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Stephanie Maddox ist leitende Sonderermittlerin beim FBI. Fast zwei Jahrzehnte hat sie hart gearbeitet - und als alleinerziehende Mutter viele persönliche Opfer gebracht. Himmel und Hölle würde sie in Bewegung setzen, um ihren 17-jährigen Sohn zu schützen. Auch vor einem brisanten Geheimnis aus ihrer eigenen Vergangenheit. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass Zachary Geheimnisse vor ihr haben könnte. Doch dann findet sie eine geladene Pistole in seinem Zimmer. Alles deutet darauf hin, dass ihr Sohn in die Machenschaften einer gewaltbereiten extremistischen Vereinigung verstrickt ist. Einer Gruppierung, die Anschläge gegen Regierungsvertreter plant. Deren Mitglieder sich nicht an Gesetze gebunden fühlen, weil sie den Staat nicht anerkennen. Ist Zachary in falsche Kreise geraten? Wie gut kennt sie ihren Sohn wirklich?
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Seitenzahl: 452
Zum Buch
»Was, wenn ihr Sohn nicht der ist, für den sie ihn hält?«
Eine rechte Gruppierung plant Anschläge aufUS-Regierungsvertreter. Steckt der Sohn derFBI-Sonderermittlerin mit ihnen unter einer Decke?
Stephanie Maddox ist leitende Sonderermittlerin beim FBI. Fast zwei Jahrzehnte hat sie hart gearbeitet – und als alleinerziehende Mutter viele persönliche Opfer gebracht. Sie würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um ihren 17-jährigen Sohn zu beschützen. Auch vor einem brisanten Geheimnis aus ihrer eigenen Vergangenheit. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass Zachary Geheimisse vor ihr haben könnte.
Eines Tages findet sie beim Aufräumen eine geladene Pistole in seinem Zimmer. Alles deutet darauf hin, dass Zachary in die Machenschaften einer gewaltbereiten extremistischen Vereinigung verstrickt ist. Einer Gruppierung, die Anschläge gegen Regierungsvertreter plant. Deren Mitglieder sich nicht an Regeln und Gesetze gebunden fühlen, weil sie den Staat nicht anerkennen. Was, wenn Zachary in falsche Kreise geraten ist? Wie gut kennt sie ihren Sohn wirklich?
»Ein temporeicher Thrillerüber eine Verschwörung, die mitten in eine Familie getragen wird.«Publishers Weekly
Zur Autorin
Karen Cleveland war acht Jahre als Analystin für die CIA tätig und wurde in dieser Zeit auch zeitweilig beim FBI eingesetzt. Sie hat am Trinity College Dublin und an der Harvard University studiert. »Eine Frage der Sicherheit« ist ihr zweites Buch nach dem New York Times-Bestseller »Wahrheit gegen Wahrheit«. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt Karen Cleveland in Virginia.
Karen Cleveland
Eine Frage der Sicherheit
Roman
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Retterbush
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Keep you close« bei Ballantine Books, New York.
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Deutsche Erstausgabe Februar 2022
Copyright © 2019 Karen Cleveland
Copyright © der deutschen Ausgabe 2022 btb Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Carlos Beltrán
Covermotiv: © Getty Images/BenAkiba
Autorenfoto: © Jessica Scharpf
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
Alle Rechte vorbehalten.
Klü · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-22112-6V002
www.btb-verlag.de
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Für B. J. W.
Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.
Oscar Wilde
Die Frau schreckt jäh aus dem Schlaf auf. Ihr Herz rast. Schüsse hallen durch ihren Kopf. Sie tastet nach der anderen Bettseite. Leer. Nur eine kleine Kuhle in den Laken, längst ausgekühlt.
Rasch schlüpft sie aus dem Bett und zieht sich einen Morgenmantel über. Tappt leise in den dunklen Flur, die nackten Füße kalt auf den Holzdielen. Späht durch die erste offene Tür. Ein Junge, er schläft tief und fest, das Gesicht kaum erkennbar im fahlen Mondlicht. Weiter zur nächsten Tür. Ein kleines Mädchen in einem regenbogenbunten Zimmer, das unschuldige kleine Gesichtchen in den sanften Schein einer Nachtleuchte getaucht. Zur dritten Tür. Zwillinge, zwei Jungs, schlummernd in Zwillingsbetten. Einer mit Daumen im Mund. Der andere an einen abgeliebten Teddybären gekuschelt.
Gedämpfte Geräusche von unten lassen sie weitergehen. Der Fernseher mit leise gestelltem Ton. Auf halber Treppe nach unten erhascht sie einen Blick auf den Bildschirm. Ein Rund-um-die-Uhr-Nachrichtensender. Russland. Wahlkampfeinmischung. Genau die Geschichten, die ihr Mann so hasst. Bei denen er sonst immer gleich abschaltet.
Noch ein paar Schritte, und das Wohnzimmer öffnet sich ihrem Blick. Überall liegen Plastikspielsachen und Brettspiele verstreut, das Kaminsims ist vollgestellt mit Familienfotos. In der Mitte des Raums eine dunkle Gestalt, vom unsteten blauen Flackern des Fernseherlichts angestrahlt. Auf der Sofakante hockend, gebannt auf die Mattscheibe starrend. Das unnatürliche Licht verzerrt die Gesichtszüge. Im ersten Augenblick wirkt die Gestalt wie ein Fremder.
Er scheint ihre Anwesenheit zu spüren. Dreht sich zu ihr um, und sein Gesicht verzieht sich zu dem vertrauten, beruhigenden Lächeln. Er schaltet den Ton des Fernsehers aus. »Wieder Albträume gehabt, Liebes?« Er streckt den Arm aus. Eine stumme Einladung, sich neben ihn zu setzen.
Sie rührt sich nicht von der Stelle. Nickt nur als Antwort auf seine Frage.
Er steht auf, zeigt mit der Fernbedienung auf den Fernseher. Das Bild verschwindet. Dunkelheit hüllt sie ein. »Komm, gehen wir wieder ins Bett.«
Er geht zur Treppe, kommt auf sie zu. Ihre Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, und er wirkt wie ein bedrohlicher Schatten. Sanft legt er ihr die Hand auf den Rücken.
Sie zuckt ganz leicht zusammen. »Ich bleibe hier.«
Er zögert. Dann beugt er sich herunter, gibt ihr einen Kuss auf die Wange, geht an ihr vorbei die Treppe hinauf. Sie sieht ihm nach, bis er fort ist.
Allein im Dunkeln zieht sie den Morgenmantel enger. Schaut ins Wohnzimmer. Auf den Fernseher, der jetzt schwarz ist. Sieht noch immer diesen eigenartigen Ausdruck in seinem Gesicht. Ein Lächeln fast, ein verzerrtes. Aber das ist unmöglich. Er sah gar nicht aus wie der Mann, den sie kennt. Der Mann, den sie liebt.
Sie versucht sich einzureden, das müsse am Licht gelegen haben. Dieses flackernde Fernseherlicht. Sie haben keine Geheimnisse voreinander. Nicht mehr.
Trotzdem überläuft es sie eiskalt. Zitternd schlingt sie die Arme um den Leib.
Was, wenn er nicht der ist, für den sie ihn hält?
Wie gut kennt sie ihn wirklich?
Nachts laufe ich am liebsten. Immer schon. Ich mag diese Ruhe. Die stillen Straßen, die leeren Bürgersteige. Nicht die sicherste Zeit, zugegeben. Aber in Joggingklamotten habe ich nicht viel dabei, was man mir klauen könnte. Und was Überfälle angeht: Ich bin zäher, als man denkt. Ich habe Selbstverteidigung gelernt. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Gezielte und lange geplante Verbrechen machen mir viel mehr Bauchschmerzen. Und überhaupt: Wenn mir jemand ans Leder will, dann findet er mich. So oder so.
Der Reflecting Pool am Lincoln Memorial liegt zu meiner Linken, dunkel und glasklar. Die sechste Meile von geplanten zehn, bisher alle unter siebeneinhalb Minuten. Eine solide Grundgeschwindigkeit heute Abend. Besser als sonst. Der drohende Sturm treibt mich an. Eine Woche hatten wir fast frühlingshaftes Wetter mit ungewöhnlich warmen Temperaturen, die Knospen an kahlen Zweigen aufspringen ließen und Tulpenstängel aus dem Boden lockten. Aber das Wetter in Washington kann innerhalb kürzester Zeit umschlagen, und die Vorhersage kündigt ein letztes Aufbäumen des Winters an. Der Wind frischt bereits auf.
Ich komme am Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten vorbei, laufe die leichte Anhöhe zum Washington Memorial hinauf. Hier bin ich in meinem Element. Muskeln pumpen, strecken, stählen. An die Grenzen gehen. Ich trage eine leichte Jacke und eine dreiviertellange Jogginghose. Keine Mütze. Die Haare zurückgekämmt und hinten zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Achtzigerjahre-Rock auf den Kopfhörern im Ohr, aber nicht so laut. Leise genug, dass ich es höre, wenn sich jemand von hinten nähert. Dass ich alles um mich herum mitbekomme.
Oben angekommen geht mein Blick zum Weißen Haus. Links von mir liegt es, hell angestrahlt. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich es sehe. Auch nach acht Jahren hier in der Stadt. Eine ständige Erinnerung daran, wie nahe ich dem Zentrum der Macht bin. Und wo Macht ist, braucht es auch immer jemanden wie mich.
Am Obelisken vorbei und den Hügel wieder hinunter. Schneller als hinauf. Die Kuppel des Kapitols ragt vor mir auf, leuchtend vor dem dunklen Nachthimmel.
Eine Erinnerung schießt mir durch den Kopf. Ich, in diesem holzvertäfelten Büro, damals, vor all den Jahren. Er, wie er aufsteht und um den Schreibtisch herum auf mich zukommt …
Konzentrier dich, Steph.
Das liegt an dem verdammten Fall, an dem ich gerade dran bin. Der macht was mit mir. Der erinnert mich zu sehr an meine eigene Vergangenheit. Ich zwinge meine Beine, schwerer zu arbeiten, schneller zu laufen. Lausche auf das rhythmische Hämmern meiner Schuhe auf dem Asphalt, das Stakkato-Getrommel.
Die National Mall öffnet sich vor mir. Eine schöne Gerade. Gelegenheit für einen Zwischensprint.
Meine Beine werden schwer. Ich habe Schmerzen im Knie, aber ich kämpfe weiter. Jetzt nur nicht aufgeben.
Die Kuppel kommt näher. Ich sehe sein Gesicht, wieder einmal. Spüre die Hand auf meinem Arm, die mich festhält …
Noch schneller. Weitersprinten.
Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern. Ich kann nichts gegen ihn ausrichten. Nicht, ohne alles zu riskieren, was mir etwas bedeutet. Aber auf die Zukunft habe ich Einfluss. Ich kann einen anderen wie ihn aufhalten.
Mein Blick geht zum Handgelenk. Fünfeinhalb Minuten für die letzte Meile. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.
Ich habe alles im Griff. Morgen wird die Macht wieder kontrolliert und überwacht.
Vier Uhr nachmittags, und Hanson sitzt schon an der Theke. Ich hatte ihn gar nicht als Trinker in Erinnerung, damals in Quantico. Womöglich war er es da auch noch nicht. Womöglich hat er es nur gut versteckt.
Ich schiebe die Tür auf, und eine Glocke bimmelt blechern. Der Laden ist eine Absteige. Eng und düster, Neonschilder an der Wand, zwei Billardtische, beide besetzt. Journey läuft im Hintergrund. Er sitzt am anderen Ende der Theke, vor sich ein Glas, noch fast voll.
Ich gehe zu ihm, spüre die Blicke ringsum, ignoriere sie. Ich weiß, ich falle auf wie ein bunter Hund. Schwarzer Hosenanzug, hohe Absätze, maßgeschneiderter Wollmantel. In D. C. gibt es unzählige Bars, die so ein Publikum anziehen. Aber diese gehört nicht dazu.
»Hey, Hanson.«
Er dreht sich um. Um die Mitte ist er fülliger als beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben, und die Haare sind schütter geworden. Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. »Maddox. Also, was sagt man dazu!«
Er steht halb auf, beugt sich zu einer linkischen Umarmung nach vorne. Linkisch, weil wir uns seit Jahren nicht gesehen haben. Und weil ich mich nicht daran erinnern könnte, dass wir uns überhaupt jemals umarmt haben. Früher, während unserer Ausbildung, hätte er mich vermutlich mit einem kollegialen Klaps auf den Rücken begrüßt.
Er wird rot, als ginge ihm gerade auf, wie deplatziert diese Umarmung war. Als wäre ihm, leider zu spät, aufgegangen, dass wir nicht mehr auf Augenhöhe sind. Eigentlich sind wir nicht einmal mehr Kollegen. Jedenfalls nicht richtig. Ehemalige Bekannte vielleicht.
Ich wende den Blick von seinem hochroten Gesicht, streife den Mantel ab, rutsche auf den Hocker neben ihm. Kaum sitze ich, kommt die Barkeeperin zu mir.
»Was darf’s denn sein?«, fragt sie, stützt sich auf die Theke und beugt sich zu mir nach vorne. Sie hat ein Tattoo am Handgelenk. Ein mit Stacheldraht umwickeltes Herz. Mein Blick geht von dort zu ihrem Gesicht, das eigenartig unbedarft und unschuldig wirkt.
»Nur ein Wasser, danke.«
Sie geht wieder, und ich wende mich wieder Hanson zu.
»Lange ist’s her«, sagt er, jetzt wieder beherrscht.
»Das kannst du laut sagen.«
»Ich habe gehört, du bist jetzt auch im Hauptquartier. Aber wir sind uns noch gar nicht über den Weg gelaufen.«
»Bis jetzt.«
»Als Erste aus unserer Klasse in die erlauchten Kreise aufgestiegen, was?« Er hebt das Glas, trinkt einen langen Schluck. Lässt mich dabei nicht aus den Augen.
»Könnte man so sagen.«
Eine Handvoll ehemaliger Klassenkameraden sind inzwischen leitende Sonderermittler, genau wie Hanson. Aber ich bin die Erste, die es noch weiter gebracht hat. Leiterin einer eigenen Abteilung im Hauptquartier. Wenn auch bloß einer kleinen. Dienstaufsicht.
Die Barkeeperin stellt mir wortlos ein Glas Wasser vor die Nase und geht wieder.
»Wie geht’s dir?«, fragt Hanson.
Ich nippe an meinem Wasserglas, stelle es behutsam zurück auf die Theke. Drehe mich zu ihm um. Er ist alt geworden in den letzten zehn Jahren. Man sieht ihm das Alter an. Aber ich sehe immer noch den Kerl, der in dem Kurs Beweisaufnahme neben mir gesessen hat. Meinen Sparringspartner beim Training.
»Bist du dir darüber im Klaren, dass Ermittlungen wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung gegen dich eingeleitet wurden?«
Die freundliche Miene verfliegt. Erstaunt macht er den Mund auf und klappt ihn schnell wieder zu. Sein Gesicht ist versteinert. Als hätte man einen Schalter umgelegt. »Darum bist du hier?«
»Sie ist deine Untergebene, Hanson.«
»Das ist alles an den Haaren herbeigezogen.«
»Das ist alles wahr. Das weißt du. Und ich weiß es auch.«
Er guckt weg und reckt trotzig das Kinn. Lange sagt keiner mehr ein Wort. Hinter der Theke höre ich Gläserklirren.
»Mein Wort gegen ihrs«, brummt er.
Ärger beginnt in mir aufzuflammen. »Ach ja?«
»Für so einen Scheiß könnt ihr mich nicht vor die Tür setzen.«
»Und wie wäre es mit Arbeitszeitbetrug?«
Seine Lippen zucken kaum merklich. Ich sehe, wie er kämpft, sich nichts anmerken zu lassen.
»Ich habe seit einer Woche einen Agenten auf dich angesetzt. Ich weiß ganz genau, wie viele Stunden du gearbeitet hast. Und für wie viele Stunden du bezahlt wurdest.«
Sein Blick ist stechend, doch dahinter sehe ich Verunsicherung aufblitzen.
»Und ich weiß, dass du deine Waffe noch trägst.« Nickend weise ich auf die Ausbeulung an seiner Hüfte. »Ich weiß, dass du mit deinem Dienstwagen hergekommen bist und dass das schon dein zweites Glas Bourbon ist.«
»Was zum Teufel soll das, Maddox?«
Ich sage kein Wort.
»Wir waren mal Freunde.«
Er wartet. Atmet schwer. Seine Nasenflügel blähen sich leicht mit jedem Atemzug.
Ich beuge mich zu ihm vor. »Ich sage dir, was jetzt passiert. Du gibst mir deine Marke und deine Waffe und deine Schlüssel. Und gleich morgen früh spazierst du ins Hauptquartier und quittierst den Dienst.«
Er schnaubt abfällig. »Und wenn nicht?«
Mein Blick geht zur Tür, und ich nicke unauffällig dorthin. »Siehst du die beiden Typen da hinten?« McIntosh und Flint stehen links und rechts der Tür und beobachten uns. »Die beiden arbeiten für mich. Und sie warten nur darauf, eine kleine Szene zu machen. Jetzt und hier. Alkoholtest, Handschellen, das ganze Gedöns.«
»Schwachsinn.«
»Willst du wetten?«
Er guckt zur Tür und dann in seinen Drink. Das Glas ist fast leer. Seine Finger haben sich fest darum geschlossen. An der linken Hand sehe ich die blasse Rille, wo sein Ehering sonst sitzt.
»Deine Karriere ist vorbei, Hanson. Ich gebe dir die Gelegenheit, heimlich, still und leise zu verschwinden. Stell dich den Konsequenzen für die Belästigung, und das hier« – ich zeige mit dem Kinn auf den Bourbon – »kommt nicht mehr zur Sprache. Und deine Betrügereien auch nicht.«
»Ich habe Familie«, protestiert er. »Frau und Kinder. Eine Hypothek. Du kannst mich doch nicht so fertigmachen.«
Bon Jovi spielt im Hintergrund. »Livin’ on a Prayer«. Wie passend. Ihm hilft wohl auch nur noch beten. »Deine Entscheidung, wie es jetzt weitergeht.«
Wütend starrt er mich an. Dann nimmt er seine Marke und knallt sie zwischen uns auf den Tresen.
Der Kirschbaum vor meinem kleinen rotbraunen Sandsteinhäuschen ist voller Knospen. Aberdutzende zartrosa Perlchen, fest geschlossen wie winzige Fäuste. In ein, zwei Wochen werden sie in voller Blüte stehen. Die ganze Stadt verwandelt sich in ein rosa Blütenmeer. Und ein Touristenmeer. Die verstopfen dann die sonst so ruhigen Wege rund um das Tidal Basin. Und ehe man sichs versieht, sind die Blüten wieder verblüht, der Farbrausch ist verschwunden, die Wege sind menschenleer.
Meine Absätze klackern auf den Steinplatten, als ich die Treppe zum Haus hinaufgehe. Langsam, schwer, müde.
Ich drehe den Schlüssel im ersten Schloss, dann im zweiten. Gehe rein, mache die Tür hinter mir zu und schließe sie ab. Dann bleibe ich einen Moment im Flur stehen. Die Alarmanlage an der Wand leuchtet grün. Ausgeschaltet. Es ist still im Haus. Ich lausche auf Geräusche, irgendwelche, aber höre nichts. Gewöhn dich schon mal daran, sage ich mir.
»Zachary«, rufe ich die Treppe hinauf. »Ich bin wieder da.« Für seine Freunde heißt er Zach, schon seit Jahren. Aber für mich wird er immer Zachary bleiben. Eigentlich hatte ich mir geschworen, das nicht zu tun. Ich wollte nicht werden wie meine Mom. Der einzige Mensch, der mich noch Stephanie nennt. Aber wenn ich ihn so ansehe, sehe ich keinen Teenager. Ich sehe meinen kleinen Jungen. Es geht so schnell, haben alle mich gewarnt. Und zuerst wollte ich es gar nicht glauben. Inzwischen weiß ich, wahrere Worte wurden nie gesprochen.
Ich warte noch einen Moment und lausche angestrengt, aber es bleibt alles still. Ich hänge meinen Mantel auf, lasse Schlüssel und Handtasche auf den Tisch im Flur fallen und gehe in die Küche. Im Hereinkommen knipse ich das Licht an. Das Licht von der Beleuchtung über der Kücheninsel flutet den Raum, wird zurückgeworfen von dunklem Granit und Edelstahlflächen. Eine voll ausgestattete Profiküche. Rundum erneuert, als Zachary in der Mittelstufe war. Perfekt für ambitionierte Hobbyköche. Und kaum benutzt.
Ich stelle eine braune Papiertüte auf die Kochinsel. Thailändisch, sein Lieblingsessen. Ich habe ihm vorhin geschrieben und ihm gesagt, dass ich uns was mitbringe. Damit er nicht schon gegessen hat, wenn ich abends nach Hause komme, wie sonst meistens. Ich hatte Hunger, Mom, sagt er dann immer. Ich konnte nicht so lange warten. Und dann bleiben mir bloß noch ein paar kostbare Minuten zwischen Tür und Angel, um mich ein bisschen mit ihm zu unterhalten.
Das Essen ist ein Bestechungsversuch. Ich mache mir da keine Illusionen. Ich bin eine FBI-Agentin, die ihren eigenen Sohn mit thailändischem Essen zu bestechen versucht. Aber ein gemeinsames Abendessen bedeutet gemeinsam verbrachte Zeit. Kostbare, kostbare gemeinsame Zeit.
Ich gehe zum Kühlschrank, mache ihn auf. Spärlich bestückt, hauptsächlich mit Getränken. Wasser in Plastikflaschen, ordentlich aufgereiht. Darunter bernsteinfarbene Glasflaschen, alles India Pale Ale. Ich nehme eins davon, das hopfigste von allen. Schließe die Tür, lasse den Kronkorken zischen, trinke einen großen Schluck. Ich spüre, wie etwas von der Anspannung aus meinem Hirn weicht. Hanson hat sich das selbst eingebrockt. Gar keine Frage. Macht, kontrolliert und überwacht.
Ich höre, wie Zacharys Zimmertür oben aufgeht. Seine Schritte im Flur oben. Wie er die Treppe herunterpoltert. Als kleiner Junge ist er immer heruntergestürmt wie ein kleiner wild gewordener Büffel. Als hätte er keine Zeit, langsam zu machen. Als hätte er es eilig, immer eilig. Mit dem Alter ist er ein bisschen behäbiger geworden, aber er klingt immer noch wie eine Büffelherde. Vielleicht, weil er so groß ist. Größer als ich. Oder ich höre immer noch, wie es früher klang.
So oder so, ich werde das Gepolter vermissen. Eine Hand auf dem Geländer kommt er schwungvoll um die Ecke. In Jeans und schmuddeligem T-Shirt, mit nackten Füßen. Ein leichter Bartschatten im Gesicht, nur ein Hauch, der seltsam deplatziert wirkt. Wie ein kleiner Junge, der sich als Mann verkleidet hat. Ich muss mir selbst immer wieder sagen, dass er ein Mann ist. Na ja, beinahe jedenfalls.
»Hi, Schätzchen. Wie war dein Tag?« Meine Stimme klingt aufgesetzt fröhlich. Viel zu bemüht. Ich bin zu bemüht.
Er merkt es sofort. Misstrauisch beäugt er mich, als ginge ihm gerade auf, dass das mitgebrachte Essen nur ein Vorwand für erzwungene Geselligkeit ist. »Gut.«
Ich wünschte, ich könnte zurückspulen, noch mal von vorne anfangen. Stattdessen ziehe ich den Blazer aus. Falte ihn ordentlich. Lege ihn über die Lehne des Barhockers. Streiche meine Bluse vorne glatt, rücke das Pistolenholster an der Hüfte zurecht.
Als Zachary noch klein war, habe ich beim Nachhausekommen immer als Allererstes meine Waffe weggeschlossen. Noch bevor ich ihn umarmt und geküsst habe. Ich habe die Glock im Safe in meinem Schlafzimmer verstaut, weil ich nicht wollte, dass er mich damit sieht. Weil ich nicht wollte, dass Waffen zu unserem Alltag gehören. Dann habe ich die Sachen ausgezogen, die ich bei der Arbeit anhatte, wo ich tagtäglich mit Kriminellen zu tun habe. Als könnte ich sie damit irgendwie fernhalten.
Aber nun ist er älter. Er weiß, dass ich eine Waffe trage, und es kümmert ihn nicht. Er interessiert sich nicht die Bohne für Waffen. Und Kriminelle finden immer einen Weg. Ganz gleich, wie gut man sich auch zu schützen versucht. Habe ich das nicht am eigenen Leib erfahren müssen?
Ich hole Teller aus dem Küchenschrank und stelle sie neben unser Essen. »In der Schule alles gut?«, erkundige ich mich so beiläufig wie möglich.
Er geht zur Kochinsel und kramt in der Papiertüte. Zieht eine Plastikschale heraus und dann noch eine. Pad Thai und Panang Curry. Wie immer.
»Ja.«
Ein-Wort-Sätze. Mehr bekomme ich kaum noch aus ihm heraus. Schon lange nicht mehr. Und wenn wir ausnahmsweise doch mal miteinander reden, ist er immer mürrisch und verstockt.
Das wird wieder. Immer wieder versuche ich mir das einzureden. Das ist einfach eine Phase. Die Pubertät halt. Das kommt schon wieder hin. Bestimmt wäre es einfacher, wenn ich Mutter eines Mädchens wäre. Oder Vater eines Jungen. Vielleicht wäre er dann ein bisschen unbefangener. Mehr er selbst. Weniger zurückhaltend, weniger unbehaglich.
Ich habe Zachary mit seinen Freunden gesehen. Mit all diesen Kids, die für mich Fremde sind. Obwohl ich sie früher mal gekannt habe. Damals, als sie noch klein waren. Auf dem Parkplatz der Schule, auf Fotos in den sozialen Medien. Mit ihnen ist mein Sohn ganz anders. Aufgeschlossen, fröhlich. Einnehmend sogar. Er ist Präsident des Computerclubs, sitzt in der Schülervertretung, hat super Noten. Nach der Schule arbeitet er nebenbei für ein Tech-Start-up. Er schreibt all ihre Programme, ist einfach klasse. Aber so verschlossen, wie er mir gegenüber immer ist, würde man das nie vermuten.
Er schaufelt Reis auf seinen Teller, drei viel zu volle Löffel. Dann guckt er zu mir rüber. Die Haare fallen ihm in die Augen. Er müsste dringend zum Friseur, aber das sage ich ihm nicht. Nicht jetzt. »Bei dir? Alles gut bei der Arbeit?«
»Ja. Wie immer. Du weißt schon.« Ich versuche, meine Antwort knapp und vage zu halten. Er will keine Einzelheiten hören, genauso wenig, wie ich sie ihm erzählen möchte. Ich möchte über ihn reden. Hören, wie es ihm geht. Ich löffele Nudeln auf meinen Teller, während er Curry auf seinen Reis schichtet. Dann tauschen wir wortlos die Essensschalen. Wir können das im Schlaf. Das macht die jahrelange Übung.
»Hast du heute was gehört?«, erkundige ich mich. Er hat all seine College-Bewerbungen verschickt. Jetzt heißt es abwarten. Für ihn genauso wie für mich. Ich warte darauf zu erfahren, wie weit von zu Hause weg er sein wird. Fürchte den Tag, an dem er endgültig geht und mich als siebenunddreißigjährige Empty-Nesterin zurücklässt.
»Nö.« Er stellt die Schale mit dem Pad Thai ab und geht mit Teller und zwei Gabeln um mich herum ins Wohnzimmer.
Ich hole zwei Flaschen Wasser aus dem Kühlschrank und tappe hinterher. »Bestimmt bekommst du bald Bescheid.« Ich schlüpfe auf den Stuhl ihm gegenüber, lege mein Arbeitshandy vor mich auf den Tisch. Dann fangen wir schweigend an zu essen.
Der Tisch ist zu groß nur für uns beide und fast leer. Es ist ein schöner Tisch, schwer und aus Mahagoni, mit acht Stühlen. Er sieht immer noch aus wie neu, obwohl er schon seit Jahren hier steht. Ich kann mir selbst nicht erklären, was mich geritten hat, einen derart überdimensionierten Tisch zu kaufen. Kurz vermisse ich unseren alten, zerkratzten Eichentisch. Ich sehe noch die vielen Basteleien und Bilder und Hausaufgaben, die immer kreuz und quer darauf verstreut lagen. Die Plastik-Laster und Fußbälle, die auf dem Boden herumrollten. Die Stühle, die immer schief standen.
Wie habe ich es gehasst, in diesem ständigen Chaos zu leben, als er noch klein war. Die dauernde Unordnung, der Lärm, das Durcheinander. Eines Tages wird es dir fehlen, hat meine Mom mir immer gesagt, aber ich habe nur die Augen verdreht. Tja. Sie sollte recht behalten. Damals war das Haus voller Leben. Nun habe ich das Haus, das ich mir immer gewünscht habe, das aussieht wie aus einer Wohnzeitschrift, und ich würde es ohne zu zögern eintauschen gegen Chaos, Krach und Krawall.
Er isst zu schnell, schaufelt das Essen stumm in sich hinein. Ich sollte etwas sagen. Ihn ermahnen, gerade zu sitzen. Tischmanieren einfordern. Das ist schließlich meine Aufgabe als Mutter. Und außerdem, wenn er so weitermacht, ist er gleich fertig, und dann verzieht er sich für den Rest des Abends in sein Zimmer. Dabei ist unsere gemeinsame Zeit ein kostbares, zerbrechliches Gut. Ich will nicht alles kaputt machen, weil ich mit ihm schimpfe.
Ich esse einen Bissen Curry und überlege krampfhaft, was ich ihn sonst noch fragen könnte, um die Unterhaltung in Gang zu halten – oder wie auch immer man das nennen soll. »Von welcher Uni wirst du als Erstes hören, was meinst du?«, frage ich.
»Maryland«, murmelt er mit vollem Mund. Er schaut nicht auf, sieht mich nicht an. University of Maryland. Ich würde mich schrecklich freuen, wenn er dort hinginge. In der Nähe von D. C., nicht weit von zu Hause Aber wir wissen beide, dass er sich nur mir zuliebe dort beworben hat. Berkeley ist seine erste Wahl. Berkeley. Auf der anderen Seite des Kontinents. Er will weg von hier, irgendwo ganz neu anfangen. Und ich kann es ihm nicht verübeln – ich kann nur den Gedanken nicht ertragen, dass er vielleicht nie wiederkommt.
Nach dem College will er Jura studieren. Anwalt werden. Wenn man mich fragt, stehen die auf der falschen Seite des Rechts. Aber ich werde noch genug Zeit haben, ihm ins Gewissen zu reden. So oder so ist es schön, dass er in meine Fußstapfen tritt. Zumindest ein bisschen.
Es wird wieder still, und wir essen schweigend weiter. Ich muss was anderes ausprobieren, ein neues Gesprächsthema suchen, etwas, womit ich ihm mehr als Ein-Wort-Sätze entlocken kann.
»Wie läuft’s mit dem Computerclub?« Das mit diesem Club habe ich nie verstanden. Ein Einsiedlerhobby. Ungesellig. Wieso braucht es da einen Club?
»Programmierclub«, korrigiert er entnervt. Aber ich schwöre, der Name ändert sich ständig. Im ersten Jahr drehte sich alles um Robotik, dann um Codierung. Einmal erwähnte er sogar was von Hacking. Ethischem Hacking, was auch immer das bedeuten soll. So was gibt es nicht – Hacking ist immer falsch, habe ich ihm damals gesagt. Das ist eine Grauzone, hatte er mit einem Blitzen in den Augen widersprochen.
»Also gut, Programmierclub. Wie läuft’s mit dem Programmierclub?«
»Ich hab hingeschmissen.«
»Wie bitte?«, frage ich. Ich muss mich verhört haben.
»Ich hab hingeschmissen.«
Die Gabel verharrt vor mir in der Luft. »Wann, heute?«, frage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ich verstehe das nicht.
»Vor ein paar Monaten.«
Vor ein paar Monaten? Wieso weiß ich nichts davon? »Warum hast du mir denn nichts gesagt?«
»Du hast mich nicht danach gefragt.«
Wie hätte ich denn auch danach fragen sollen? Ich stiere ihn durchdringend an, doch er weicht meinem Blick aus. Er ist ganz aufs Essen konzentriert, verschlingt es in großen Bissen. In meinem Kopf drehen sich die Rädchen, rund und rund, ohne irgendwie weiterzukommen. »Aber du mochtest den Club doch immer so.«
Er verzieht die Lippen zu einem schiefen Lächeln, das fast höhnisch wirkt. »Ich bin ein guter Schauspieler.«
Ein seltsames Gefühl durchfährt mich. Ein Schwindel, als würde ich diesen Menschen hier vor mir gar nicht kennen, obwohl er mir wichtiger ist, als je ein Mensch es war oder sein könnte. Ich sehe zu, wie er sich noch eine Gabel Essen in den Mund stopft. »Warum?«
Er zuckt die Achseln, und ich spüre die Wut in mir aufsteigen. Das hier ist viel zu wichtig für ein verächtliches Achselzucken.
»Warum, Zachary?«
Er schaut auf. »Ich habe das nur für die College-Bewerbungen gemacht. Als ich die alle verschickt hatte …« Wieder zuckt er mit den Schultern.
Erst jetzt merke ich, dass meine Gabel immer noch über dem Teller in der Luft schwebt. Langsam lege ich sie beiseite. Ich wage es kaum, die nächsten Worte laut auszusprechen. »Und was ist mit all den anderen AGs? Was ist mit der Schülervertretung?«
Er zuckt die Achseln und weicht meinem Blick aus, aber die Antwort ist eindeutig.
»Zachary«, keuche ich. So habe ich ihn nicht erzogen. Bei mir hat er das nicht gelernt. Ganz sicher nicht. »Du kannst doch nicht einfach alles so hinschmeißen. Du hast dich dazu verpflichtet. Du trägst Verantwortung.«
»Kein Ding, Mom.«
»Und wie das ein Ding ist.«
Sein Teller ist fast leer, und wie er dasitzt, sprungbereit, weiß ich, er wird jeden Augenblick aufstehen und aus dem Zimmer stürmen. Nachschlag wird er sich keinen nehmen. Unser Mutter-Sohn-Abendessen ist so gut wie beendet.
»Was, wenn das College nachhakt?«, frage ich leise.
»Es war ja nicht gelogen. Alles, was in meiner Bewerbung steht, habe ich tatsächlich gemacht.«
»Zachary, das ist eine ernste Angelegenheit.«
Er hält meinen Blick, fast trotzig, und sagt kein Wort.
»Dafür könntest du eine Absage kassieren«, fürchte ich.
»Das Schuljahr ist beinahe um.«
»Du setzt alles aufs Spiel, wofür du so hart gearbeitet hast.«
Die aufgeladene Stille knistert zwischen uns. Schließlich wendet er sich ab, und in dem Augenblick, bevor er wegguckt, wirkt er irgendwie ein bisschen zerknirscht. Und plötzlich ist er wieder ein Vorschulkind, und ich sehe ihn in der Küche auf der Trittleiter stehen. Überall auf der Arbeitsplatte ist Milch verschüttet, daneben liegt ein umgekippter Pappbecher. Ich sehe noch ganz genau die großen, traurigen Augen, das bebende Kinn. Höre das dünne Stimmchen. Tut mir leid, Mommy.
»Wir reden mit der Schule. Bitten sie, dich wieder in den Computerclub aufzunehmen«, erkläre ich bestimmt. Dasselbe Gesicht wie damals als kleiner Junge, wenn er eine Schweinerei gemacht oder ein Spielzeug kaputt gemacht oder seine Hausaufgaben vergessen hatte und ganz zerknirscht war. Schon gut, Zachary. Ich bringe das wieder in Ordnung.
»Meinst du, das geht?« Er sieht mich an. Keine Spur mehr von Zerknirschung. Oder habe ich mir das eben nur eingebildet? Weil ich glaubte, es müsse ihm leidtun? Was ich tatsächlich sehe, ist Frustration. Als wolle er meine Hilfe nicht annehmen, wüsste aber, dass ihm keine andere Wahl bleibt.
»Wir tun, was wir können.«
»Ich gehe dann mal Hausaufgaben machen.« Er schiebt den Stuhl vom Tisch zurück.
»Okay«, murmele ich, aber da ist er längst aus dem Zimmer.
Ich höre das Wasser in der Küchenspüle laufen, das Geschirrklappern, als er seinen Teller in die Spülmaschine stellt. Dann die Schritte, als er die Treppe hochsprintet. Die Zimmertür, die hinter ihm zufällt.
Und dann ist alles wieder still.
Eine Stunde später ist die Küche auf Hochglanz poliert, und die Spülmaschine summt leise vor sich hin. Den Hosenanzug habe ich gegen Sportklamotten getauscht. Nun bin ich auf dem Weg nach unten ins Wohnzimmer. Es ist ein heller Raum: weiße Zwei- und Dreisitzer-Couch, flauschiger weißer Teppich auf Holzdielenboden, Couchtisch und Beistelltische mit Glasplatte, in der Ecke ein Laufband. Auf dem Couchtisch steht ein antikes Schachbrett, das schon meinem Großvater gehörte. Darauf eine begonnene Partie. Zachary ist am Zug – zumindest war er das. Das Brett steht nun schon seit zwei Wochen unangerührt da.
Früher haben wir oft gegeneinander gespielt. Das war unser Ding. Aber die Partien werden immer seltener, mit immer größeren Abständen dazwischen. Das letzte halbe Dutzend habe ich verloren. Und er hat das Interesse verloren. Hat mir gesagt, er spiele lieber online. Fing an, von Programmierung zu erzählen, und den Vorteilen computerisierter Spiele. Und ich habe nur noch Bahnhof verstanden bei dem ganzen technischen Jargon.
Ich muss diese Partie gewinnen.
Ich gehe aufs Laufband, schalte es ein, wähle meine gewohnten Einstellungen. Zuerst langsam warmlaufen. Ich starre auf das Schachbrett, wie so oft in den vergangenen beiden Wochen. Er wird den Turm ziehen, überlege ich. Auch wenn der dann geschlagen wird. Sein Läufer steht günstiger. Würde ich zumindest so machen.
Ich nehme die Fernbedienung und schalte den Fernseher ein, der über dem Kamin an der Wand hängt. Nachrichten, eine Story über Russland. Immer irgendwas mit Russland, seit sie vor ein paar Jahren diese Schläferzelle hochgenommen haben. Diesmal geht es um Wahlkampfbeeinflussung. Scheint gerade das Thema zu sein.
Das Bild wechselt zu einer Anhörung im Senat. Halliday leitet die Befragung, Jackson ist im Zeugenstand. Ich will das nicht sehen, nicht jetzt. Ich erhöhe das Tempo, schalte um auf einen anderen Sender. Eine Kochsendung. Schalte noch mal um. Eine dieser Dating-Shows. Schließlich knipse ich den Fernseher entnervt aus und erhöhe noch mal das Tempo. Die einzigen Geräusche sind das Motorsurren und meine stampfenden Schritte.
Das Gespräch beim Abendessen kommt mir wieder in den Sinn. Zachary sollte den Unterschied zwischen falsch und richtig inzwischen kennen. Das habe ich ihm doch beigebracht. Ein unbestimmtes Unbehagen überkommt mich. Wenn er es bis jetzt nicht gelernt hat, wird er es dann je lernen? Aber mehr kann ich nicht tun. Er ist schon fast aus dem Haus.
Ich erhöhe das Tempo noch mal. Zwinge mich, schneller zu laufen, härter zu kämpfen. Ich weiß, ich bin gerade alles andere als gelassen bei der Vorstellung, dass Zachary bald auszieht. Dabei ist das doch das Normalste der Welt. Kinder ziehen aus, gehen aufs College. Eltern bleiben allein zurück. So schwer kann das nicht sein. Vielleicht wäre es was anderes mit einem Mann an meiner Seite. Jemandem, der mir die Angst vor dem leeren Nest ein wenig nimmt. Aber Mom ist die einzige Familie, die ich habe, und mit ihr kann ich nicht darüber reden. Ihr kann ich nicht sagen, wie sehr mir das zu schaffen macht. Ich kann mir ihr missbilligendes Gesicht genau vorstellen. Ich wusste, dass du das nicht hinbekommst, Stephanie.
Und mit den Kolleginnen im Bureau, mit denen ich mich hätte anfreunden können, bin ich nie richtig warm geworden. Die einen, die Familie haben, sind junge Mütter mit kleinen Kindern. Das habe ich längst hinter mir. Die anderen scheinen ausnahmslos im rosaroten Pärchenhimmel zu schweben, zu dem Singles wie ich leider keinen Zutritt haben. Dazu kommt, dass ich gegen die Ermittler ermittele, weshalb die lieben Kollegen lieber einen gewissen Sicherheitsabstand halten.
Vor Jahren habe ich mich mal Marta anvertraut. Eine langjährige Freundin, Analystin drüben bei der CIA. Einer der wenigen Menschen, denen ich vertraute – und die Einzige, der ich beinahe mein größtes Geheimnis verraten hätte. Aber das ist lange her. Das habe ich nun davon, dass ich unbedingt das Richtige tun wollte. Das hat mich meine engste Freundin gekostet. Schluss jetzt, Steph. Mit aller Macht verdränge ich den Gedanken.
Ich habe schon überlegt, mir professionelle Hilfe zu holen. In einer Psychopraxis auf der Couch sitzen, eine Schachtel Taschentücher neben mir, und einfach alles rauslassen. Und währenddessen sitzt meine Psychiaterin geduldig daneben und kritzelt ihren Block mit Notizen voll. Versichert mir, dass es okay ist, so zu empfinden. Zeigt mir Möglichkeiten auf, damit umzugehen. Aber ich kenne die Geschichten von der Arbeit. Kollegen, die sich Hilfe geholt haben, und deren Karriere daraufhin prompt ins Stocken geriet. Oder gleich ganz im Sande verlief. Und Gott bewahre, ich müsste ja ein Antidepressivum nehmen. Wie sähe das denn aus, wenn ich unter Medikamenteneinfluss stünde? Selbst wenn es vom Arzt verschriebene wären?
Aber es ist auch ganz egal. Ich kann mir nämlich sehr genau denken, was die Psychiaterin zu mir sagen würde. Ich spiele manchmal ein kleines Spiel und stelle mir vor, ich säße ihr gegenüber auf der Couch. Sie redet mit mir, gibt mir gute Ratschläge, sagt Sachen wie: Sie verlieren ihn ja nicht für immer.Ihrer Beziehung wird das guttun.Es gibt noch so vieles, worauf Sie sich freuen können.
Ich konzentriere mich auf das rhythmische Stampfen meiner Füße. Ein beruhigendes Geräusch, gleichmäßig und vorhersehbar. Laufen ist zu meiner kleinen Flucht geworden. Die beste Möglichkeit, meine Gedanken daran zu hindern, dorthin abzuschweifen, wo ich sie nicht haben möchte. Aber heute scheint es nicht zu funktionieren. Zachary ist so gut wie aus dem Haus.
Ich drücke auf Stopp und höre es piepsen. Der Motor wird langsamer, meine Schritte genauso. Erst gemächliches Joggen, dann schnelles Gehen. Ich steige ab, kurz bevor das Laufband zum Stehen kommt, und wische mir mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Ein altbekanntes Gefühl steigt in mir auf, kribbelnd wie ein Stromschlag. Eine rastlose Nervosität. Die Sorge, dass alles unaufhaltsam auseinanderbricht.
Dieses Gesicht in den Nachrichten. Zacharys höhnisches Grinsen, das ihn mir so fremd macht. Frustriert schüttele ich den Kopf, aber das Bild lässt sich nicht so einfach abschütteln.
Ich gehe in die Küche und öffne den Schrank unter der Spüle. Darin steht eine Plastikwanne mit sämtlichen Putzmitteln, ordentlich sortiert. Ich nehme die Box mit Desinfektionstüchern, ziehe eins heraus und fange an, die Arbeitsplatten zu scheuern. Obwohl sie sauber sind. Aber ein bisschen Putzen hat noch niemandem geschadet.
Danach sind die Küchengeräte an der Reihe, innen wie außen. Dann die Fußböden. Erst fegen, dann swiffern. Das mache ich immer, wenn mein Leben mir zu entgleiten droht. Ich mutiere zum Putzteufel. Die Psychiaterin hätte ihre helle Freude an mir.
Mit dem Staubwedel in der Hand gehe ich nach nebenan ins Wohnzimmer. In der Tür fällt mein Blick auf das Schachbrett, und ich bleibe stehen. Wenn hier irgendwas abgestaubt werden sollte, dann wohl das.
Ich sollte ihn bitten runterzukommen. Die Partie zu Ende zu spielen. Vielleicht würde er es sogar machen. Aber ich will nicht riskieren, ein Nein zu hören. Will mir keinen Korb holen. Und ich will nicht, dass er sich bedrängt fühlt. Besser, er kommt von selbst zu mir und sagt es mir, wenn er so weit ist.
Aber er kommt nicht. Seit zwei Wochen warte ich schon vergebens. Wird es nicht langsam Zeit, dass ich zu ihm gehe? Dann sagt er halt Nein. Und wenn schon?
Zumindest habe ich es versucht.
Ich lege den Staubwedel auf den Couchtisch und gehe nach oben, ehe ich es mir wieder anders überlege.
Seine Zimmertür steht offen, die Badezimmertür am Ende des Flurs ist dafür zu. Ich höre, wie er die Dusche aufdreht, und bin maßlos enttäuscht. Wenn er duscht, dann dauert das. Das war früher schon ein ewiger Kampf, bis ich irgendwann entnervt das Handtuch geworfen und aufgehört habe, unablässig gegen die Tür zu hämmern, während er unter der Dusche stand.
Das war’s dann mit Schachspielen. War vermutlich sowieso eine blöde Idee.
Ich drehe mich um und will wieder nach unten gehen, da fällt mein Blick durch die offene Tür in sein Zimmer. Überquellender Wäschekorb. Kleiderberge auf dem Boden. Ungemachtes Bett. McDonald’s-Becher auf dem Bücherregal, ohne Untersetzer. Hinterlässt bestimmt einen Wasserring.
Der Becher ist zu viel für mich. Erbost marschiere ich in sein Zimmer, rieche den unverwechselbaren Teenager-Mief. Gehe zum Bücherregal, wische mit der Hand den Kondensring ab. Immerhin noch kein Fleck. Mein Blick bleibt an etwas hängen – eine zusammengeknüllte Chipotle-Tüte auf dem Boden neben dem Bett. Die nehme ich auch gleich mit und klemme sie mir unter den Arm.
Abschließend schaue ich mich noch mal um. Im Hintergrund höre ich die Dusche rauschen. Wer weiß, was sonst noch für Fast-Food-Überreste in diesem Schweinestall versteckt sind. Ich bücke mich und spähe unter das Bett. Erstaunlich müllfrei. Ich schiebe ein paar Klamotten auf dem Boden beiseite, um nach darunter begrabenen Zivilisationsresten zu suchen. Nichts, zum Glück.
Danach gehe ich zu seinem riesengroßen begehbaren Kleiderschrank. Der ist vollgestopft bis obenhin. Jede Menge Polo-Shirts und Hemden, ein Anzug. In den Regalen stapeln sich Klamotten in den unterschiedlichsten Stadien fortschreitender Unordnung. Auf den oberen Brettern liegen die Sachen, die er immer anzieht: Jeans, eine Handvoll einfarbiger T-Shirts, Hoodies. Alle mehr schlecht als recht gefaltet. Die unteren Bretter sind ordentlicher: Sommershorts und Badeshorts auf dem einen Brett. Sachen, die ihm längst zu klein geworden sind, auf dem anderen.
Am untersten Regal bleibt mein Blick hängen. Darin stapelweise alte T-Shirts: Fußball, Little League und Basketball. Irgendwann hatte er die alle mal zu dem Haufen alter Klamotten gelegt, die ich in die Kleidersammlung geben wollte. Ich habe es gesehen, habe sie rausgenommen und wieder in den Schrank gelegt. Ich weiß gar nicht, warum. Vielleicht wollte ich mir nicht eingestehen, dass die Zeiten längst vorbei sind. Dass es kein Zurück gibt. Dass ich nie die Zeit haben werde, mir all die versäumten Spiele doch noch anzusehen.
Oben auf einem der Stapel liegt noch etwas. Eine braune Papiertüte, wie aus einem Fast-Food-Restaurant. Oder vielleicht ein bisschen kleiner – in solche Tüten habe ich ihm sein Pausenbrot gepackt, als Lunchboxen plötzlich out waren. Sie ist ganz nach hinten geschoben. Man kann sie fast nicht sehen.
Ich bücke mich, um mir das genauer anzuschauen. Die Tüte ist oben gefaltet und ganz zerknittert, aber leer ist sie nicht.
Ohne nachzudenken ziehe ich das Ding aus dem Regal. Schwer ist sie. Müll ist das jedenfalls nicht.
Wie sich das anfühlt, diese Form – ich weiß sofort, was das ist.
Ein entsetzlich beklemmendes Gefühl kommt in mir hoch. Als wüsste ich schon, was jetzt passieren wird, und könnte es doch nicht aufhalten. Als stünde meine Welt kurz davor, in Stücke zu zerspringen.
Ich falte die Tüte auf. Mit zitternden Fingern.
Ich öffne sie.
Ich schaue hinein. Und dann sehe ich es.
Es ist eine Pistole.
Eine Glock 26. Wie meine, nur kleiner. Eine Kleinstwaffe, leicht zu verbergen.
Zachary hat eine Pistole im Schrank.
Ungebeten steigt eine Erinnerung hoch. Etwas, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe. Wir waren im Park, Zachary und ich. Er war noch in der Vorschule. Ich saß auf einer Bank, las einen Bericht, behielt ihn dabei aber immer im Auge. Er trug eine Cordhose und ein leuchtend blaues Shirt. Stand an der großen kurvigen Rutsche, die er so liebte, und wartete. Ein kleines Mädchen mit Zöpfen drängelte sich vor. Und er schubste sie beiseite, richtig grob. Das kleine Mädchen stolperte in den Rindenmulch und brach sofort in Tränen aus. Ich sprang von der Bank, packte Zachary am Arm und riss ihn mit mir fort. Tu das nie wieder!, herrschte ich ihn an, und meine Stimme zitterte vor Angst und Entsetzen. Ich schaute mich um. Das kleine Mädchen lag immer noch auf dem Boden und heulte herzzerreißend. Seine Mutter war bei ihm und tröstete es und klopfte ihm den Mulch von den Knien. Ich bückte mich zu Zachary, fuchsteufelswild und stinksauer und gleichzeitig außer mir vor Sorge. Wie kannst du nur? Einem anderen Kind so wehzutun! Er verzog das Gesicht, seine Augen füllten sich mit Tränen, seine Unterlippe zitterte. Tut mir leid, Mommy.
Und noch eine Erinnerung. Wie ich ins Büro seines Schuldirektors zitiert wurde. Zachary war im sechsten Schuljahr, und als ich ankam, saß er da mit versteinertem Gesicht und trat mit den Absätzen trotzig gegen den Stuhl. Neben ihm ein anderer Junge mit seiner Mutter. Der Junge hatte eine blutige Nase und ein dickes Veilchen. Seine Mutter funkelte mich wütend an. Was ist passiert?, keuchte ich entsetzt und hatte nur Augen für meinen Sohn. Der zuckte bloß die Achseln, zeigte keinerlei Gefühlsregung, ließ sich nichts anmerken. Und ich musste unwillkürlich an seinen Vater denken. Was, wenn er genauso wird?
Es überläuft mich eiskalt bei der Vorstellung.
Warum zum Teufel hat Zachary eine Waffe im Schrank? Es gibt nicht den geringsten Grund, warum mein siebzehnjähriger Sohn eine Handfeuerwaffe in seinem Schrank versteckt.
Wird er gemobbt? Hat er das Gefühl, sich verteidigen zu müssen?
Wieder geht mein Blick zu der Waffe, und ich schaue sie mir etwas genauer an. Sehe mir die Ladestandsanzeige an, die kleine quadratische Erhebung, die seitlich ganz leicht herausschaut: Die Waffe ist geladen. Meine Hände zittern.
In letzter Zeit war er ziemlich abweisend gewesen, das stimmt. Fast wie ein Fremder. Aber das? Das?
Was, wenn ich ihn gar nicht kenne? Nicht mehr?
Stockend hole ich Luft, einmal, zweimal, und versuche, meine wild durchgehenden Gedanken wieder einzufangen.
Ich muss ihn anzeigen.
Ich muss die Polizei rufen, ihnen sagen, dass ich im Schrank meines Sohnes eine Waffe gefunden habe. Was bleibt mir anderes übrig?
Mein Sohn muss ins Gefängnis.
Die Dusche geht aus. Die plötzliche Stille lässt mich vor Schreck erstarren.
Ich falte die Tüte oben um. Gehe, so schnell und lautlos ich kann, aus seinem Zimmer, den Flur hinunter in mein Schlafzimmer. Schließe die Tür hinter mir. Dann in den begehbaren Schrank. Schließe auch dort die Tür.
Ich öffne den Safe, stecke die Tüte hinein, sperre ihn wieder zu, sinke matt auf den Teppich.
Zachary hat eine Pistole.
Eine geladene Pistole.
Schock und ungläubiges Entsetzen weichen langsam der Wut.
Ich starre auf die Tastatur des Safes, bis alles vor meinen Augen verschwimmt. Dann springe ich abrupt auf. Gehe aus dem Schlafzimmer, stürme blind vor Sorge und unbändiger Enttäuschung zu seinem Zimmer. Hämmere gegen die Tür, fester als nötig, die Hand zur Faust geballt.
Wie kannst du nur?
»Ja«, brummt er gedämpft durch die Tür. Dieselbe einsilbige Antwort, die ich immer bekomme, wenn ich anklopfe. Die Intonation, die so viel bedeutet wie komm rein.
Ich mache die Tür auf. Im Schneidersitz hockt er auf dem Bett, vor sich ein aufgeschlagenes Lehrbuch. Blaue Schlafanzughose und blaues T-Shirt. Nackte Füße. Nasse Haare.
»Zachary, ich muss mit dir reden.«
Er schaut mich an, gänzlich ungerührt. Wartet, dass ich etwas sage.
»Was denn?«, fragt er schließlich.
»Tja, was meinst du wohl?« Meine Stimme trieft nur so vor Sarkasmus. Ich bin ganz krank vor Sorge und kann nicht mehr geradeaus denken.
Wieder Schweigen. Durchdringend sieht er mich an. Misstrauisch fast.
Er hat die Augen seines Vaters.
Der Gedanke ist wie eine Ohrfeige. Wie jedes Mal, wenn ich an ihn denke. Schon als er noch ein kleines Baby war. Denn er ist mein Sohn. Ich habe ihn großgezogen. Ich ganz allein.
Ich sehe den kleinen Jungen, der immer vor Freude strahlte, wenn ich ihn aus der Kita abholte. Der angelaufen kam und seine kleinen Ärmchen um meinen Hals schlang und mir feuchte Küsse ins Gesicht drückte. Ich sehe den klebrigen Löwenzahnstrauß, den er auf dem kleinen Rasenstück hinter dem Haus für mich gepflückt hat. Die Karte, die er mir ganz stolz zum Muttertag überreicht: ein zerknittertes Blatt Bastelpapier mit kritzeligen Wachsstiftherzen.
Mein Zachary. Mein süßer kleiner Junge.
Mein Junge hat doch keine Waffe im Schrank.
Aber da lag eine Pistole in seinem Schrank.
»Du verheimlichst mir was, Zachary.« Die Ermittlerin in mir sagt diese Worte, während die Mutter in mir sie noch anzweifelt. Was, wenn es gar nicht stimmt? Was, wenn es eine andere Erklärung dafür gibt?
Was, wenn es gar nicht seine ist?
Er wendet den Blick nicht von mir. Fängt an, sich ungerührt die Haare trocken zu rubbeln.
»Und ich weiß auch, was.« Wieder übernimmt die Ermittlerin das Reden. Die Mutter erwartet eigentlich, dass er verdattert alles abstreitet.
Natürlich ist das nicht seine Waffe. Das kann gar nicht sein.
Er wird kreidebleich. Guckt betreten weg.
Nein.
Als er mich wieder ansieht, steht ihm das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben.
Mist.
Die Ermittlerin fühlt sich bestätigt in ihrem Verdacht. Die Mutter ist am Boden zerstört.
Fassungslos starre ich meinen Sohn an.
Zachary! Was hast du nur getan?
Ich zucke zusammen, als das schlechte Gewissen in seinem Blick sich zu Trotz verhärtet. »Ich habe keine Ahnung, was du da redest, Mom.«
Lüg mich nicht an. »Doch, das hast du.«
Schweigen. Er hält meinem Blick stand, sagt kein Wort. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Wie das seines Vaters.
Ich strecke die Hand aus, halte mich am Türrahmen fest. »Sag mir, wofür du sie brauchst.«
Er runzelt die Stirn. »Was?«
»Die Pistole.«
Er blinzelt. »Wovon redest du?«
»Wofür brauchst du eine Pistole, Zachary?«
»Ich habe keine Ahnung, was du da redest.«
»Blödsinn.« Trotzdem bin ich verunsichert. Er wirkt ehrlich perplex. Aber in Gedanken sehe ich wieder dieses höhnische Grinsen beim Abendessen. Ich bin ein guter Schauspieler.
»Hast du Angst vor irgendwem?«, frage ich.
»Nein!« Die Falten auf der Stirn werden steiler. Er wendet den Blick von mir, sieht sich ratlos im Zimmer um. Hilflos beinahe. Als suche er eine Antwort, eine Erklärung. Als wüsste er überhaupt nicht, was hier los ist.
Kein einziges Mal geht sein Blick zum Schrank. Würde er nicht dorthin schauen, wenn er wüsste, dass die Waffe da drinliegt? Wäre das nicht ein ganz willkürlicher Reflex? Eine instinktive Reaktion?
Ich bin ein guter Schauspieler. »Sag mir einfach nur, warum«, hake ich nach.
»Warum glaubst du mir denn nicht?« Er lässt das Handtuch fallen. Klappt erbost sein Lehrbuch zu. Sieht mich noch erboster an.
Die Frage trifft mich. Der verratene Blick trifft mich. Ich bin seine Mutter. Wenn ihm einer glauben sollte, dann ich.
Aber irgendwas versteckt er. Ich habe es ihm doch angesehen, das schlechte Gewissen.
»Zachary, sag mir einfach die Wahrheit.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.« Sein Blick wirkt aufrichtig. Seine Stimme klingt aufrichtig.
Aber er hat selbst gesagt, er ist ein guter Schauspieler. Er hatte genügend Zeit, sich von meiner ursprünglichen Anschuldigung zu berappeln. Sich auf weitere Fragen einzustellen. Ich habe Meisterlügner befragt. Ich weiß, wie überzeugend sie klingen können.
Tatsache ist, da lag eine Waffe in Zacharys Schrank. Und wenn es seine ist, wenn er vorhat, jemandem damit etwas anzutun, dann muss ich zur Polizei gehen.
Aber was, wenn nicht?
Was, wenn er wirklich, ehrlich nichts von der Pistole weiß? Seine Freunde kenne ich schon lange nicht mehr. Ich weiß nicht mal, wer in letzter Zeit alles hier war.
Was, wenn es das ist, was er mir verheimlicht? Dass er sich mit Leuten abgibt, mit denen er besser nichts zu tun haben sollte. Dass er sie sogar heimlich mit nach Hause gebracht hat.
»Mom?«, fragt er.
Wir starren einander an. Ich wünschte, ich wüsste, was gerade in seinem Kopf vorgeht. Ich wünschte, ich würde ihn besser kennen.
»Warum glaubst du denn, ich will mir eine Waffe besorgen?«
Mir eine Waffe besorgen. Nicht, eine Waffehaben. Seine Wortwahl entgeht mir nicht. Das sind genau die Fehler, die Menschen aus dem Konzept bringen können. Die helfen können, die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden. Ich bin ausgebildet worden, genau diese Fehler zu erkennen.
»Du wirst dieses Haus nicht verlassen, Zachary, bevor du mir nicht gesagt hast, wozu du eine Pistole hast.«
»Ich habe keine Pistole!« Er sagt das mit einem ungläubigen Lachen, als hätte ich den Verstand verloren. Er sieht mich unverwandt an, und seine Pupillen bleiben unverändert.
Ich glaube ihm.
Mein Instinkt, meine Ausbildung, alles sagt mir, dass er die Wahrheit sagt. Dass er nicht wusste, dass da eine Waffe im Schrank lag.
Aber irgendwas verheimlicht er mir. Und er hat mich angelogen. Aber die Pistole? Da scheint er aufrichtig verwirrt.
Fingerabdrücke. Ich muss die Glock mit ins Büro nehmen, sie mir genauer ansehen. Vielleicht finde ich dann raus, wer …
Unvermittelt klopft es an der Haustür. Dreimal. Laut. Ich werde stocksteif vor Schreck. Wenn jemand bei uns an der Tür ist, macht mich das immer nervös. Vielleicht liegt das an meinem Beruf. Oder an meiner Vergangenheit. Feinde gibt es, das weiß ich nur zu gut, fast überall. Und nirgends ist man wirklich sicher.
Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf, nur ganz kurz. Ich, in einem holzvertäfelten Büro. Hände auf meinen Armen. Finger, die sich in meine Haut graben.
Und dann, genauso unvermittelt, überfällt mich eine andere Erinnerung. Ich, im Auto, wie ich einen menschenleeren Highway entlangfahre, den Blick im Rückspiegel, die Hände fest am Lenkrad. Zacharys dünnes Stimmchen vom Rücksitz. Sind wir jetzt in Sicherheit, Mommy?
Wieder klopft es dreimal an die Tür. Lauter diesmal. Nachdrücklicher. Ich erwarte keinen Besuch. Und Zachary wohl auch nicht. Er zuckt bockig mit den Schultern.
»Bleib, wo du bist. Wir sind noch nicht fertig.«
Ich laufe zum Safe in meinem Schlafzimmer, nehme meine Glock heraus, vergewissere mich, dass sie geladen ist. Nehme sie mit nach unten. Ist das Paranoia? Vielleicht. Heute Abend bin ich jedenfalls nervöser als sonst.
Ein drittes Bild flackert auf. Eine Hand auf dem Rücken einer Frau. Eine Hand, die sie herumdirigiert, als gehörte sie ihm. Und alles in flackerndes blaues und rotes Licht getaucht.
Ich linse durch den Türspion. Draußen ein vertrautes Gesicht. Scott. Erleichtert atme ich aus, und die Angst weicht aus meinem Körper, macht einer anderen Anspannung Platz. Scott ist der Ermittler, mit dem ich mal zusammen war. Den ich einmal zu lieben glaubte. Damals, als Zachary noch auf der Grundschule war. Es hielt ein paar Jahre. Die längste Beziehung, die ich je hatte. Die, von der ich wünschte, sie hätte nie geendet. Einige Jahre nach unserer Trennung hat er eine Lehrerin geheiratet, mit der er inzwischen drei entzückende Kinder hat. Und er ist ein verdammt guter Ermittler.
Ich drücke auf den gelben Knopf der Alarmanlage, entriegele die Tür, öffne sie. »Scott«, sage ich. Seine Haare, früher rabenschwarz, sind mittlerweile grau meliert, und mir wird ein wenig wehmütig zumute, als ich das sehe. Ich lächele ihn freundlich an.
Er lächelt nicht zurück.
Er wirkt befangen. Ich kenne das nur zu gut. Mir geht es oft genug selbst so, wenn ich wieder einmal vor einer Haustür stehe und schlechte Nachrichten überbringen muss. Wenn ich ein Gespräch anfangen muss, das niemand führen will. Das das ganze Leben meines Gegenübers unwiederbringlich verändern wird. Ich muss an Zachary denken, und plötzlich durchzuckt mich ein Anflug von Panik. Er ist oben, er ist in Sicherheit. Aber die Pistole. Die Pistole.
»Steph«, brummt Scott mit einem Nicken. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, und ich sehe das Unbehagen in seinen Augen. Worum es auch geht, ich werde es nicht hören wollen.
»Was gibt’s?«, frage ich. Und überlege fieberhaft, wo er gerade arbeitet. Washington Field Office. Die Außenstelle in Washington. Inlandsterrorismusbekämpfung.
»Steph – es geht um Zachary.«
Es geht um Zachary.
Ich drehe und wende seine Worte. Versuche, sie zu verstehen.
Die Pistole. Scott weiß von der Pistole.
Er späht an mir vorbei ins Haus, und ich schließe die Lücke zwischen Tür und Rahmen, um ihm die Sicht zu versperren. Ohne nachzudenken, ganz instinktiv. Scotts Blick kehrt zu mir zurück, und diesmal sehe ich mehr als nur Unbehagen. Abschätzigkeit.
Diesen Blick kenne ich. Und ich kenne das dazugehörige Gefühl. Aus der Zeit, ehe ich in die interne Ermittlung gewechselt bin und noch in der Verbrechensbekämpfung gearbeitet habe. Als ich regelmäßig vor den Eltern jugendlicher Straftäter stand und mir immer sagte, ganz gleich, was ich auch falsch machte, ganz gleich, was in meinem Leben schieflief, zumindest hatte ich keinen derartigen Abschaum großgezogen.
Ich sehe diesen Ausdruck in Scotts Gesicht: Wenigstens sind meine Kinder anständige Menschen. Wenigstens habe ich sie gut erzogen.
Ich kralle mich an den Türrahmen. Lausche auf Geräusche hinter mir. Aber alles ist still. Zachary ist noch auf seinem Zimmer. Bitte bleib da oben.
»Was ist mit Zachary?«, frage ich Scott.
Sein Blick wandert wieder zu dem schmalen Spalt zwischen mir und dem Türrahmen. Dem Zugang zu meinem Zuhause. »Ist er da?«
Mir ist überdeutlich bewusst, dass er jeden Augenblick die Treppe heruntergepoltert kommen könnte. »Ja.«
»Steph – darf ich reinkommen, damit wir uns in Ruhe unterhalten können?«
Wie soll ich da Nein sagen? Warum sollte ich Nein sagen, wenn Zachary nichts ausgefressen hat?
Ich öffne die Tür etwas weiter, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt. Die kalte Luft lässt mich erschaudern. Scott kommt herein. Sieht die Waffe in meiner Hand, starrt sie an, sieht dann wieder mich an.