Ein systemisch-kognitionspsychologischer Ausbildungsrahmen für agiles Business und Executive Coaching - Inga Freienstein - E-Book

Ein systemisch-kognitionspsychologischer Ausbildungsrahmen für agiles Business und Executive Coaching E-Book

Inga Freienstein

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Beschreibung

Wenn Coaching in der Praxis wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, muss es unbedingt eines erfüllen: Coaching muss im Hinblick auf die zugrunde gelegten Wirkannahmen und den Methodeneinsatz theoriegeleitet erfolgen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verpflichtet sein. Der vorliegende psychologische Lehransatz wendet sich an bereits tätige Business und Executive Coaches sowie Coachinginteressierte mit dem Ziel, ein schulenübergreifendes psychologisches Coaching-Rahmenmodell der zugrunde liegenden geistigen Prozesse zu vermitteln, auf deren Basis Coachingwirkungen im Berufs- und Wirtschaftskontext angenommen werden können. Ein solches Rahmenmodell liefert in der Praxis handlungsleitende Orientierung sowohl für die gehirngerechte Gestaltung des Coachingprozesses als auch für den wissenschaftlich begründeten Einsatz von Coachingmethoden. Den kognitions- und neuropsychologischen Modellannahmen zufolge bildet eine nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Zusammenarbeit die Grundlage für lebenslange Potenzialentwicklung und Agilität.

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Inga Freienstein

Ein systemisch-kognitionspsychologischer Ausbildungsrahmen für agiles Business und Executive Coaching

Potenzialentwicklung im Kontext dynamischen Wandels

2022

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:

www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2022

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9053-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9054-7 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790530

© 2022 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt bei der Autorin.

Inhalt

Geleitwort

1 Einleitung – Business Coaching im Wandel

2 Systemische Einordnung von Coaching: Ein Zeitgeistphänomen und seine Treiber

2.1 Komplexität und Vernetztheit

2.2 Individualisierung und Wertepluralismus

2.3 Ambivalenz und Ambiguität

3 Denken außerhalb der Komfortzone

3.1 Coaching als Handlungsfeld der Problemlösepsychologie

3.1.1 Kennzeichen von Aufgaben, Problemen und Krisen

3.1.2 Human Factors

3.2 Agilität als Schlüssel zur Gestaltung des Wandels

3.2.1 Agilität als Denkhaltung im Sinne eines Growth Mindsets

3.2.2 Kollaboration und iterative Zielerreichung

4 Gegenstandsbereich und Systematisierung

4.1 Coaching als Potenzialentwicklungsinstrument

4.2 Systematisierung von Coachingvarianten

4.2.1 Verarbeitungstiefe im Coaching

4.2.2 Internes versus externes Coaching

4.2.3 Einzel- versus Gruppencoaching

4.3 Evaluationskriterien im Überblick

5 Zur Lehr- und Lernbarkeit von Coaching

5.1 Deeper Learning als Schlüssel moderner Lehrdidaktik

5.2 Evidenzbasierung als didaktisches Prinzip

6 Theoretischer Ausbildungsrahmen

6.1 Der systemisch-konstruktivistische Coachingansatz

6.2 Zwei-Prozess-Modell menschlichen Denkens

6.3 Schemabasierte Verarbeitung von Erfahrungen

6.3.1 Selbstkonzept als Filter für Selbstwirksamkeitserwartung

6.3.2 Sinnsuche – wer wir sind und wofür wir stehen

6.3.3 Dysfunktionale Schemata

6.4 Potenzialentwicklung auf Basis neuronaler Plastizität

6.4.1 Lernen zwischen Leidensdruck und Lustprinzip

6.4.2 Resilienzfaktoren im Erwachsenenalter

6.5 Exkurs zur Bedeutung und zum Verlust von Arbeit

6.5.1 Manifeste und latente Funktionen von Erwerbsarbeit

6.5.2 Die Bedeutung erlebter Handlungskontrolle

6.5.3 Langzeitarbeitslosigkeit als chronischer Stressor

7 Ein systemisch-kognitionspsychologisches Rahmenmodell zu den Wirkmechanismen im Coaching

7.1 Allgemeine Wirkprinzipien im Coaching

7.1.1 Beziehungs- und Ressourcenorientierung

7.1.2 Erlebnisorientierung

7.1.3 Reflexions- und Handlungsorientierung

7.2 Zwei Gehirne sind mehr als die Summe ihrer Teile

7.2.1 Neue Qualität gemeinsam reflektierten Problemlösens

7.2.2 Systemischer Entwicklungsansporn durch Coaching

7.3 Dynamik fertigkeitsbasierter Verarbeitung sowie regelbasierter und komplexer Problemlöseprozesse

7.4 Das Arbeitsgedächtnis als Ort bewusster Verarbeitung

7.4.1 Visuell-räumliche Verarbeitung

7.4.2 Sprachlich-phonologische Verarbeitung

7.4.3 Episodische Verarbeitung

7.5 Intervention über die „Methode des lauten Denkens“

7.6 Das mentale Modell über den Problemraum

7.6.1 Identifikation nicht zielführender Verhaltenstendenzen

7.6.2 Visualisierung mentaler Modelle

7.6.3 Erschließung von Entwicklungspotenzialen

7.7 Lösungs- und ressourcenorientiertes Priming

7.7.1 Primingeffekte und Erfolgszuversicht

7.7.2 Reziproke Verknüpfungen in assoziativen Netzwerken

7.7.3 Abgrenzung von Priming und Framing

7.7.4 In Bildern sprechen – Metaphorische Frames

7.7.5 Lösungs- und ressourcenorientiert bahnende Fragen

7.8 Aufrechterhaltung einer agilen, resilienten Denkhaltung

7.9 Kohärenzförderung durch autobiografische Narrative

7.10 Transfer in die Praxis

8 Zusammenfassung

9 Literaturverzeichnis

Geleitwort

Dass in einem Coaching-Lehrbuch ein systemischer Ansatz verfolgt wird, ist nicht überraschend, aber dass in diesem Lehrbuch auf die Kognitionspsychologie zurückgegriffen wird, mag dann doch erstaunen. Nach der Lektüre dieses Lehrbuchs ist man aber eines Besseren belehrt. Inga Freienstein zeigt überzeugend, dass ausgesprochen zahlreiche theoretische Konzepte und empirische Befunde der Kognitionspsychologie nur darauf warten, in Coaching-Verfahren fruchtbar genutzt zu werden. Das beginnt damit, dass Coaching als professionelles Bemühen um die Lösung komplexer dynamischer Probleme aufgefasst werden kann. Dadurch steht ein reichhaltiger begrifflicher Rahmen zur analytischen Durchdringung von Coaching-Anliegen bereit, der noch erweitert wird um theoretische Grundlagen wie ein bekanntes Zwei-Prozess Modell des Urteilens und Entscheidens, Modelle des menschlichen Arbeitsgedächtnisses und Konzepte aus der Forschung zu menschlichen Fehlern beim Handeln in sozio-technischen Systemen. Dies alles mündet im sogenannten Systemisch-kognitionspsychologischen Rahmenmodell zu den Wirkmechanismen im Coaching, das im Zentrum dieses Lehrbuchs steht.

Doch dabei bleibt dieses Lehrbuch nicht stehen. Inga Freienstein demonstriert auch, dass und wie grundlegende Befunde der Kognitionspsychologie wie etwa Primacy-Effekte, Framing-Effekte, Priming-Phänomene oder Befunde zu Schemata und mentalen Modellen für professionelles Coaching fruchtbar gemacht werden können. Diese Evidenzbasierung, für die in den folgenden Kapiteln plädiert wird, ist sehr wichtig und nicht trivial. Wie dargelegt wird, ist professionelles Coaching nicht an akademischen Einrichtungen entwickelt worden, sondern in der Praxis und damit zunächst ohne explizite wissenschaftliche Fundierung. Inga Freiensteins Anliegen ist es nun, einen agilen, wissenschaftlich fundierten Ausbildungs-, Reflexions- und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem Coachingwirkungen erklärt, initiiert, vorhergesagt und evaluiert werden können, und dafür zu werben, professionelles Coachinghandeln stärker an der Wissenschaft auszurichten.

Dieses ausgesprochen wichtige Anliegen kommt auch an einem dritten Punkt zum Vorschein, den ich hier erwähnen möchte. Inga Freienstein plädiert in ihrem Lehrbuch dafür, wissenschaftliches Vorgehen zum Zweck des Erkenntnisgewinns auch als Modell für das Vorgehen beim Coaching zu verwenden. Das hat viel Charme. Erfahrungsberichte liefern demnach die Daten, auf deren Basis zunächst induktiv Hypothesen über Sachverhalte und Wirkzusammenhänge entwickelt werden. Die Hypothesen werden geprüft mit dem Ziel, ein möglichst veridikales Modell des Erlebnis- und Handlungsraums der Person zu erhalten, die sich dem Coaching unterzieht. Darauf können Interventionen aufbauen, wofür wiederum zahlreiche Techniken zur Verfügung stehen, deren kognitionspsychologische Plausibilität Inga Freienstein gut nachvollziehbar herleitet.

Ich habe dieses Lehrbuch mit viel Gewinn gelesen und ich bin davon überzeugt, dass es vielen anderen gehen wird wie mir.

Univ.-Prof. Dr. Axel Buchner

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

1 Einleitung – Business Coaching im Wandel

Wenn Business Coaching in der Praxis wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, muss es unbedingt eines erfüllen: Coaching muss im Hinblick auf die zugrunde gelegten Wirkannahmen theoriegeleitet erfolgen und wissenschaftlichen Erkenntnissen verpflichtet sein. Dies entspricht trotz des wachsenden wissenschaftlichen Interesses keineswegs den Standards derzeitiger Coachingpraxis, die vielfältigen Strömungen und Interessen unterliegt. Der vorliegende psychologische Lehransatz wendet sich an bereits tätige Business und Executive Coaches sowie Coachinginteressierte mit dem Ziel, ein psychologisches Coaching-Rahmenmodell der zugrunde liegenden geistigen Prozesse zu vermitteln, auf deren Basis Coachingwirkungen im Berufs- und Wirtschaftskontext angenommen werden können. Ein solches Rahmenmodell liefert für die Praxis handlungsleitende Orientierung und praxisrelevante Empfehlungen sowohl für die gehirngerechte und hypothesengeleitete Gestaltung des Coachingprozesses als auch den wissenschaftlich begründeten Einsatz von Coachingmethoden. Gleichzeitig bietet ein solches Rahmenmodell eine Grundlage für die weitere Forschung mit Blick auf einen fortschreitenden Erkenntnisgewinn auf diesem Gebiet. Der Lehransatz basiert auf kognitions- und neuropsychologischen Erkenntnissen. Das Lehrbuch setzt Kenntnisse wissenschaftlichen Arbeitens auf akademischem Niveau voraus. Psychologisches Vorwissen ist von Vorteil, wird aber nicht vorausgesetzt.

Den Ausgangspunkt dieses Buches bildet eine ausführliche systemische Einordnung von Business und Executive Coaching im Kontext dynamischen Wandels unter den Einflüssen großer Megatrends wie der Technologisierung, Globalisierung und Individualisierung. Die hohe Nachfrage nach Coaching kann als Reaktion auf immer kürzere Innovationszyklen, exponentielles Wachstum von Wissen und Anpassungsdruck unter dynamischen, vernetzten und durch Ambivalenz und Ambiguität geprägten Lebensbedingungen gesehen werden. Die damit einhergehende unübersichtliche Vielfalt an Informationen und Handlungsoptionen in einer hyperkomplexen Arbeitswelt führen zu einer verstärkten Suche nach Orientierung, Sinnhaftigkeit und Identität. Vor diesem Hintergrund lässt sich der global zu beobachtende Coachingtrend als ein Zeitgeistphänomen zur Bewältigung kognitiver Beanspruchung – wenn nicht sogar chronischer Überforderung – verstehen.

Angesichts der Dynamik und Komplexität von Veränderungen in einer global vernetzten Welt, in der Menschen plötzlich mit ungeahnten Problemen wie einer weltweiten Pandemie konfrontiert werden, stellt die Fähigkeit, sich flexibel an Veränderungen anzupassen und auf Neues zu reagieren, es sogar proaktiv zu antizipieren, eine überlebenswichtige Schlüsselkompetenz dar. In Zeiten also, in denen bewährte Spielregeln und Rahmenbedingungen ganz plötzlich nicht mehr gelten, kann Coaching als Potenzialentwicklungsinstrument einen bedeutenden Beitrag leisten.

Die einleitende Überschrift „Business Coaching im Wandel“ lädt zu einer Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Beratungsformat aus zwei Perspektiven ein: Aus der einen Perspektive, die wir systemisch beleuchten werden, dient Business Coaching dem Meistern komplexer Herausforderungen im dynamischen Wandel. Die zweite Perspektive bezieht sich auf die Coachingdisziplin selbst, welche in den Jahren ihres enormen Booms einen spürbaren Wandel in der Ausrichtung hin zu einer Pluralisierung von Blickrichtungen in der Zusammenarbeit zwischen Coaches sowie Klienten1 vollzogen hat. Coaching unterliegt als Beratungsformat ebenso wie das Umfeld, in dem es stattfindet, einem fortlaufenden Anpassungsprozess. Infolgedessen treten neben anspruchsvollen Performance-Zielen zunehmend übergeordnete Bedürfnisse nach Sinnhaftigkeit in den Beratungsfokus, wodurch sich der Komplexitätsgrad der zu erbringenden Coachingdienstleistungen im Zuge des erweiterten Leistungsspektrums und des steigenden Anforderungsniveaus signifikant erhöht hat. Ein systemisch orientiertes Coaching-Rahmenmodell muss diese Kontextbedingungen einbeziehen, um den komplexen mentalen Anforderungen, denen Coach und Klient ausgesetzt sind, die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Das Ziel, Menschen durch professionelles Coaching bei individuellen und unternehmerisch hochkomplexen Herausforderungen bestmöglich zu unterstützen, erfordert somit auch von professionell tätigen Coaches lebenslange Lernbereitschaft, dauerhaftes Interesse an wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn und eine agile Denkhaltung. Ziel dieses Lehrbuches ist daher nicht, Best Practice und den Status Quo theoretischer Ansätze zu vermitteln, sondern einen wissenschaftlich fundierten Ausbildungs-, Reflexions- und Handlungsrahmen zu schaffen, in dem Coachingwirkungen erklärt, initiiert, vorhergesagt und evaluiert werden können. Die theoretische Basis bilden grundlegende, empirisch bewährte Modellannahmen und Erkenntnisse zu geistiger Plastizität, menschlicher Informationsverarbeitung und komplexem Problemlösen, um darauf aufbauend geistige Prozesse in der professionellen Zusammenarbeit zu beschreiben, von denen erwünschte Wirkannahmen ausgehen. Eine nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Zusammenarbeit bildet die Grundlage für lebenslange Potenzialentwicklung. Im Folgenden soll zunächst die Entwicklung der Coachingdisziplin skizziert werden, bevor wir uns der systemischen Einbettung und theoretischen Fundierung dieses anspruchsvollen Handlungsfeldes widmen.

Vor über 40 Jahren begann der „Siegeszug“ von Coaching als Begriff für professionelle Beziehungsarbeit im Wirtschaftskontext (vgl. Roth & Ryba, 2016), der sich zu einem globalen Trend entwickelt hat und seither sowohl das Human Resources Management von Organisationen als auch individuelle Dienstleistungssektoren wie ein roter Faden durchzieht. Ausgehend von den USA verstand man zu Beginn dieser Entwicklung darunter noch einen ziel- und entwicklungsorientierten Führungsstil, der auch in Deutschland unter dem Slogan „Führungskraft als Coach“ (vgl. z. B. Lippmann, 2013) Beachtung fand und ungeachtet der damit einhergehenden potenziellen Rollenkonflikte bis heute die Führungskräfteentwicklung von Organisationen inspiriert. Günstig im Hinblick auf Image und Akzeptanz unter anderem im Top Management von Unternehmen dürften sich die begrifflichen Wurzeln im angloamerikanischen Leistungssport mit dem Streben nach Spitzenleistung ausgewirkt haben (vgl. Böning, 2005, 2014). Etwa Mitte der 1980er Jahre erweiterte sich das Verständnis von Coaching um die gezielte Karriereförderung von Potenzialträgern und Führungsnachwuchskräften durch erfahrene Führungskräfte, welche die Rolle des Coaches einnahmen (heute spricht man in diesem Zusammenhang bevorzugt von Mentoring). In dieser Zeit kam der Coaching-Trend nach Deutschland, spannenderweise aber mit einem zu Beginn vergleichsweise exklusiven Fokus auf Top Manager durch externe Coaches (im Überblick vgl. Roth & Ryba, 2016).

Seit Ende der 1980er Jahre hat sich Coaching als ein spezielles Beratungsformat interdisziplinär mit steigender öffentlicher Aufmerksamkeit und Nachfrage aus der Praxis für die Praxis entwickelt und ist zu einem akzeptierten Instrument der Personal- und Führungskräfteentwicklung avanciert. Spezifisch für den deutschen Markt ist dabei eine zu beobachtende Aufgabenteilung: Während das Top Management weiterhin vorwiegend von externen Coaches beraten wird, übernehmen Personalentwickler bzw. unternehmensinterne Coaches das Coaching von (Nachwuchs-)Führungskräften der unteren bis mittleren Führungsebenen (vgl. ebd.). Gleichzeitig hat sich eine breitgefächerte, durch Freelancer dominierte Coachinglandschaft etabliert, die ein Grund für die zunehmende Unübersichtlichkeit und begrenzte wissenschaftliche Fundierung „im Feld“ sein dürfte. Denn die breite Akzeptanz und Nachfrage seit Anfang der 1990er Jahre führte zu einer stetigen Diversifizierung an Coachingvarianten und Anwendungsbereichen. Mit der wachsenden Vielfalt kam es ab Mitte der 1990er Jahre zu einer „inflationären“ (Roth & Ryba, 2016, S. 23) Nutzung des Begriffs und in Reaktion darauf zu vertieften Professionalisierungsbemühungen, die mit der Gründung verschiedener Coachingverbände und einem steigenden wissenschaftlichen Forschungsinteresse einhergingen. Greif (2014) fasst die Entwicklungen so zusammen:

„Eine der ersten auf Coaching ausgerichteten Verbandsgründungen war 1992 der European Mentoring and Coaching Council (EMCC). Im Jahr 1995 gründete sich der heute weltweit größte Coachingverband, die International Coaching Federation (ICF), federführend durch Thomas Leonard. Der Deutsche Bundesverband Coaching (DBVC) hat sich 2004 gegründet. [….] Kennzeichnend für den Stafettenwechsel und die Professionalisierung der Ausbildungen ist, dass die Coaches der zweiten Generation von den Verbänden akkreditierte Ausbildungen anbieten. [….] Weitere Kennzeichen der Professionalisierung sind die Durchführung von Kongressen und die Herausgabe von Fachzeitschriften. Erste große internationale Coachingkongresse wurden in den USA etwa ab 1996 durchgeführt. In Deutschland fand ein als Aufbruch verstandener Coachingkongress interessierter deutschsprachiger Gruppen und Verbände 2003 in Wiesbaden statt.“ (ebd., S. 302)

Zeitgleich im Trend stieg im Human Resources Management von Organisationen seit den 1990er Jahren auch die Relevanz managementdiagnostischer Verfahren im Rahmen des Performance Managements.

„Es scheint in einer Reihe von Unternehmen, Verwaltungen und halbstaatlichen Organisationen eine enge Korrelation zwischen der Etablierung von Managementdiagnostik und dem zurzeit sehr populären Coaching zu geben.“ (Kühl, 2006, S. 141)

Mit der seit Jahren zu beobachtenden zunehmenden Orientierung an Key Performance Indices (KPIs) und dem Einsatz potenzial- und managementdiagnostischer Instrumente in der Personal- und Führungskräfteentwicklung von Wirtschaftsunternehmen, Öffentlichem Dienst bis hin zu Unternehmen der Sozialen Arbeit wird Coaching gleichzeitig zu einem Erfolgsfaktor für die individuelle Karriereentwicklung in Organisationen. Der Trend zu (Einzel-)Assessments, Management-Audits und 360-Grad-Feedback in Organisationen hat zur Folge, dass im Karrierezyklus insbesondere von Talenten und (Nachwuchs-)Führungskräften regelmäßig individuelle Entwicklungspotenziale aufgezeigt sowie über Business und Executive Coaching erschlossen werden. Eine Verweigerung der Teilnahme an entsprechenden eignungs- und potenzialdiagnostischen Verfahren sowie an einem sich anschließenden Coaching käme leicht einem „Karriere-Aus“ in der Organisation gleich. Der Coachingboom könnte so durch einen fortlaufenden Personalentwicklungszyklus aus „Diagnostik – Planung von Interventionen – Intervention – Fortschrittsevaluation mit erneuter Diagnostik“ (Kühl, 2008, S. 142) mitbedingt sein. Dies dürfte aber die hohe und ebenfalls gestiegene Nachfrage nach privatfinanziertem Coaching nicht vollständig erklären, zumal sich im Trend die inhaltliche Ausrichtung von Performance-Zielen (z. B. gemäß dem prominenten GROW-Ansatz von Whitmore, 2009) um Fragen zur individuellen Lebensgestaltung, Identitäts- und Sinnsuche erweitert hat (z. B. Stelter, 2014).

Nach wie vor ergänzen sich Coaching-Forschung und -praxis nur in überschaubarem Maße. Während sich Pioniere der ersten Coaching-Generation auf damals vorherrschende theoretische Grundlagen und psychotherapeutische Methoden stützten, entstanden vertieftere wissenschaftlich orientierte Ansätze erst später und wirkten sich nicht maßgeblich auf die darauffolgende Praktiker-Generation aus (vgl. Greif, 2008a, 2014; Roth & Ryba, 2016). Ganz im Gegenteil lässt sich im Hinblick auf eine wissenschaftliche Fundierung in der Praxis ein eher rückläufiger Trend beobachten (Greif, 2014). Dies dürfte unter anderem daran liegen, dass sich Feldforschung und Evaluationen in einer durch Freelancer geprägten Coachingszene (vgl. Stephan & Rötz, 2018, Marburger Coachingstudie 2016/17) betriebswirtschaftlich in der Regel nicht lohnen bzw. individuell nicht geleistet werden können. Die Nachfrage bestimmt wiederum den Ausbildungsmarkt, wobei Methodenorientierung Vorrang vor wissenschaftlicher Fundierung zu haben scheint. Folgt man Übersichtsarbeiten und Metaanalysen, so verzeichnet die Praktikerliteratur zu Coaching in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre ein starkes Wachstum mit dem Schwerpunkt auf Tool-Bücher, während sich etwa zehn Jahre zeitversetzt die Forschungsliteratur zu Coaching verstärkt entwickelt (Greif, Schmidt & Thamm, 2012; Kotte, Hinn, Oellerich & Möller, 2016). Mit zunehmender Fülle recht uneinheitlicher Einzelbefunde steigt jedoch auch die Herausforderung, sich einen dezidierten Überblick über den wissenschaftlich begründeten Erkenntnisstand zu verschaffen (Kotte et al., 2016).

Deutschland rangiert heute mit ca. 8.000 Coaches hinter den USA und Großbritannien auf Platz drei und verfügt über eine „im weltweiten Vergleich recht gut entwickelte Coaching-Landschaft“ (Roth & Ryba, 2016, S. 23). Der Umsatz im deutschen Coaching-Markt betrug 2016 konservativen Berechnungen zufolge etwa 520 Mio. Euro mit einem jährlichen Wachstum von ca. 10 Prozent in der vergangenen Dekade seit dem Ende der letzten Wirtschaftskrise (Stephan & Rötz, 2018). Laut einer von der International Coaching Federation (ICF) beauftragten und von der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) durchgeführten globalen Coachingstudie (2020), in die Daten aus 161 Ländern eingingen, belief sich das Umsatzvolumen der Coachingbranche in 2019 auf schätzungsweise rund 2,85 Milliarden Euro mit einem Wachstum von 21 Prozent gegenüber 2015. Die größten Zuwächse an professionellen Coaches bzw. Führungskräften, die Coaching praktizieren, zeigten sich demnach in Latein Amerika, der Karibik und in Ost Europa (vgl. ebd.).

„Globally, it is estimated that there were approximately 71,000 coach practitioners in 2019, an increase of 33% on the 2015 estimate. Growth was especially strong in the emerging regions of Latin America and the Caribbean (+174%) and Eastern Europe (+40%).

The number of managers/leaders using coaching skills is estimated to have risen by almost half (+46%). This estimate should be viewed as strictly indicative and subject to a higher level of uncertainty than the figures for coach practitioners. However, similar to the coach practitioner estimates, Latin America and the Caribbean recorded the largest growth (+198%). In Asia, the estimated number of managers/ leaders using coaching skills more than doubled (+124%)” (ICF, 2020, S. 7).

Mit der global steigenden Nachfrage sind im Megatrend der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle in der Coachingbranche zu beobachten. Die zunehmende Digitalisierung von Coachingdienstleistungen, begünstigt durch die Pandemie, hat unter anderem zu einem globalen Wettbewerb um Plattformlösungen mit beachtlichen finanziellen Investments geführt, mittels derer unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) beispielsweise die ideale Passung zwischen Coachinganliegen und Coachinganbietern erzielt werden soll. Umso mehr steigt die Bedeutung wissenschaftlicher Fundierung und Transparenz von Gütekriterien nicht nur menschlichen Coachinghandelns, sondern ebenso digitaler Coachingdienstleistungen auf Basis von Algorithmen. Zudem steigt die Relevanz mediendidaktischer Kompetenzen und begleitender Forschung für die Coachingpraxis im virtuellen Raum.

Zusammenfassend verdeutlichen diese Entwicklungen die große Akzeptanz und Verbreitung von Coaching, aber auch eine ambivalente, wenn nicht gar „schwierige Beziehung“ (Greif, 2014, S. 295) zwischen Coachingpraxis und Wissenschaft. Abbildung 1 fasst wesentliche Meilensteine zur Entwicklungsgeschichte von Coaching zusammen. Die weiteren Entwicklungen werden mit großen Herausforderungen an Theoriebildung, Methodik und Qualitätssicherung einhergehen. Für künftige Generationen von Business und Executive Coaches liegt darin gleichzeitig jedoch auch eine enorme Chance.

Abb. 1: Meilensteine zur Entwicklungsgeschichte von Coaching

1 Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen nur die männliche Form genannt, selbstverständlich sind damit immer alle Geschlechter gemeint.

2 Systemische Einordnung von Coaching: Ein Zeitgeistphänomen und seine Treiber

Die zentralen Treiber des Wandels verändern die Arbeitswelt wie kaum eine gesellschaftliche Entwicklung zuvor. Neue Anforderungen an die Lern- und Anpassungsfähigkeit von Menschen entstehen durch die Auswirkungen unter anderem von Technologisierung, Digitalisierung und Globalisierung. Könnte der Coachingtrend der vergangenen vier Jahrzehnte demnächst an Fahrt verlieren? Wohl kaum. Denn im Zuge dieser Megatrends kommt es zu immer kürzeren Innovationszyklen, exponentiellem Wachstum von Wissen bei gleichzeitig sinkenden Halbwertszeiten von Fachwissen (Blum & Dübner, 2012). Wissen und Erfahrung allein reichen schon lange nicht mehr zur Bewältigung komplexer, sich dynamisch ändernder Anforderungen sowie zur persönlichen und unternehmerischen Zukunftssicherung im Wandel (vgl. Backhausen & Thommen, 2006). Unter Transformationsdruck sind zurückliegende Erfahrungen sogar oft ein schlechter Ratgeber. Vielmehr treten herausfordernde Probleme und Entscheidungen unter hoher und weiter steigender Komplexität in den Vordergrund.

Der in diesem Buch behandelte systemisch-kognitionspsychologische Ausbildungsrahmen basiert auf einem in Deutschland vorherrschenden systemischen Coachingverständnis, wonach ein individuelles Coachinganliegen immer im Kontext der gegebenen Rahmenbedingungen zu sehen ist und das Individuum mit dessen Denkhaltung, Verhaltensdispositionen sowie Wünschen, Bedürfnissen und Zielen stets in Wechselwirkung mit der komplexen Umwelt steht. Vor diesem Hintergrund bildet eine systemische Einordnung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen sowie berufsbezogenen Kontextbedingungen, denen Menschen in ihrem (Arbeits-)Leben ausgesetzt sind, den Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den komplexen Anforderungen an Business und Executive Coaching.

2.1 Komplexität und Vernetztheit

Kennzeichnend für Komplexität ist eine relativ große Anzahl von Einflussvariablen, die über eine netzwerkartige Beziehungsstruktur miteinander verknüpft sind (Dörner, 1989). Komplexität geht damit immer mit Vernetztheit einher. In diesem Sinne kann ein komplexer Sachverhalt als ein System von interagierenden Variablen verstanden werden, dessen Komplexität aus der Anzahl von Variablen und dem Grad ihrer Vernetztheit resultiert (ebd.). In einer komplexen, global vernetzten Welt haben Entscheidungen somit weitreichende, oft nicht absehbare Folgen und Wechselwirkungen. Das gilt für jeden Einzelnen im privaten Kontext ebenso wie für Funktionsträger mit Managementverantwortung für ein Unternehmen, ein Geschäftsfeld, eine Abteilung oder ein Produkt und in der Konsequenz in Verantwortung für andere Menschen. Damit verbundene vielschichtige, oft konfliktbehaftete Rollenanforderungen erhöhen den Komplexitätsgrad heutiger Lebenswirklichkeiten weiter zunehmend, wodurch das menschliche Gehirn tagtäglich in besonderem Maße beansprucht wird. Je größer die Anzahl von Variablen ist und je stärker diese untereinander vernetzt sind, desto komplexer ist das im Coaching zu berücksichtigende System. Diese Betrachtungsweise steht im Einklang mit einem systemischen Coachingverständnis. Dabei sei allerdings betont, dass dies nicht gleichzusetzen ist mit systemtheoretischen oder kybernetischen Ansätzen, die oft zur theoretischen Fundierung von Business und Executive Coaching herangezogen werden (siehe Kap. 6.1 und 7.6).

Dieses Lehrbuch folgt einer problemlösepsychologischen Terminologie, der zufolge ein komplexer Sachverhalt nicht isoliert zu betrachten ist, sondern als ein System, in welchem die Systemvariablen und Teilsysteme miteinander in komplexer Wechselwirkung stehen. Durch komplexe Wechselwirkungen in Form von positiven und negativen Rückkopplungen kommt es zu einer schwer vorhersehbaren Eigendynamik. Positive Rückkopplungen sind „Beziehungen, in denen eine Variable sich direkt oder indirekt selbst so beeinflusst, dass ihre Vergrößerung zu ihrer weiteren Vergrößerung führt und ihre Verkleinerung zur weiteren Verkleinerung.“ (Dörner, 1989, S. 110) im Sinne von „je mehr…, desto mehr…“ und „je weniger…, desto weniger…“. Dabei folgen die Entwicklungen häufig nichtlinearen Funktionen, wodurch Vorhersagen erschwert werden. Systeme mit vorwiegend positiven Rückkopplungen sind daher relativ schwer zu kontrollieren (Brehmer, 1992; Lüer & Spada, 1992). Ein aktuelles globales Beispiel hierfür ist der exponentielle Anstieg von Covid-19-Erkrankungen im Zuge der Pandemie.

Auf individueller Ebene können sich positive Rückkopplungen im Business Kontext beispielsweise in einem Teufelskreis zunehmender Stigmatisierung und Ausgrenzung zeigen. Fühlen sich Menschen in ihrem beruflichen Umfeld „gemobbt“ und reagieren darauf mit Anklagen und Beschwerden, kann dies das ablehnende Verhalten des Kollegiums sowie die Kritik von Vorgesetzten verstärken. Betroffene könnten sich dadurch zunehmend in der Annahme bestätigt fühlen, dass die anderen feindselig sind, und versuchen möglicherweise mit immer stärkeren Maßnahmen dagegen anzukämpfen. Das wiederkehrende Erleben dieses Szenarios selbst nach einem Wechsel des Umfeldes mündet nicht selten in die Frage „Warum passiert mir das immer wieder?“. Die Feststellung der vermeintlichen „Wahrheit“, dass die Betroffenen gegebenenfalls eine „Mitverantwortung“ tragen, würde Rückzugsverhalten begünstigen angesichts der Wahrnehmung, dass sich nun auch der eigene Coach – wenn nicht sogar die ganze Welt – gegen sie verschworen hat. Systemische Betrachtungen bieten hingegen die Chance einer Aufmerksamkeitsverschiebung weg von Schuldzuweisungen hin zu hypothetischen Betrachtungen möglicher Wechselwirkungen in einem System.

Im Gegensatz dazu haben negative Rückkopplungen die Tendenz, Systemeingriffe in gewissem Maße auszugleichen oder abzupuffern im Sinne von „je mehr…, desto weniger…“ und „je weniger…, desto mehr…“ (vgl. Dörner, 1989). Ein Risiko negativer Rückkopplungen kann dadurch entstehen, dass unerwünschte Entwicklungen infolge bestimmter Eingriffe über einen vergleichsweise langen Zeitraum unerkannt bleiben, bis die jeweiligen Ressourcen erschöpft sind. So werden sich z. B. von Burnout Betroffene chronischer Überforderung oft erst spät bewusst.

Eine Kombination positiver und negativer Rückkopplungen kann zu einem schwer zu verstehenden, vorherzusagenden und zu kontrollierenden Systemverhalten führen (Brehmer, 1992). Komplexität und Dynamik gehen daher meist mit Intransparenz von Systemeigenschaften einher. Typischerweise sind komplexe Zielsetzungen im Business und Executive Kontext außerdem durch Polytelie gekennzeichnet – das heißt durch mehrere, meist nur teilweise transparente und mitunter divergierende Ziele. Häufig liegen unklar definierte Zielvorgaben vor, die nur hinsichtlich weniger Kriterien festgelegt sind. Ziele sind unklar definiert, wenn ein Kriterium fehlt, nach dem eindeutig entschieden werden kann, wann der Zielzustand erreicht ist (Dörner, 1989). Dies kann im Berufsleben zu unterschiedlichen Erwartungen seitens der Stakeholder und zur Verunsicherung der betroffenen Fach- und Führungskräfte führen.

2.2 Individualisierung und Wertepluralismus

Als ein weiterer Treiber komplexer Veränderungen des frühen 21. Jahrhunderts gilt der Trend zur Individualisierung. Damit umschrieben wird im Wesentlichen das menschliche Streben nach Autonomie und Selbstbestimmung, welches mit höherem allgemeinen Bildungsstand, steigendem Wohlstand und sinkendem Einfluss tradierter Institutionen und Normen an Bedeutung gewinnt und mit wachsendem Gestaltungsspielraum in der Lebensführung einhergeht. Im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen lässt sich eine Pluralisierung von Lebensstilen, Werten und Normen mit einer großen Vielfalt biografischer Muster beobachten (vgl. Zukunftsinstitut, 2018). Die Rede ist in diesem Zusammenhang von der Freiheit zur Wahl (ebd.) mit allen psychologischen Herausforderungen, die das angesichts von Informationsüberfluss sowie schier endloser Entscheidungs- und Handlungsoptionen mit sich bringt. Ein technologischer Treiber dieser Entwicklung wird in der zunehmenden digitalen Vernetzung gesehen (ebd.).

Steigende Freiheitsgrade sind durch den Wegfall haltgebender Strukturen im Zuge zunehmender Singularisierung unter anderem von Märkten, Dienstleistungen und Produkten mit zunehmenden kognitiven Anforderungen verbunden. Nach Reckwitz (2019) ist der Strukturwandel Spätmoderner Gesellschaften seit den 1970er und 1980er Jahren gekennzeichnet durch eine „Explosion des Besonderen“ (ebd., S. 7). Im Wettbewerb erhöht dies zum einen den Innovationsdruck auf Führungskräfte und das Top Management. Das gesellschaftlich zu beobachtende Streben nach Einzigartigkeit dürfte aber ebenso den Druck auf jeden Einzelnen – unabhängig vom Umfang eines Verantwortungsbereiches – weiter erhöhen.

„Dies hat tiefgreifende Folgen auch für die Arbeits- und Berufswelt: Standen in der alten Industriegesellschaft eindeutige formale Qualifikationen und Leistungsanforderungen im Vordergrund, so geht es in der neuen Wissens- und Kulturökonomie darum, dass die Arbeitssubjekte ein außergewöhnliches » Profil« entwickeln. Belohnt werden nun jene, die Außerordentliches leisten oder zu leisten versprechen, das den Durchschnitt hinter sich lässt, während Arbeitnehmer mit profanen Routinetätigkeiten das Nachsehen haben.“ (Reckwitz, 2019, S. 7–8)

Die gestiegenen Anforderungen an persönliche Alleinstellungsmerkmale und außergewöhnliche Lebensgeschichten betreffen damit im Kern auch das Business und Executive Coaching und sind unter anderem im Bereich der beruflichen Karriereentwicklung und Selbstvermarktung immanent. Vor diesem Hintergrund nachvollziehbar ist Coaching zu einem Massenphänomen geworden, das sich längst nicht mehr exklusiv an das Top Management von Organisationen richtet. Im Fokus steht vielmehr die erfolgreiche Anpassung an komplexe und sich mitunter dynamisch verändernde berufsbezogene Anforderungen, Rollenerwartungen und Entwicklungsziele. Im Zuge dessen zeichnet sich auch ein Wandel in der Führungs- und Unternehmenskultur ab, welcher den Coachingtrend weiter begünstigen dürfte (vgl. Stephan & Rötz, 2018). Damit einher gehen steigende kognitive Anforderungen an die Selbstreflexion des Einzelnen und von Organisationsmitgliedern, gewohnte Denkweisen, Normen und Werte im Hinblick auf die persönliche Entwicklung und die Zusammenarbeit fortlaufend zu hinterfragen und immer wieder neu zu definieren. Reckwitz (2019) zufolge konkurrieren dabei grundsätzlich zwei gegensätzliche Bewertungssysteme miteinander: eine soziale Logik des Allgemeinen, basierend auf Effizienzorientierung in einer Arbeitswelt, die nach Standardisierung von Kompetenzen strebt, und eine soziale Logik des Besonderen (ebd.).

„»Soziale Logik« heißt: Die Singularitäten sind nicht kurzerhand objektiv oder subjektiv vorhanden, sondern durch und durch sozial fabriziert. Was als eine Einzigartigkeit gilt und als solche erlebt wird, ergibt sich […] ausschließlich in und durch soziale Praktiken der Wahrnehmung, des Bewertens, der Produktion und der Aneignung, in denen Menschen, Güter, Gemeinschaften, Bilder, Bücher, Städte, Events und dergleichen singularisiert werden.“ (Reckwitz, 2019, S. 11)

Vor diesem Hintergrund stellt das Streben nach beruflicher Orientierung sowie individueller Erfüllung besonderer Anforderungen an Performanz, Originalität, Profilbildung und Kreativität stets eine Gratwanderung dar zwischen dem Erreichen allgemein anerkannter und formalisierter Qualifizierungs- und Leistungsstandards einerseits und der Erfüllung einer „sozialen Logik“ des Besonderen andererseits. Letztere ist mit vielfältigen Unsicherheiten und Risiken verbunden. Denn Orientierungspunkte einer sozialen Logik des erstrebenswerten Einzigartigen unterliegen gesellschaftlich bzw. in einer Unternehmenskultur zwangsläufig ebenfalls dynamischen Veränderungen.

2.3 Ambivalenz und Ambiguität

Aus den vorangegangenen Ausführungen resultieren zwei grundlegende Kennzeichen hyperkomplexer spät- und postmoderner gesellschaftlicher Lebensbedingungen: Ambivalenz und Ambiguität (Heitmeyer, 2012). Unter Ambivalenz versteht man die Widersprüchlichkeit im Erleben, die sich im Zuge der Individualisierung insbesondere darin zeigt, dass die Chancen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung immer größer werden, gleichzeitig aber die Berechenbarkeit von Entscheidungen und Lebenswegen sinkt (ebd.). Die Auseinandersetzung mit dem psychischen Phänomen der Ambivalenz geht auf Eugen Bleuler (1914) zurück, der damit eine doppelte, meist gegensätzliche affektive oder intellektuelle Wertung bezeichnete und sich ursprünglich auf das psychopathologische Phänomen von Ambivalenz in der Schizophrenie bezog (vgl. Leutgeb, 2011). Der Begriff fand in der Folge auch im nichtpathologischen Bereich breite Anwendung und beschreibt seither die Widersprüchlichkeit von Gefühlen und Gedanken als natürlichem Teil unserer psychischen Realität angesichts der großen Vielfalt an Entscheidungsoptionen. Für Coaching bietet sich die Definition von Lüscher (2002) an.

„Von Ambivalenz soll gesprochen werden, wenn gleichzeitige Gegensätze des Fühlens, Denkens, Wollens, Handelns und der Beziehungsgestaltung, die für die Konstitution individueller und kollektiver Identitäten relevant sind, zeitweise oder dauernd als unlösbar interpretiert werden. Diese Interpretation kann durch die Beteiligten oder durch Dritte (z. B. Therapeuten, Wissenschaftler) erfolgen.“ (Lüscher, 2002, S. 441)

Unter Ambiguität (lat. „ambiguitas“, Doppelsinn) versteht man eine Lebenswirklichkeit, in der Menschen permanent Unklarheiten ausgesetzt sind (vgl. Krappmann, 2000; Heitmeyer, 2012). Unklarheiten entstehen unter anderem durch schlecht definierte sowie vielfältige Ziele (Polytelie) und Anforderungen, Informationsüberflutung und deren Mehrdeutigkeit bei gleichzeitiger Intransparenz entscheidungsrelevanter Variablen und Wirkzusammenhänge und sich dynamisch wandelnder Kontextbedingungen. Wir leben in einer Zeit voller Mehrdeutigkeit und Widersprüche, in der sich Menschen zunehmend nach Orientierung und klaren Antworten sehnen. Mit der globalen Vernetzung und den damit verbundenen komplexen Auswirkungen auf die individuellen Lebenswirklichkeiten steigen die Anforderungen an die Ambivalenz- und Ambiguitätstoleranz des Einzelnen. Dies führt zu einem zunehmenden Bedürfnis nach Berechenbarkeit, Sinnhaftigkeit und Identität. Greif (2014) führt im Hinblick auf den damit einhergehenden, steigenden Beratungsbedarf weiter aus:

„Nicht nur, um besser mit neuen Ängsten umgehen zu können, sondern auch durch die Zunahme der Reflexivität des Selbst, brauchen und nutzen die Individuen und Institutionen vermehrt Psychotherapie und Coaching oder andere persönliche Beratungsmethoden.“ (Greif, 2014, S. 296)

Ein übergeordnetes Ziel im Coaching ist vor diesem Hintergrund darin zu sehen, Menschen dabei zu unterstützen mit Widersprüchen und Unklarheiten zurecht zu kommen (vgl. Heitmeyer, 2012). Ein psychisch stabilisierender Mechanismus hierfür liegt im menschlichen Bedürfnis nach Kohärenz (engl. „sense of coherence“, SOC, Hölzle, 2011, S. 73) begründet. Das Kohärenzgefühl eines Menschen geht nach dem Medizinsoziologen Antonovsky (1979, 1993, 1997) einher mit dem Erleben von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit (einen Überblick hierzu bieten z. B. Bengel, Strittmatter & Willmann, 2001). Verstehbarkeit impliziert, Erlebtes stimmig in die individuelle Erfahrungsbasis integrieren zu können, indem eine innere Logik über Zusammenhänge hergestellt wird (vgl. ebd.). Das Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit steht in engem Zusammenhang mit dem Erleben von Selbstwirksamkeit. Das aus der Verhaltenspsychologie stammende, wissenschaftlich gut belegte Konstrukt (engl. „perceived selfefficacy“) geht auf Bandura (1977) zurück und ist verwandt mit dem lerntheoretischen Konzept der Kontrollüberzeugung nach Rotter (1966). Während Kontrollüberzeugung impliziert, dass ein Individuum davon ausgeht, dass ein Ereignis in irgendeiner Weise herbeizuführen sei, impliziert die Selbstwirksamkeitserwartung, dass Betreffende sich selbst dazu in der Lage sehen, das Ereignis herbeizuführen. Das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung basiert auf der Annahme, dass die Einschätzung der Kontrollierbarkeit einer Situation das Handeln eines Individuums in entscheidendem Maße beeinflusst. Die persönliche Selbstwirksamkeitserwartung (Schwarzer & Jerusalem, 1999), über die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, um komplexe Herausforderungen überwinden zu können, stellt damit eine ganz entscheidende Voraussetzung aktiven Handelns dar. Die Steigerung des Selbstwirksamkeitserlebens gilt als ein anerkanntes Effektivitätskriterium für die Beurteilung von Interventionen (Frese, 2008) und sollte bei Evaluationen von Coachingmaßnahmen in Organisationen Berücksichtigung finden.

Das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit gilt als die weitreichendste Komponente des Kohärenzerlebens (Bengel et al., 2001), das letztlich auch die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens einschließt. Nur wenn es in der individuellen Rückschau die Anstrengungen wert war, sich persönlichen Herausforderungen zu stellen, erscheint auch das Leben sinnerfüllt und bedeutsam. Hölzle (2011) führt zum Kohärenzgefühl weiter aus:

„Antonovsky (1993, 1997) geht davon aus, dass ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl (hohe SOC-Werte) eine übergeordnete Steuerungsfunktion ausübt und

Menschen befähigt, flexibel auf Anforderungen reagieren und, je nach Anforderung, verschiedene Copingstrategien einsetzen zu können.

vorhandene Widerstandsressourcen mobilisiert, deren Einsatz die Bewältigung von Spannung und die Reduktion von Stress begünstigt.

Bengel, Strittmatter und Willmann (2002) analysierten die bisher durchgeführten empirischen Untersuchungen zu Salutogenese. Demnach gelten folgende Zusammenhänge als gesichert:

Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl (hohe SOC-Werte) korreliert mit einem positiven Selbstwertgefühl sowie psychophysischem Wohlbefinden, einer optimistischen Grundstimmung, Lebenszufriedenheit und verschiedenen Aspekten psychischer Gesundheit.

Ein gering ausgeprägtes Kohärenzgefühl geht mit Indikatoren von Ängstlichkeit und Depressivität einher (Bengel et al. 2002, S. 41).

Da es sich weitgehend um Querschnittsstudien handelt, kann nicht beantwortet werden, wie sich das Kohärenzgefühl und die genannten subjektiven Befindlichkeiten gegenseitig bedingen.

Entgegen der ursprünglichen Annahme Antonowskys, dass sich das Kohärenzgefühl in der Kindheit und Jugend ausbilde und ab ca. 30 Jahren stabil bleibe, zeigt sich, dass das Kohärenzgefühl lebenslang zu beeinflussen ist und sich tendenziell im Alter stärker ausprägt.“ (Hölzle, 2011, S. 73)

Wie Stelter (2014) ausführt, vollzog Coaching über drei Coaching Generationen hinweg einen Wandel in der Schwerpunktsetzung von der Unterstützung bei der Erreichung spezifischer Ziele hin zu einer verstärkten Ressourcenorientierung sowie schließlich zu einer Bedeutung und Sinn generierenden sowie Identitätsentwicklung förderlichen Arbeitsbeziehung.

„Unlike first generation coaching, where the goal is to help coachee achieve a specific objective, and unlike second generation coaching, where the coach assumes that the coachee implicitly knows the solution to particular challenges; third generation coaching has a less goal-oriented agenda but a more profound and sustainable focus on values and identity work. Coach and coachee create something together: They generate meaning together in the conversation […]. Third generation coaching integrates the experiential and subjective-existential dimension with the relational and discursive […]. Societal and individual working and living conditions have undergone significant transformations over the past three decades, which in particular legitimises the third-generation approach with its special emphasis on meaning-making and reflection on values.” (Stelter, 2014, S. 51)

Der global zu beobachtende Coachingtrend lässt sich als ein Zeitgeistphänomen unter komplexen, sich dynamisch verändernden und durch Ambivalenz und Ambiguität gekennzeichneten Lebensbedingungen verstehen, das der Bewältigung chronischer kognitiv-emotionaler Beanspruchung sowie der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung individuellen Kohärenzerlebens dient. Das menschliche Bedürfnis nach Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens erfüllt eine übergeordnete Steuerungsfunktion, indem eine innere subjektive Logik über Zusammenhänge hergestellt wird (vgl. Bengel et al., 2001), um Erlebtes stimmig in die individuelle Erfahrungsbasis integrieren zu können (vgl. Antonovsky, 1993, 1997).

3 Denken außerhalb der Komfortzone

Souverän fühlen wir Menschen uns in der Regel dann, wenn wir auf Vertrautes mit Bewährtem reagieren können und dies zum gewünschten Erfolg führt oder wenn wir anspruchsvolle neuartige Anforderungen „gefühlt“ im Handumdrehen meistern. In unserer mentalen Komfortzone haben wir die Lage (vermeintlich) im Griff, fühlen uns kompetent, sind stolz auf uns und haben im Kontext, um den es geht, ein relativ konsistentes Selbstkonzept von dem, was uns ausmacht. In unserer Komfortzone erleben wir uns als erfahren auf einem Gebiet und beherrschen dessen Spielregeln und Handlungsoptionen routiniert wie kluge Schachzüge. Dies alles beruht auf einer überlebenswichtigen Fähigkeit unseres Gehirns: Es vermag Lernerfahrungen als Muster in neuronalen Gedächtnisstrukturen zu speichern und bei häufigem Gebrauch zunehmend automatisiert abzurufen und anzuwenden (Rouse, 1981). Das heißt: Wie wir die Welt sehen, unserer täglichen Arbeit nachgehen, Probleme wahrnehmen und routiniert zu lösen versuchen, beruht neuro- und kognitionspsychologischen Erkenntnissen zufolge in hohem Maße auf einem fortlaufenden Musterabgleich im Gehirn, in dessen Folge bevorzugt die Muster zum Einsatz kommen, die sich im Laufe unserer Erfahrungen bewährt haben.

Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman (2011) spricht in diesem Zusammenhang von schnellem und langsamem Denken. „Schnell“ meint vorwiegend parallele, automatisierte und dadurch ressourcenschonende, vorwiegend unbewusste Verarbeitung. „Langsames Denken“ beschreibt hingegen serielle, ressourcenbeanspruchende, schwerpunktmäßig bewusste Informationsverarbeitung (ebd.). Immer, wenn wir schnell etwas zu lösen in der Lage sind, greifen wir in hohem Maße unbewusst auf gespeicherte Erfahrungen in Form von neuronalen Lösungsmustern zurück und agieren dadurch oft höchst effizient innerhalb unserer Komfortzone. Immer, wenn wir den gefühlt anstrengenden, langsamen Weg des Grübelns, Analysierens und komplexen Problemlösens einschlagen, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass wir mental gerade Neuland betreten und neue Wege durchs Dickicht schlagen, um Durchblick zu bekommen, weil sich bisherige Erfahrungen als nicht zielführend erweisen bzw. nicht ausreichen, um ein Problem zu lösen. Organisationale Auslöser sind insbesondere Wettbewerbsdruck, veränderte Marktlagen und dadurch notwendige Transformationsprozesse. Genau hier verlassen wir unsere geistige Komfortzone: Wir erleben Anpassungsdruck!