Ein Volksfeind - Henrik Ibsen - E-Book

Ein Volksfeind E-Book

Henrik Ibsen

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Beschreibung

Ein naturalistisches Schauspiel über den Konflikt zwischen einem Badearzt und den Honoratioren sowie der Bürgerschaft eines norwegischen Kurortes. Die wirtschaftlich stark vom Kurbad abhängige Stadt diffamiert den Badearzt als einen Volksfeind, denn er will ein wissenschaftliches Gutachten veröffentlichen, wonach das Wasser des Kurbads verseucht ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die gesamte Gesellschaft vergiftet sei, da sie auf dem Boden der Lüge ruht. Er behauptet, die kompakte, liberale und geschlossene Mehrheit sei der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit.

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LUNATA

Ein Volksfeind

Schauspiel in fünf Akten

Henrik Ibsen

Ein Volksfeind

Schauspiel in fünf Akten

© 1882 Henrik Ibsen

Originaltitel En Folkefiende

Aus dem Norwegischen von Karl Strecker

Umschlagbild Karl Paul Themistokles von Eckenbrecher

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Personen

Erster Akt

Zweiter Akt

Dritter Akt

Vierter Akt

Fünfter Akt

Personen

Doktor Thomas Stockmann, Badearzt

Frau Stockmann

Petra, beider Tochter, Lehrerin

Ejlif, Morten, beider Söhne, im Alter von dreizehn und zehn Jahren

Peter Stockmann, der ältere Bruder des Doktors, Stadtvogt und Polizeimeister, Vorsitzender der Badeverwaltung usw.

Morten Kiil, Gerbermeister, Frau Stockmanns Pflegevater

Hovstadt, Redakteur des »Volksboten«

Billing, Mitarbeiter des Blattes

Horster, Schiffskapitän

Aslaksen, Buchdrucker

Besucher einer Bürgerversammlung, Männer aus allen Ständen, einige Frauen und eine Schar Schulknaben

Das Stück spielt in einer Küstenstadt des südlichen Norwegens.

Erster Akt

Wohnzimmer des Doktors.

Abend. Das Zimmer ist sehr einfach, aber nett eingerichtet und möbliert. An der rechten Seitenwand sind zwei Türen, von denen die hintere ins Vorzimmer und die vordere in das Arbeitszimmer des Doktors führt. An der entgegengesetzten Wand, der Vorzimmertür gerade gegenüber, ist eine Tür, die zu den übrigen Zimmern der Familie führt. In der Mitte dieser Wand steht der Ofen, und weiter nach dem Vordergrund zu ein Sofa mit Spiegel; vor dem Sofa ein ovaler Tisch mit Decke. Auf dem Tische eine brennende Lampe mit Schirm. Im Hintergrund eine offene Tür, die ins Speisezimmer führt. Der Tisch drinnen, mit der Lampe darauf, ist zum Abendessen gedeckt.

Billing sitzt drin am Eßtisch mit einer Serviette unter dem Kinn. Frau Stockmann steht am Tisch und reicht ihm eine Schüssel mit einem großen Stück Rinderbraten. Die übrigen Plätze am Tisch sind leer; das Tischzeug ist in Unordnung wie nach einer beendeten Mahlzeit.

Frau Stockmann. Ja, wenn Sie eine Stunde zu spät kommen, Herr Billing, dann müssen Sie mit kaltem Essen vorlieb nehmen.

Billingessend. Es schmeckt ganz ausgezeichnet, – ganz großartig.

Frau Stockmann. Sie wissen ja, wie genau Stockmann auf pünktliche Mahlzeiten hält –

Billing. Das macht mir gar nichts. Ich glaube fast, es schmeckt mir noch besser, wenn ich ganz allein dasitzen und ungestört essen kann.

Frau Stockmann. Na ja, wenn es Ihnen nur schmeckt, so – Horcht nach dem Vorzimmer hin. Da kommt gewiß auch Hovstad.

Billing. Schon möglich.

Stadtvogt Stockmann, im Paletot mit Amtsmütze und Stock, tritt ein.

Stadtvogt. Ergebensten guten Abend, Frau Schwägerin.

Frau Stockmanntritt ins Wohnzimmer. Ei sieh da, guten Abend; Sie sind's? Das ist hübsch von Ihnen, daß Sie sich mal bei uns sehen lassen.

Stadtvogt. Ich bin gerade vorbeigegangen und da – Mit einem Blick auf das Speisezimmer. Aber – Sie haben Gesellschaft, wie es scheint.

Frau Stockmannetwas verlegen. O, durchaus nicht; das ist reiner Zufall. Rasch. Wollen Sie nicht eintreten und einen Bissen mitessen?

Stadtvogt. Ich? Nein, vielen Dank. I Gott bewahre; warmes Abendbrot; das ist nichts für meine Verdauung.

Frau Stockmann. Ach, einmal ist doch keinmal –.

Stadtvogt. Nein, nein, das wäre noch schöner; ich bleibe bei meinem Tee und meinem Butterbrot. Das ist doch gesünder auf die Dauer, – und auch ein bißchen haushälterischer.

Frau Stockmannlächelt. Sie halten doch wohl nicht Thomas und mich für ausgemachte Verschwender?

Stadtvogt. Sie nicht, Frau Schwägerin; das sei fern von mir. Deutet auf das Arbeitszimmer des Doktors. Er ist am Ende nicht zu Hause?

Frau Stockmann. Nein, er macht einen kleinen Spaziergang nach dem Essen, – er und die Jungen.

Stadtvogt. Ob das gesund sein mag? Horcht auf. Da kommt er wohl.

Frau Stockmann. Nein, das ist er schwerlich. Es klopft. Herein!

Hovstad kommt aus dem Vorzimmer.

Frau Stockmann. Ah, Sie sind's, Herr Hovstad –?

Hovstadt. Ja, – Sie müssen entschuldigen; aber ich wurde in der Druckerei aufgehalten. Guten Abend, Herr Stadtvogt.

Stadtvogtgrüßt etwas steif. Herr Redakteur. Sie kommen vermutlich in Geschäften?

Hovstadt. Zum Teil. Es handelt sich um etwas, das ins Blatt soll.

Stadtvogt. Kann es mir denken. Mein Bruder, höre ich, soll ein enorm fruchtbarer Mitarbeiter des »Volksboten« sein.

Hovstadt. Ja, er ist so frei, für den »Volksboten« zu schreiben, wenn er aus diesem oder jenem Anlaß die Wahrheit sagen will.

Frau Stockmannzu Hovstad. Aber wollen Sie nicht –? Zeigt nach dem Speisezimmer.

Stadtvogt. I, ich verdenke es ihm durchaus nicht, daß er für den Leserkreis schreibt, wo er hoffen darf, den meisten Anklang zu finden. Übrigens habe ich persönlich ja gar keinen Grund, auf Ihr Blatt ungehalten zu sein, Herr Hovstad.

Hovstadt. Nein, das scheint mir auch.

Stadtvogt. Im großen ganzen herrscht ein schöner Geist der Verträglichkeit in unserer Stadt; – ein Bürgersinn, wie er sein soll. Und das kommt daher, weil wir uns um eine große, gemeinsame Angelegenheit scharen können, – eine Angelegenheit, die in gleich hohem Grade alle rechtschaffenen Mitbürger angeht –

Hovstadt. Das Bad, jawohl.

Stadtvogt. Allerdings. Wir haben unser großes, neues, prächtiges Bad. Passen Sie auf! Das Bad wird die vornehmste Lebensquelle der Stadt, Herr Hovstad. Unbestritten!

Frau Stockmann. Dasselbe sagt Thomas auch.

Stadtvogt. Welchen Riesenaufschwung hat der Ort nicht in den letzten paar Jahren genommen! Hier ist Geld unter die Leute gekommen; Leben und Bewegung! Haus- und Grundbesitz steigen im Wert mit jedem Tage.

Hovstadt. Und die Arbeitslosigkeit nimmt ab.

Stadtvogt. Auch das, jawohl. Die Armenlast hat sich für die besitzenden Klassen in erfreulichem Maße vermindert, und das wird in noch höherem Grade der Fall sein, wenn wir dies Jahr nur einen recht guten Sommer bekommen; – einen recht regen Fremdenverkehr, – eine hübsche Menge Kranker, die dem Bad einen Namen machen.

Hovstadt. Und dazu ist ja Aussicht vorhanden, wie ich höre.

Stadtvogt. Es läßt sich vielversprechend an. Jeden Tag laufen Anfragen wegen Wohnungen und dergleichen ein.

Hovstadt. Na, da kommt ja der Aufsatz des Herrn Doktors gerade gelegen.

Stadtvogt. Hat er wieder etwas geschrieben?

Hovstadt. Es ist ein Manuskript vom letzten Winter; eine Empfehlung des Bades, eine Darstellung der günstigen Gesundheitsverhältnisse hier bei uns. Aber damals ließ ich den Aufsatz liegen.

Stadtvogt. Aha, vermutlich hatte die Sache in irgend welcher Beziehung einen Haken.

Hovstadt. Nein, das nicht; aber ich meinte, lieber bis zum Frühjahr damit warten zu sollen; denn jetzt beginnt ja das Publikum Anstalten zu treffen und an die Sommerfrische zu denken –

Stadtvogt. Sehr richtig; ungemein richtig, Herr Hovstad.

Frau Stockmann. Ja, Thomas ist wirklich unermüdlich, wenn es sich um das Bad handelt.

Stadtvogt. Na, er steht doch auch im Dienste des Bades.

Hovstadt. Ja, und dann ist ja auch er es gewesen, der die Grundlage dazu geschaffen hat.

Stadtvogt. Er? So? Ich höre allerdings zuweilen, daß man in gewissen Kreisen dieser Ansicht ist. Ich glaubte nun freilich, ich hätte auch einen bescheidenen Anteil an diesem Unternehmen.

Frau Stockmann. Ja, das sagt Thomas immer.

Hovstadt. Wer leugnet denn das, Herr Stadtvogt? Sie haben die Sache in Gang gebracht und sie praktisch durchgeführt; das wissen wir doch alle. Aber ich meinte nur, daß die ursprüngliche Idee vom Herrn Doktor stammt.

Stadtvogt. Ja, Ideen hat mein Bruder gewiß Zeit seines Lebens genug gehabt – leider. Wenn aber etwas ins Werk gesetzt werden soll, so werden Männer von anderem Schlage gebraucht, Herr Hovstad. Und ich glaubte wirklich, daß man am allerwenigsten in diesem Hause –

Frau Stockmann. Aber, lieber Schwager –

Hovstadt. Wie können Sie nur, Herr Stadtvogt –

Frau Stockmann. Jetzt gehen Sie aber hinein, Herr Hovstad, und nehmen Sie etwas zu sich; inzwischen kommt auch wohl mein Mann.

Hovstadt. Danke sehr; einen kleinen Bissen nur! Ab ins Speisezimmer.

Stadtvogtmit etwas gedämpfter Stimme. Es ist was Merkwürdiges mit den Leuten, die direkt von Bauern abstammen; taktlos sind und bleiben sie nun einmal.

Frau Stockmann. Aber lohnt es sich denn, Aufhebens davon zu machen? Können Sie und Tomas sich nicht brüderlich in die Ehre teilen?

Stadtvogt. Ja, man sollte es meinen; offenbar aber ist nicht jeder mit dem Teilen zufrieden.

Frau Stockmann. Ach Unsinn! Sie und Thomas kommen doch ganz vortrefflich miteinander aus. Horcht. Ich glaube, da ist er.

Geht hin und öffnet die Tür des Vorzimmers.

Doktor Stockmannlacht und lärmt draußen. Sieh, Käte, da kriegst Du noch einen Gast! Famos, was? Bitte, Kapitän. Hängen Sie den Rock nur da an den Kleiderriegel. Ach so – Sie tragen keinen Paletot? Du, Käte, ich habe ihn auf der Straße abgefangen; er wollte durchaus nicht mit herauf.

Horstertritt ein und begrüßt Frau Stockmann.

Stockmannin der Tür. Hinein, Ihr Jungens. Du! Sie haben schon wieder einen Mordshunger! Kommen Sie, Kapitän; Sie sollen einen Rinderbraten kosten, der –

Nötigt Horster ins Speisezimmer. Ejlif und Morten gehen ebenfalls hinein.

Frau Stockmann. Aber Thomas, siehst Du denn nicht –?

Stockmannwendet sich in der Tür um. Ach, Du bist's, Peter! Geht auf ihn zu und reicht ihm die Hand. Nein, das ist aber reizend.

Stadtvogt. Ich muß leider gleich wieder fort –

Stockmann. Unsinn! Gleich kommt der Toddy auf den Tisch. Du hast den Toddy doch nicht vergessen, Käte?

Frau Stockmann. I bewahre. Das Wasser kocht schon. Ab ins Speisezimmer.

Stadtvogt. Toddy auch –!

Stockmann. Ja, laß Dich nur nieder, und dann machen wir es uns gemütlich.

Stadtvogt. Ich danke. Ich beteilige mich niemals an Toddygelagen.

Stockmann. Aber das ist doch kein Gelage.

Stadtvogt. Mir scheint doch – Sieht nach dem Speisezimmer. Merkwürdig, was die alles vertilgen können.

Stockmannreibt sich die Hände. Ja, ist's nicht eine wahre Wonne, junge Leute essen zu sehen? Immer Appetit, Du! So ist's recht. Das Essen gehört mit dazu! Kräfte! Das sind die Leute, die den gärenden Zukunftsstoff aufwühlen sollen, Peter.

Stadtvogt. Darf ich fragen, was es hier »aufzuwühlen« gibt, wie Du Dich ausdrückst?

Stockmann. Ja, das mußt Du die Jugend fragen – wenn es so weit ist. Wir erleben es natürlich nicht mehr. Selbstverständlich. So ein paar alte Knaben, wie Du und ich –

Stadtvogt. Na, na! Das ist doch eine höchst ungewöhnliche Bezeichnung –

Stockmann. Du darfst es nicht so genau mit mir nehmen, Peter. Denn Du mußt wissen, ich bin so riesig froh und vergnügt. Ich fühle mich ganz unsagbar glücklich inmitten dieses keimenden, sprießenden Lebens. Es ist doch eine herrliche Zeit, in der wir leben! Es ist, als ob eine ganz neue Welt aufblühen wolle um einen her.

Stadtvogt. Findest Du wirklich?

Stockmann. Ja, Du kannst das natürlich nicht so gut sehen wie ich. Bist Du doch Dein Leben lang mitten drin gewesen; da stumpft sich der Eindruck ab. Aber ich, der ich die langen Jahre da oben im Norden in meinem einsamen Winkel sitzen mußte und fast nie eines fremden Menschen ansichtig wurde, der ein ermunterndes Wort für mich gehabt hätte, – auf mich wirkt das, wie wenn ich mitten in das Gewimmel einer Weltstadt versetzt wäre –

Stadtvogt. Hm; Weltstadt –

Stockmann. Ich weiß ja wohl, daß die Verhältnisse hier klein sind im Vergleich zu vielen anderen Orten. Aber hier ist Leben, – Verheißung, eine Unzahl von Dingen, für die man wirken und kämpfen kann; und das ist die Hauptsache. Ruft: Käte, ist der Postbote nicht da gewesen?

Frau Stockmannim Speisezimmer. Nein; es ist keiner da gewesen.

Stockmann. Und dann das gute Auskommen, Peter! Das lernt man schätzen, wenn man wie wir nichts zu brechen und zu beißen gehabt hat –

Stadtvogt. Na, na –

Stockmann. O ja, glaub' nur, daß bei uns da oben oft Schmalhans Küchenmeister gewesen ist. Und nun leben zu können wie ein Grandseigneur! Heut, zum Beispiel, hatten wir Rinderbraten zu Mittag; ja, und abends hatten wir auch noch davon. Willst Du nicht ein Stück probieren? Oder soll ich ihn Dir nicht wenigstens zeigen? Komm mit –

Stadtvogt. Nein, nein, keinesfalls –

Stockmann. Na, so komm hierher. Sieh mal, wir haben eine Tischdecke gekriegt.

Stadtvogt. Ja, das habe ich bemerkt.

Stockmann. Und auch einen Lampenschirm. Siehst Du? Das alles hat Käte zusammengespart. Und das macht die Stube so gemütlich. Findest Du nicht auch? Stell' Dich nur mal hierher; – nein, nein, nein; nicht so. So. Ja! Siehst Du, wenn das Licht so konzentriert darauf fällt –. Ich finde, es sieht wirklich elegant aus. Was?

Stadtvogt. Ja, wenn man sich solchen Luxus gestatten kann.

Stockmann. O ja; den kann ich mir jetzt schon gestatten. Käte sagt, daß ich fast schon so viel verdiene, wie wir brauchen.

Stadtvogt. Fast – jawohl!

Stockmann. Aber ein Mann der Wissenschaft muß doch auch ein bißchen vornehm leben. Ich bin überzeugt, daß ein gewöhnlicher Amtmann weit mehr im Jahre braucht als ich.

Stadtvogt. Ja, das glaube ich schon! Ein Amtmann, eine obrigkeitliche Person –

Stockmann. Na, und ein einfacher Großkaufmann! So einer braucht noch x-mal so viel –

Stadtvogt. Ja, das liegt nun einmal in den Verhältnissen.

Stockmann. Übrigens gebe ich wirklich nichts unnütz aus, Peter. Aber ich kann mir denn doch nicht die Herzensfreude versagen, Menschen bei mir zu sehen. Das brauche ich, siehst Du. Ich war so lange in der Verbannung, – es ist mir ein Lebensbedürfnis, mit jungen, flotten, mutigen Leuten, mit freigesinnten, unternehmungslustigen Leuten zusammen zu sein –; und das sind sie alle, alle, die da drin sitzen und so tapfer zulangen. Ich wünschte, Du lerntest diesen Hovstad etwas näher kennen –

Stadtvogt. Hovstad, – ja, richtig, – er hat mir erzählt, daß er wieder einen Aufsatz von Dir drucken will.

Stockmann. Einen Aufsatz von mir?

Stadtvogt. Ja, über das Bad. Einen Aufsatz, den Du schon im Winter geschrieben hast.

Stockmann. Ach den, ja! – Aber den will Ich jetzt vorläufig nicht hinein haben.

Stadtvogt. Nicht? Mir scheint denn doch, gerade jetzt wäre die günstigste Zeit.

Stockmann. Ja, da hast Du schon recht; unter gewöhnlichen Verhältnissen –

Geht durchs Zimmer.

Stadtvogtsieht ihm nach. Was sollte denn jetzt wohl Ungewöhnliches an den Verhältnissen sein?

Stockmannbleibt stehen. Ja, Peter, das kann ich Dir in diesem Augenblick noch nicht sagen, wenigstens heut Abend nicht. Vielleicht ist sehr vieles ungewöhnlich an den Verhältnissen; oder vielleicht auch gar nichts. Leicht möglich, daß es nur eine Einbildung ist.

Stadtvogt. Ich muß gestehen, das klingt höchst rätselhaft. Ist denn was los? Etwas, wovon ich nichts wissen soll? Ich sollte doch meinen, daß ich, als Vorsitzender der Badeverwaltung –

Stockmann. Und ich sollte meinen, daß ich –; na, Peter, wir wollen einander nicht in die Haare fahren.

Stadtvogt. I Gott, – es ist nicht meine Art, einem in die Haare zu fahren, wie Du sagst. Aber ich muß auf das entschiedenste darauf bestehen, daß alle Maßregeln auf dem geschäftsordnungsmäßigen Weg erledigt werden und durch die gesetzlich dazu bestellten Behörden. Ich kann nicht gestatten, daß man krumme Wege und Hintertreppen betritt.

Stockmann. Pflege ich je krumme Wege und Hintertreppen zu betreten?

Stadtvogt. Jedenfalls hast Du von Natur den Hang, Deine eigenen Wege zu gehen. Und das ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft beinahe ebenso unstatthaft. Der einzelne muß sich durchaus dem Ganzen unterordnen, oder, richtiger gesagt, den Behörden, die über das Gemeinwohl zu wachen haben.

Stockmann. Mag sein. Aber was zum Henker geht mich das an?

Stadtvogt. Ja, mein guter Thomas, das eben scheinst Du nie lernen zu wollen. Aber paß nur auf; Du wirst schon noch einmal dafür büßen müssen, – früher oder später. Ich habe es Dir nun gesagt. Leb' wohl.

Stockmann. Aber bist Du denn ganz verrückt? Du bist auf ganz falscher Fährte –

Stadtvogt. Das pflege ich doch sonst nicht zu sein. Übrigens muß ich mir verbitten – Grüßt ins Speisezimmer. Adieu, Frau Schwägerin. Adieu, meine Herren. Ab.

Frau Stockmannkommt ins Wohnzimmer. Ist er gegangen?

Stockmann. Ja, und zwar in Wut und Ärger.

Frau Stockmann. Aber, lieber Thomas, was hast Du ihm denn wieder angetan?

Stockmann. Nicht das allergeringste. Er kann doch nicht verlangen, daß ich ihm Rechenschaft gebe, ehe die Zeit gekommen ist.

Frau Stockmann. Über was solltest Du ihm denn Rechenschaft geben?

Stockmann. Ach, laß mich damit in Ruhe, Käte. – Es ist doch sonderbar, daß der Postbote nicht kommt.

Hovstad, Billing und Horster sind vom Tische aufgestanden und kommen ins Wohnzimmer. Gleich darauf auch Ejlif und Morten.

Billing, reckt die Arme. Ah! nach solch einer Mahlzeit ist man, Gott verdamm' mich, ein ganz neuer Mensch.

Hovstadt. Der Stadtvogt, scheint mir, war heut nicht grade in rosigster Laune.

Stockmann. Das kommt vom Magen her; er leidet an schlechter Verdauung.

Hovstadt. Besonders uns vom »Volksboten«, die konnte er nicht verdauen.

Frau Stockmann. Sie sind, meine ich, doch noch leidlich gut mit ihm ausgekommen.

Hovstadt. Na ja, aber es ist doch immer nur eine Art Waffenstillstand.

Billing. Das ist's! Das Wort erschöpft die Situation.

Stockmann. Wir dürfen nicht vergessen, daß Peter ein einsamer Mann ist, der arme Kerl. Er hat kein Heim, wo er sich behaglich fühlt; nur Geschäfte, und immer wieder Geschäfte. Und dann der verdammte dünne Tee, den er fortwährend in sich hineingießt. Na, Jungens, so stellt doch Stühle an den Tisch. Käte, kriegen wir nicht bald unsern Toddy?

Frau Stockmanngeht nach dem Speisezimmer. Ich bringe ihn gleich herein.

Stockmann. Setzen Sie sich zu mir aufs Sofa, Kapitän. Ein so seltener Gast wie Sie –. Bitte schön, nehmen Sie Platz, meine Freunde.

Die Herren setzen sich um den Tisch. Frau Stockmann bringt einen Präsentierteller, auf dem Teekessel, Gläser, Karaffe und Zubehör stehen.

Frau Stockmann. So. Hier ist Arrak, und das da ist Rum; und hier steht der Kognak. Jetzt muß sich jeder selbst bedienen.

Stockmannnimmt das Glas. Ja, das werden wir machen. Während der Toddy gemischt wird. Und nun die Zigarren! Ejlif, Du weißt sicher, wo die Kiste steht. Und Du, Morten, kannst mir meine Pfeife bringen. Die Knaben gehen rechts ins Zimmer. Ich habe Ejlif im Verdacht, daß er dann und wann eine Zigarre maust; aber ich lasse mir nichts merken. Ruft. Und dann mein Käppchen, Morten! Käte, kannst Du ihm nicht sagen, wo ich es hingelegt habe. Na, er hat es schon! Die Knaben bringen das Verlangte. Bitte schön, meine Freunde. Ihr wißt ja, ich bleibe bei der Pfeife; die hat da oben in Nordland mit mir manchen Sturm erlebt. Stößt an. Prosit! Ach, es ist schon ein ander Ding, hier mollig und sicher zu sitzen.

Frau Stockmannstrickend. Gehen Sie bald in See, Herr Kapitän?

Horster. Nächste Woche hoffe ich fertig zu werden.

Frau Stockmann. Und dann fahren Sie wohl nach Amerika?

Horster. Ja, das ist meine Absicht.

Billing. Aber dann können Sie ja nicht bei den städtischen Neuwahlen mittun.

Horster. Sind hier Neuwahlen?

Billing. Das wissen Sie nicht?

Horster. Nein, von solchen Sachen lasse ich die Finger weg.

Billing. Aber um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern Sie sich doch?

Horster. Nein, ich verstehe mich auf so etwas nicht.

Billing. Immerhin, – mitstimmen muß man doch wenigstens.

Horster. Die auch, die gar nichts davon verstehen?

Billing. Verstehen? Ja, wie meinen Sie das? Die Gesellschaft ist wie ein Schiff. Alle Mann müssen mittun am Steuerruder.

Horster. Fürs Festland mag das angebracht sein; aber an Bord würde es nicht gut gehen.

Hovstadt. Sonderbar, daß die Seeleute im allgemeinen sich so wenig um die Dinge auf dem Lande kümmern.

Billing. Ganz merkwürdig.

Stockmann. Die Seeleute sind wie die Zugvögel; sie fühlen sich im Süden wie im Norden zu Hause. Aber darum müssen wir andern um so tätiger sein, Herr Hovstad. Steht morgen was von allgemeinem Interesse im »Volksboten«?

Hovstadt