Ein Weihnachtshund für alle Fälle - Petra Schier - E-Book

Ein Weihnachtshund für alle Fälle E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

 Zwei Menschen. Ein Vierbeiner. Das Liebesglück.   Irina hat der Liebe abgeschworen, seit ihre Jugendliebe Lars sie vor Jahren tief enttäuscht hat. Nun ist Lars kurz vor Weihnachten in ihre Stadt zurückgekehrt, und sie möchte eigentlich nichts anderes, als ihm aus dem Weg zu gehen. Doch ausgerechnet mit ihm zusammen muss sie nun an einem neuen Auftrag für ihren Familienbetrieb arbeiten. Prompt kommen sie sich dabei doch wieder näher. Aber Irina hat Angst. Wie soll sie Lars jemals wieder vertrauen?  Nicht einmal Nick, der pfiffige Schäferhundmischling, kann zwischen ihnen vermitteln. Dabei hat er von Santa Claus höchstpersönlich diesen Auftrag erhalten. Ob dem klugen Vierbeiner doch noch die rettende Idee kommt, wie er Lars und Irina glücklich machen kann? 

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Table of Contents

Buchtitel
Impressum
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel – Nachspiel
Petra Schier
 
Ein Weihnachtshund für alle Fälle
Impressum
Dieser Roman ist 2011 unter demselben Titel bereits als Hardcover im Verlag Rütten & Loening erschienen.
2. Auflage August 2022
Copyright © 2011 und 2021 by Petra Schier
Petra Schier, Lerchenweg 6, 53506 Heckenbach
Buchumschlag-Gestaltung unter Verwendung von Adobe Stock: © Rita Kochmarjova
ISBN 978-3-96711-046-3
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin möglich.
Prolog
»Ich bin beeindruckt.« Das Christkind sah sich anerkennend in der neuen Geschenkfabrikhalle um und ließ die goldenen Flügel flattern. »Alles auf dem Stand der neuesten Technik, wie ich sehe. Dann kann der Weihnachtstrubel ja losgehen.«
Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, nickte stolz. »Zum Glück ist alles noch rechtzeitig fertig geworden. Die Elfenbrigade hat sich wirklich ins Zeug gelegt. Zwar ist es gerade erst Anfang November, aber die ersten Wunschzettel stapeln sich schon wieder auf meinem Schreibtisch.«
»Bei mir sieht es nicht anders aus. Mein E-Mail-Postfach quillt auch schon über.«
Die beiden lachten einmütig.
Das Christkind blinzelte schelmisch. »Nun, da du im technischen Bereich endlich aufgeholt hast – wie wäre es mit einer kleinen Wette?«
»Was für eine Wette?« Der Weihnachtsmann hob neugierig eine buschige weiße Augenbraue.
Wieder ließ das Christkind seine Flügel schlagen und den schimmernden Kranz, den sein goldenes Haar umgab, aufleuchten. »Ich wette, dass ich bis Heiligabend mehr Menschen glücklich machen kann als du.«
»Ha!« Die Miene des Weihnachtsmannes hellte sich auf. »Weißt du was, die Wette gilt!« Sie schlugen ein und schüttelten sich kräftig die Hände. »Es wird mir ein Vergnügen sein, dich vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Das musst du erst einmal schaffen.«
Santa Claus grinste. »Ich habe nicht nur in der Fabrik modernisiert. Meine Elfen sind inzwischen auch mit der allerneuesten Technik ausgerüstet. Hochfrequenz-Abhörgeräte, digitale Kameras, nicht zu vergessen das GPS-System an meinem Schlitten. Die Arbeit wird ab sofort ein Kinderspiel werden.«
Das Christkind schmunzelte. »Ich mag vielleicht nicht über deine Elfenbrigade verfügen, aber glaub mir, meine Engel und ich stehen, was unsere Ausrüstung angeht, der deinen in nichts nach.«
»Das wollen wir doch mal sehen.«
»Das werden wir auch sehen!«
»Also wirklich, ihr zwei.« Santas Frau war in der Tür der Geschenkfabrik erschienen und blickte die beiden streng an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Was muss ich da hören? Streit so kurz vor Weihnachten? Und das ausgerechnet von euch, die ihr eigentlich Liebe und Frieden auf Erden zu verkünden habt.«
»Entschuldige, mein Schatz.« Santa Claus ging zu seiner Frau und gab ihr einen raschen Kuss auf die Wange. »Wir streiten gar nicht.«
»Ach nein? Das klang aber anders.«
»Nein, meine Liebe.« Das Christkind kam nun auch näher. »Wir haben lediglich eine kleine Wette abgeschlossen, nichts weiter.«
»Eine kleine Wette?« Santas Frau runzelte skeptisch die Stirn.
»Nichts Schlimmes«, bestätigte Santa und wandte sich wieder ans Christkind. »Bleibt noch der Wetteinsatz.«
»Stimmt.« Nachdenklich tippte sich das Christkind mit dem Zeigefinger gegen die Lippen. »Lass sehen … Ja, ich hab’s! Der Verlierer muss dem Gewinner im kommenden Jahr bei der Geschenke-Auslieferung helfen, ganz gleich, wie viele Lieferungen er selbst zu erledigen hat.«
»Aber das geht doch nicht!«, protestierte Santas Frau. »Der Heilige Abend reicht ja so schon kaum aus, um alle Geschenke auf der Erde zu verteilen.«
»Eine gute Idee«, sagte der Weihnachtsmann jedoch mit einem breiten Lächeln. »Vielleicht solltest du besser jetzt schon mal mit dem Training beginnen, liebes Christkind. Du wirst nächstes Jahr ganz schön was zu tun bekommen.«
Das Christkind grinste. »Vielleicht solltest du lieber darüber nachdenken, dir einen Anhänger für deinen Schlitten zuzulegen, lieber Weihnachtsmann. Du wirst ihn brauchen, wenn ich die Wettschulden bei dir einlösen komme.«
Die beiden lachten wieder und reichten sich erneut die Hände.
Santas Frau schüttelte halb verärgert, halb amüsiert den Kopf. »Wenn das mal gutgeht.«
1. Kapitel
»Du wolltest mich sprechen, Paps?« Irina Rosenbaum trat in das geräumige Büro ihres Vaters, des Inhabers des Familienbetriebs Rosenbaum & Söhne – Elektrotechnik, Kommunikations- und Sicherheitstechnik, Energie- und Gebäudetechnik. Auf seinen Wink hin ließ sie sich ihm gegenüber auf einem der gemütlichen Besuchersessel nieder. »Wenn es wegen des Auftrags bei Schuster und Co. geht, damit werde ich heute Abend wie vereinbart fertig. Ich musste allerdings der Zuliefererfirma Beine machen, sonst hätten sie die Ersatzteile nicht rechtzeitig geliefert. Hat sich jemand beschwert?«
Aaron Rosenbaum lächelte über den defensiven Ton seiner Tochter. Sie arbeitete jetzt seit fünf Jahren Seite an Seite mit ihren drei älteren Brüdern und hatte sich in ihrem Bereich wirklich bewährt. Doch auch wenn es eigentlich nicht nötig war, schien sie noch immer beweisen zu wollen, dass sie ebenso gute Arbeit leistete wie die Männer. Wohlwollend ließ er seinen Blick über Irinas zierliche Gestalt wandern, die in einem sauberen dunkelblauen Arbeitsoverall mit Firmenemblem auf der Brust steckte. Das zu einer ebenso schicken wie praktischen Kurzfrisur geschnittene blonde Haar steckte unter einer ebenfalls dunkelblauen Baseballkappe. Ja, er war stolz auf alle seine Kinder und glücklich, dass seine beiden Töchter – Irina wie auch seine Jüngste, Lidia – darüber hinaus auch noch zu solch ausgesprochenen Augenweiden herangewachsen waren. Was konnte sich ein Mann wohl mehr wünschen?
»Nein, Irina, keine Sorge. Es geht nicht um den Auftrag bei Schuster und Co. Daniel hat mir bereits gesagt, dass dort alles klargeht.« Er lächelte beruhigend. »Du erinnerst dich doch an das Hotel, das wir vor zwei Jahren vollständig mit Technik versorgt haben?«
»Meinst du das Sternbach in der Innenstadt, mit dem wir gerade rechtzeitig vor der Eröffnung zu Weihnachten fertig waren?« Selbstverständlich erinnerte sich Irina an diesen Auftrag. Und wenn auch nur, weil er eng mit den Ereignissen zusammenhing, die ihren älteren Bruder Daniel und seine jetzige Frau zusammengebracht hatten. Sie lächelte bei der Erinnerung daran. »Will der Hoteldirektor uns vielleicht als Dank für unsere Mühen einen kostenlosen Aufenthalt im Wellnessbereich des Hotels schenken? Immerhin erledigen wir alle Wartungsarbeiten schnell und pünktlich.«
Aarons Lächeln vertiefte sich. »Das würde dir gefallen, wie? Nein, Irina, es kommt sogar noch besser!«
»Noch besser als ein ganzer Tag mit Sauna, Massage, Salzgrotte und Rundum-Service?«
»Sternbach hat am See hinter der Stadt ein Luxus-Resort gebaut, wie du weißt. Er ist mit unserer Arbeit in seinem ersten Hotel derart zufrieden, dass er unsere Firma beauftragt hat, auch alle Installationen im Resort auszuführen.«
»Alle Installationen?«
»Jawohl, das volle Programm.«
»Das ist ja Wahnsinn!« Irina sprang auf, umrundete den großen Schreibtisch und fiel ihrem Vater um den Hals. Dann zog sie sich jedoch ein wenig zurück und blickte ihn argwöhnisch an. »Okay, wo ist der Haken? Soll das Resort etwa auch zu Weihnachten eröffnet werden? Ich habe den Bau gesehen. Das können wir unmöglich schaffen. Da brauchen wir mindestens vier Monate, und das ist schon optimistisch gerechnet. Und du weißt genau, dass ich ab neunzehnten Dezember drei Wochen Urlaub habe.«
»Die Eröffnung ist erst im Mai.« Aaron wies auf den Besuchersessel; Irina setzte sich wieder. »Aber auch wenn wir ein halbes Jahr Zeit haben, bedeutet dieser Auftrag doch eine Menge Mehrarbeit. Schließlich haben wir auch noch andere Kunden zu bedienen. Deshalb habe ich einen neuen Mitarbeiter eingestellt, der uns im Bereich Kommunikations- und Sicherheitstechnik unterstützen soll und auch von Energietechnik etwas Ahnung hat.«
Irina atmete erleichtert auf. »Endlich, Paps. Ich habe ja schon lange gesagt, dass wir noch eine weitere Arbeitskraft benötigen. Wann kann er anfangen?«
»Morgen ist offiziell sein erster Arbeitstag. Wir haben aber ausgemacht, dass er heute schon herkommt. Ich möchte dich bitten, ihm die Firma zu zeigen und später mit ihm raus zum Resort zu fahren, damit ihr euch schon mal umsehen könnt.«
»Aber was ist mit meiner Arbeit bei Schuster?«
»Die übernimmt Janus. Er ist mit seiner Arbeit im Krankenhaus gestern fertig geworden.«
»Aber dann könnte er doch …« Irina knabberte an ihrer Unterlippe. »Ich möchte ungern einen Auftrag unvollendet verlassen, Paps.«
»Das weiß ich, aber ich halte es für die beste Lösung.« Aaron blickte sie ernst an. »Ich möchte, dass du die Leitung über den Auftrag im Resort übernimmst.«
Irina schnappte nach Luft. »Ich soll die Leitung übernehmen?«
»Spricht etwas dagegen? Daniel und Janus sind damit einverstanden. Und Erik liegt mir sowieso schon seit Wochen in den Ohren, dass ich dir endlich auch einmal die Leitung über ein Projekt übertragen soll. Das tue ich hiermit. Daniel wird dich unterstützen, ist heute und morgen aber nicht verfügbar. Deshalb möchte ich, dass du Herrn Reuther mit zur Baustelle nimmst. Vier Augen und Ohren sehen und hören mehr als zwei. Sternbach ist ein anspruchsvoller Kunde.«
»Also gut.« Irina spürte, wie ihre Wangen vor Aufregung glühten. »Dann werde ich …« Sie schluckte. »Danke, Paps.«
»Keine Ursache.« Aaron lächelte wieder. »Ich erwarte hervorragende Arbeit, nicht nur von dir, sondern von euch allen.«
»Natürlich.« Irina lächelte ebenfalls. »Wann wird dieser Herr Reuther hier antanzen?«
Aaron schmunzelte. »Ich habe ihn für neun Uhr dreißig herbestellt.« Er blickte auf seine Uhr, dann auf den Überwachungsbildschirm neben seinem Schreibtisch. »Und wie ich sehe, ist er pünktlich. Ich habe Lidia gebeten, ihn im Empfangsraum zu beschäftigen, bis du unten bist.«
»Okay, dann werde ich mal gehen und ihn …« Irina hatte sich erhoben und dabei neugierig einen Blick auf den Bildschirm geworfen. Mitten in der Bewegung erstarrte sie. »Lars!«
»Wie bitte?« Verwundert hob ihr Vater den Kopf, dann sah er, was sie meinte. »O ja, richtig, Lars Reuther. Du erinnerst dich also an ihn? Er war in deinem Abiturjahrgang, nicht wahr? Hat einige Jahre in Hamburg und Köln gearbeitet. Erstklassige Arbeitszeugnisse, Meisterbrief mit eins Komma fünf. Er ist kürzlich wieder hergezogen und hat …«
»Das geht nicht, Paps«, unterbrach Irina ihn mit gepresster Stimme. »Ich kann unmöglich … Ich werde nicht mit ihm zusammenarbeiten.«
Aaron musterte seine Tochter aufmerksam und faltete die Hände auf der Tischplatte. »Und warum nicht?«
Irina fuhr zu ihm herum, eine steile Falte zwischen den Augen. »Weil ich ihm den Hals umdrehe, wenn er mir näher als drei Schritte kommt.«
Standhaft bemühte sich Aaron, ein ernstes Gesicht beizubehalten. »Das wäre aber sehr bedauerlich, Irina. Ich möchte ungern auf seine Arbeitskraft verzichten, noch bevor er überhaupt angefangen hat. Ganz zu schweigen von der deinen, wenn sie dich in den Knast stecken.«
»Das ist nicht witzig, Paps!« Irina funkelte ihn aufgebracht an. »Wie konntest du ausgerechnet ihn einstellen? Du weißt ganz genau, dass wir uns an die Kehle gehen, sobald wir uns im selben Raum befinden.«
Aaron beugte sich ein wenig vor und nickte bedächtig. »Herr Reuther erwähnte, dass ihr nicht das allerbeste Verhältnis zueinander habt.«
»Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts!«
»Er schien jedoch durchaus bereit, mit dir in Frieden zusammenzuarbeiten.«
»In Frieden? Pah, dass ich nicht lache!« Irina stemmte die Hände in die Hüften. »Vergiss es, Paps, ich werde nicht ein Wort mit ihm wechseln, geschweige denn mit ihm arbeiten.«
»Irina.« Aaron stand auf und trat auf sie zu. Seine Miene wie auch sein Tonfall hatte sich deutlich verändert. Streng blickte er auf seine Tochter hinab. »Nun mach mal einen Punkt. Wie lange ist es her, dass ihr euch zuletzt gesehen habt? Acht, neun Jahre? Findest du nicht, das ist lang genug, um das Kriegsbeil zu begraben? Liebe Zeit, ihr wart ja fast noch Kinder damals.«
»Waren wir nicht. Wir waren erwachsen, hatten gerade das Abitur …«
»Unterbrich mich nicht!«
Irina verstummte und senkte den Kopf.
Aaron unterdrückte ein Schmunzeln. »Lars Reuther ist ein Fachmann auf seinem Gebiet, so wie du eine Fachfrau auf dem deinen bist. Ich habe ihn eingestellt und wünsche, dass ihr gemeinsam im Resort arbeitet. Nicht mehr und nicht weniger. Ob ihr dabei miteinander redet oder euch Rauchzeichen gebt, ist mir gleich. Mir wäre es nur recht, wenn ihr Negativschlagzeilen über Schlägereien auf der Baustelle vermeidet.«
Erbost hob Irina den Kopf wieder, sagte jedoch nichts, als sie den strengen Ausdruck in den Augen ihres Vaters sah. Er wies auf die Tür. »Und nun geh nach unten und begrüße unseren neuen Mitarbeiter.« Bevor sie seiner Anweisung nachkommen konnte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Ihr seid erwachsene Menschen, Irina. Ich weiß nicht, warum ihr euch damals nicht ausstehen konntet – es geht mich auch nichts an. Aber wenn er Manns genug ist, eure persönlichen Querelen am Arbeitsplatz beiseitezuschieben, wirst du doch wohl Frau genug sein, das Gleiche zu schaffen. Oder etwa nicht?«
Als er den kämpferischen Ausdruck in ihrem Blick wahrnahm, wusste er, dass er erreicht hatte, was er wollte.
Irina straffte die Schultern. »Also gut, wie du meinst. Aber behaupte hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
2. Kapitel
Während der Fahrt zur Baustelle herrschte in dem dunkelblauen Firmentransporter der Firma Rosenbaum & Söhne eisiges Schweigen. Irina konzentrierte sich vollkommen auf die Straße, würdigte Lars keines Blickes. Der verkniffene Zug um ihren Mund war ihm nur zu bekannt, hatte er ihn doch schon so oft bei ihr gesehen. Seit dem letzten Mal waren jedoch viele Jahre ins Land gezogen. Er für seinen Teil verspürte keinerlei Bedürfnis, das Kriegsbeil erneut auszugraben. Nicht nach dem, was er vor kurzem zufällig von einem seiner ehemaligen Schulfreunde erfahren hatte.
Innerlich seufzend musterte er Irina aus den Augenwinkeln. So viel vergeudete Zeit und Energie! Wer weiß, wo sie heute ständen, hätte es damals nicht diesen Zwischenfall gegeben. Andererseits war es vielleicht nicht schlecht, dass sie erst einmal erwachsen geworden waren, bevor sie sich wieder über den Weg gelaufen waren. Gut, er hatte ein wenig nachgeholfen, indem er sich bei Irinas Vater beworben hatte, nachdem er in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Im Grunde ein logischer Schritt, denn die Firma Rosenbaum & Söhne war die beste weit und breit. Natürlich hatte er vorab Erkundigungen eingezogen und wusste, dass Irina im Familienbetrieb arbeitete. Er fand, dass dies nicht nur eine Gelegenheit auf einen guten Job war, sondern auf diesem Weg auch die Möglichkeit bestand, ein großes Missverständnis aus der Welt zu schaffen – und sei es nur, um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Er hatte sich Irina gegenüber furchtbar verhalten, und sie hatte es ihm mit doppelter Münze heimgezahlt. Da hatte es auch nichts geholfen, dass er insgeheim bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen war.
Noch einmal ließ er seinen Blick aus den Augenwinkeln über ihr Profil wandern. Er hatte sich eingeredet – und mit einigem Erfolg –, dass fast neun Jahre Zeit genug gewesen waren, um die Gefühle von damals vollständig abzukühlen. Himmel, er war ja noch grün hinter den Ohren gewesen! Allerdings ließ sich nicht leugnen, dass es ihn wie ein Schlag in die Magengrube getroffen hatte, als Irina vorhin zum ersten Mal wieder vor ihm gestanden hatte. Sie war noch ebenso hübsch wie damals. Nein, korrigierte er sich, schöner! Sie war reifer geworden, ihre energische, vitale Ausstrahlung hatte sich noch verstärkt. Er erkannte auf den ersten Blick, dass sie sich zu einer Frau entwickelt hatte, die genau wusste, was sie wollte – und was nicht.
Es war mehr als eindeutig, dass sie nicht sehr erpicht darauf war, mit ihm zu sprechen, geschweige denn, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ihr höflich-unterkühlter Ton verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht. Mit Mühe hatte er einen bissigen Kommentar hinuntergeschluckt. Es war verblüffend, wie leicht es ihr fiel, in ihm die alten Verhaltensmuster zu wecken.
»Findest du nicht, dass du mich jetzt lange genug angestarrt hast?«
Irinas ätzende Stimme riss Lars aus seinen Gedanken. »Ich starre dich nicht an.«
»Was dann?«
»Ich habe nur gerade festgestellt, dass du dich verändert hast.«
»Ach ja?« Irina trat heftiger als nötig auf die Bremse, als sie in den Parkplatz zum Resort einbog.
»Du bist eine wunderschöne Frau, Irina.«
»Tatsächlich?« Irina parkte den Transporter direkt vor dem Haupteingang. »Und was war ich dann früher? Das hässliche Entlein?«
»Nicht ganz.« Lars’ Mundwinkel zuckten. »Aber die vergangenen Jahre haben dir ganz sicher nicht geschadet.«
»Verbindlichsten Dank.« Irina sprang aus dem Van, knallte die Tür zu und ging, ohne auf ihn zu warten, auf den Eingang zu. Als er mit wenigen Schritten zu ihr aufgeholt hatte, blickte sie ihn abschätzend von der Seite an. »Du kannst dir das Süßholzgeraspele sparen, Reuther. Ich sehe keinerlei Veranlassung, auch nur ein Wort mit dir zu wechseln, das nicht beruflich veranlasst ist. Herr Sternbach erwartet uns, also lass uns reingehen und unseren Job tun.«
»Wie du meinst. Du bist der Boss.« Er lächelte leicht.
Irina zog argwöhnisch die Brauen zusammen, als er sie mit einer Hand an ihrem Rücken sanft durch das zweiflüglige Portal geleitete. »Das ist wahr«, zischte sie schließlich etwas verspätet. »Also Hände weg.«
Lars reagierte nicht darauf. Irina konnte ebenfalls nicht weiter darauf eingehen, da der Hoteldirektor in diesem Augenblick mit freundlichem Lächeln und ausgebreiteten Armen auf sie zu trat und sie überschwänglich begrüßte.
***
»Okay, Irina, spuck’s schon aus.«
»Spuck was aus?« Überrascht blickte Irina von der Grundrisszeichnung auf, die vor ihr auf dem Küchentisch ausgebreitet lag. Schräg hinter ihr stand Julia, ihre Schwägerin und beste Freundin, blickte ihr über die Schulter und nippte an einer Tasse Tee.
»Weshalb du seit Tagen mit einem Gesicht herumläufst, als wolltest du jemanden fressen. Ist es noch immer wegen eures neuen Mitarbeiters? Daniel erzählte mir, dass du und dieser Lars euch noch aus eurer Schulzeit kennt.«
»Verabscheut.«
»Bitte was?« Julia hob verwundert die Augenbrauen.
»Wir verabscheuen einander«, sagte Irina, ohne ihren Blick von der Zeichnung zu heben. »Und aus gutem Grund«, fügte sie hinzu. »Er ist ein Scheusal.«
Julia stellte die Teetasse ab und setzte sich auf den Stuhl gegenüber Irina. »Wann warst du zum letzten Mal beim Augenarzt?«
»Hm?« Nun hob Irina doch den Kopf und blickte die Freundin irritiert an. »Was meinst du?«
Julia schmunzelte. »Nun tu bitte nicht so. Bisher dachte ich immer, ich würde deinen Geschmack in Sachen Männer kennen. Aber wenn du Lars Reuther ein Scheusal nennst, müssen deine Ansprüche sich in letzter Zeit arg verändert haben.«
»Können wir bitte das Thema wechseln?«
»Nein, können wir nicht. Also …« Julia streckte eine Hand aus und zählte an den Fingern ab: »Er ist groß, schlank, besitzt noch jedes einzelne seiner dunkelblonden Haare, hat, wie ich unterstreichen möchte, sehr hübsche braune Augen … Die Brille steht ihm übrigens, was nicht bei allen Männern der Fall ist. Für meine Begriffe ist er ein ziemlich ansehnliches Exemplar seiner Gattung.«
»Du kannst ihn gerne geschenkt haben«, knurrte Irina und griff nun selbst nach ihrer Teetasse.
Julia lachte. »Danke nein, kein Bedarf. Ich habe meinem Traummann bereits vor anderthalb Jahren das Ja-Wort gegeben.« Sie wurde wieder ernst. »Nun sag schon, was ist zwischen euch vorgefallen? Du hast ihn bisher niemals auch nur mit einer Silbe erwähnt. Aber jetzt, da er für deinen Vater arbeitet, läufst du herum wie ein bissiger Kettenhund.«
»Bissig?« Irina verzog ihre Lippen zu einem schmalen Strich. »Ja, vielleicht. Aber ich habe auch allen Grund dazu. Dass Paps ausgerechnet ihn einstellen musste …« Auf Julias auffordernden Blick hin seufzte sie ergeben. »Also gut, es ist ja kein Geheimnis.« Sie trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: »Es war in unserem Abschlussjahr. Nein, ich muss weiter ausholen. Lars und ich haben uns nie gut verstanden. Keine Ahnung, warum. Wir haben uns einfach durch die Schulzeit gestritten. Irgendwann wurde es eine Art Sport, schätze ich. Die Lehrer nannten uns irgendwann ‚die schrecklichen Zwei’, weil wir selbst im Unterricht gerne in Streit gerieten.«
Julia legte neugierig den Kopf auf die Seite. »Das klingt für mich nach Kinderkram. Wahrscheinlich habt ihr eure Reibereien sogar genossen, sonst hättet ihr sie bestimmt nicht so lange durchgehalten.«
»Keine Ahnung, vielleicht.« Irinas Blick wanderte in eine unbestimmte Ferne, doch als sie sich an die Ereignisse von damals erinnerte, erschien ein bitterer Zug um ihren Mund. »Vielleicht wäre alles nicht so schlimm geworden, wenn ich nicht …«
»Wenn du was nicht?«