Ein Tag im März - Philipp Austermann - E-Book

Ein Tag im März E-Book

Philipp Austermann

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Beschreibung

Das am 23. März 1933 vom Reichstag beschlossene Ermächtigungsgesetz zog einen Schlussstrich unter die Weimarer Verfassung. Von den Nationalsozialisten selbst wurde es als wichtige Legitimationsgrundlage ihrer Herrschaft verstanden. Die Demokratie in Deutschland fand mit dem Gesetzesbeschluss ihr vorläufiges Ende. Der Staatsrechtler Philipp Austermann, der die Geschichte und die Rechtsgrundlagen des deutschen Parlamentarismus seit Jahren erforscht, erklärt anlässlich des 90. Jahrestages des Gesetzes, warum und wie es zustande kam, ob es überhaupt legal war, welche verfassungsrechtlichen und politischen Folgen es hatte und welche Schlüsse nach 1945 daraus für das Grundgesetz gezogen wurden.

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Philipp Austermann

Ein Tag im März

Das Ermächtigungsgesetz und derUntergang der Weimarer Republik

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: Jubelnde Berliner grüßen Adolf Hitler auf dem

Weg zur Reichstagseröffnung in der Kroll-Oper,

© United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of National

Archives and Records Administration, College Park

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN Print: 978-3-451-39392-1

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83003-7

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83006-8

Inhalt

Einleitung

Die Vorgeschichte

1. Hitlers erstes Kabinett

2. Erste Maßnahmen zum Ausbau der Macht

3. Die Aushebelung des Rechtsstaats und des Föderalismus

4. Pläne zum Umbau der Staatsorganisation

5. Die Verhandlungen mit dem Zentrum

Ein Tag im März

1. Gespräche innerhalb der Zentrumsfraktion

2. Bedrohliche Sitzungsatmosphäre

3. Sitzung im Zeichen des Hakenkreuzes

4. Regierungserklärung: Versprechungen und Drohungen

5. Die interne Entscheidungsfindung der gemäßigten Parteien

6. Die Debatte

7. Die Abstimmungen und ihre Folgen

8. Das weitere Schicksal der Versprechungen gegenüber dem Zentrum

Die scheinlegale „Ermächtigung“

1. Die offizielle Legalitätsbehauptung

2. Das fehlerhafte Gesetzgebungsverfahren

3. Verfassungswidriger Inhalt?

Die tatsächlichen Wirkungen des Ermächtigungsgesetzes

1. Das Ende der Weimarer Verfassung

2. Scheinlegale Grundlage des Staatsumbaus

3. Die beruhigende Wirkung eines Gesetzes

Historische Lehren

Anhang

Chronologie der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1933

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Abbildungsnachweis

Über den Autor

Einleitung

Am 23. März 1933 richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit im Deutschen Reich auf die Krolloper. Der zuvor längere Zeit ungenutzte Gebäudekomplex an der Westseite des Königsplatzes in der Mitte Berlins war recht unerwartet zum Ersatzparlamentsgebäude geworden. Der Plenarsaal, Herzstück des Reichstagsgebäudes auf der Ostseite des Platzes, war durch den Reichstagsbrand am Abend des 27. Februar völlig zerstört worden. Deshalb war der Reichstag in die Krolloper umgezogen. Er sollte nicht mehr zurückkehren.

Von den westlichen Fenstern des Reichstagsgebäudes war ab den Mittagsstunden eine ungeheure Menschenmenge zu sehen. Sie erwartete unter einem wolkenlosen Himmel bei recht kühlen Temperaturen um 5 Grad Celsius die Ankunft der Reichsregierung und der Reichstagsabgeordneten. Für 14 Uhr war eine Reichstagssitzung angesetzt. Der Theatersaal der Krolloper war als Plenarsaal hergerichtet worden. Am Kopfende des Saales, der zuvor für Musikaufführungen genutzt worden war, waren Bänke für die Reichsregierung und den Reichsrat, die Vertretung der Landesregierungen, aufgestellt worden. Zwischen den Bänken und hinter dem Rednerpult befand sich die erhöhte Tribüne für den Reichstagspräsidenten. Die Abgeordneten nahmen, wie es deutsche Parlamentstradition war, gegenüber von Regierung, Präsident und Reichsrat Platz. Insoweit erinnerte alles an den üblichen Plenarsaal des Reichstages. Doch einige Unterschiede waren überdeutlich: An der Wand hinter der Präsidententribüne hing eine große Hakenkreuzfahne. Die Farben der Republik, Schwarz, Rot und Gold, waren nicht zu sehen. Der Reichstagspräsident, der Reichskanzler und viele Abgeordnete trugen die hellbraune SA-Uniform. Neben den Regierungsmitgliedern, Abgeordneten, Diplomaten, Pressevertretern und anderen Zuhörern standen außerdem zahlreiche SA- und SS-Leute an den Innenwänden des Plenarsaales.

Die Krolloper am Königsplatz in Berlin. Sie wird auf dieser Postkarte von 1932/33 noch als „ehemalige“ bezeichnet, da sie bis zum 21. März 1933 nicht genutzt wurde.

Aus der Menge vor den Türen der Krolloper waren Sprechchöre zu vernehmen. Kaum eine Reichstagssitzung seit 1920 war von so einem starken öffentlichen Auflauf begleitet worden. Die durch Verhaftungen stark dezimierte SPD-Fraktion und die Abgeordneten der Deutschen Zentrumspartei hatten, bevor sie zur Krolloper hinübergingen, in ihren noch intakten Fraktionssitzungssälen im Reichstagsgebäude beraten. Sie hatten die schwersten politischen Stunden ihrer Geschichte vor sich: die SPD-Mitglieder, weil sie unter hohem persönlichen Risiko das Gesetzesvorhaben ablehnen wollten, das auf der Tagesordnung des Parlaments stand. Die Abgeordneten des Zentrums, aber auch die Mandatsträger der Bayerischen Volkspartei (BVP) und der Deutschen Staatspartei hatten noch nicht einmal entschieden, wie sie sich verhalten wollten. Sollten sie das Gesetzesvorhaben billigen, sich der Stimme enthalten oder gar dagegen votieren? Das Gesetz, um das es an diesem Nachmittag ging, trug den offiziellen Titel „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Bekannt und berüchtigt ist es als Ermächtigungsgesetz. Es legte einen wichtigen Grundstein für das NS-Regime.

Was dieses Gesetz bezweckte, wie es zustande kam, ob es überhaupt legal war und welche weitreichenden Wirkungen es hatte, beschreibt dieses Buch. Um die Ereignisse des 23. März 1933 zu verstehen, ist zunächst ein Blick auf die Vorgeschichte erforderlich. Danach wird der „Tag im März“ genauer betrachtet, bevor analysiert wird, ob das Ermächtigungsgesetz legal war und welche tatsächlichen Folgen es hatte.

Die Vorgeschichte

1. Hitlers erstes Kabinett

Zur Mittagszeit des 30. Januar 1933 hatte Adolf Hitler sein bis dahin wichtiges Ziel erreicht. Reichspräsident Paul von Hindenburg hatte ihn zum Reichskanzler ernannt. Hitler, der keine Berufsausbildung besaß und in seinen 43 Lebensjahren nie einer geregelten Beschäftigung nachgegangen war, war erst weniger als ein Jahr zuvor überhaupt eingebürgert worden. Obwohl Hitler erklärtermaßen den Staatsumbau hin zu einer Diktatur anstrebte und eindeutig ein Verfassungsfeind war, war seine Ernennung legal. Denn die Weimarer Verfassung verbot es nicht, einen Verfassungsgegner zum Regierungschef zu machen.[1] Der neuen Reichsregierung gehörten neben Hitler nur zwei weitere NSDAP-Mitglieder an: Wilhelm Frick als Reichsinnenminister und Hermann Göring als Reichsminister ohne Geschäftsbereich, kommissarischer preußischer Innenminister sowie Reichskommissar für Luftfahrt. Neuer „Superminister“ für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung wurde Alfred Hugenberg. Er gebot über ein weitgefasstes Medienimperium und war der Vorsitzende der rechten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Das Arbeitsministerium übernahm der parteilose Franz Seldte. Er war der „Bundesführer“ des deutschnationalen Wehrverbandes Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, dem mehrere Hunderttausend Mitglieder angehörten. Somit standen die nationalsozialistischen SA und SS sowie der Stahlhelm hinter der Regierung. Die weiteren sechs, ebenfalls parteilosen Kabinettsmitglieder waren der ehemalige Reichskanzler Franz von Papen (nun Vizekanzler), Werner von Blomberg (Reichswehr)[2], Konstantin von Neurath (Außen), Lutz Graf Schwerin von Krosigk (Finanzen), Paul von Eltz-Rübenach (Post und Verkehr) und Franz Gürtner (Justiz). Die vier letztgenannten waren ehemalige Beamte. Sie waren während Papens Kanzlerschaft im Jahr 1932 als „unabhängige Fachleute“ erstmals in das Kabinett berufen worden und hatten auch dem kurzlebigen Kabinett Kurt von Schleichers (Dezember 1932–Januar 1933) angehört. Auch Günther Gereke, der Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung, behielt seinen Posten. Alle Parteilosen verstanden sich selbst politisch als konservativ oder deutschnational.

Das Kabinett Hitler. Sitzend von links nach rechts: Hermann Göring, Adolf Hitler, Franz von Papen. Stehend: Franz Seldte, Günther Gereke, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick, Werner von Blomberg, Alfred Hugenberg. Auf dem Bild fehlen Konstantin von Neurath, Paul von Eltz-Rübenach und der etwas später ernannte Franz Gürtner.

Das Presseecho auf die neue Regierung war zwiespältig. Die NSDAP-Presse und die Zeitungen des Hugenberg-Konzerns feierten das neue Kabinett. Andere Blätter wie die liberale Vossische Zeitung äußerten sich zurückhaltend. Das ebenfalls liberale Berliner Tageblatt kommentierte die Regierungsübernahme Hitlers, Papens und Hugenbergs sehr kritisch: „[D]ie deutsche Republik, das deutsche Volk werden, ohne daß sie jemand gefragt hätte, zum Experimentierfeld für einen Versuch gemacht, von dem wir und mit uns die Mehrheit des Volkes schon heute überzeugt sind, daß er schlecht ausgehen wird.“[3] Die KPD- und SPD-Zeitungen lehnten die neue Regierung offen ab. Manche politischen Beobachter vermuteten, die Regierung werde ebenso rasch abgewirtschaftet haben wie ihre Vorgängerinnen. Bemerkenswerterweise rief bei vielen Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberalen und Zentrumsleuten vor allem die Ernennung der als reaktionär geltenden Hugenberg und Papen – und weniger die Berufung Hitlers, Fricks oder Görings – Befürchtungen über den künftigen Regierungskurs hervor. So sprach etwa der sozialdemokratische Vorwärts von einem „hoch- und großkapitalistische[n] Kabinett, wie es in der Welt noch nirgends existiert hat“.[4] Die tatsächlichen Machtverhältnisse im Kabinett wurden allenfalls ansatzweise thematisiert.[5] Denn die drei Nationalsozialisten befanden sich nur der Zahl nach in der Minderheit. Betrachtet man die Posten, die sie übernahmen, verändert sich das Bild. Hitler war als Reichskanzler ohnehin die bestimmende Figur der Regierung. Und auch Frick und Göring hatten äußerst machtvolle Ämter erhalten.

Beide waren langjährige treue Weggenossen Hitlers. Sie hatten schon am gescheiterten Münchner Putschversuch im November 1923 teilgenommen. Der 45-jährige Wilhelm Frick war Jurist, ehemaliger bayerischer Verwaltungsbeamter und 1930/1931 Thüringer Landesminister gewesen. Er gehörte dem Reichstag seit 1924 an. Mit dem Reichsinnenministerium übernahm er unter anderem die Zuständigkeit für das Beamtenrecht und mögliche Verfassungsänderungen. Hermann Göring, ein 40-jähriger ehemaliger Luftwaffenpilot, gehörte dem Reichstag seit 1928 an und war seit August 1932 Reichstagspräsident. Er wurde nun, wie bereits erwähnt, kommissarischer preußischer Innenminister. Seitdem die Regierung Papen am 20. Juli 1932 mit einer Verordnung Hindenburgs die SPD-geführte preußische Landesregierung weitgehend entmachtet hatte („Preußenschlag“)[6], bestimmte die Reichsregierung mithilfe von Reichskommissaren, die die preußischen Ministerien führten, auch die preußische Landespolitik. Das führte zu einem erheblichen Machtgewinn der Reichsregierung, da das Land Preußen rund zwei Drittel der Fläche und der Einwohner des Reiches umfasste. Hermann Göring befehligte als neu ernannter kommissarischer Innenminister die preußische Polizei. Sie war die mit Abstand größte Polizeitruppe des Deutschen Reiches und nach der Reichswehr der bedeutsamste innenpolitische Machtfaktor.[7] Folglich hatten Frick und Göring Schlüsselstellungen im Staat inne. Die drei Nationalsozialisten in der Reichsregierung hatten neben einem wichtigen Teil der staatlichen Herrschaftsmittel die paramilitärische SA/SS sowie eine Millionen zählende Anhängerschaft aus Parteimitgliedern und Wählern hinter sich. Damit hoben sie sich von den übrigen Kabinettsmitgliedern deutlich ab. Sie konnten staatliche Macht einsetzen und zugleich über die NS-Presse Stimmung machen und „die Straße“ mobilisieren. Diese Kombination verschiedener Herrschaftsinstrumente setzten sie in den kommenden Wochen gezielt und skrupellos ein.

Die acht übrigen Kabinettsmitglieder hatten keinen auch nur ansatzweise vergleichbaren politischen Rückhalt. Alfred Hugenberg war zwar Vorsitzender der DNVP. Aber seine Partei wurde als reaktionär und elitär angesehen und hatte daher deutlich weniger Mitglieder und Wähler als die NSDAP, die vielen Zeitgenossen „moderner“ und schlagkräftiger erschien. Der 67-jährige Hugenberg war, anders als der mehr als 20 Jahre jüngere Hitler, kein mitreißender Demagoge. Er wirkte „etwa wie ein pensionierter Portier“.[8] Der Stahlhelm-Verband Franz Seldtes war auch kein Gegengewicht und stellte keine Konkurrenz zur SA oder SS dar. Vielmehr ordnete er sich von Anfang an bereitwillig Hitler unter. Die übrigen parteilosen Reichsminister besaßen überhaupt keinen parteipolitischen oder nennenswerten gesellschaftlichen Rückhalt.[9] Vizekanzler Franz von Papen galt, nachdem er als Reichskanzler krachend gescheitert war, den meisten Beobachtern ohnehin als politisches Leichtgewicht: „Papen hat es an sich, dass weder seine Freunde noch seine Feinde ihn ganz ernst nehmen; es haftet ihm der Stempel der Leichtfertigkeit an, er ist keine Persönlichkeit ersten Ranges.“[10]

Dass Papen trotzdem nun wieder am Kabinettstisch sitzen konnte, verdankte er seinen sehr guten Beziehungen zu Hindenburg und dessen Sohn Oskar. Sein Wort hatte bei dem alten Reichspräsidenten Gewicht. Papen war der Architekt der neuen „nationalen Regierung“. Er hatte sich am 4. Januar 1933 mit Hitler in der Kölner Villa des Bankiers Kurt von Schröder zu Gesprächen getroffen, seitdem in weiteren Unterredungen mit Hitler die gemeinsame Regierung vorbereitet und – noch wichtiger – bei Hindenburg für die neue Konstellation geworben. Papens Fürsprache war vor allem deshalb erforderlich, weil Hindenburg es im Jahr 1932 zweimal brüsk abgelehnt hatte, Hitler zum Kanzler zu ernennen. Der Reichspräsident hatte im August 1932 sogar öffentlich verbreiten lassen, dass „er es vor seinem Gewissen und seinen Pflichten dem Vaterlande gegenüber nicht verantworten könne, die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei“.[11] Im November 1932 hatte Hindenburg seinen Widerwillen erneut geäußert. Trotz dieser nur kurz zurückliegenden Vorgeschichte hatte Papen bei Hindenburg für die Regierungsbeteiligung der NSDAP geworben, weil er sich selbst davon einiges versprach. Schon während seiner kurzen Kanzlerschaft vom Juni bis November 1932 hatte er geplant, die Reichsverfassung im autoritären Sinne umzugestalten. Die Regierung sollte über den Parteien stehen. Sie und nicht das Parlament sollte die eigentliche Staatsgewalt ausüben. Der Reichstag und jegliche, vor allem linke, Opposition sollten marginalisiert, wenn nicht sogar ausgeschaltet werden. Zumindest teilweise sollte die Verfassung, wie sie bis zum Oktober 1918 bestanden hatte, wiederhergestellt werden.

Papens Vorstellungen entsprachen denen weiter Teile des deutschnationalen Spektrums. Eine Reichstagsmehrheit, die zur zumindest teilweisen Umsetzung der deutschnationalen Ziele erforderlich gewesen wäre, hatten aber weder Papen noch die DNVP hinter sich. Sie waren sogar weit davon entfernt. Papen selbst hatte als Kanzler eine peinliche Schlappe erlitten, als ihm der Reichstag am 12. September 1932 mit 512 zu 42 Stimmen das Misstrauen ausgesprochen hatte. Zwar war das Misstrauensvotum ungültig gewesen, da der Reichstag zuvor aufgelöst worden war. Blamabel war der Vorgang dennoch. Bei der Wahl am 6. November 1932 hatte die DNVP nur 52 der 584 Reichstagsmandate erringen können. Papen hatte wenige Wochen später zurücktreten müssen. Die NSDAP dominierte seit Längerem das rechte Lager. Daher war Papen die Idee gekommen, Hitler und seine NSDAP, die mit immerhin 196 Mandaten die stärkste Reichstagsfraktion stellten, für seine Ziele „zu engagieren“.[12] Würden die NSDAP und die DNVP zusammenarbeiten, hätten sie fast 250 der 584 Reichstagssitze hinter sich.

Das beharrliche Werben Papens hatte schließlich Erfolg gehabt. Hindenburg hatte zugestimmt, den ihm früher unsympathischen „böhmischen Gefreiten“ Hitler zum Kanzler zu ernennen. Anders als manchmal vermutet, war der Reichspräsident trotz seiner 85 Lebensjahre keineswegs senil oder in die Ernennung Hitlers hineingedrängt worden. Vielmehr wollte Hindenburg nicht mehr in den politischen Alltagsstreit verwickelt werden und seinen Lebensabend als überparteiliche historische Person beschließen. Seit dem März 1930 war Hindenburg nämlich immer stärker zur bestimmenden politischen Figur geworden. Der Grund war, dass er mit Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher nacheinander drei Männer zum Reichskanzler ernannt hatte, die keine Parlamentsmehrheit hinter sich hatten. Um die jeweilige Reichsregierung zu stützen oder in dem Versuch, ihr neue Mehrheiten zu verschaffen, hatte der Reichspräsident mehrfach den Reichstag aufgelöst, wozu er nach Artikel 25 der Weimarer Reichsverfassung jederzeit berechtigt war. Damit trotz fehlender Parlamentsmehrheit Rechtsakte mit Gesetzeskraft erlassen werden konnten, hatte Hindenburg die Gesetzesvorschläge der Regierung als Notverordnungen in Kraft gesetzt.

Als Grundlage dafür hatte er Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung herangezogen. Nach dieser Vorschrift durfte der Reichspräsident, „wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet [wurde], die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ und „zu diesem Zwecke […] vorübergehend [bestimmte] Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“. Der Verfassungstext sprach gar nicht von (Not-)Verordnungen. Sie wurden aber nach herrschender juristischer Lesart und Staatspraxis als „nötige Maßnahmen“ angesehen. Auch der Begriff der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ wurde sehr weit verstanden und sollte sogar Haushalts- und Wirtschaftskrisen umfassen.[13] Während der Amtszeit der Regierungen Brüning, Papen und Schleicher hatte Hindenburg den Artikel 48 Absatz 2 in übermäßiger Weise strapaziert. Er hatte sehr viele Notverordnungen erlassen. Die Gesetzgebung hatte sich damit im Jahr 1931 mehrheitlich von der Legislative zur Exekutive verlagert.[14] Hindenburg war es leid, im Mittelpunkt des politischen Geschehens und Streits zu stehen. Er glaubte, eine Regierung Hitler werde auf der Grundlage einer Parlamentsmehrheit und weitgehend ohne Zuhilfenahme präsidialer Machtbefugnisse regieren können. Immerhin vereinigten die NSDAP und die DNVP zusammen 247 der 584 Reichstagssitze auf sich. Zudem schien Ende Januar 1933 die Aussicht zu bestehen, die Zentrumspartei könnte ebenfalls in die Regierung eintreten, wodurch die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten hinter dem Kabinett gestanden hätte. Hindenburg war versichert worden, dass die neue Regierung den mit der Kanzlerschaft Heinrich Brünings (ab März 1930) eingeschlagenen und unter Papen verschärften autoritären Kurs fortsetzen würde.

Franz von Papen engagierte sich für die neue Regierung, weil er glaubte, den Kanzler und die NSDAP im Sinne seiner politischen Ziele einspannen und auf diese Weise selbst die Regierung steuern zu können. Er und Hugenberg waren überzeugt, notfalls den Reichspräsidenten einschalten zu können, wenn dies nötig sein sollte, um Hitler Paroli zu bieten. Allerdings übersahen Papen, Hugenberg und ihre Gesinnungsgenossen, dass ihre Ziele nur auf den ersten Blick mit denen der NSDAP übereinstimmten. Zwar war man sich in einer antidemokratischen, antiparlamentarischen und antimarxistischen Grundhaltung einig. Jedoch wollte die NSDAP bei reaktionären Veränderungen der Reichsverfassung nicht haltmachen. Die Nationalsozialisten waren – anders als Papen, Hugenberg und andere – zur physischen Vernichtung ihrer Gegner bereit. Den Rechtsstaat und die rechtliche Einhegung ihrer Macht lehnten sie ab. Außerdem überschätzten Papen und sein politisches Umfeld die eigene Gestaltungsmacht in einem Bündnis mit den Nationalsozialisten. Der angeblich im Januar 1933 gefallene Satz Papens, in zwei Monaten habe man Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietsche, war Ausdruck eines verhängnisvollen Irrtums.[15] Nicht Papen hatte Hitler „engagiert“[16]; Hitler hatte Papen als Steigbügelhalter zur Macht genutzt. Die neun Nicht-Nationalsozialisten im Kabinett erkannten zunächst die Gefahr nicht, die von Hitler, Göring und Frick ausging, stellten sich ihnen dann nicht entgegen und wurden schließlich marginalisiert.

2. Erste Maßnahmen zum Ausbau der Macht

Hitler wollte die Weimarer Demokratie und jede Opposition zerstören. Vor hohen Reichswehroffizieren sprach er am 3. Februar 1933 in kleinerer Runde vom „Krebsschaden der Demokratie“, der beseitigt werden müsse. Auch kündigte er dort eine „straffste autoritäre Staatsführung“ sowie die „Ausrottung des Marximus mit Stumpf und Stiel“ an.[17] Sein Ziel war es, als schrankenloser Diktator zu herrschen und – irgendwann – seine antisemitische und expansionistische Weltanschauung umzusetzen. Allerdings bestand im Januar 1933 und in den Folgewochen noch kein „Masterplan“ der Nationalsozialisten, wie Hitlers Ziele zu erreichen wären.[18] Vielmehr ging die Eroberung der Herrschaft in Stufen vor sich, bis sie im August 1934 abgeschlossen war. Die Ideen für die ersten Schritte bis zum April 1933 stammten offenkundig von Wilhelm Frick, der über die nötigen juristischen Kenntnisse verfügte und bei Bedarf auf die Ressourcen des Reichsinnenministeriums zurückgreifen konnte. Als sie ins Amt gelangt waren, ergriffen Hitler, Frick und Göring sowie die übrigen Nationalsozialisten in der Staatsverwaltung eine Fülle von Maßnahmen, um ihre Macht schnell weiter auszubauen.

Die Übernahme des Kanzleramts war aus Sicht der Nationalsozialisten nur ein erster Schachzug. Als Nächstes wollte Hitler zwei Befugnisse, die die Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten an die Hand gab, zum Ausbau der eigenen Macht nutzen: das Recht zur jederzeitigen Auflösung des Reichstages (Artikel 25 WRV) und das Notverordnungsrecht (Artikel 48 Absatz 2 WRV). Zunächst strebte Hitler eine Reichstagsauflösung und Neuwahlen an. Dies diente zwei Zielen: Zum einen konnte dann die Reichstagsmehrheit, die nicht an der Regierung beteiligt war, das Kabinett nicht mehr durch ein Misstrauensvotum nach Artikel 54 der Weimarer Verfassung stürzen. Zum anderen würde, so der Plan, die NSDAP von Hitlers Kanzlerschaft profitieren und allein die absolute Mehrheit im Reichstag erringen. Die deutschnationalen Steigbügelhalter würden dann nicht mehr gebraucht.

Hugenberg erkannte diese Gefahr, die seiner DNVP drohte. Er war daher strikt gegen Neuwahlen. Noch kurz vor der Ernennung der Regierung hatten Hindenburg und Hitler sich darüber gestritten, ob der Reichstag umgehend aufgelöst werden sollte oder nicht. Nur auf die drängende Bemerkung Otto Meissners, des Staatsekretärs im Reichspräsidialamt, der Reichspräsident warte bereits, war der Streit fürs Erste beendet und das Kabinett Hitler ernannt worden. In der noch am 30. Januar 1933 stattfindenden ersten Kabinettssitzung der neuen Regierung hatte Hitler Fakten geschaffen.[19] Er „verpfändete“ (erneut) sein Wort dafür, dass die Zusammensetzung der Regierung sich infolge der Neuwahl nicht ändern würde. Hugenbergs Widerworte bewirkten nichts. Der DNVP-Vorsitzende erlitt seine erste Niederlage im neuen Amt.[20] Ihr sollten weitere folgen. Hitler wollte bei der Neuwahl nicht stehen bleiben, sondern den Staat weiter umbauen. Die Wahl sollte, so Hitler in einer Ministerbesprechung am 31. Januar 1933, zugleich die letzte sein.[21] Widerspruch dagegen erhob sich nicht. Im Gegenteil stimmte Papen Hitler ausdrücklich zu. Eine Rückkehr zum parlamentarischen System sei für immer zu vermeiden.[22]

Am 1. Februar 1933 löste Hindenburg den Reichstag, wie vom Kanzler erbeten, auf.[23] Der Reichspräsident begründete die Maßnahme damit, dass sich „die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als nicht möglich herausgestellt“ habe und nun „das Volk durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nehmen“ könne.[24]