Ein Weihnachtshund auf Glücksmission - Petra Schier - E-Book
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Ein Weihnachtshund auf Glücksmission E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Gibt es eine zweite Chance für die Liebe? Ausgerechnet zur Weihnachtszeit tauchen zwei Männer im sonst so geordneten Leben von Annalena auf: ein vierbeiniger und ein zweibeiniger. Da ist einmal Asco, ein eigensinniger schwarzweißer Border Collie mit undurchsichtiger Vorgeschichte. Und da ist Christian, ein alter Bekannter, von dem Annalena gehofft hatte, ihm niemals wieder begegnen zu müssen. Nur ganz allmählich lässt sie ihn wieder in ihr Leben, und prompt erwachen die lange verdrängten Gefühle erneut. Doch Christian kämpft mit den Schatten seiner Vergangenheit und hält Annalena auf Abstand.  Gut, dass Asco mit dem Weihnachtsmann und seinen Elfen im Bunde ist … Eine prickelnd-romantische Liebesgeschichte mit einer cleveren Fellnase und ganz viel Weihnachtsflair.

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Table of Contents

Ein Weihnachtshund auf Glücksmission

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16.Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel – Nachspiel

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Petra Schier

Ein Weihnachtshund auf Glücksmission

Roman

Impressum

Dieser Roman ist unter demselben Titel und mit anderem Cover bereits 2018 als genehmigte Lizenzausgabe bei der Weltbild GmbH und Co. KG erschienen.

 

Ein Weihnachtshund auf Glücksmission

eBook Edition, überarbeitete Neuauflage, Version 1

Copyright © 2018 / 2024 by Petra Schier

Lerchenweg 6, 53506 Heckenbach

www.petra-schier.de

Cover-Abbildung unter Verwendung von Adobe Stock:

© Rawpixel.com / © tomertu / © Alghas

ISBN 978-3-96711-051-7

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Kein Teil

des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG («Text und Data Mining») zu gewinnen, ist untersagt.

 

Die Personen und Handlungen im vorliegenden Werk sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Erwähnungen von historischen bzw. realen Ereignissen, realen Personen oder Orten sind rein fiktional.

1. Kapitel

»Santa Claus, bist du hier?« Leise klopfte das Christkind an die offenstehende Bürotür und trat ein.

»Hm, wie? Was?« Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, tauchte hinter seinem Schreibtisch auf. »Ach, du bist es. Entschuldige, ich bin gerade auf der Suche nach einem Wunschzettel, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Santa, ich habe noch mal im Briefkasten nachgeschaut, aber da ist er auch nicht. Er muss hier im Büro sein. Oh, guten Tag, liebes Christkind.« Elfe-Sieben, die kleine, quirlige Assistentin des Weihnachtsmannes, kam ebenfalls herein. Ihre Wangen waren leicht gerötet und die Mütze auf ihrem Kopf saß etwas schief.

»Das ist ja ein ziemliches Durcheinander hier.« Schmunzelnd sah das Christkind sich um. Überall auf dem Tisch, auf den Besuchersesseln und auf dem Boden stapelten sich Wunschzettel, leere Briefumschläge und Aktenordner. »Kein Wunder, dass du hier nichts findest, Santa.«

»Nein, nein, es ist doch erst so chaotisch, seit ich angefangen habe, nach dem Wunschzettel zu suchen.« Verlegen zupfte der Weihnachtsmann an seinem langen, weißen Bart. »Es ist wie verhext. Mein Wunsch-Empfänger, du weißt schon, der mit der Radarfunktion, meldet mir seit Tagen einen eingegangenen Wunsch, der dringend erfüllt werden muss, aber ich finde den entsprechenden Brief einfach nicht. Auch nicht in meinem E-Mail-Account. So ein Ärger, dabei hätte ich doch noch so viel vorzubereiten, bevor die heiße Wunscherfüllungsphase losgeht. Jetzt im September ist dazu die beste Zeit.«

»O je.« Das Christkind zog ein wenig den Kopf ein. »Möglicherweise kann ich dir weiterhelfen. Ich bin nämlich hier, weil eins meiner Engelchen heute zufällig einen Wunschzettel in unserer Post gefunden hat, der an dich adressiert ist. Irgendwie muss er versehentlich zu uns geraten sein. Schau mal, ist es vielleicht der Wunschzettel, den du suchst?«

»Lass sehen.« Santa Claus nahm den Brief, den das Christkind ihm hinhielt, und öffnete ihn. Sogleich begann hinter ihm in der Zimmerecke ein kleines rechteckiges Gerät laut zu piepsen.

»Das ist der Wunsch-Empfänger!«, rief Elfe-Sieben und schaltete das Gerät, das gleich neben dem Gefühlsradar stand, schnell auf lautlos.

»Also handelt es sich um den gesuchten Wunschzettel?« Das Christkind lächelte verlegen. »Tut mir leid, dass du dein Büro ganz umsonst auf den Kopf gestellt hast.«

»Da hätten wir ja noch lange suchen können.« Auch der Weihnachtsmann lächelte wieder heiter und ließ sich auf seinen Bürostuhl sinken. Neugierig überflog er das Schreiben, dann reichte er es an seine Assistentin weiter. »Ein wichtiger Wunsch, aber bestimmt recht gut erfüllbar. Vor allem, weil uns noch eine Menge Zeit dazu bleibt.«

»Worum geht es denn?« Auch die Elfe las den Wunschzettel und nickte dann ernst. »Wieder einmal ein trauriges Schicksal. Aber eines, bei dem wir ganz bestimmt was machen können. Warte, ich lege den Fall mal auf einen unserer Überwachungsbildschirme.« Sie stellte sich neben Santa Claus und tippte auf der Computertastatur herum. Im nächsten Moment ging einer der unzähligen Videobildschirme an der Wand an und zeigte ein blondes, etwa zwölfjähriges Mädchen in einer kleinen, sehr karg eingerichteten Wohnung. »Erstaunlich, dass sie in ihrem Alter noch Wunschzettel an den Weihnachtsmann schreibt, aber in ihrer Lage versucht sie wahrscheinlich einfach alles.«

»Sie tut mir so leid!« Betrübt ließ Elfe-Sieben den Kopf hängen. »Wann wünschen sich Kinder denn schon, von ihrer leiblichen Mutter wegzukommen und bei ihrem großen Bruder leben zu dürfen?

»Nur, wenn sie wirklich verzweifelt sind.« Bedächtig zog Santa Claus die Tastatur heran und gab ein paar Befehle ein. »Hier, seht mal, da gibt es eine Menge weiterer Informationen. Offenbar hat der Bruder schon mal versucht, das Sorgerecht für seine Schwester zu erhalten, wurde aber abgeschmettert, weil er alleinstehend und ohne ausreichendes Einkommen war.«

»Lass mal sehen.« Elfe-Sieben übernahm wieder die Tastatur. »Das ist ja auch schon ein paar Jahre her und damals scheint er auch ziemlich in der Welt herumgetingelt zu sein. Seitdem ist der Kontakt des Sohnes zur Mutter offenbar abgebrochen. Es sieht so aus, als wüsste sie zu verhindern, dass er sich nochmals einmischt. Ach Mensch.« Die Elfe schniefte ein wenig. »Und das arme Mädchen muss darunter leiden.«

»Ich werde Elf-Zwei und Elfe-Acht losschicken«, beschloss der Weihnachtsmann. »Sie sollen so viel wie möglich über die gesamte Familie herausfinden, damit ich einen Plan schmieden kann, wie Senta zu helfen ist.« Er wandte sich an das Christkind. »Danke, dass du extra hergekommen bist, um mir den Wunschzettel zu bringen.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich hätte ja auch meine Engelchen darauf ansetzen können, aber wenn ein Wunschzettel an dich adressiert ist, bist du auch dafür zuständig.«

»Du hast ganz bestimmt selbst genug zu tun.« Santa Claus lächelte verständnisvoll. »Und wenn du dich darum gekümmert hättest, ohne etwas zu sagen, hätte der Wunsch-Empfänger wahrscheinlich bis zum Jahresende verrückt gespielt, und ich wäre irgendwann verzweifelt, weil mir doch kein Wunschzettel verloren gehen darf.«

»Dann wäre also alles geklärt, und ich kann mich wieder auf den Weg machen.« Schmunzelnd sah das Christkind sich um. »Oder soll ich noch beim Aufräumen helfen?«

»Ach was, das ist nicht nötig. Ich schaffe das schon.« Lachend winkte der Weihnachtsmann ab.

»Du meinst, ich schaffe das.« Elfe-Sieben kicherte. »Fürs Aufräumen bin nämlich ich zuständig«, erklärte sie dem Christkind. »Was auch besser ist, weil Santa Claus sonst mein ganzes schönes Ordnersystem durcheinanderbringt. Huch, sieh mal einer an!«

»Was denn?« Überrascht hob der Weihnachtsmann den Kopf.

»Ich habe gerade Sentas Bruder ausfindig gemacht. Schau mal, wer das ist!«

»Wer denn, der Kaiser von China?«, scherzte Santa Claus, hüstelte dann aber überrascht. »Na, so was! Warte mal, der kommt mir doch bekannt vor!« Noch während er sprach, piepste der Wunsch-Empfänger erneut laut auf. Erschrocken drehte er das Gerät leiser und runzelte nach einem Blick auf das kleine Display die Stirn. »Da soll mich doch der Teufel holen! Verzeihung.« Verlegen grinste er in Richtung des Christkindes. »Schau dir das an. Zufälle gibt’s!«

»Was meinst du denn?« Neugierig trat das Christkind wieder näher und warf ebenfalls einen Blick auf das Display und dann auf den Computerbildschirm, auf dem Santa Claus inzwischen ein Dokument geöffnet hatte.

Der Weihnachtsmann tippte mit dem Zeigefinger auf eine Zeile in der Datei. »Kurz vor Weihnachten vor zwei Jahren erhielt ich einen Gedankenwunsch. Du weißt schon, Wünsche, die nicht schriftlich an mich gestellt werden, sondern nur gedanklich, die aber so stark sind, dass sie sich über den Wunsch-Empfänger manifestieren und in meinem System hinterlegt werden. Ich konnte ihn damals nicht erfüllen und habe ihn, um ehrlich zu sein, seither liegengelassen, weil sich einfach keine Anhaltspunkte zur Erfüllung ergeben haben. Aber jetzt ...«

»Santa! Ach herrje, schau mal, wen ich gerade auch noch entdeckt habe!«, rief Elfe-Sieben aufgeregt dazwischen und deutete hektisch auf den Bildschirm an der Wand, auf dem sich, wohl durch den Wunsch-Empfänger hervorgerufen, weitere Bilder zeigten. »Das ist Annalena Kilian. Erinnerst du dich noch an sie? Wir haben ihrem Bruder oder vielmehr seinen Kindern vor zwei Jahren ihren größten Weihnachtswunsch erfüllt.«

»Selbstverständlich erinnere ich mich.«

»Schau mal, wer jetzt bei ihr wohnt.« Vollkommen außer sich hüpfte die kleine Elfe vor dem Bildschirm auf und ab. »Ich könnte schwören, das ist Asco.«

»Lass sehen.« Der Weihnachtsmann erhob sich und eilte selbst zur Videowand.

»Das kann doch kein Zufall sein, oder?« Mit großen Augen blickte die Elfe zu Santa Claus auf.

»Nein, das ist kein Zufall.« Der Weihnachtsmann zupfte sich erneut am Rauschebart. »Das ist Schicksal. « Er wandte sich zu seinem Besucher um. »Liebes Christkind, es tut mir sehr leid, aber wir müssen uns jetzt ganz dringend an die Arbeit machen. Das hier entwickelt sich zu einem höchst interessanten Fall!«

»Selbstverständlich.« Das Christkind zog sich lächelnd zurück. »Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Wunscherfüllung!«

»Danke, danke.« Der Weihnachtsmann war bereits an seinen Computer zurückgekehrt und tippte eifrig auf der Tastatur herum. Die Unordnung in seinem Büro hatte er vollkommen vergessen.

2. Kapitel

»Och nö, nicht schon wieder! Nicht am Samstag, verdammt noch mal.« Stöhnend presste Annalena sich ihr Kissen gegen die Ohren. Es war eine Minute nach acht und der Renovierungslärm aus dem Haus nebenan, der sie schon seit Wochen quälte, hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Besonders das Brummen der Schlagbohrmaschine ging ihr durch Mark und Bein. »Warum nur, warum?«, jammerte sie in ihre Matratze. »Warum mussten sie das verdammte Haus verkaufen? Ich will schlafen!«

Bis nachts um drei hatte Annalena an neuen Artikeln für ihren Blog über Motivations- und Selbstorganisationstechniken geschrieben und war dementsprechend erschöpft. Sie wohnte jetzt seit fast fünf Jahren in dem entzückenden kleinen Altbau-Wohnhaus und hatte nie Probleme mit Ruhestörung gehabt, weil in dem größeren Wohngebäude, das links an ihr Haus stieß, ein älteres Ehepaar gewohnt hatte. Die beiden waren nun jedoch in die Nähe ihrer Kinder gezogen – irgendwo an der Ostsee – und hatten das Haus verkauft. Der neue Eigentümer war ihr zwar noch nicht über den Weg gelaufen, doch seine Handwerker-Truppe, die offenbar das komplette Innenleben des Hauses auf den Kopf stellte, trieb sie nun schon seit Wochen an den Rand des Wahnsinns. Als Autorin arbeitete sie nun einmal von zu Hause aus – nicht selten auch schon mal bis spät am Abend – oder sogar bis tief in die Nacht. Da konnte sie nicht einfach ausweichen, wenn es ihr zu laut wurde. Und laut war im Augenblick gar kein Ausdruck.

Oh, gut, du bist endlich wach! Bitte, Annalena, stell diesen Lärm ab. Das ist ja schlimmer als die Küchenmaschine und der Staubsauger zusammen. Wie soll ein Hund da bloß zur Ruhe kommen? Asco, ein schwarz-weißer Border Collie, erhob sich mit einem ungehaltenen Schnauben von seinem Schlafkissen am Fußende von Annalenas Bett und schüttelte sich demonstrativ. Mit den Haushaltsgeräten kann ich mich ja gerade noch arrangieren, aber dieser infernalische Lärm von nebenan geht gar nicht. Als ich hier eingezogen bin, war es herrlich ruhig hier. Es war nicht die Rede davon, dass hier plötzlich so ein Höllenlärm losbricht. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht so erpicht darauf gewesen, von dir adoptiert zu werden, dass das mal klar ist. Ich bin eh nur hier, damit ich mich bei passender Gelegenheit wieder aus dem Staub machen kann. Das ging ja in diesem Hundegefängnis namens Tierheim nicht. Aber für die Übergangszeit hätte ich doch gerne ein bisschen Bequemlichkeit und Ruhe, wenn ich bitten darf.

»Asco.« Seufzend streckte Annalena ihre Hand nach dem Hund aus. »Du Ärmster. Dir ist es auch zu laut, was?«

Sag ich doch. Was gedenkst du dagegen zu tun?

Sie kicherte, als Asco ihr über die Fingerspitzen leckte und mit seiner feuchten Nase wiederholt gegen ihre Hand stupste. »Dagegen lässt sich leider nichts machen. Der neue Besitzer hat nun mal das Recht, zu renovieren.« Stöhnend drehte sie sich auf den Rücken. »Warum muss das bloß ausgerechnet am Samstagmorgen sein? So früh!«

Wer auch immer dieser neue Besitzer sein mag, meine Sympathien hat er schon mal verwirkt. Aber wenn ich schon nicht mehr in Ruhe schlafen kann, will ich wenigstens was unternehmen. Also los, steh auf, Annalena. Mir ist langweilig! Mit etwas Anlauf und einem großen Satz sprang Asco aufs Bett und trampelte fröhlich auf Annalena herum.

»Hey, du Verrückter, lass das. Hör auf damit!« Lachend versuchte sie, den übermütigen Hund abzuwehren, stachelte ihn damit aber nur noch mehr an.

Ha, das wäre ja noch schöner. Ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen. Los, auf mit dir. Lass uns rausgehen oder irgendetwas anderes machen.

»Nicht doch, du zertrampelst lebenswichtige innere Organe, du Untier!« Vor Lachen bekam Annalena kaum noch Luft. »Runter von mir, aber sofort!«

Nö, keine Lust. Ich will raus! Oder ... Hm, eigentlich ist es hier ja ziemlich warm und weich. So richtig kuschelig. Daran könnte ich mich gewöhnen. Mitten im wilden Herumspringen ließ Asco sich platt auf den Bauch fallen und landete dabei dicht an Annalenas Seite. Prustend legte er seinen Kopf auf ihre Hüfte und blickte sie aus freundlichen braunen Augen an.

»Nanu, und was jetzt? Ist dir die Luft ausgegangen?« Überrascht streichelte sie dem Hund über den Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren.

Nein, überhaupt nicht, aber ... Verdammt, das fühlt sich gut an. Könntest du das wohl noch ein bisschen weitermachen? Eigentlich wollte ich mich ja auf solche Streicheleinheiten grundsätzlich nicht einlassen. Immerhin ist das hier nur eine Zwischenstation für mich und du nur Mittel zum Zweck. Aber ... Hach, ich kann einfach nicht widerstehen. Schnüff.

Der leise Schnaufer ließ Annalena lächeln. »Du bist ja manchmal doch ganz verschmust, was?«

Manchmal? Immer, wie ich leider zugeben muss. Eine meiner entsetzlichen Schwächen.

»Sonst tust du immer so, als würde ich dich nicht interessieren. Du gehorchst zwar aufs Wort, aber so richtig Freunde sind wir noch nicht geworden. Das ist schade, weißt du das?«

Nein, das ist absolut notwendig. Ich kann es mir nicht leisten, dein Freund zu werden. Wenn ich das tue, verliere ich womöglich mein Ziel aus den Augen. Ich bin so weit gekommen, da kann ich mich doch jetzt nicht von dir einwickeln und ablenken lassen. Ich muss nämlich mein Herrchen wiederfinden. Das versuche ich schon seit zwei Jahren, aber bisher noch ohne Erfolg. Irgendwo muss er aber sein, und ich will ganz dringend zu ihm zurück. Er ist nämlich das beste Herrchen auf der Welt, musst du wissen. Er hat mich aufgenommen, da war ich gerade mal acht Wochen alt. Er hat mir alles beigebracht ... na gut, vielleicht nicht alles, eine Menge habe ich auch von Pablo gelernt, aber der war auch nur eine Zwischenstation. Ich will mein Herrchen zurück, verstehst du? Das ist meine Mission. Da kann ich mir nicht erlauben, mich in ein neues Frauchen zu verlieben. Geht nicht. Basta. – Aber ein bisschen streicheln darfst du bitte trotzdem noch.

»Wenn ich doch bloß wüsste, was hinter deiner Stirn vorgeht.« Während sie Asco weiter hinter den Ohren kraulte, musterte sie sein hübsches Gesicht mit den intelligenten Augen nachdenklich. Im nächsten Moment kreischte nebenan eine Kreissäge auf. Erbost richtete sie sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. »Jetzt reicht’s. Lass uns abhauen. Was hältst du von einer Runde Joggen durch den Stadtpark? Und anschließend besuchen wir Steffen und Elena und die Kinder.«

Gute Idee. Die Kinder mag ich gerne. Und Tilly, die kleine Cocker Spaniel-Dame, ist auch ganz nett. Bisschen verwöhnt vielleicht, aber es gibt Schlimmeres. Vielleicht teilt sie ja ein paar Leckerchen mit mir.

Unternehmungslustig sprang Asco vom Bett herunter und sauste zur Tür hinaus. Noch ehe Annalena ihre Kleider zusammengesucht hatte, kehrte er mit seiner Leine in der Schnauze zurück.

Verblüfft blickte sie auf ihn hinab. »Sag mal, hing die Leine mit dem Geschirr nicht im Flur am Kleiderhaken?«

Ja, wieso?

»Wie hast du die denn da herunterbekommen?«

Pfff, eine meiner leichtesten Übungen. Hat Pablo mir beigebracht.

Kopfschüttelnd betrat Annalena das Badezimmer. »Also manchmal bist du mir ein bisschen unheimlich.«

***

Fast anderthalb Stunden später stand Annalena entspannt unter der Dusche und ließ das warme Wasser über ihren Körper rauschen. Immer wieder hielt sie ihr Gesicht direkt in den Strahl, bis sie prusten musste. Im Haus war es still – endlich! Offenbar hatten die Handwerker eine Pause eingelegt oder waren tatsächlich mit den lauten Arbeiten fertig. Als sie vorhin nach Hause gekommen war, hatte hinter dem Kastenwagen der Arbeiter der LKW einer Umzugsfirma geparkt. Anscheinend wollte der neue Nachbar – oder vielleicht war es auch eine Familie, so genau wusste sie das nicht – heute einziehen. Sie hätte gerne einen Blick auf die Leute geworfen, aber daraus würde wohl vorerst nichts werden. Auf der Joggingrunde war sie ihrem Bruder Steffen begegnet, der ebenfalls eine Laufrunde durch den Wald machte, und hatte ihm spontan Asco mitgegeben, damit er oder vielmehr sein neunjähriger Sohn Jan sich ein bisschen mit ihm beschäftigen konnte. Der Junge kümmerte sich schon ganz hervorragend um die kleine Cocker Spaniel-Dame Tilly und würde sicherlich einen Heidenspaß mit beiden Hunden haben. Auf diese Weise, so hatte Annalena spontan beschlossen, würde sie ein wenig Zeit zum Einkaufen und für weitere Erledigungen haben. Zum Ausgleich hatte sie Steffen versprochen, später mit seiner und Elenas gerade fünf Monate alten Tochter Finja-Marie einen Spaziergang zu machen, damit Elena Gelegenheit bekam, auch mal wieder joggen zu gehen – oder ganz ungestört in den großen Fitnessraum, den Steffen zu Hause eingerichtet hatte. Annalena wusste, dass ihre Schwägerin gerne Sport trieb und diesen zum Ausgleich auch dringend brauchte. Elena war eine international bekannte Designerin mit eigenem Bekleidungslabel und arbeitete abwechselnd von ihrer Firma in Köln oder von zu Hause aus – derzeit an Entwürfen für eine neue Sommerkollektion, auf die Annalena schon sehr gespannt war.

Annalena half Steffen und Elena gerne mit den Kindern aus, wo es nur ging, denn auch Steffen hatte als Gartenbau-Architekt und Inhaber der Gärtnerei und Baumschule Kilian einen sehr anspruchsvollen Job.

Dass ihr bodenständiger Bruder und die doch sehr flippige Elena zueinandergefunden hatten und eine glückliche Ehe führten, erstaunte Annalena manchmal noch, bestärkte sie aber in ihrer Überzeugung, dass Gegensätze sich eben anzogen – und im besten Falle perfekt ergänzten.

Bei ihr selbst funktionierte das allerdings nicht, wohl hauptsächlich deshalb, weil sie noch keinem Mann begegnet war, dessen gegensätzliche Eigenschaften perfekt zu den ihren passten. Sie hatte hier und da Beziehungen gehabt, war aber nun schon seit über drei Jahren überzeugter Single, weil sie es satthatte, Kompromisse einzugehen. Seit einer sehr schmerzhaften Erfahrung an ihrem achtzehnten Geburtstag, die sie weitgehend verdrängt hatte, war sie irgendwie immer an Männer geraten, die ihr den etwas unkonventionellen Lebensstil als freie Sachbuchautorin auszureden versuchten. Sie hatte lange Zeit mehrere Nebenjobs gehabt, weil sich von ihren Buchtantiemen nicht einmal ihre damalige Miete bezahlen ließ. Inzwischen war ihr Einkommen so, dass sie – mit Einschränkungen – allein von ihren Verlagshonoraren hätte leben können. Sie hatte aber auch weitere Einnahmen aus ihrem Blog und den Seminaren, die sie in Abständen gab, sodass sie sich sogar den kleinen, aber feinen Altbau leisten konnte – zur Miete nur, aber immerhin.

Das Schreiben war also ihre innere Berufung, ob dies den Leuten nun gefiel oder nicht. Sie hatte sich schon sehr früh auch von ihrem Elternhaus abgenabelt, weil ihre Eltern noch weniger als ihre Männerbekanntschaften mit ihrem Lebensentwurf einverstanden waren.

Vielleicht, so wob sie den einmal eingeschlagenen Gedankengang weiter, während sie sich abtrocknete und anzog, hatte sie sich doch nicht so richtig von dem Bedürfnis gelöst, Anerkennung von ihren Eltern zu erhalten, und erhoffte es sich nun stattdessen bei Männern. Anscheinend suchte sie sich deshalb unbewusst nur solche Exemplare aus, die ihre Art zu leben nicht guthießen. Wenn sie es schaffte, einen von ihnen zu überzeugen ...

»Totaler Quatsch«, murmelte sie, während sie in ihren braunen Cordmantel schlüpfte und einen flauschigen roten Schal gegen den eisigen Wind des Novembervormittags um den Hals schlang. »Mit so einem Verhalten mache ich mich nur zu einem Fall für den Psychiater!«

Aus diesem Grund hielt sie sich inzwischen ganz von Männerbekanntschaften fern. Sich voll und ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren, verschaffte ihr den Seelenfrieden, den sie zuvor oft vermisst hatte. Wenn sie sich einsam fühlte, konnte sie jederzeit zu Steffen und Elena gehen und an deren Familienleben teilhaben oder eine ihrer Freundinnen anrufen. Mehr, so hatte sie beschlossen, brauchte sie nicht, um glücklich zu sein.

Sie schnappte sich den Einkaufszettel, den sie im Lauf der Woche geschrieben und immer wieder ergänzt hatte, und zwei Klappboxen und machte sich gut gelaunt auf den Weg. Gerade, als sie die Haustür geöffnet hatte, ging nebenan erneut die Bohrmaschine an. »Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, schimpfte sie und ergriff mit eingezogenem Kopf die Flucht.

3. Kapitel

Nachdem Christian seinen dunkelblauen BMW X3 auf der gerade freigewordenen Stellfläche vor dem Nachbarhaus abgestellt hatte, schloss er für einen Moment die Augen und rieb sich übers Gesicht. Er war praktisch mitten in der Nacht von München losgefahren und hatte nur eine kurze Pause eingelegt. Dennoch war der LKW des Umzugsunternehmens früher hier gewesen als er. Christian hatte noch bis gestern die Zehnkämpfer im Trainingscamp betreuen müssen. Der Kollege, der Christians Posten eigentlich schon vor einer Woche hätte übernehmen sollen, litt an einer heftigen Grippe, sodass Christian gezwungen gewesen war, auf den ihm noch zustehenden Urlaub zu verzichten, um die Athleten nicht im Stich zu lassen. Zwischendurch war er mehrmals ins Rheinland gependelt und hatte in einem Hotel mehr schlecht als recht sein Zwischenquartier aufgeschlagen, weil seine Dozentenstelle an der neuen Sportakademie gleich vor den Toren seiner Geburts- und ab sofort wieder Heimatstadt bereits Mitte Oktober begonnen hatte. Glücklicherweise hatte er zumindest den Beginn seiner halben Sportlehrerstelle an der Gesamtschule noch etwas aufschieben können, aber es fuchste ihn, dass er nun mitten im Schuljahr dort anfangen musste.

Der Schlafmangel der letzten Tage machte sich allmählich bemerkbar und versetzte ihn in eine leicht gereizte Stimmung, obwohl er sich schon darauf freute, die Fortschritte in seinem neuen Domizil zu begutachten. Den Altbau aus der Gründerzeit, ruhig gelegen in der Rosenbergstraße und von uralten Holunderbüschen flankiert, hatte er bereits vor vielen Jahren entdeckt, jedoch damals nicht einmal davon zu träumen gewagt, sich ein solches Gebäude jemals finanziell leisten zu können. Wie weit die Handwerker gekommen waren, ließ sich allerdings nicht feststellen, wenn er weiterhin in seinem bis unters Dach vollgepackten Auto sitzen blieb. Also atmete Christian noch einmal tief durch, murmelte ein Stoßgebet, dass drinnen irgendwo eine Kaffeemaschine vorhanden war, und begab sich auf den Weg zur Haustür.

Das Erste, was er vernahm, war das dunkle Brummen einer Bohrmaschine. Als er die Tür aufschloss, wehte ihm himmlischer Kaffeeduft entgegen. Anerkennend blickte er sich um. Der Flur war bereits fertig und sogar einigermaßen sauber, sah man einmal von wenigen staubigen Fußabdrücken ab. Die Bohrgeräusche kamen aus der Küche, ebenso wie leise Stimmen und Gelächter.

»Guten Morgen«, grüßte Christian in die Runde, als er den Raum betrat. »Wie ich sehe, sind die Küchenmöbel geliefert worden.«

»Gestern Abend«, bestätigte einer der beiden Handwerker, die dabei waren, die Arbeitsinsel zu montieren. »Guten Tag, Herr Bonner. Wie Sie sehen, sind wir hier schon fast fertig. Die Elektrogeräte sind auch schon angeschlossen.«

»Kaffee!« Christian stürzte sich auf die Maschine, neben der ein Stapel Pappbecher stand, und goss sich von dem Gebräu ein. Obwohl er sonst Milch in seinem Kaffee bevorzugte, stürzte er das Getränk schwarz hinunter. »Das habe ich gebraucht.« Grinsend drehte er sich zu dem Handwerker um. »Sie und Ihre Leute waren ja sehr fleißig, Herr Lessenich. Das Erdgeschoss ist so weit fertig?«

»Die erste Etage auch bis auf die beiden vorderen Zimmer.« Lessenich strich sich über den kurzen, grauen Kinnbart. »In dem einen bringen wir im Moment noch die Steckdosen an und bauen die Schrankwand auf, die Sie haben herschicken lassen. Das andere Zimmer muss noch fertig gestrichen werden. Wollen Sie da wirklich zwei Wände in Lindgrün haben?«

»Spricht etwas dagegen?« Amüsiert hob Christian die Augenbrauen.

»Äh, nein, natürlich nicht. Ich dachte bloß, dass das ...« Lessenich zog den Kopf ein wenig ein. »Na ja, für einen ausgewachsenen Mann ...«

»Seien Sie froh, dass es nicht rosa wird. Grün ist die Lieblingsfarbe meiner Schwester.«

»Oh. Aha. Dann haben Sie hier ein Gästezimmer für Ihre Schwester geplant. Das ist nett.«

»Ja.« Christian ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen wandte er sich an den dritten Mann im Raum, der sich auf einem Hocker in der Ecke niedergelassen und bis eben in der Tageszeitung geblättert hatte. »Sie sind sicher der Fahrer des Umzugswagens. Entschuldigen Sie, dass ich nicht eher hier war, aber ich bin später von München weggekommen als geplant und in mehrere Staus geraten.«

»Kein Problem. Ich habe sowieso noch Zeit. Muss erst heute Nachmittag weiter und eine Ladung in Bonn abholen.« Der Mann erhob sich und gab Christian die Hand. »Stratmeier ist mein Name. Ich hab meinen Sohn Jan mit dabei. Er ist gerade los, um irgendwo Semmeln zu holen. Sobald er hier ist, können wir loslegen, oder wenn Sie jetzt schon mal anfangen wollen ...«

»Keine Eile.« Christian schenkte sich einen zweiten Becher Kaffee ein. »Ich möchte mir vorher noch die restlichen Räume ansehen.«

»Ich richte mich ganz nach Ihnen.« Stratmeier ließ sich zurück auf den Hocker sinken.

Christian verließ die Küche und warf einen Blick in den durch einen breiten Durchgang sich anschließenden Wohn- und Essbereich. Den Durchgang hatte er in die Mauer brechen lassen, weil er große, helle Räume bevorzugte. Der Wohnbereich stand noch leer und wirkte geradezu riesig.

Zufrieden trat er an eines der hohen Fenster, die hinaus auf den rückwärtigen Teil seines Grundstücks gingen. Dort draußen befand sich eine herbstlich kahle Wildnis, die früher einmal ein Garten gewesen sein musste. Rechterhand trennte eine brusthohe Mauer diesen Garten vom Hof nebenan, der offenbar mit viel Liebe gepflegt wurde. Die Mieter hatten sich dort auf einer uralten gepflasterten Fläche eine hübsche kleine Oase mit Holzmöbeln, Blumenkübeln und einem offenbar selbst zusammengezimmerten, sehr provisorisch aussehenden, aber gut besuchten Vogelhäuschen geschaffen.

An seinem Kaffee nippend, schlenderte Christian weiter, inspizierte den Vorrats- und Hausanschlussraum, in dem auch Platz für seine Waschmaschine und den Trockner war, sowie das daneben liegende Gästebad mit Dusche. Einem weiteren Raum im Erdgeschoss hatte er noch keine Bestimmung zugedacht. Ursprünglich hatte er überlegt, dort sein Büro einzurichten, dann aber einen der oberen Räume passender gefunden. Vielleicht würde er das Zimmer hier unten als Gästezimmer einrichten – oder als Hobbyraum. Obwohl er sich im Augenblick kein passendes Hobby vorstellen konnte. Natürlich wäre es auch möglich, seine Sportgeräte hier unterzubringen: Laufband, Rudergerät und Hantelstation.

Immer zwei Stufen der nagelneuen dunklen Holztreppe auf einmal nehmend, begab er sich ins erste Obergeschoss – das zweite mit den drei großen Dachschrägenzimmern ließ er erst einmal so, wie es beim Kauf gewesen war, nämlich leer. Auch die Vorbesitzer hatten die oberen Räume nicht mehr genutzt außer für die Lagerung von jeder Menge Gerümpel. Für eine oder, wenn alles lief, wie er sich das vorstellte, zwei Personen reichten zwei Etagen bei Weitem aus. Zumindest hatte er das Dach und alle Innenräume nach neuesten Gesichtspunkten dämmen lassen, um bei dem Überangebot an Wohnraum zumindest die Heizkosten in Schach zu halten.

Drei weitere Handwerker grüßten ihn freundlich, als er seine Nase in die beiden vorderen Räume steckte, in denen fleißig gearbeitet wurde. Nach hinten hinaus befand sich sein Schlafzimmer, ein großes Bad und ein weiteres, etwas kleineres Zimmer, das sich ein zusätzliches kleines Bad mit dem zukünftig lindgrünen Zimmer teilte.

Platz genug für eine Großfamilie, überlegte er kopfschüttelnd. Dabei war das Letzte, was er vorhatte, eine Familie zu gründen. Seine Kindheit und Jugend hatte ihm die Lust darauf gründlich vermiest. Dennoch würde er den Platz noch brauchen – zumindest einen Teil davon.

Unten hörte er ein Klopfen an der Tür und gleich darauf Stratmeiers Stimme. Offenbar war dessen Sohn mit den Semmeln – oder vielmehr Brötchen, wie sie hier eher genannt wurden – zurückgekehrt.

Von seinem zukünftigen Schlafzimmer aus hatte Christian erneut einen guten Blick auf das Durcheinander, das einmal sein Garten werden sollte, sowie auf den im deutlichen Kontrast dazu stehenden gepflegten Hinterhof des Nachbarhauses. Lediglich dieses merkwürdige zusammengestoppelte Vogelhäuschen ließ ihn grinsend den Kopf schütteln. Handwerklich begabt war derjenige, der es gebaut hatte, wohl nicht gerade, aber es erfüllte seinen Zweck, denn ein ganzer Schwarm Meisen, mehrere Rotkehlchen und einige weitere Vögel, die er nicht auf den ersten Blick identifizieren konnte, schwärmten um das dargebotene Futter, und das war wohl die Hauptsache.

Christian wollte gerade noch einmal in sein zukünftiges Arbeitszimmer gehen, als sein Handy klingelte. Die angezeigte Nummer ließ ihn sofort mit ungutem Gefühl die Stirn runzeln. »Bonner?«, meldete er sich und zog sich an eines der drei Fenster seines Schlafzimmers zurück.

»Guten Tag, Herr Bonner, hier spricht Annemarie Kündgen von der Jugendhilfestation Hannover. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie am Wochenende störe, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihre Hilfe benötigen. Ich wurde eben von der Polizei benachrichtigt, dass man Ihre Mutter, Ines Bonner, bei einem Ladendiebstahl aufgegriffen hat.«

»Wunderbar.« Christian verdrehte die Augen.

»Wie bitte?« Die Frau am anderen Ende der Leitung klang irritiert.

»Hat sie schon wieder versucht, Senta die gestohlenen Sachen unterzuschieben?«

»Nein. Aber wegen Ihrer Schwester rufe ich an, da Frau Bonner vorerst noch in Gewahrsam ist. In ihrem, wie ich leider sagen muss, psychisch sehr labilen Zustand empfiehlt der herbeigerufene Arzt eine vorübergehende Einweisung in ein Krankenhaus.«

»Sie ist nicht labil, sie ist drogen- und medikamentenabhängig.«

»Diesen Eindruck hatte der Arzt auch. Nun ist es so, dass wir ihr einen Platz in einer Entzugsklinik beschaffen können, aber das würde bedeuten, dass Senta, da sie erst zwölf Jahre alt ist, in ein...«

»Vergessen Sie es«, unterbrach Christian sie. »Senta kommt nicht ins Heim.«

»Eine Pflegefamilie, wollte ich sagen.«

»Ich nehme sie zu mir.« Er rieb sich entnervt über die Augen. »Wissen Sie eigentlich, wie oft ich schon versucht habe, meine Schwester da herauszuholen?«

»Da heraus?«

»Aus dem Griff unserer Mutter. Aber jedes Mal, wenn ich mich mit Leuten vom Jugendamt in Verbindung setze, habe ich jemand anderen an der Strippe und niemand fühlt sich zuständig.«

»Das tut mir sehr leid, Herr Bonner. Ich bin nur die Wochenend-Vertretung …«

»Ja, klar, was sonst.« Seufzend blickte er auf das hässliche Vogelhäuschen. »Wann kann ich Senta abholen?«

»Ja, also, eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie wissen, wo das Mädchen sich im Augenblick aufhält. Sie öffnet nicht die Wohnungstür und geht auch nicht an ihr Handy. Ihre Mutter konnte uns auch nicht sagen, wo Senta sein könnte. Sie behauptet, das Mädchen sei zu Hause gewesen, als sie die Wohnung verließ.«

»Auf das Wort meiner Mutter können Sie nichts geben. Verdammt!« Er ballte die linke Hand zur Faust. »Ich bin nicht mal ansatzweise in der Nähe von Hannover. Keine Ahnung, wo meine Schwester sein könnte. Suchen Sie sie!«

»Wir tun, was wir können, das versichere ich Ihnen, Herr Bonner.«

»Ja, ja, bla, bla. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich diesen Stuss schon gehört habe. Sehen Sie zu, dass sie Senta wiederfinden!« Er stutzte, als sein Handy einen Signalton von sich gab. »Einen Moment bitte, da kommt gerade ein anderer Anruf. Vielleicht ist das meine Schwester.«

Er wechselte zu dem zweiten Anrufer, sah aber schon gleich an der Nummer, dass es sich nicht um seine Schwester handeln konnte. »Ja, Bonner, hallo?«

»Christian Bonner, wohnhaft in der Rosenbergstraße?«

Christian runzelte die Stirn. »Ja, der bin ich.«

»Guten Tag, mein Name ist Noah Silberberg. Ich bin Sozialarbeiter in der örtlichen Sozialstation. Sie werden vielleicht schon davon gehört haben.«

»Ja, sicher. Was kann ich für Sie tun? Ich bin gerade etwas in Eile ...«

»Wir haben vor einer Stunde ein zwölfjähriges Mädchen am Bahnhof aufgegriffen, das ohne gültigen Fahrschein unterwegs war und vor dem Schaffner wegzulaufen versucht hat. Ihr Name ist Senta Bonner und sie sagt, sie wolle zu Ihnen.«

»Was? Senta ist hier?« Verblüfft und erschrocken zugleich eilte Christian ins Erdgeschoss hinab. »Geht es ihr gut? Ich habe eben das Jugendamt in Hannover in der Leitung, weil unsere Mutter verhaftet wurde ... Ich komme sofort und hole Senta ab.«

»Danke, Herr Bonner. Von einer Verhaftung hat Ihre Schwester nichts gesagt, aber sie ist sehr aufgelöst und ...«

»Und was?« Kurz vor der Haustür hielt Christian inne.

»Sie wurde geschlagen, Herr Bonner. Mehrfach ins Gesicht. Wir kümmern uns um sie, bis Sie hier sind.«

»Scheiße.« Christian riss die Haustür auf und warf sie hinter sich ins Schloss. »Es dauert nur ein paar Minuten.«

***

Er brauchte tatsächlich nur drei Minuten bis zum Parkplatz der städtischen Sozialstation. Mit großen Schritten umrundete er das Gebäude und riss die Eingangstür auf, sah sich aber zunächst einmal etwas irritiert um, weil er sich in einem großen Aufenthaltsraum befand, in dem an mehreren Tischen Menschen allen Alters und verschiedenster Nationalitäten versammelt waren und sich unterhielten, Zeitung lasen oder Karten spielten. Gleich neben der Tür saß ein Mann um die Siebzig, vielleicht auch schon darüber, neben sich einen hoch beladenen rostigen Einkaufswagen, auf dem zuoberst eine blaue Zipfelmütze thronte. Der offenbar Obdachlose war in ein Buch vertieft, hob aber bei Christians Eintreten neugierig den Kopf. »Tach auch«, grüßte er freundlich. »Suchen Sie wen?«

Christian wandte sich ihm zu. »Meine Schwester Senta. Sie ist zwölf, blond, Lockenkopf. Ein Herr Silberberg rief mich an und sagte, sie sei hier.«

»Ah, die Kleine gehört zu Ihnen?« Der Obdachlose erhob sich. »Noah! Komm mal raus, hier ist der Bruder von dem Mädchen.« Er stutzte. »Echt der Bruder?« Neugierig musterte er Christian. »Vater hätt‘ ich ja eher vermutet.«

Ehe Christian etwas darauf erwidern konnte, öffnete sich eine Tür, die wohl zur Küche führte, und ein großer, sportlicher dunkelhaariger Mann im karierten Holzfällerhemd erschien, neben sich ein schmales, leicht schlaksiges Mädchen mit wilden blonden Locken, die nachlässig zu einem Zopf gebunden waren, der reichlich zerrupft wirkte. Als sie Christian erblickte, riss sie sich von dem Sozialarbeiter los, der ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Christian!« Sie rannte los, warf sich in Christians Arme und brach in Tränen aus. »Tut mir leid. Tut mir so leid. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nur noch weg, aber ich hatte kein Geld und so und ... tut mir leid.«

Christians Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er seine Schwester fest in seine Arme zog. »Ist schon gut, Kleine. Alles okay. Ich bin ja hier.«

»Bitte schick mich nicht weg, ja? Ich will nicht mehr zurück zu Mama.«

»Ich schicke dich nicht weg. Hab ich das schon jemals getan? Ganz ruhig, Senta. Es wird alles wieder gut.« Wie oft hatte er diese Worte schon aussprechen müssen, wissend, dass nichts gut werden würde? Sachte streichelte er über die strubbeligen Locken seiner Schwester, die sich wie eine Ertrinkende an ihm festkrallte und heftig schluchzte. Über ihren Kopf hinweg sah er den Sozialarbeiter an. »Herr Silberberg, nehme ich an?«

»Ja. Guten Tag, Herr Bonner.« Noah Silberberg streckte ihm die Hand hin und schüttelte Christians Rechte kurz, aber kräftig. »Sie sind also Sentas Bruder.«

»Halbbruder.« Christian war an die verwunderten bis ungläubigen Reaktionen der Leute gewöhnt. »Ich war dreiundzwanzig, als Senta zur Welt kam.«

Der Sozialarbeiter nickte nur. »Senta hat mir erzählt, dass sie auch noch eine ältere Schwester hat.«

»Mariella«, bestätigte Christian. »Sie ist zweiundzwanzig und studiert Medizin in Bonn. Wir sind eine«, er zögerte, »typische Patchworkfamilie. Nur leider keine glückliche.«

»Sentas Vater ...?«

Christian hob die Schultern. »Unbekannt. Ebenso wie meiner. Der von Mariella war nicht schnell genug im Abtauchen und zahlt seither Alimente. Wenn er nicht gerade blank ist.«

»Ich verstehe.« Silberberg nickte. »Kommen Sie, setzen wir uns.« Er deutete auf einen Tisch und sie ließen sich zu dritt daran nieder.

Senta rückte so nah an Christian heran, wie es nur ging, und griff nach seiner Hand, die er ihr ganz selbstverständlich überließ. Er wusste, dass seine Schwester sehr sensibel und schüchtern war. Es grenzte an ein Wunder, dass der Sozialarbeiter überhaupt ein Wort aus ihr herausbekommen hatte. »Danke, dass Sie sich Sentas angenommen haben, Herr Silberberg. Ich hatte keine Ahnung, was bei ihr zu Hause los ist und dass sie abhauen würde.«

»Sagen Sie bitte Noah zu mir, das tun hier alle.«

»Okay.« Er lächelte schwach. »Christian.«

Noah nickte ihm zu. »Sie sagten am Telefon etwas von einer Verhaftung.«

Sentas Kopf fuhr hoch. »Mama ist im Gefängnis?«

Christian schüttelte den Kopf. »Nein, Löckchen, sie ist erst mal nur in Gewahrsam und wird vermutlich zum Ausnüchtern ins Krankenhaus gebracht. Sie muss vor Gericht, weil sie beim Ladendiebstahl erwischt wurde ... wieder einmal«, setzte er an Noah gewandt hinzu. »Derzeit lebt sie von Bürgergeld und kann davon weder die Tabletten noch die Drogen bezahlen, nach denen sie süchtig ist.«

»Aha.« Noahs Miene wurde sehr ernst. »Mit drogensüchtigen Menschen zusammenzuleben, ist nicht einfach. Ihre Mutter hat aber nach wie vor das Sorgerecht für Senta?«

»Ja.« Christians Miene verfinsterte sich. »Ich habe schon mehrmals versucht, das Sorgerecht zu bekommen, aber immer sprach irgendetwas dagegen. Erst hatte ich nicht genügend Geld, dann einen zu unsteten Lebenswandel ... Ich war viele Jahre lang Privattrainer für diverse Leistungssportler. Zehnkampf hauptsächlich«, setzte er hinzu.

»Augenblick mal, Christian Bonner? Sie sind doch mal Deutscher Meister im Zehnkampf gewesen, nicht wahr?«

»Zweimal.«

Noah nickte vor sich hin. »Sie hatten also bisher kein Glück, was das Sorgerecht angeht.«

»Ich habe, wie gesagt, zu unseriös gewirkt. Liegt vielleicht aber auch an meiner nicht ganz astreinen Vergangenheit. Nun ja, ich war nicht gerade ein Musterschüler ... Später war ich dann alle halbe Jahre woanders ...« Achselzuckend lehnte Christian sich in seinem Stuhl zurück und drückte dabei leicht die Hand seiner Schwester, die wieder verstummt war, jedoch immer noch lautlos vor sich hin weinte. »Ich habe relativ spät angefangen zu studieren – mit mehreren Unterbrechungen – und bis vor zwei Jahren an einem Gymnasium in Düsseldorf unterrichtet. Danach erhielt ich erneut einen guten Trainerposten in München.«

»Den Sie jetzt offenbar aufgegeben haben«, ergänzte Noah. »Senta sagte, Sie werden an unserer neu gegründeten Sportakademie lehren.«

»Sportpsychologie.« Christian warf Senta einen kurzen Blick zu. »Außerdem trete ich in Kürze eine halbe Lehrerstelle an der Gesamtschule an.«

»Ein geregeltes Leben, geregeltes Einkommen.« Noah lächelte. »Sie werden einen erneuten Versuch machen, das Sorgerecht zu erhalten?«

»Darauf können Sie Gift nehmen.« Grimmig verzog Christian die Lippen. »So geht es jedenfalls mit unserer Mutter nicht weiter.«

»Darf ich dann für immer bei dir bleiben?« Senta sah ihn hoffnungsvoll von der Seite an.

Er lächelte ihr zu. »Das will ich hoffen.« Erst jetzt fielen ihm die rot und violett gefärbten Flecken neben ihrem Mund und an ihrer linken Wange auf. Eine Welle des Zorns stieg in ihm auf, doch er kämpfte sie mit aller Kraft nieder. »Hat Mama dich geschlagen?«

Sogleich kullerten die Tränen erneut über Sentas Wangen. »Sie wird immer so schnell wütend.«

»Seit wann?« Den barschen Unterton konnte er diesmal nicht unterdrücken, auch wenn er Senta damit erschreckte. Eindringlich sah er seine Schwester an. »Wie lange geht das schon?«

Sie zog den Kopf ein. »Weiß nicht. Ein Jahr oder so.«

»Scheiße.« Hilflos schloss er für einen kurzen Moment die Augen. »Warum hast du nie etwas gesagt?«

Das Schluchzen wurde wieder heftiger. »Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Du hast doch gesagt, du musst ganz viel arbeiten und Geld verdienen, damit sie dir bald erlauben, dass ich bei dir wohnen darf.«

»Mensch, Löckchen.« Betroffen zog er das Mädchen erneut in seine Arme. »So was musst du mir immer sofort sagen. Ganz egal, wie beschäftigt ich bin. Hörst du?«

»Mhm.« Senta weinte noch verzweifelter. »Ich hab’s heute nicht mehr ausgehalten. Sie war gestern schon so schlimm drauf und hat nur rumgeschrien und unsere letzten Gläser kaputtgeschmissen. Sie wollte, dass ich für sie Parfüm in der Drogerie klauen gehe, aber ich wollte nicht, da hat sie ...« Senta drückte ihr Gesicht an seine Brust. »Da hat sie wieder zugeschlagen. Und heute Morgen ganz früh war es noch schlimmer. Sie hat die ganze Nacht getrunken und irgendwas genommen. Ich weiß nicht was, weil sie die Verpackungen versteckt hat. Da bin ich abgehauen und zum Bahnhof gegangen, obwohl das so weit ist. Aber ich hatte ja kein Geld für den Bus.«

»Und da bist du dann in den Zug nach Köln gestiegen und von dort hierher?« Noah hüstelte. »Wie bist du denn bloß den Schaffnern entkommen, dass sie dich erst hier erwischt haben?« Er schüttelte den Kopf. »Weißt du was? Ich will es gar nicht wissen.« Nach einem Moment setzte er schmunzelnd hinzu: »Oder vielleicht weiß ich es sogar. Ich hab so was früher auch manchmal gemacht.«

»Echt?« Das Schluchzen hörte abrupt auf. Mit großen Augen sah Senta den Sozialarbeiter an. »Warum haben Sie das gemacht?«

»Weil ich auch oft abgehauen bin. Ich war als Kind in einer ähnlich schwierigen Lage wie du. Nein, noch ein bisschen schlimmer. Mein Vater war ... ist extrem gewalttätig und Alkoholiker, meine Mutter starb an einer Überdosis Heroin, als ich sechzehn war.«

»Oh.« Senta schniefte leise. »Tut mir leid.«

»Ja, mir auch manchmal, aber zum Glück habe ich jetzt eine eigene Familie, mit der ich alles besser machen kann.«

»Die Frau in der Küche ... Lidia, das ist Ihre Frau, oder?«

Noah lächelte leicht. »Ja. Ich muss mich immer noch mindestens einmal am Tag kneifen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht träume. Vor allem, wenn ich unsere kleine Tochter sehe. Marjana ist knapp anderthalb und im Moment bei ihrer Oma, sonst hätte ich euch bekanntmachen können.«

Auf Sentas Lippen erschien ein kleines, zögerliches Lächeln. »Vielleicht ein andermal? Wenn ich bei Christian bleiben darf, könnte ich ja mal vorbeikommen.« Sie drückte Christians Hand. »Ich darf doch hierbleiben? Bei dir? Bitte?«

Fragend sah Christian Noah an, der daraufhin nickte. »Ich denke, das ist das Beste, zumindest so lange, bis geklärt ist, wie es mit Ihrer Mutter weitergeht. Wenn ich es richtig verstanden habe, war das heute nicht ihre erste Verhaftung wegen Ladendiebstahls?«

Christian nickte. »Die dritte oder vierte. Bisher gab es immer Sozialstunden, aber damit dürfte bald Schluss sein.«

»Das steht zu befürchten. Noah verzog ernst die Lippen. »Wenn sie darüber hinaus ein Drogen- und Alkoholproblem hat ...«

»Ich habe der Dame vom Jugendamt gesagt, sie soll sie einweisen lassen. Das wäre dann zwar schon die dritte Entziehungskur ...« Christian hob die Schultern. »Sie will sich nicht wirklich helfen lassen.«

»Haben Sie schon mal über ein betreutes Wohnen für Ihre Mutter nachgedacht?«

»Ich?« Ein bitteres Lachen ausstoßend, strich Christian sich über sein kurzes, schwarzes Haar. »Wenn das meine Entscheidung wäre, würde sie schon längst irgendwo betreut. Aber sie entwindet sich den Behörden ebenso erfolgreich wie den Ärzten.«

»Ich kann versuchen, Ihnen einen Therapieplatz zu vermitteln«, bot Noah an. »Hier, nehmen Sie meine Karte mit.« Er reichte Christian eine Visitenkarte. »Wir müssen jetzt noch ein bisschen Papierkram erledigen, und dann schlage ich vor, Sie nehmen Senta erst einmal mit zu sich nach Hause. Ich setze mich mit dem Jugendamt in Hannover in Verbindung und gebe Ihnen am Montag Bescheid, wie wir weiter verfahren. Senta muss ja zur Schule gehen, aber unter den gegebenen Umständen empfehle ich nicht, sie zurück nach Hannover zu schicken, denn dort müsste sie in einer staatlichen Einrichtung untergebracht werden ...«

»Ich will nicht ins Heim!«

»Ich weiß.« Noah lächelte ihr beruhigend zu. »Wir finden eine bessere Lösung. Versprochen, Senta.«

»Wirklich?« In den geröteten Augen des Mädchens glomm eine Spur Hoffnung auf.

»Brauchst du noch etwas aus eurer Wohnung?«

Senta schüttelte den Kopf. »Ich hab alles Wichtige in meinen Rucksack gepackt.« In plötzlicher Panik sah sie sich um.

»Er liegt in der Küche« Noah lächelte ihr beruhigend zu. »Möchtest du noch mal kurz rübergehen? Bestimmt hat Lidia inzwischen schon eine Ladung Plätzchen fertig. Man riecht sie schon bis hierher. Du magst doch Weihnachtsplätzchen? Es ist zwar erst Anfang November, aber sie schmecken jetzt auch schon.«

»Klar.« Zögernd ließ Senta Christians Hand los. »Kommst du mich dann gleich holen?«

»Aber sicher doch, Löckchen.« Besorgt sah Christian dem Mädchen nach, als es hinüber in die Küche ging. »Wenn ich gewusst hätte, dass unsere Mutter angefangen hat, Senta zu schlagen, hätte ich schon früher eingegriffen.«

»Ihre Schwester verehrt Sie.«

Christian räusperte sich. »An mir ist nichts zu verehren. Ich habe in meinem Leben genügend Mist gebaut. Den meisten davon hier in der Stadt.«

»Und dennoch haben Sie sich entschieden, hierher zurückzukehren.«

»Ja. Weiß der Teufel.«

»Es ist eine schöne kleine Stadt. Nette Menschen. Zumindest die meisten.«

Christian nickte ernst. »Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass ich das Sorgerecht zugesprochen bekomme?«

Noah zögerte, dann lächelte er wieder. »Besser als Sie selbst, nehme ich an. Ich werde tun, was ich kann. An Ihrer Miene sehe ich, dass Sie das schon öfter gehört haben, aber wenn ich so etwas sage, dann meine ich es auch. Lassen Sie uns erst mal den Papierkram erledigen, und dann sehen wir weiter.«

4. Kapitel

»Wen hast du denn da mitgebracht?« Neugierig trat Tessa Winkmann hinter dem Verkaufstresen ihres Blumenladens hervor und warf einen Blick in den Kinderwagen, den Annalena mit etwas Mühe durch die Tür bugsiert hatte. »Oh, das ist ja Finja-Marie! Sie ist so was von süß!«

»Ja, das ist sie.« Lächelnd zupfte Annalena an der bauschigen Decke herum, mit der das Baby zugedeckt war. »Ich habe sie Elena entführt, damit sie mal eine Stunde Ruhe hat. Zum Ausgleich hat Steffen meinen Hund mitgenommen, damit Jan sich ein bisschen mit ihm beschäftigen kann. Er spielt so gerne mit Asco und Tilly.«

»Hast du dich inzwischen schon etwas besser mit deiner Fellnase angefreundet? Asco scheint ja ein hochintelligenter Hund zu sein.«

»Ja, ein bisschen.« Annalena lachte. »Ich staune allerdings jeden Tag darüber, was er alles kann. Heute Morgen hat er seine Leine irgendwie vom Haken an der Garderobe heruntergeholt. Türen öffnen kann er auch, das hat mich schon manchmal erschreckt. Aber zum Glück gehorcht er auch aufs Wort.«

»Seltsam, dass so ein gut ausgebildeter Hund im Tierheim gelandet ist.« Tessa kehrte hinter den Tresen zurück. »Man müsste doch meinen, dass jemand, der sich so intensiv um die Ausbildung eines Tieres kümmert, es dann nicht einfach hergibt.«

»Sie haben Asco in der Nähe der Autobahn aufgegriffen.« Annalena sah sich die ausgestellten Gestecke an. »Merkwürdig ist das schon. Im Tierheim meinten sie, dass man ihm die Tätowierung in den Ohren weggeätzt hat. So was machen manchmal Leute, die Hunde für Testlabore stehlen. Er hat auch eine Narbe, wo wahrscheinlich früher mal ein Chip gesessen hat. Den haben sie ihm wohl auch herausgeschnitten.«

»Wie grausam und gemein. Vielleicht wurde er seinen Besitzern gestohlen!« Tessa schüttelte entsetzt den Kopf. »Wie können Menschen so etwas nur tun? Das werde ich nie begreifen.«

»Ich auch nicht. Vielleicht ist er ja dann aus so einem Labor abgehauen, wer weiß. Leider konnte das Tierheim den ursprünglichen Besitzer nicht mehr ausfindig machen. Sie hatten Asco zwar auf diversen Internetseiten abgebildet, aber wer weiß, wo er herkommt. Die Wahrscheinlichkeit, sein Herrchen oder Frauchen wiederzufinden, ist sehr gering. Deshalb haben sie ihn jetzt neu gechipt und weitervermittelt. Ich habe mich ja auf den ersten Blick in ihn verliebt. Er ist ein richtiger kleiner Charmeur, wenn er will, aber trotzdem manchmal auch irgendwie zurückhaltend, so als wolle er sich nicht mit mir anfreunden.« Vorsichtig nahm Annalena ein Gesteck in die Hände, drehte es hin und her und trug es schließlich zum Tresen. »Das hier nehme ich. Weiße und pinke Herbstastern passen heute genau zu meiner Stimmung.«

»Und sie bringen ein wenig Farbe vor die Haustür. Dort willst du sie doch hinstellen, oder? Im Zimmer gehen sie leider ganz schnell ein.« Tessa wickelte Papier um das Gesteck.

»Ja, klar kommt es vor die Haustür. Für drinnen nehme ich einen von deinen fertigen Sträußen.« Annalena trat an das Rondell, auf dem Tessa ihre Blumensträuße ausstellte, und wählte einen in Blau und Orange aus. »Mir ist heute irgendwie nach knalligen Farben.«

»Das liegt bestimmt an dem trüben Wetter.« Lachend wickelte Tessa auch den Strauß ein, und Annalena verstaute ihn zusammen mit dem Gesteck in der Halterung unter dem Kinderwagen. »Wo du gerade da bist, hätte ich eine Bitte an dich.«

Annalena richtete sich wieder auf. »Worum geht es?«

»Du weißt ja, dass mein Göttergatte Vorsitzender des Sportvereins ist. Dieses Jahr wollen wir wieder ein großes Weihnachtsfest veranstalten, und dazu benötigen wir jede Menge Plätzchenspenden. Lebkuchen und so gehen auch. Alles, was selbst gebacken und süß ist. Würdest du da mitmachen? Und vielleicht Steffen bitten, seinen guten Stollen für uns zu backen? Lebkuchen kann er auch sehr gut, wenn ich mich recht entsinne. Wir haben zwar auch Lidia schon am Haken, aber sie kann ja nicht alles alleine machen.«

»Klar, warum nicht?« Bereitwillig nickte Annalena. »Wann braucht ihr die Plätzchen denn?«

»Ach, da ist noch Zeit. Die Feier findet Mitte Dezember statt. Ich schreibe dir eine WhatsApp mit dem genauen Termin, okay?«

»Gerne. Ihr macht euch ja immer ziemlich viel Arbeit mit diesen Festen.«

»Einer muss es doch tun.« Tessa lachte. »Ich weiß, wir sind da ein bisschen verrückt, aber andernfalls gäbe es halt auch nicht so viele Angebote gerade für die Kinder und Jugendlichen. Bloß den Weihnachtsmann will Tom dieses Jahr nicht schon wieder geben. Mal sehen, wen wir da zwangsverpflichten. Vielleicht kriegen wir ja den neuen Sportlehrer der Gesamtschule herum. Das wäre doch ein toller Einstand für ihn.«

»Tom kriegt endlich Verstärkung?« Interessiert hob Annalena den Kopf. »Das hat aber lange gedauert.«

»Ja, allerdings, und jetzt auch nur eine halbe Stelle. Du weißt ja, wie langsam und beschwerlich die bürokratischen Mühlen manchmal mahlen.« Achselzuckend gab Tessa die Preise für Gesteck und Strauß in ihre Kasse ein. »Zweiundzwanzig Euro bitte.«

Annalena zückte ihre Geldbörse. »Hoffentlich taugt der neue Kollege dann auch was.«

Tessa nahm lachend das abgezählte Geld entgegen. »Ich denke schon. Zumindest ist er ein Vollprofi. War jahrelang Trainer für hochkarätige Jungsportler. Er hat übrigens nur die halbe Stelle angenommen, weil er gleichzeitig an der neuen Sportakademie eine Dozentenstelle innehat. Aber immerhin. Damit kann er dann zumindest die Oberstufe weitgehend übernehmen, die Tom im Moment so viel Zeit raubt, weil er dort dauernd Vertretungen übernehmen muss.«

»Hört sich gut an.«

»Allerdings.« Tessa übergab Annalena den Kassenbon. »Er war übrigens früher selbst Zehnkämpfer. Zweimal Deutscher Meister sogar und stammt hier aus der Stadt. Vielleicht erinnerst du dich sogar noch an ihn. Christian Bonner. Damals war er ein ziemlicher Krawallbruder.«

Annalena, die gerade den Bon in ihr Portemonnaie gesteckt hatte, erstarrte mitten in der Bewegung. »Christian Bonner?« Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus. Gleichzeitig beschleunigte sich ihr Herzschlag auf besorgniserregende Weise. »Bist du sicher?«

»Ja, natürlich ...« Tessa musterte sie besorgt. »Du bist ja so blass geworden. Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch, alles in Ordnung.« Annalena zwang sich mit aller Macht, ein nichtssagendes Lächeln aufzusetzen. »Ich bin nur so überrascht. Dass Christian noch mal zurückkehren würde, hätte ich nicht gedacht. Er wollte damals doch so unbedingt weg von hier. Mein Bruder war mit ihm befreundet«, setzte sie auf Tessas neugierigen Blick hinzu. »Steffen ist zwar ein paar Jahre älter als Christian, aber irgendwie haben die zwei sich immer ganz gut verstanden. Steffen war auch für eine Weile Vertrauensschüler. Damals gab es so was noch an der Schule; keine Ahnung, ob das heute immer noch so ist. Er hat sich als eine Art Pate um Christian gekümmert, weil der sich so oft danebenbenommen hat.«

»Vertrauensschüler und Patenschaften von älteren Schülern über jüngere gibt es immer noch«, erwiderte Tessa. »Einige Jungen und Mädchen werden auf diese Weise derzeit in der Gesamtschule betreut. Das ist manchmal besser als gleich Sozialarbeiter oder Psychologen einzuschalten.«

»Das System hat gut funktioniert.« Annalena dachte mit sehr gemischten Gefühlen an ihre Schulzeit zurück. »Zumindest konnte Steffen Christian damals einigermaßen in der Spur halten. Hauptsächlich, weil er ihn ermutigt hat, seine Aggressionen im Sport auszutoben und nicht bei Schlägereien oder fiesen Streichen.«

»Wenn man bedenkt, dass er sogar Deutscher Meister im Zehnkampf geworden ist – und inzwischen selbst Lehrer.« Tessa kicherte. »Na hoffentlich haben sie da nicht den Bock zum Gärtner gemacht. Obwohl, er hat nur ausgezeichnete Referenzen. Es scheint, als ob er die Kurve gekriegt hat.«

»Ja, scheint so.« Annalena konnte sich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Christian Bonner zurückgekehrt war. Sie wollte sich jedoch nichts anmerken lassen. Deshalb beugte sie sich betont aufmerksam über den Kinderwagen, aus dem ein leises Gurren drang. »Na, Süße, alles okay? Allmählich müssen wir dich wieder nach Hause bringen, was? Sonst glaubt deine Mama noch, ich hätte dich wirklich entführt. Wir sind schon länger unterwegs, als ich eigentlich vorhatte.«

»Na, dann macht euch mal auf den Weg, ihr zwei.« Tessa kam erneut hinter dem Tresen hervor und hielt ihr die Tür auf. »Die Kleine steht dir übrigens gut, Annalena.«

»Haha.«

»Das war ernst gemeint!«

Annalena hüstelte. »Kann schon sein, aber daraus wird nichts.«

»Kein Mann in Sicht?« Tessa zwinkerte ihr fröhlich zu.

»Keiner, der mich reizen würde, mit ihm eine Familie zu gründen.«

»Ach, egal.« Tessa tätschelte kurz Annalenas Schulter. »Es wird sich schon noch einer finden. Und falls nicht, geht die Welt auch nicht unter. Du hast ja jetzt erst mal Asco.«

»Genau. Und er ist wesentlich weniger anstrengend als ein Mann.«

»Na, das klingt aber bitter!« Überrascht musterte Tessa sie.

»Ist es auch, ein ganz kleines bisschen.« Annalena seufzte. »Ich habe, glaube ich, den falschen Job für eine feste Beziehung. Bisher hat noch kein Mann auf Dauer akzeptiert, dass ich nicht bloß eine Hobbyautorin bin. Alle wollten mich früher oder später davon überzeugen, dass ich besser einen Bürojob annehme, damit ich abgesichert bin und so.«

»Wirklich?« Kopfschüttelnd folgte Tessa ihr bis auf die Straße. »An was für Deppen bist du denn immer geraten? Es ist doch deine Sache, wie du dein Geld verdienst. Und überhaupt, deine Bücher sind doch erfolgreich. Also wer dir da reinreden will, soll sich mal gleich wieder verziehen. So was kann ich ja überhaupt nicht ab.«