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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ohne sich seiner Schuld bewusst zu sein, ist Liebmann zum ältesten Schüler seiner Klasse geworden, wieder und wieder hat eine Versetzung nicht geklappt. Statt Unterstützung erfährt er Spott und Hohn, bis er sich ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Autorität des Lehrers auflehnt. Doch seine Revolte hat schwerwiegende Folgen … Stefan Zweig beschreibt mit psychologischem Feinsinn und großer sprachlicher Suggestivkraft, wie unmenschliche Erfahrungen, innere Zwänge und misslingende Kommunikation den Menschen zum Äußersten treiben können.
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Seitenzahl: 19
Stefan Zweig
Ein Verbummelter
Fischer e-books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Als er an der Kirchturmuhr vorbeikam, merkte er, daß es schon hoch an der Zeit war. Er nahm die Schulbücher fester unter den Arm und begann sein behagliches Faulenzertempo zu beschleunigen. Aber bald stand er davon wieder ab. Die Hitze des Sommermittags hatte ihn träge gemacht, und eigentlich schien es ihm gar nicht so wichtig, rechtzeitig in eine Griechischstunde zu kommen. Und in gleichgültigem Trott trabte er weiter über das Pflaster, das eine erstickende Glut ausstrahlte gegen die Schule zu. Dort angelangt, fand er, daß er schon um zehn Minuten im Rückstand sei, und einen Augenblick noch tauchte die Überlegung auf, ob er nicht lieber umkehren solle. Aber der Gedanke an eine Fortsetzung der heutigen langweiligen Familienpredigt bei Tisch erschien ihm so peinlich, daß er entschlossen auf das Klassenzimmer zuging und mit einem energischen Ruck die Tür öffnete.
Sein plötzlicher Anblick erregte einiges Aufsehen. Rückwärts hörte man ein überlegenes Kichern, und auch vorne in den ersten Bänken sahen ihm nur höhnisch lächelnde Gesichter entgegen. Und oben vom Katheder blickte ihn der Professor mit einem selbstzufriedenen Lächeln an und sagte halblaut, wie wegwerfend: »Es wäre auch wirklich ein Wunder gewesen, wenn Sie einmal zurecht gekommen wären, Liebmann; Sie entwickeln im Zuspätkommen einen Fleiß und eine Ausdauer, die Ihnen sonst ausgiebig abgeht.«
Das Kichern surrte nun durch den ganzen Raum, durchsetzt mit tieferen, grölenden Untertönen. Alle sahen auf Liebmann hin.
Der erwiderte kein Wort und verzog keine Miene. Aber es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben, als er an den fröhlich lachenden Gesichtern vorbei auf seinen Platz zuging. In ihm brannte ein tiefer Schmerz, eine wilde verhaltene Wut, wie immer, wenn er diese grausame Szene wieder erlebte. Ganz mechanisch öffnete er sein Buch, ohne nur auf die Seitenzahl zu achten, und starrte gedankenlos auf die Lettern hin, bis sie in schwarzem, zitterndem Wirbel vor seinen Augen tanzten. Und alle Worte und Laute im Zimmer verschwammen ihm zu einem sinnlosen Geräusch, das ihm häßlich in die Ohren tönte. Wie Blei lastete die Gleichgültigkeit gegen alles auf ihm.