sich in ihrer schwarzen Lederjacke an die zugesperrte Tür und zündete eine Zigarette an.
»Die erste ist die beste«, sagte sie und zog genüßlich am Filter.
Ayse beugte sich aus dem Fenster und konnte beobachten, wie die Schüler zu Fuß, auf Fahrrädern oder auf Mopeds in das offene schmiedeeiserne Tor einbogen. Sie konnte ihre Stimmen hören, Lachen und Rufe; einige schrieben hastig etwas in ihre Hefte, andere lagen träumend auf den Bänken herum, im Schatten der drei alten Kastanien.
Sascha und Achim fuhren auf ihren Skateboards im Slalom zwischen den Getränkedosen hindurch, die sie aufgestellt hatten, und sprangen dann auf die Sitzfläche einer Bank, von wo sie, die Arme ausgestreckt, im Flug in der Luft wendeten. Ein paar Schüler, mit tiefhängenden Hosen und T-Shirts, die bis zu den Knien reichten, klatschten.
»Eines Tages werden sie sich den Hals brechen«, sagte Ayse.
»Umso besser, dann mach ich ein Bild davon«, sagte Sezen. Sie beobachtet Ayse durch das Objektiv ihrer Kamera.
»Du stehst voll im Licht«, sagte sie, »du versperrst kraß die Sicht in den Morgenhimmel.«
Aber Ayse rührte sich nicht, sie hatte Zafir entdeckt, der belustigt zusah, wie Sascha und Achim auf ihren Brettern durch die Luft flogen. Zafir war einen Kopf größer als die anderen, und eine Schar von Freunden umgab ihn wie ein Wall.
An der efeubewachsenen Mauer, die den Schulhof von der Straße trennte, standen Paul und »Scheitel«. Alle nannten ihn so, weil er die Haare mit Gel so exakt auf die rechte Seite kämmte, daß der Scheitel eine deutliche weiße Linie bildete. Sezen lachte über ihn, dieses Milchgesicht, das nach Parfum roch. Jetzt hatte Scheitel die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete mit feindseliger Miene Sascha und Achim. Plötzlich gab Paul dem Ghettoblaster einen Tritt, so daß die Musik abrupt abbrach und sich alle nach ihm umblickten. Als Achim auf seinem Skateboard langsam heranrollte, stellte sich Paul streitlustig von einem Bein aufs andere. Achim trug die Hosen so tief auf den Hüften, daß man den weißen Bund der Shorts sehen konnte. Er zupfte daran, während er um Paul und Scheitel kreiste.
»He, gibt’s ’n Problem?« rief er.
»Na ja. Genaugenommen machst du die Bank kaputt«, gab Scheitel sachlich zurück und zeigte auf die Stelle, wo das Holz am Rand der Sitzfläche von den Rädern abgeschliffen und abgewetzt war.
Ihre Stimmen waren so laut, daß Ayse jedes Wort verstehen konnte.
»Ach wirklich?« sagte Achim, ohne hinzusehen. »Kommst du von der Gestapo, oder was?«
»Ja genau«, sagte Scheitel, »und du wärst der erste, den ich abtransportieren würde. Du machst aus diesem Schulhof nämlich einen gottverdammten Schweinestall!« Er wies auf die Getränkedosen, die Jacken und Rucksäcke, die verstreut am Boden lagen.
Sascha stieg vom Skateboard und fing an, die Dosen einzusammeln. »Komm, hauen wir ab«, rief er Achim zu.
»Klar, die verstehen eh keinen Spaß«, sagte Achim verärgert.
Paul stemmte die Arme in die Hüfte. »Wie oft haben wir das jetzt schon erlebt?« fragte er so laut, daß es jeder auf dem Hof hören konnte.
»Schon zigmal.«
»Die Sache ist doch die«, Paul drehte sich erklärend zu den anderen um, »wir sagen das jetzt nicht zum erstenmal. Es kann doch nicht sein, daß irgendwelche Idioten hier den Hof besetzen und die Bänke kaputtmachen, demnächst schmieren sie ihre Tags an die Wand. Jetzt ist Schluß mit der Schweinerei!«
Einige nickten.
»Wir schmieren überhaupt nichts an die Wand«, sagte Achim, »außerdem lasse ich mir von euch das Skaten nicht verbieten!«
»Laß sie doch. Skaten wir eben woanders«, sagte Sascha beschwichtigend.
»Ich denke überhaupt nicht dran!« erwiderte Achim gereizt.
Inzwischen waren noch mehr Schüler hinzugekommen, die, dicht nebeneinander stehend, einen Halbkreis bildeten.
»Da unten streiten sie mal wieder«, sagte Ayse, zu Sezen gewandt.
»An so einem schönen Frühlingsmorgen hat man auch nichts Besseres zu tun«, sagte Sezen, schnippte die Zigarette ins Klo, wo sie mit einem kurzen Zischen erlosch, und stellte sich neben Ayse ans Fenster.
In diesem Moment schritt Sigi quer über den Platz. Groß und schlank, in schwarzen Schnürstiefeln. Ayse erschrak immer, wenn sie ihn sah, und wenn sie ihm zufällig im Flur oder im Treppenhaus begegnete, wich sie sofort zur Seite.
»Booah, der Offizier«, sagte Sezen spöttisch.
Neben ihm ging ein Schüler, den Ayse noch nie gesehen hatten.
»Wer ist denn das«, fragte Sezen.
Der Neue war etwas kleiner als Sigi, blickte nervös um sich und strich sich mit der Hand unsicher das Haar zurück. Sigi eilte zielstrebig auf die streitende Gruppe zu. Paul und Scheitel begrüßten ihn kurz, indem sie die Hände aufeinanderschlugen. Die Arme verschränkt und den Kopf etwas zurückgeneigt, schien Sigi dem Neuen etwas zu erklären, der aufmerksam zuhörte. Ayse konnte das scharf geschnittene Profil des Neuen erkennen. Plötzlich blickte Paul wild um sich, stürzte sich unvermittelt auf Sascha und warf ihn zu Boden. Sascha stieß einen Fluch aus, als Paul sich rittlings auf ihn setzte und blitzschnell ein Schmetterlingsmesser aus seiner Tasche zog, dessen Klinge blitzend im Sonnenlicht aus dem Schaft schoß.
Sezen fuhr das Objektiv aus.
»Sie werden sich noch umbringen«, sagte Sezen, während sie auf den Auslöser drückte.
Ayse biß sich auf die Lippen, als sie sah, wie sich Zafir einen Weg durch die Menge bahnte und drohend vor Sigi aufbaute. »Warum mischt er sich immer ein«, fragte sie leise und zupfte ängstlich an ihrem Hemdkragen.
Inzwischen brüllten sich Sigi und Zafir an, während Sascha am Boden lag und zu schreien versuchte, denn Paul drückte ihm mit den Ellbogen die Arme zu Boden und hielt ihm mit einer Hand den Mund zu. Er fuchtelte mit dem Messer vor Saschas Gesicht herum.
»Schau lieber nicht hin«, sagte Sezen und schob Ayse etwas zur Seite. Sezens Kamera klickte unablässig.
In diesem Moment hallte der schrille Ton der Schulhausklingel über den Hof, aber niemand rührte sich. Das Sonnenlicht fiel durch die jungen Blätter und tanzte in Hunderten von Lichtpunkten über den Boden und auf den Gesichtern der Schüler, die näher zusammenrückten und auf Paul und Sascha starrten. Plötzlich versetzte der Neue, der etwas abseits gestanden hatte, Paul einen heftigen Tritt in die Seite, so daß er durch den unerwarteten Schlag vornüberkippte. Das Messer schlitterte über den Boden. Sascha rollte unter Paul weg und rappelte sich fluchend auf.
Paul blickte verdutzt um sich, fuhr auf und wollte sich schon wutentbrannt auf den Neuen stürzen, als Sigi ihn hart an der Schulter packte.
Sezen klatschte triumphierend in die Hände. »Hat man je ein blöderes Gesicht als das von Paul gesehen!« sagte sie lachend, während sie den Film aus der Kamera zog und in die Tasche steckte.
Ayse stand noch immer wie erstarrt in die Ecke des Fensterrahmens gedrückt. Sezen klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Zafir lebt noch, oder?«
Auf dem Hof gingen die Schüler erleichtert und wieder laut schwatzend auseinander. Aus den Augenwinkeln sah Ayse, wie der Neue im Gebäude verschwand. Dann eilten die Schüler durch die Flure zu ihren Klassenzimmern, und unter den Kastanien wurde es still.
* * *
Kürzlich hat Sigi hinter mir auf den Boden gespuckt. Ich habe genau gehört, wie er auf dem Flur hinter mir näher kam und plötzlich spuckte. Dann kehrte er abrupt um und ging davon. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Zafir irgendwo auflauern und verprügeln. Bei dem Gedanken wird mir übel. Zafir würde nicht die Flucht ergreifen. Im Gegenteil, jeden Schlag würde er herausfordern, weil er rasend vor Wut um sich schlagen und sich wehren würde.
Ich träume davon, mit Zafir allein auf der Welt zu sein. So wie damals, als wir einen Sommer lang in diesem Tal lebten, in dem man spurlos verschwinden kann. Vater hatte das Haus für die Ferien gemietet. Das Haus stand oberhalb des Flußufers einsam auf einer Waldwiese, etwas abgelegen vom Dorf. Man konnte es nur durch einen schmalen Pfad erreichen, und manchmal gingen Zafir und ich absichtlich vom Weg ab und tauchten in den Wald ein wie in eine Höhle. Ich ging hinter Zafir. Er knickte die dornigen Äste oder schob sie zur Seite, damit ich ungehindert durch den Wald gehen konnte.