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Teuflischer Tod.
Es ist kurz vor Halloween, und die Teenager in Scalloway auf Shetland scheinen den Hexenkult etwas zu ernst zu nehmen. Es gibt einen Hexenzirkel, geführt vom Teufel persönlich. Cass Lynch, leidenschaftliche Seglerin, hält das alles für Aberglaube, bis sie die Tochter von Bekannten tot auffindet. War es Mord? Es wird ziemlich hart für Cass, sich des Hexenwahns zu erwehren und die realen Hintergründe der Geschichte aufzuklären. Zum Glück ist Gavin, der Detective Inspector mit dem Kilt und den freundlichen meergrauen Augen immer zur Stelle, wenn es zu gefährlich wird ...
„Ein atmosphärisch dichter Roman.“ Westfälische Nachrichten.
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Seitenzahl: 535
Marsali Taylor wurde in der Nähe von Edinburgh geboren. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren Katzen und zwei Shetlandponys an der Westküste der Shetland-Inseln.Sie war Sprach- und Theaterlehrerin und Touristenführerin, spielt Theater, schreibt für die Zeitschrift Shetland Life, gibt Segelkurse oder ist mit ihrem Segelboot unterwegs. Im Aufbau Taschenbuch Verlag erschien bisher ihr Roman »Mörderische Brandung«. Mehr Informationen zur Autorin unter www.marsalitaylor.co.uk.
Ulrike Seeberger, geboren 1952, Studium der Physik, lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort u.a. am Goethe-Institut. Seit 1987 freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug u.a. Autoren wie Philippa Gregory, Vikram Chandra, Alec Guiness, Oscar Wilde, Charles Dickens, Yaël Guiladi und Jean G. Goodhind ins Deutsche.
Teuflischer Tod
Es ist kurz vor Halloween, und die Teenager in Scalloway auf Shetland scheinen den Hexenkult etwas zu ernst zu nehmen. Es gibt einen Hexenzirkel, geführt vom Teufel persönlich. Cass Lynch, leidenschaftliche Seglerin, hält das alles für Aberglaube, bis sie die Tochter von Bekannten tot auffindet. War es Mord?
Es wird ziemlich hart für Cass, sich des Hexenwahns zu erwehren und die realen Hintergründe der Geschichte aufzuklären. Zum Glück ist Gavin, der Detective Inspector mit dem Kilt und den freundlichen meergrauen Augen immer zur Stelle, wenn es zu gefährlich wird.
»Ein atmosphärisch dichter Roman.« Westfälische Nachrichten
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Marsali Taylor
Eine Handvoll Asche
Ein Shetland-Krimi
Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger
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Über Marsali Taylor
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Anmerkung
Impressum
Gewidmet meiner Tochter Marnie
wrestin treed (n): ein Stück Schnur mit Knoten, das Hexen bei ihren Zaubersprüchen benutzen
Mittwoch, 19. Oktober
Niedrigwasser Scalloway
03:34 BST
0,5m
Hochwasser
09:53
2,2m
Niedrigwasser
15:48
0,5m
Hochwasser
22:08
2,3m
Neumond, 0.3%
Sonnenaufgang
07:51
Mondaufgang
08:00
122 Grad
Sonnenuntergang
17:43
Monduntergang
18:09
233 Grad
Die verknotete Schnur fiel unter meinem Kissen hervor. Ich bemerkte sie erst gar nicht. Ich war müde, nachdem ich den ganzen Morgen lang Gestrüpp ausgerissen und weggeschafft und mir am Nachmittag im College Vorlesungen über die Verfahrensregeln zum Ablassen gefährlicher Güter auf See angehört hatte. Ich hatte mir auf meinem kleinen Herd mein Abendessen gekocht, Kater eine Schnur vor der Nase baumeln lassen und in einem Buch gelesen, während die Herbstsonne hinter dem Berg versank. Dann war ich eine Runde in raschem Tempo spazieren gegangen, um mich vor dem Zubettgehen noch einmal aufzuwärmen. Ich hatte den Wasserkessel aufgesetzt, ihn beim ersten Piepen der Pfeife vom Gas genommen, die Wärmflasche gefüllt und sie unter meinen Schlafanzug geschoben. Ich hatte die verschossenen marineblauen Vorhänge an den langen Fenstern der Chalida zugezogen, war noch einmal im Bootsklub auf die Toilette gegangen und hatte mir dann an Deck die Zähne geputzt. Meinen dunklen Zopf hatte ich aufgelöst, so dass mir das Haar in Locken auf die Schultern fiel.
Meine Koje war die traditionelle Hundekoje des Kapitäns an der Steuerbordseite, ein langes Rechteck, das bis unter das Cockpit reichte. Das Kopfkissen war am offenen Ende unter das Federbett gestopft. Ich zog es heraus, und da kam die Schnur zum Vorschein, bewegte sich wie eine Schlange darunter hervor.
Lange stand ich wie angewurzelt und mit pochendem Herzen da, während Kater sich gleich auf die Schnur stürzte, mit ihr auf dem Boden herumrollte, sich auf den Rücken warf und die Schnur mit den Hinterbeinen trat. Es war kein Bindfaden, den ich an Bord gehabt hatte, sondern eine feine graue mehrfach zusammengedrehte Schnur, in die über die Länge verteilt fünf Knoten geknüpft waren. Ich streckte die Hand aus und nahm Kater das Ding vorsichtig aus den Krallen.
Die Schnur war etwa sechzig Zentimeter lang, und die Knoten waren einfache halbe Kreuzknoten – oder, verbesserte ich mich, nachdem ich näher hingeschaut hatte, drei waren korrekte Rechts-über-links-Knoten und zwei halbe Altweiberknoten. Ich wusste, was das war: die Alten hätten es ein wrestin treed genannt, ein Hexenzeichen, das von fünf Leuten geknüpft wurde. Jeder machte einen Knoten und murmelte dabei einen bösen Zauberspruch. Ich merkte, dass ich auf die zugezogenen Vorhänge der Chalida starrte, als wären da draußen Augen, die beobachteten, wie ich auf eine solche Boshaftigkeit reagieren würde. Einer von diesen Leuten war in mein Zuhause eingedrungen und hatte dieses Stück Gemeinheit dahin geschoben, wo es sein Gift in meinem Kopf verbreiten würde.
Aber nur falls ich an derlei Dinge glaubte, sagte ich mir. Vor sieben Jahren war ich zusammen mit einem Venezolaner auf einem Segelschiff, der auf diese Dinge schwor. Er hatte einmal beinahe einen Herzinfarkt erlitten, als ihm jemand von der Schiffsmannschaft eine solche geknotete Schnur unters Kopfkissen geschoben hatte. Ich jedoch glaubte nicht, dass Dämonen mir allein durch ein geknotetes Stück Schnur Schaden zufügen konnten. Menschliche Boshaftigkeit, das war etwas anderes. Ich rutschte in die Vorpiek und drehte den Schließhaken an der Luke fest zu, kam dann nach achtern zurück und schob die Riegel vor, die selbst im wildesten Sturm auf See das Setzbord dicht halten würden. Niemand würde in dieser Nacht ungebeten an Bord meines Schiffes kommen.
Ich nahm die Schnur erneut zur Hand. Ich war mir nicht sicher, was ich mit dem Ding machen sollte. Schließlich sprach ich ein »Vaterunser«, ehe ich jeden Knoten einzeln aufknüpfte, und ein »Gegrüßet seist du, Maria«, während meine Finger an den einzelnen Knoten arbeiteten, dann schließlich ein »Ehre sei dem Vater«. Nun lag die Schnur locker in meiner Hand. Ich verschwendete niemals Schnur – an Bord eines Schiffes werden Leinen nur im äußersten Notfall durchschnitten –, aber mit dieser Schnur würde ich kein loses Schäkel festbinden und kein Tauende versäubern. Ich zündete sie im Spülbecken an, spülte die Asche fort und ging zu Bett.
Da lag ich in meiner schmalen Koje und dachte nach, das Kinn auf die Arme gestützt, während neben mir die Kerze golden flackerte und Kater in meiner Armbeuge schnurrte. Ich war erst anderthalb Monate in Scalloway. Ich kannte natürlich meine Klassenkameraden im College und unsere Dozenten und Kate und Peter, denen ich half, ihren Garten aufzuräumen. Ich hatte mit den Frauen geplaudert, die den Laden im Ort führten. Ich war noch bei keiner Tanzveranstaltung und bei keinem Konzert gewesen und hatte auch mit niemandem eine Auseinandersetzung gehabt. Wer mochte mich so wenig, dass er mir dieses unangenehme Geschenk hinterließ? Ich konnte mir keine einzige Person vorstellen, fünf schon gar nicht.
Außerdem hatten die es gewagt, in meinen persönlichen Raum einzudringen, auf meine Chalida, in mein Zuhause, meine Zufluchtsstätte. Die Chalida war mir Gesellschaft in den lauen Nächten, in denen die Sterne über uns hingen, meine Mitreisende, wenn der Wind auffrischte und sie sich neigte, bis die Wellen ihre Leefenster umspülten. Sie war mein Abenteuer und meine Sicherheit. Sie war mein Ich, besonders jetzt, da ich gestrandet war, als Studentin in der Klasse des turbulenten North Atlantic Fisheries College. Sie erinnerte mich daran, wer ich wirklich war: Cass, die auf Masten kletterte, die im schwarzen Wasser tropischer Nächte am Ruder stand. Cass, die Planerin und die Entscheiderin.
Cass Lynch, Kapitänin ihres eigenen Schiffs.
ill (n): moralische Boshaftigkeit; Böses to do ill (vi): Böses tun ill-viket (adj): bösartig
Mittwoch, 26. Oktober
Hochwasser Scalloway
05:49 BST
1,4m
Niedrigwasser
11:53
0,7m
Hochwasser
17:57
1,5m
Mond zunehmend, letztes Viertel, 73% Vollmond
Monduntergang
01:31
253 Grad
Sonnenaufgang
08:09
Mondaufgang
15:43
102 Grad
Sonnenuntergang
17:28
Man hätte das Türenknallen über die See hinweg bis zu den Färöern hören können. Kater erstarrte neben meinen Füßen. Ich stand auf der anderen Seite der Gartenmauer und verharrte mit der Hand am altmodischen Türknauf der Gartenpforte. Wenn drinnen im Haus einer dieser Tochter-Eltern-Kämpfe tobte, wollte ich als Gärtnerin da nicht hineinrasseln. Schritte kamen über den Steinplattenweg gestampft. Kater sprang elegant in den Graben und lauerte im langen, welken Gras. Ich trat einen Schritt zurück, als die Pforte aufgerissen wurde und Annette herausgestapft kam.
Ja, es hatte Streit gegeben. Ihre Wangen waren feuerrot, ihre Augen blitzten. Der Wind ergriff ihren Schal, als sie aus dem ummauerten Garten in die Seeluft trat, und wehte eines der Enden nach oben. Sie packte es, fluchte und bemerkte dann, dass ich dort stand. Sie biss sich auf die Unterlippe, nahm ihren Schal mit äußerster Sorgfalt doppelt, fädelte die Enden durch und zog ihn sich um den Hals fest. Sie schnitt eine Grimasse, als wäre er nun zu eng, richtete sich dann endlich auf, um mich anzuschauen. Zuerst wanderten ihre Augen zu der langen Narbe, die quer über meine Wange verlief, schraken ein wenig davor zurück und huschten schließlich zu meinen Augen. »Hi, Cass.«
»Noo den«, antwortete ich im traditionellen Shetlandstil. Noo den, lass, foo’s du? Na denn, Mädchen, wie geht’s dir? Was ist los? So würde man normalerweise hier weiter fragen. Aber so vertraut waren wir nicht miteinander, und ich wollte nicht neugierig sein.
Sie trat von einem Bein aufs andere, als wäre sie sich nicht sicher, was sie sagen sollte. Sie war eines dieser Mädchen, die wie Porzellanpuppen aussehen: makelloser Teint, gezupfte Augenbrauen und perfekte Wimpern über samtbraunen Augen. Ihr Lippenstift schimmerte in einem dunklen Pflaumenblau. Sie hatte ihre übliche violette Jacke an, dazu eine schwarze Baskenmütze, die sie sich schief auf ihr blondes Haar gesetzt hatte. Von ihrem schwarzen Rock hingen Spitzenstreifen wie die langen Tentakel einer Qualle. Es war alles viel zu künstlich für einen windigen Morgen in Scalloway.
Sie schaute zu Kater hinunter, der aus dem hohen Gras geschlichen kam und mit seinem fedrigen Schwanz schlug. Ihre Miene erhellte sich. »Das ist aber eine hübsche Katze.« Sie beugte sich zu ihm hinunter und streckte ihm die Hand hin. »Komm her, miez, miez.« Kater schaute sie mit seinen gelben Augen verächtlich an. Er hatte nichts für beiläufige Liebkosungen übrig. Sie sagte beinahe zu sich selbst, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen: »Sie ist eine schöne, gesunde kleine Katze …« Sie ging in die Hocke, streckte auch noch die andere Hand nach ihm aus, als wolle sie ihn packen. Kater fauchte und trat den Rückzug an.
»Er mag es nicht, wenn man ihn hochnimmt«, erklärte ich.
Sie wandte mir den Kopf mit einem Blick zu, den ich nicht zu deuten vermochte. Es lag eine Mischung aus Trotz und Entschuldigung darin. Dann stand sie auf, und die mürrische Miene kehrte zurück. »Du bist doch zu Hause weggelaufen, nicht? Als du viel jünger warst als ich?«
»Mit sechzehn«, stimmte ich ihr zu. Ich wollte auf keinen Fall irgendwelche schrägen Ideen unterstützen, die ihr vielleicht durch den Kopf spukten. »Es war allerdings keine sonderlich gute Idee. Es geht ziemlich hart zu da draußen in der weiten Welt.«
»Aber du hast es geschafft.«
»Ich habe an Bord von Windjammern gelebt, und da hat immer jemand anders gekocht, und ich hatte keine Geldsorgen. Freie Kost und Logis, wenn man täglich ein, zwei Mal einen Mast hochkletterte.« Was immer sie sonst auch machte, ich würde meinen letzten Schäkel verwetten, dass Annette nicht zur See weglaufen würde. Zum einen stellte niemand vernünftige Kleidung für das Leben draußen auf See in ihrer Lieblingsfarbe her: Goth-Schwarz mit Spitzenrüschen. Zum anderen würde ihr elegant gekämmtes, glattes Haar im Wind auch keine fünf Minuten so bleiben.
Wieder nestelte sie an ihrem Schal herum. Als er verrutschte, sah ich, dass sie am Hals einen tiefen und mehrere kleinere Kratzer hatte, als hätte sie jemandes Katze hochgehoben und die hätte sich gewehrt, um von ihr fortzukommen. Nein, diese Male waren dafür zu groß und zu tief, und alle hatten sie ringsum den bläulichen Schatten eines Blutergusses – stammten sie von den Krallen eines Hundes? Die Familie hatte zwei Pointer, Dan und Candy, zwei liebenswürdige Herzchen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die einem Menschen an die Kehle gingen. Annette bemerkte, dass ich auf die wunde Stelle schaute, und zog rasch den Schal wieder darüber, um die Male zu verdecken. Ihre Wangen röteten sich. Sie wandte den Blick ab, fasste in die Tasche, holte ihre Handschuhe heraus, streifte sie sorgfältig Finger für Finger über und seufzte. »Die verstehen es einfach nicht!« Es kam wie ein unterdrücktes Jaulen heraus. Sie atmete stoßweise ein und fuhr dann fort: »Die ersticken mich. Warum sollte ich nicht ausgehen und Leute kennenlernen, wenn ich das möchte? Wenn ich glaube, dass die mir helfen könnten?«
»Dafür gibt es keinen Grund«, stimmte ich ihr zu. Es ging mich nichts an. Zwar klang das, was ich von ihrem Streit mit den Eltern mitbekommen hatte, nach der üblichen Teenager-Angst, aber Annette war achtzehn, hatte das dramatischste Stadium schon hinter sich und war wirklich alt genug, um aus dem Elternhaus auszuziehen. »Warum suchst du dir nicht für das Jahr zwischen Schule und Uni eine Wohnung und machst dann, was du willst?«
»Da müsste ich erst mal einen Job finden«, antwortete sie.
Ihrer Miene nach zu urteilen, würde sie sich darum nicht sonderlich bemühen, jedenfalls nicht, solange Daddy bereit war, sie zu finanzieren. Sie musste mir diesen Gedanken vom Gesicht abgelesen haben, denn sie verteidigte sich: »So leicht ist das nicht. Ich will was studieren, wo der Schwerpunkt auf Forschung liegt, also warte ich, bis ich was auf meinem Gebiet finde, als nützliche Erfahrung vor dem Studium.«
In ihrem Alter hatte ich Tische abgeräumt und Geschirr gespült, während ich auf das nächste Segelschiff wartete. Sie holte wütend Luft. »Jedenfalls finde ich, dass ich alt genug bin, um zu entscheiden, wo ich hingehe und mit wem ich mich treffe.«
Und du weißt nur zu gut, dachte ich still für mich, dass das jemand ist, den du besser nicht treffen solltest … Sie wirkte angespannt, als wäre sie wild entschlossen, eine Entscheidung zu fällen, von der sie mit Sicherheit wusste, dass sie falsch war. Ihre Augen funkelten, als der dunkelgraue BMW ihres Vaters langsam aus dem Ladysmith Drive gerollt kam und in Richtung Lerwick abbog. Dann entspannte sich ihr Gesicht, und sie sah nur noch unsicher und jung aus. Sie wandte den Blick zum Meer, biss sich auf die Unterlippe und schaute wieder zu mir. Ihre Hände nestelten erneut an ihrem Schal. »Cass, hast du je das Gefühl, du hättest schon mal gelebt? Du weißt schon, in einem früheren Leben?«
»Reinkarnation?« Ich schüttelte den Kopf. »Und du?«
»Manchmal.« Sie zog wieder an dem Schal. »Das hier – das erstickt mich.«
Ich war noch keine dreißig, aber neben ihr fühlte ich mich wie meine eigene Großmutter. »Es taugt nichts, von einem Ort wegzulaufen«, sagte ich. »Ich bin nirgendwo weggelaufen. Ich bin wo hingelaufen. Ich brauchte das Meer. Hör mal, wenn du kommen und reden möchtest, du weißt doch, wo ich wohne?« Ich drehte mich um und deutete am Strand entlang zum Yachthafen, der vor der Glas- und Kachelfassade des Fisheries College ins Meer hinausragte. »Das ist mein Boot, die Chalida, das kleine weiße Boot, auf dem noch die Segel sind. Ruf einfach vom Tor des Yachthafens rüber, dann komm ich und sperr dir auf.«
Sie schien erleichtert zu sein, als dächte sie, dass ich all ihre Probleme lösen könnte. »Das mach ich vielleicht.«
»Jederzeit«, sagte ich. »Ich bin die meisten Abende zu Hause.«
Ihre Augen wanderten von meinem Gesicht über meine Schulter hinweg und weiteten sich vor Schreck. Ich wandte den Kopf. Drei Mädchen etwa in Annettes Alter kamen auf der Strandstraße auf uns zu. Sie waren in diesem Steampunk-Stil gekleidet, einer Mischung aus Leder und Rüschen in Grau und Schwarz, ein bisschen wie auf einem Foto aus Viktorianischen Zeiten. Zu diesem Stil gehörte auch das Make-up mit borstigen Wimpern und schwarzem Lippenstift. Ich hatte die drei neben dem Laden an einer Ecke herumlungern sehen, beinahe ganz von einer Wolke aus Tabakrauch verhüllte Opfer der Rezession. In Shetland gab es früher einen Job für jeden, der arbeiten wollte, aber jetzt strich die Kommunalverwaltung die Truppen an der vordersten Front zusammen, und wer einmal eine Arbeit als Haushaltshilfe, in einer Sozialeinrichtung oder als Büroangestellter hatte, hielt verzweifelt daran fest. Das erste Opfer der Maßnahmen des Schulreferats, das fünf Millionen Pfund einsparen wollte, war die Sekundarstufe der Junior High School von Scalloway gewesen. Jetzt wurden alle Teenager mit dem Bus von hier in die große Schule in Lerwick gekarrt, und das kleine Heer von Putzfrauen, das früher den Schülern entgegenging, wenn sie aus der Schule strömten, war nun arbeitslos geworden.
Diese Mädchen kannten Annette. Die Größte unter ihnen schaute sie unter ihrem pechschwarzen Pony hervor böse an. Annette blickte zurück, zunächst flehentlich, dann verhärteten sich ihre Augen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Strich. Das größte Mädchen hob eine Hand und rieb den Daumen und die ersten beiden Finger aneinander, die weltweite »Geld her«-Geste. Die beiden anderen grinsten höhnisch.
Annette reckte das Kinn vor. Ohne sich zu verabschieden, machte sie auf dem Absatz kehrt, drängte sich zwischen den dreien hindurch und ging an der Strandpromenade entlang in Richtung Laden. Ihre Absätze klapperten auf dem Gehsteig. Ich schaute ihr einen Augenblick hinterher, blickte dann zu den anderen Mädchen zurück. Die Hand der Größten senkte sich langsam. Ihr Blick hätte eine Möwe mitten im Flug gestoppt. Das schwarze, glänzende Leder, die grauen Rüschen des Rocks, die angespannte Aufmerksamkeit auf den mir zugewandten Gesichtern, all das ließ die drei wie ein Trio von Nebelkrähen aussehen, die ein sterbendes Schaf beäugen. Es war ein übles Trio. Wenn ich Annette wäre, ich würde mich gewaltig vorsehen.
Aber ich hatte noch einen Garten sauber zu räumen. Ich wandte mich vom Meer ab und drückte die schwere Gartenpforte auf. Kater kam aus dem Graben geglitten und sprang vor mir hinein, den fedrigen Schwanz hoch erhoben, so dass man das hellere Grau darunter sehen konnte. Aus dem halb verhungerten Kätzchen, das ich vor drei Monaten am Berghang gefunden hatte, war ein junger Kater geworden, ein munteres Kerlchen mit glänzendem Fell, schiefergrau am Rücken, mit dunklerem Deckhaar und hellen Streifen, die zu einem rosa-grauen Bauch und adretten weißen Pfoten hin ausliefen. In Brae hatte er fröhlich an Bord geschlafen, während ich fort war, denn er hatte dort Anders’ zahme Ratte zur Gesellschaft gehabt. Ich hatte auch versucht, ihn allein an Bord zu lassen, nachdem ich in Scalloway angekommen war, aber da hatte er bei seinen Ausbruchsversuchen tiefe Schrammen in das Holz meines Bootes gekratzt. Als ich die Luke für ihn offen gelassen hatte, war er über das Dock gejagt, hatte sich unter dem Zaun durchgequetscht und war mir gefolgt. Jetzt fetzte er zusammen mit Dan und Candy in Kates Garten herum, während Kate und ich dort arbeiteten; sonst kam er mit ins College. Im Klassenzimmer rollte er sich auf meinem Schoß zusammen. Wenn wir mit der Klasse auf See waren, ließ ich ihn bei Nate, der im College-Café arbeitete. In dem Schrank bei der Küche war es gemütlich und warm, ganz zu schweigen von dem Stückchen Fisch, das gelegentlich für ihn abfiel. Ich hoffte inständig, dass er immer noch mit mir auf das ungeheizte Boot zurückkommen wollte, wenn es draußen kälter wurde.
Hinter der Gartenpforte führte ein Steinplattenweg zwischen Ahornbäumen zu dem alten Haus hinauf, das aus grauem Stein und in dem quadratischen Stil der Häuser aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert gebaut war. Es sah aus wie ein Haus auf einer Kinderzeichnung: Stufen zu einem überdachten Eingang in der Mitte, zwei Fenster auf jeder Seite der Tür, drei im nächsten Stockwerk, das Rechteck eines Ziegeldachs, auf jeder Seite ein Schornstein mit einem Faden Rauch. Zumindest hatte ich als Kind Häuser so gezeichnet. Ich fragte mich, ob Peerie Charlie1, der kleine Junge meiner Freundin Inga, Häuser auch so malte oder ob auf seinen Zeichnungen die modernen Shetland-Häuser auftauchten, Häuser aus farbigem Holz mit dreifach isolierten Panoramafenstern, einer kleinen Turbine neben dem Haus und Solarmodulen auf dem Dach.
Dieses Haus hier hatte dem letzten Laird gehört, einem aus der Familie der Scotts, die fünf Jahrhunderte lang das Leben in Scalloway dominiert hatte. Nach seinem Tod war es an ein Ehepaar aus England verkauft worden, und ich hatte im Laden die Kleinanzeige gesehen: »Gesucht: aktive Mithilfe im Garten, den ganzen Oktober lang, Zeiten nach Absprache«.
Natürlich hatte ich meinen Kumpel Magnie nach den beiden gefragt. Der hatte einen alten Walfangkameraden in Scalloway angerufen und von dem alle bekannten Informationen bekommen: »Der Mann heißt Peter Otway, und sie sind schon zehn Jahre oder so hier. Er ist Mitte vierzig, Zweigstellenleiter der RBS2 in Lerwick. Sie hatten da was gemietet, aber als dieses große Haus auf den Markt kam, haben sie es gekauft und sind nach Scalloway gezogen. Die Frau heißt Kate. Er muss etwa fünfzehn Jahre jünger sein als sie. Sie haben nur das eine Mädel. Sind hergezogen, als sie grade aus der Grundschule raus war. Er ist einer von denen, die überall dabei sind. Du weißt schon. Er ist bei den Rotariern, bestimmt auch bei den Freimaurern, möchte ich wetten, obwohl ich es nicht genau weiß, und er ist garantiert beim Up Helly Aa3 mit einer Truppe unterwegs.«
Beim Up Helly Aa von Lerwick, dem größten der Feuerfestivals in Shetland, zogen Tausende von verkleideten Leuten mit flammenden Fackeln zusammen durch die Stadt. Es waren nur Männer, und man musste mindestens fünf Jahre in Lerwick gelebt haben und konnte nur auf Empfehlung in eine der Truppen aufgenommen werden.
»Der Zweigstellenleiter der Bank, das gilt in Lerook schon als Adel.« Darin, wie Magnie den Namen der Stadt aussprach, lag die ganze Verachtung des Landmanns für die Städter. »Der hing auch mittendrin in der Organisation für das neue Museum und so.« Das schien akzeptabler zu sein, da es was mit Seefahrt zu tun hatte.
»Dem Shetland-Bus4-Museum?« Ich hatte es von der Straße aus gesehen, ein großes Gebäude aus Holz und Glas, aber ich war noch nicht drin gewesen.
»Nö, dem Scalloway Museum«, betonte Magnie. »Da geht’s um die ganze Ortsgeschichte. Da gibt’s einen prähistorischen Pflug und einen Wikingerarmreifen – na ja, eine Kopie, das Edinburgher Museum hat das Original mitgenommen – und Zeug über Hexen und über die Heringsfischerei, nicht nur die Geschichte über die Norweger.«
Ich hätte mich dran erinnern sollen, dass das, was ein Shetlander nicht über seine eigene Geschichte weiß, kaum wissenswert ist. »Ich muss da mal hingehen und mich umschauen«, sagte ich. Meine Helden blieben trotzdem die Männer vom Shetland Bus, junge Norweger in Fischerbooten, die Waffen und Teile von Funkgeräten ins von den Deutschen besetzte Norwegen schmuggelten und Flüchtlinge aus dem Land schafften.
»Das solltest du tun, Mädel. Die haben das wirklich wunderbar hingekriegt. Damit hat er also auch zu tun gehabt. Die Frau arbeitet nicht, die malt, hübsche kleine Bilder von Blumen, mit diesen strahlenden modernen Farben.« Magnie selbst hatte eine Schwäche für die Bilder, die seine Mutter mochte: viktorianische Drucke von lockigen Kleinkindern, die Kätzchen auf dem Arm halten. »Sie hat wohl beschlossen, den Garten in Ordnung zu bringen, ehe der Winter kommt? Das ist ein riesiges Areal voller Bäume und Brombeerhecken.«
»Aktive Mithilfe im Garten, genau gegenüber vom Liegeplatz der Chalida und zu Zeiten, die ich um das College rum organisieren kann«, sagte ich und wählte die angegebene Nummer.
»Was für Erfahrung mit Gartenarbeit haben Sie?«, war Kates erste Frage, sobald ich mich vorgestellt hatte.
Ich hatte mir meine Antwort schon ausgedacht. »Keine«, sagte ich rasch, »aber ich habe mein Leben bisher auf See verbracht, und das bedeutet, dass ich schnell lernen und Anweisungen befolgen kann. Ich werde wesentlich weniger Schaden anrichten als jemand, der meint, alles über Gärten zu wissen.«
Darüber musste sie lachen, und wir einigten uns darauf, dass ich vor der Bonfire Night5, dem ersten Samstag im November, so viel von der schweren Aufräumarbeit machen sollte, wie ich konnte.
Inga hatte das sehr komisch gefunden. »Wenn man bedenkt, dass du dein Möglichstes getan hast, um vom Land wegzubleiben, seit du dein erstes Boot gekriegt hast.« Trotzdem genoss ich die Arbeit. Ich war frische Luft gewohnt, und die gelegentlichen Regenschauer machten mir nichts aus. Die Arbeit für Kate gab mir Gelegenheit, draußen zu sein, weg von den Neonlichtern und der klimatisierten Luft im College, weg von den dort allgegenwärtigen Schildern mit Ermahnungen für Zweijährige: Hast du dir die Hände gewaschen? Nicht zwei Papierhandtücher nehmen, wenn eines reichen würde! Auf den Hinweisschildern an Bord eines Schiffes ging es um ernste Dinge, also fiel mir das ständige visuelle Gequatsche gewaltig auf die Nerven.
Kate stand in der Tür, flankiert von ihren beiden Hunden. Alles an ihr sprach von der »Lady auf dem Land« – die dunkelbraune Cordhose, die grüne Weste über einem Pullover und einem Polohemd, das Tuch um den Hals, das mit einer Gemme zusammengefasst war, die grünen Gummistiefel. Sie hatten hier keine Pferde, aber garantiert war sie mit welchen aufgewachsen und konnte einen Pferdeanhänger in eine enge Parklücke so mühelos rückwärts einparken wie ich einen Anhänger mit einem Dingi. Ihr schulterlanges Haar schimmerte wie eine frisch vom Baum gefallene Kastanie und wurde im besten Stil der sechziger Jahre von einem Stirnband zurückgehalten. Ihr Teint hatte feine rote Äderchen unter der Haut und verriet, dass sie sich viel im Freien aufhielt. Ihre Augen waren haselnussbraun. Ein Blick, und man wusste, dass alles, was sie organisierte, wie am Schnürchen klappen würde.
Ihre Augen waren auf die Gartenpforte gerichtet, schauten aber weit darüber hinaus an die Stelle, wo Annette verschwunden war. Die Hunde bemerkten uns zuerst; Candy, die schwarz-weiße Hündin, raste los, sprang über Kater hinweg, drehte einen Kreis und beschnüffelte ihn von hinten. Der Rüde Dan erhob sich langsamer und kam gemächlich heranspaziert, um uns zu begrüßen. Dann drehte sich Kate um und konzentrierte sich auf uns.
»Dem geht’s noch immer nicht wieder so richtig gut«, sagte sie und schaute auf Dan. »Wir glauben, dass er irgendwas Schlechtes gefressen hat. Vielleicht finden wir da im Gestrüpp gleich ein halb aufgefressenes totes Schaf. Er hat sich gestern Abend sogar geweigert, mit Gassi zu gehen. Peter wollte schon beim Tierarzt anrufen, aber wir haben beschlossen, erst einmal abzuwarten, wie er sich heute Morgen fühlt.« Sie straffte die Schultern und kam die Stufen hinunter. »Bereit für weitere Rodungsarbeiten im Unterholz?«
»Absolut«, sagte ich.
Wir räumten gerade eine Ecke auf, in der Rispenrosen, zäh wie Möwen und stachelbewehrt wie Seeigel, ihre Triebe im Umkreis von zwei Metern um die Mutterpflanze herum ins Gras ausgestreckt hatten. Ich hatte Gefallen an diesen Landfarben gefunden: an den Primelblättern, an ihren regenschwarzen Stängeln, an den glänzenden dunkelroten Hagebutten, die wie Mini-Granatäpfel aussahen. Hier und da hatte ein Vogel eine aufgepickt, und das gelbe Fruchtfleisch mit den Samen darin war sichtbar. Zwischen den Ästen in der Mitte der Büsche wuchsen ein paar Herbstzeitlose, zart geäderte violette Kelche auf durchsichtigen Stängeln, die Blütenblätter gegen die Kälte geschlossen.
Es war eine befriedigende Arbeit: das Gefühl, wenn eine Wurzel nachgibt, die Geschwindigkeit, mit der man einen ganzen Klumpen von Wurzelschösslingen ausreißen konnte, wenn einer nach dem anderen aus dem Boden kam und man schließlich einen ganzen Ballen in der behandschuhten Hand hielt. Kater tollte mit Candy herum, sprang über sie hinweg, stürzte sich auf Blätter, jagte Grasbüschel, die mit den Wurzeln hochgerissen wurden, und holte immer wieder den bimmelnden Ball, den Kate ihm gekauft hatte. Der war mit Glitzer bedeckt und so klein, dass Kater ihn im Maul herumtragen konnte; wenn man ihn warf, tollte er erst an der Stelle, wo er gelandet war, ein bisschen damit herum und brachte ihn dann wie ein Hund zurück, damit man ihn erneut warf. Candy beteiligte sich an dem Spiel. Wenn man den Ball ordentlich weit warf, erreichte sie ihn gewöhnlich zuerst, doch wenn der Ball nur etwa zehn Meter flog, erwischte Kater ihn vor der Hündin und brachte ihn zurück, während sie um ihn herumrannte. Ein einziges Mal hatte sie versucht, ihn wie einen Welpen aufzuheben, aber das ließ er sich nicht gefallen.
Als wir uns bis zu dem Busch in der Mitte des Gartens durchgearbeitet hatten, machte sich Kate mit einer Schubkarre voller Gartenabfälle auf den Weg, während ich mit der Harke zwischen den zerbrechlichen Stängeln der Hasenglöckchen den Boden lockerte und noch ein letztes Mal den Rasen festtrat. Das große Freudenfeuer für den Guy Fawkes Day würde in East Voe stattfinden, auf der anderen Seite des Hafens. Kate musste also die Gartenabfälle in einen Sack packen und in ihrem Kombi dorthin fahren. An dem Platz, wo das Feuer sein sollte, hatte man bereits alte Stühle und Europaletten und etwas, das wie das Dach eines Schuppens aussah, zu einem hohen Haufen aufgetürmt. Es würde ein gewaltiges Feuer geben, am Samstag in einer Woche.
»Kaffee und Leckerli«, sagte Kate schließlich, als sie die leere Schubkarre wieder an die Wand lehnte. Es war Teil unserer täglichen Routine, diese zehnminütige Kaffeepause mit einem Keks, die uns Energie für die nächste Attacke auf den Garten gab. Kater, Candy und ich folgten Kate in die Küche, wo der mit Öl betriebene Rayburn-Ofen vor sich hin glühte und das Wasser im Kessel auf der hinteren Ofenplatte leise siedete. Dan lag braun und weiß der Länge nach vor dem Ofen ausgestreckt. Die Küche roch nach Wärme, Kaffee und Hund. Kate schob den Wasserkessel auf die heiße Platte und ging die Kekse holen, während ich die Henkelbecher auf den Tisch stellte und Kaffeepulver hineinlöffelte und Kater sich in einer Schachtel mit Noppenfolie neben dem Rayburn-Ofen zusammenrollte. Dann setzten wir uns gegenüber an den Küchentisch und entspannten uns.
Ich war mit Kate sofort gut klargekommen. Wir waren während unserer Kaffeepausen keine Freundinnen geworden, dazu war unser Altersunterschied zu groß, aber ich hatte sehr viel über sie herausgefunden. Sie war in den Cotswolds aufgewachsen, und ihre Mutter war sehr stolz auf ihren Garten gewesen: »Sie hatte wirklich einen grünen Daumen, man musste ihr nur eine Wurzel geben, und sie brachte sie zum Wachsen.« Peter hatte sie bei einer Veranstaltung in dem Kinderheim kennengelernt, wo sie ehrenamtlich arbeitete; er war einer der Vorstände gewesen. Als ein anderer Vorstand eine besonders schwülstige Rede hielt, hatten sich ihre Blicke getroffen, und irgendwie war der Funke übergesprungen – »obwohl er beinahe ein Jahr brauchte, um drüber wegzukommen, dass ich fast zweimal so alt war wie er – er war gerade mal dreiundzwanzig, und ich war Ende dreißig.« Sie hatte gelernt, anstatt der Jagdgesellschaften nun Geschäftsleute zu bewirten – »die sich wesentlich weniger für die Qualität des Weines interessierten und für die eine ansprechende Präsentation wichtiger war als jede Menge gutes, sättigendes, wärmendes Essen.« Ihr Gesicht war ganz sanft geworden. »Und dann kam Annette. Sie war ein wunderschönes Baby, hatte einen Kopf voller goldener Locken …« Nichts war ihnen für ihr Kind zu gut gewesen: ein schwarzes Shetlandpony namens Ricky, Ballettunterricht, Privatunterricht in den Fächern, die ihr in der Schule schwerfielen. Annette hatte einen relativ anständigen Oberschulabschluss geschafft und wartete nun auf einen Studienplatz an einer Universität. »Also können wir wieder wie in unseren Junggesellenzeiten leben!« Die beiden schienen immer noch eine recht stabile Beziehung zueinander zu haben (soweit man das heutzutage von irgendeinem Paar überhaupt sagen kann), trotz ihres Altersunterschieds. Er war natürlich den ganzen Tag lang nicht zu Hause, fuhr aber täglich die sechs Meilen von Lerwick zum Mittagessen heim und blieb kaum mal länger im Büro. Seine Abende waren dem Museum oder dem gesellschaftlichen Leben bei den Rotariern und der Royal British Legion6 gewidmet, während sie in ihrem Atelier in einer Holzhütte beim Haus malte. Sie zeigte regelmäßig ihre Bilder in der Bonhoga-Galerie in Weisdale. Einmal war ich per Anhalter dorthin gefahren, um mir ihre neueste Ausstellung anzusehen. Es waren Blumenbilder gewesen, wie Magnie gesagt hatte, und bei den meisten hatte ein roter Punkt auf den Schildchen geklebt.
Sie hatte auch einiges über mich erfahren: aufgewachsen in Shetland, einzige Tochter eines irischen Ölmanagers und einer französischen Opernsängerin. Als ich Teenager war, wurde Dad gebeten, die Bauaufsicht bei einem Projekt am Persischen Golf zu übernehmen, und man hatte mich in Mamans elegante Stadtwohnung in Poitiers verfrachtet. Dort hatte es mir überhaupt nicht gefallen; ich hatte Heimweh nach dem Meer und nach meinen Segelfreunden. Dann hatte ich mein Bankkonto geplündert und war abgehauen, zurück nach Schottland, an Bord eines russischen Schiffs, der Mir, in der Cutty-Sark-Windjammer-Regatta. Anschließend war ich auf Windjammern über die Ozeane der Welt geschippert und hatte in Ferienorten am Mittelmeer Unterricht im Dingi-Segeln gegeben. Ich hatte mit meinem Liebsten Alain den Atlantik überquert – aber darüber sprach ich nicht, auch nicht über seinen Tod auf der Rückreise. Langsam wurde die Bürde meiner Schuldgefühle etwas leichter, aber losgeworden war ich sie noch nicht. Dann hatte ich meine Chalida gefunden, die völlig vernachlässigt in einem griechischen Yachthafen vor Anker lag. Ich war mit ihr nach Norwegen gesegelt und schließlich nach Shetland und zu einer Versöhnung mit Dad und Maman zurückgekehrt. Die beiden begannen nun selbst nach sechzehnjähriger Trennung ihre Beziehung zu kitten, während ich die Abschlüsse machte, die ich als Teenager verpasst hatte. Denn ich wollte mit einem Patent als Offizier auf einem Windjammer anheuern können.
Kate rührte in ihrem Kaffee und nahm sich ein zweites KitKat. »Hast du vorhin Annette noch getroffen?«
Ich nickte.
Kate seufzte. »Ich versteh es einfach nicht. Wir sind immer so gut miteinander ausgekommen – sie war ein süßes kleines Mädchen, und wir haben ihr natürlich jede Menge Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie die Einzige war. Ich dachte, sie würde immer auf mich hören, zumindest …« Sie stand auf und ging zum Spülstein, hatte das Gesicht von mir weggewandt. »Ich glaube, sie hat einen Freund, und zwar einen, mit dem wir nicht einverstanden wären. Was mir wirklich Sorgen macht, Cass, das ist diese Achterbahn der Stimmungen. Sie braust beim geringsten Anlass auf. Ich habe Angst, dass sie vielleicht Drogen nimmt. Man sieht, dass sie nicht glücklich ist, irgendwie scheint sie ein schlechtes Gewissen zu haben … Meinst du, es könnte so was sein?«
»Ich weiß nicht viel über die Drogenszene«, sagte ich. »Das gibt’s in der Segelwelt kaum. Na ja, erstens mal kann man sich das Zeug gar nicht leisten, weil man alles Geld, das man übrig hat, gleich wieder ins Boot steckt.« Für einen Filmjob als Skipper auf einem nachgebauten Wikingerschiff hatte ich 4000 Pfund bekommen. Wenn ich es schaffte, das College-Jahr lang von 3000 Pfund zu leben, würde ich den Rest in einen neuen Satz Segel für die Chalida investieren. »Und dann muss man auf See immer hellwach sein, man braucht alle Sinne, die man hat, und auf keinen Fall Drogen, die einen Sachen sehen lassen, die nicht da sind.« In einer Mondnacht, allein an Deck, wenn die See wie eine riesige große Untertasse vor einem liegt, da kann man leicht seltsame Dinge sehen. Einmal hätte ich schwören können, ich hätte das Gespenst eines längst verschwundenen Rahseglers erspäht, mit zerfetzten Segeln und Toten, die an den Leinen zerrten. Dann verzog sich der Mond hinter eine Wolke, und ich war allein auf dem Meer, das wie Kohle glänzte, und fragte mich, was wohl alles da draußen war, bis der Mond wieder erschien und nur leere Weite enthüllte.
»In Shetland gibt es bei den jungen Leuten anscheinend eine große Drogenszene«, sagte Kate. Sie nestelte an dem Stanniolpapier ihres KitKat herum, drehte einen silbernen Becher daraus. »Ich hatte gehofft, Annette wäre zu alt und zu vernünftig, um da hineingezogen zu werden, aber man weiß ja nie. Das sagen Eltern doch immer: ›Wir haben gedacht, unser Kind wäre zu vernünftig dazu.‹ Man muss ja nur in schlechte Gesellschaft geraten.«
»Hast du denn eine Ahnung«, fragte ich zaghaft, weil es mich eigentlich nichts anging, »wer bei ihr diese schlechte Gesellschaft sein könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Junge vom College scheint sie recht gern zu mögen, er ist blond, hat ziemliche Glupschaugen, ist eher ruhig. James irgendwas. Er hat ein paarmal angerufen.«
»James Leask«, sagte ich. Daher wusste Annette also, dass ich von zu Hause weggelaufen und zur See gegangen war. James hatte den Ingenieur-Zweig des ziemlich gemischten Kurses belegt, an dem ich teilnahm. »Der würde niemanden auf Abwege führen und sich selbst auch nicht auf welche führen lassen. Er ist einer von den Stillen, Sturen.«
Sie nickte. »Den Eindruck hatte ich auch. Annette hat sich diese Woche ein paarmal mit ihm getroffen – warte mal, am Samstag –, und dann sind sie am Montag ins Scalloway Hotel essen gegangen. Also, hoffte ich …«
Ich dachte für mich, dass Annette sich in diesem Zuhause vielleicht zu Recht eingeengt fühlte, wenn sie so genau beobachtet wurde. Als ich so alt war wie sie, hatte Dad viel zu viel mit seinem neuen Ölterminal zu tun und Maman war in Poitiers. Ich war den ganzen Sommer an Bord der Sørlandet gesegelt, hatte dann den Winter an einem Strand in der Karibik verbracht und Dingi-Segeln unterrichtet, und keiner meiner Eltern wusste, mit wem ich mich wie oft und wo traf. Das wussten sie auch jetzt noch nicht, aber zumindest wurden mittlerweile Brücken zwischen uns gebaut. »James würde keine Drogen nehmen. Da bin ich mir sicher.«
»Jedenfalls«, sagte Kate, »will sie an Halloween zu irgend so einer Party; darum ging es bei unserem letzten Streit.« Sie warf mir einen Blick von der Seite zu, als versuchte sie abzuschätzen, ob ich eine wilde Anti-Halloween-Fundamentalistin war. »Peter findet, dass das alles zu weit geht, wenn sich die Leute als Teufel und Hexen verkleiden und überall Totenschädel sind und so. Er fand dieses alberne Halloween-Theaterstück ganz schrecklich – hast du es gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es war nur ein Spaß«, meinte Kate. »Es ging um ein Dorf, in dem jedes Jahr am 31. Oktober die Toten wieder lebendig werden. Nate, der Sohn des Pfarrers, hat es letzten März für das Drama Festival inszeniert. Er hat auch einen der auferweckten Toten, einen Zombie, gespielt, und Annette hat eine Hälfte eines Pärchens auf Hochzeitsreise gespielt und wurde von dem Zombie entführt. Es war alles sehr albern, und sie haben es auf Lacher angelegt und tatsächlich einen Preis für das ›unterhaltsamste Stück‹ eingeheimst. Ich fand es ziemlich harmlos, aber Peter war ungeheuer aufgebracht und meinte, sie hätte uns das Stück vorher zeigen müssen.«
»Ich kenne Nate«, sagte ich. »Er arbeitet in dem Café im College und kümmert sich um Kater, wenn ich mit meinem Kurs auf See bin.«
»Peter kann ihn nicht ausstehen«, sagte Kate mit einem Seufzer. »Der entwickelt sich allmählich zu einem engstirnigen Daily-Mail-Leser. Er meint, der Junge hat Grips, den er verschwendet, und es sei noch nie was Gutes dabei rausgekommen, wenn jemand einen Job annimmt, der seine Intelligenz unterfordert. Dann hat er angefangen, von Branwell Brontë zu faseln. Dabei hätte ich geschworen, dass er nicht einmal wusste, wer Charlotte Brontë war.«
»Was hat denn Branwell damit zu tun?«, fragte ich belustigt.
»Keine Ahnung. Hat man von dem nicht geglaubt, er wäre superintelligent und ihm würde eines Tages die Welt zu Füßen liegen, und er ist dann als Trunkenbold gestorben, und die viel unwichtigeren Schwestern sind berühmt geworden?«
»Ich schau mir Nate heute Nachmittag mal genau an«, versprach ich, »und sage dir dann, ob er möglicherweise ein verkanntes Genie ist.«
»Ja, mach das.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Auf in die Wildnis! Ich finde diesen Garten allmählich richtig spannend, Cass. Weißt du, dass wir hier mal Terrassen hatten? Gestern Abend stand ich an der Tür und habe nur so vor mich hin geguckt, da ist die Sonne auf etwas Rotes mitten unter den Rosen gefallen – ein verwelktes Pfingstrosenblatt. Es ist, als buddelten wir hier auf einer Schatzinsel.«
Ganz so weit wäre ich nicht gegangen, aber ich überlegte auch, was aus den Blumenzwiebeln, die wir mit all dem Wurzelzeug ans Licht befördert hatten, wohl im Frühling werden würde: eine Fläche mit Schneeglöckchen unter den Rosen, ein gelbes Band aus Osterglocken zu beiden Seiten des Steinplattenwegs und Hasenglöckchen, die unter den Ahornbäumen einen himmelblauen Teppich ausbreiten würden.
Wir arbeiteten weiter, bis das Knarren der Gartenpforte uns daran erinnerte, dass die Mittagszeit gekommen war. Die Hunde rannten bellend zur Begrüßung hin. Peter kam mit großen Schritten über den Pfad auf uns zu, eine schwarze Mülltüte in jeder Hand. »Hallo, Mädels«, rief er uns zu. »Ihr kommt ja gut voran.«
Das sagte er jeden Tag.
Peter sah nicht aus wie ein Banker, was im augenblicklichen Finanzklima wohl ein Segen war, dachte ich mir, in dem »Banker« ein Synonym für »Abschaum« war. Selbst mit dem dunkelgrauen Anzug und der Krawatte seiner Eliteschule hätte man ihn eher für einen Mann von der Marine, einen Forschungsreisenden oder einen Unternehmer gehalten. Er war gerade mal Anfang vierzig. Das dichte helle Haar war von seiner breiten Stirn nach hinten gekämmt. Peter hatte gerade sandfarbene Brauen, blaue Augen, eine Hakennase und ein resolutes Kinn. Genau wie Kate hatte er den rosigen Teint eines Menschen, der sich viel im Freien aufhält. Er hätte wahrscheinlich einen guten Marineoffizier abgegeben: effizient, entscheidungsfreudig, in Notfällen schnell zum Handeln bereit. Ich hätte ihn ohne Zögern als Wachführer eingeteilt.
Kate rappelte sich unter einer mit Flechten bewachsenen Falschen Johannisbeere hoch, ging zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. Er wedelte die schwarzen Mülltüten vor ihr hin und her. »Ein Geschenk von einem Verehrer.«
»Von mir oder von dir?« Kate knotete eine der Tüten auf. »Oh, das Lamm! Fantastisch! Ich verstau es gleich in der Gefriertruhe. Wie ist’s mit dir, Cass, könntest du ein bisschen Lammfleisch gebrauchen?«
Ich hätte sehr gern welches gehabt. »Ich habe auf der Chalida keinen Backofen.«
»Du hast aber doch einen Grill. Komm mit in die Küche, und ich such dir ein paar Koteletts heraus, während du dir die Hände wäschst.«
Bis ich die Schubkarre verstaut, die Gartengeräte sauber gemacht und die letzte Erde unter meinen Fingernägeln entfernt hatte, hatte Kate das Fleisch auf dem Küchentisch verteilt. Der zarte Duft erfüllte die ganze Küche. Kater reckte sich mit vorwärtsgesträubtem Schnurrhaar und zuckendem grauem Näschen an einem Tischbein in die Höhe.
»Magst du Nierchen?«, fragte Kate. Sie säuberte sie bereits, schälte das cremig weiße Fett ab, um das dunkelrote Oval darunter freizulegen. »Peter und ich mögen sie nicht.«
»Gebratene Nieren, das wäre ein Leckerbissen«, sagte ich. »Danke.«
»Da hast du sie.« Sie steckte sie in einen Gefrierbeutel, dann in eine Coop-Tragetasche. »Und noch ein paar Stücke für eine Suppe …« Sie fügte ein Halsstück und ein paar Keulen hinzu. »Und ein paar Koteletts. Und dein Geld.« Sie hielt mir einen Umschlag hin.
»Danke«, sagte ich. »Davon werden wir eine Woche lang richtig gut essen.«
Auf dem Weg nach draußen schlängelte ich mich an Peter vorbei. Er hatte die Stirn gerunzelt, und seine Mundwinkel hingen nach unten, doch als er mich wahrnahm, verzog er das Gesicht zu seinem üblichen fröhlichen Grinsen. »Danke für all die Arbeit, Cass. Bis zum nächsten Mal.«
Beim Verlassen des Hauses hörte ich noch seine Stimme aus dem Esszimmer erschallen: »Kate, ich habe rausgefunden, mit wem sich Annette da eingelassen hat …«
Es ging mich nichts an. Ich schloss die Tür und bekam den Namen nicht mehr mit.
Kater und ich machten uns zum Mittagessen auf den Weg nach Hause. Die Chalida lag im westlichen Yachthafen vor Anker, gleich neben dem College. Je fünfzehn Liegeplätze waren zu beiden Seiten eines langen Pontons angeordnet, durch eine massive Mole vor den rollenden Wellen des Atlantiks geschützt, die direkt nach Scalloway hereinliefen. Ich hatte Glück gehabt und einen Platz auf der Innenseite bekommen, gleich neben einer Colin-Archer-Ozean-Yacht mit Holzmast, die den schlimmsten Wind von mir abhielt.
Die Lage war gut. Mein Heck war dreißig Meter von dem Strand der geschwungenen Meeresbucht von Scalloway entfernt. Wenn ich aus dem Cockpit schaute, sah ich eine vertikale Böschung mit struppigem Gras, links schokoladenbraunes Heidekraut und rechts ein Gestrüpp aus Rosenbüschen und gelbblättrigen Montbretien. Oberhalb der Böschung standen drei, vier Häuser, dahinter dunkelgrüne Kiefern, dann kam der Berg, ebenfalls schokoladenbraun vom Heidekraut, gekrönt von einem Funkmast. Der Strand verlief an einem Durcheinander von Schuppen und Slipways entlang, die damals die Männer vom Shetland Bus benutzt hatten, am Jugendzentrum und dem Laden vorbei. In diesen Gebäuden hatte man früher Heringe eingelegt und geräuchert. Der Strand endete am Burn Beach, über dem die eckige Fassade des rosa Herrenhauses Old Haa aus dem achtzehnten Jahrhundert aufragte.
Eine Reihe bunter Häuser führte zur Burg: ein cremeweißes Gasthaus, in dem einmal Sir Walter Scott abgestiegen war, dann ein graues Steinhaus, ein puderblaues, ein minoisch rotes, ein sahnig gelbes, ein blassgrünes.
Vor der bunten Straße standen noch drei Steinhäuser, die jeweils oberhalb einer Stützmauer gebaut waren, die ins Wasser hinausragte; eine davon war rechtwinklig, die anderen beiden geschwungen.
Das letzte dieser Häuser war einmal eine Schmiede gewesen, und man erzählte sich, dass es dort spukte. Im Wasser gleich unterhalb hatte man in den alten Zeiten die Hexenprobe gemacht: Man band dir die Arme zusammen und warf dich ins Wasser. Wenn du versankst, warst du unschuldig, wenn auch leider tot; wenn du oben schwammst, hielt dich der Teufel über Wasser und man brachte dich den Gallow Hill7 hinauf, den ich vom Cockpit der Chalida aus sehen konnte, erdrosselte dich mit dem Würgeisen und verbrannte deine Leiche. Scalloway war der letzte Ort in Schottland, wo noch Hexen auf dem Scheiterhaufen gelandet waren.
Hinter der Schmiede lag die Blacksness-Pier, eine große, mit Autoreifen abgesicherte Fläche, und über der Pier ragte vor dem grünen Hang von East Voe die Ruine von Earl Patricks Burg auf. Sie war sandbraun, hatte vier Fensterreihen und einen großen Schornstein darüber. Sie war einst ein Renaissance-Château gewesen, genau wie die Schlösser entlang der Loire, wo meine Mutter in Opern von Rameau oder Lully auftrat, den Komponisten am Hof des Sonnenkönigs. Es gab drinnen Bilder, die zeigten, wie es hier einmal ausgesehen hatte: Gobelins an den Wänden und ein hell loderndes großes Feuer im Kamin. Jetzt war die Burg kahl und nackt, beherrschte das Stadtbild und erinnerte daran, was die Macht der Lairds für die gewöhnlichen Shetlander bedeutet hatte: am Strand angeschwemmtes Treibholz musste für die Bauten des Lairds abgeführt werden, man musste zusätzliche Arbeit leisten, weil für die Feuer des Lairds mehr Torfsoden zu stechen und zu trocknen waren, und man musste Steuern, Steuern, Steuern zahlen, die in Form von Fisch und Wolle und Butter eingezogen wurden. Diese Steuern sollten schließlich den Untergang von Earl Patrick besiegeln: Seinem Vetter Jakob, dem Sohn Maria Stuarts, war es gleichgültig gewesen, ob Patrick seine Pächter misshandelte, aber er hatte etwas dagegen gehabt, dass er die Steuern, die er im Namen des Königs eingetrieben hatte, in die eigene Tasche steckte. 1615 wurde Earl Patrick in Edinburgh hingerichtet.
Unterhalb der Burg schlug nun das moderne Shetland zurück. Die Nachfahren der Männer, die für die Lairds gefischt hatten, besaßen jetzt eigene Boote, die längs der Pier lagen, von wo man den Fang direkt in die grünen Schuppen des Auktionsraums ausladen konnte, der elektronisch mit dem großen Fischmarkt in Lerwick und mit Käufern überall auf der Welt verbunden war. Es gab hier auch eine Fabrik, in der Lachs verarbeitet wurde, und den quadratischen braunen Turm der Eisfabrik, von der die Laderäume der Fangschiffe mit Eis gefüllt wurden, ehe sie in See stachen. Die Boote hier fingen zumeist Weißfisch, Kabeljau, Schellfisch und Wittling; die großen, ozeangängigen Trawler, die bis nach Irland hinunter, nach Island hinauf- und nach Norwegen hinüberfuhren, lagen in Lerwick und Whalsay vor Anker.
Hinter der Burg verlief ein langer, dünner Meeresarm. Ich konnte ihn von hier nicht sehen, aber auch dort war das moderne Scalloway, noch ein Yachthafen voller kleiner Motorboote und großer Yachten. Ein Schwarm von Holzhäusern, marineblau, rot und dunkelbraun, beherbergte die Menschen aus Scalloway, die in der Altstadt mit ihren schottisch aussehenden Häusern inmitten von Ahornbäumen keinen Platz mehr gefunden hatten.
Ich machte die Schotten auf und ging nach unten. Nachdem ich das Fleisch in Zeitungen eingepackt und unterhalb der Wasserlinie verstaut hatte, um es kühl zu halten, wärmte ich den letzten Rest meines Topfes mit Tütensuppe auf. Morgen würde es echte Lammsuppe geben! Kater vertilgte einen Teil seines Fischs und putzte sich die Schnurrhaare. Dann machten wir uns auf den Weg, gingen die zwanzig Meter bis zum College.
Wir landeten mitten im Tumult: Antoine, der College-Koch, war auf dem Kriegspfad. Er kam in Kochschürze und mit weißer Kochmütze auf dem Kopf aus dem Café gestürzt und schwenkte das Nudelholz, als wolle er es mir über den Schädel ziehen. »Cass Lynch, komm auf der Stelle hierher.« Er hielt mitten im Satz inne, um mich auf französische Art auf beide Wangen zu küssen. »Komm und sieh dir an, was dein Katzenvieh jetzt wieder angestellt hat.«
Ich seufzte und folgte ihm, hoffte, dass der jüngste Skandal sich zu einem Zeitpunkt ereignet hatte, für den ich Kater ein Alibi geben konnte. Ich fand, dass die meisten Diebstähle, die Antoine Kater zur Last legte, ohnehin nicht seine Untaten waren, aber da Katzen nun einmal Katzen sind, konnte ich natürlich nicht schwören, dass Kater völlig unschuldig war. Ich vermutete, dass Antoine Kater eigentlich auch nicht wirklich für den Übeltäter hielt. Er kostete einfach die Gelegenheit aus, eine wunderbare Szene auf Französisch hinzulegen.
Die Mitarbeiter waren gerade damit beschäftigt, die Überreste des heutigen Mittagessens zu beseitigen und die Vorbereitungen für morgen zu treffen. Eine junge Frau stellte mit hochrotem Kopf Teller in die Spülmaschine. Nate war über einen Eimer mit Fisch gebeugt; auf einer Seite des Ablaufbretts aus Edelstahl lag ein kleiner Stapel Fischfilets, auf der anderen ein Haufen Fischköpfe und Gräten. Nate hatte sein langes dunkles Haar unter eine Kappe gesteckt. Er schaute hoch, als ich hereinkam, und zog eine mitleidige Grimasse, fuhr sich dann mit dem Finger über die Kehle.
»Da!«, sagte Antoine mit dramatischer Geste. Der Schaden war leicht zu sehen. Geschickte Krallen hatten das Pergamentpapier, mit dem ein Tablett voller Schollenfilets abgedeckt war, fortgezogen, jemand hatte mit der Nase in den Filets gewühlt und ein, zwei vom Tablett heruntergezogen. Es bestand der begründete Verdacht, dass zumindest eines fehlte.
»Wann ist das passiert?«, fragte ich.
»Keine halbe Stunde her.« Antoine wedelte mit dem Nudelholz. »Ich habe die Schollen zur Seite gestellt, damit wir die Tische abräumen und dann eine Tasse Tee trinken konnten, sobald alle Studenten gegangen waren. Einen anständigen Kräutertee, nicht euren schrecklichen starken englischen Tee, und mit einem Löffel Honig drin, echtem französischen Honig, den ich von zu Hause mitgebracht habe, trotz der Wahnsinnskontrollen an den Flughäfen. Ich schinde meine Leute nicht.« Eine ausladende Handbewegung ließ alle in der Küche wissen, dass er über sie redete. Dann wiederholte er auf Englisch: »Ich schinde euch nicht.« Als er sich erneut mir zuwandte, verdrehte Nate die Augen zur Decke. Die junge Frau zog ein Gesicht, das deutlich »Ach ja?« sagte. »Wir hören nichts, nichts, und dann ist da plötzlich ein Klappern.« Sein Nudelholz deutete auf eine Gabel, die am Boden lag. »Ich habe gebrüllt, weil ich mich daran erinnert habe, dass deine Katze schon mal was geklaut hat, hab hingeschaut, und es war nichts zu sehen, nur die Tür stand ein wenig auf, und nun das hier! Jetzt müssen wir sie alle wegwerfen, all diese schönen Schollen.«
»Das scheint mir aber eine schreckliche Verschwendung zu sein«, sagte ich. »Kann man die nicht einfach waschen? Wenn man sie brät, werden ohnehin alle Keime abgetötet.«
Antoine schniefte. »Und schau dir diese Pfotenabdrücke an. Eindeutig von einer Katze. Und welche Katze treibt sich immer im College rum?«
»Mehrere«, unterbrach ich ihn. »Zunächst mal der riesige schwarz-weiße Monsterkater von der anderen Straßenseite, den habe ich oft am Slipway rumlungern sehen. Und der Rote aus dem Ladysmith Drive. Der kommt jeden Morgen etwa um neun den Berg runter.« Ich spielte Antoines Drama mit, deutete mit weit ausladender Armbewegung zum Yachthafen. »Vor einer halben Stunde lag Kater zusammengerollt auf einer Bank an Bord der Chalida und hat sich die Schnurrhaare geputzt, nachdem er sich eine gute Mahlzeit aus kleinen Fischen genehmigt hatte, die ich für ihn fange.«
»Du fängst für ihn Fische?« Antoines Stimme drückte abgrundtiefe Skepsis aus, obwohl er mich mehr als einmal dabei beobachtet hatte, wenn er aus der Hintertür trat, um ein Geschirrtuch auszuschütteln.
»Am Ende der Pier«, versicherte ich ihm. »Diese kleinen, die da rumschwimmen. Kater mag sie sehr gern.« Wenn ich sie kochte, roch die Chalida den ganzen restlichen Tag nach Fisch, aber Kater mochte sie viel lieber als das Katzenfutter aus der Dose, so dass es sich trotzdem lohnte. »Und dann schau dir mal die Größe dieser Pfoten an. Du weißt doch, dass Kater noch ein Baby ist. Diese Spuren hat ein Katzenvieh gemacht, das mindestens so lang ist.« Ich kam jetzt erst richtig in Schwung und deutete mit den Händen eine Größe an, die eher einem jungen Puma entsprach. Nate verkniff sich ein Grinsen. »Und wie soll er denn hier reingekommen sein? Durch das offene Fenster da?« Ich deutete auf das schmale Oberlicht, das mit einer Metallstange nach draußen hochgestellt war. »Er ist ein sehr kleiner Kater, weißt du.« Meine Hände markierten die Größe eines mittleren Hamsters. »Er könnte da nicht hochspringen.«
Antoine schnaubte. Wenn man bedachte, dass Antoine schon gesehen hatte, wie Kater mir aus dem Stand auf die Schulter sprang, hatte ich vielleicht ein wenig zu offensichtlich übertrieben. »Außerdem«, beendete ich meine Rede mit größter Entschlossenheit, »ist er ein freundlicher kleiner Kater. Wenn er es gewesen wäre, wäre er noch da und würde mit dir reden wollen.«
Antoine schnaubte noch einmal, schien aber Katers Alibi anzuerkennen. »Na ja, wenn er wirklich in der letzten halben Stunde mit dir auf dem Boot war … aber wenn ich ihn noch einmal hier erwische …«
»Du hast ihn noch nie hier erwischt«, erwiderte ich.
»Na ja, dann sorg dafür, dass es so bleibt. Wir hatten kürzlich Besuch von diesen Gesundheits- und Hygieneleuten, und die würden es gar nicht gut finden, wenn eine Katze sich hier häuslich einrichtet. Nate musste sich damals Kater in die Hosentasche stecken, und zwar pronto, und ihn dann durch die Hintertür zum Hausmeister rausschmuggeln, während Sarah« – er deutete auf die junge Frau – »sein Schüsselchen in den Spülstein stellte und seine Katzenkiste versteckte.« Ich grinste. Antoine begriff, dass er sich verraten hatte, und scheuchte mich aus der Küche. »Raus mit dir. Wir haben zu tun, und du hast Unterricht, bist jetzt schon spät dran.«
Ich ließ mich fortscheuchen. Ich hatte gerade das Café erreicht, als eine der Biologiedozentinnen hereinkam, eine große Frau mit dunklem Haar, das so hochgesteckt war, dass man ihre Perlenohrringe sah. Sie trug ein Businesskostüm, grau mit einem schmalen hellgrauen Streifen, die gleichen Farben wie Katers Fell, und dazu glänzende, schmale Stiefel. Sie nickte mir zu und ging zum Bedientresen.
Nate kam aus der Küche; sein professionelles Lächeln verging ihm rasch. Er blickte säuerlich drein. »Wie geht’s, Rachel?«
Wenn man die beiden zusammen sah, war offensichtlich, dass sie Bruder und Schwester waren. Sie hatten das gleiche dunkle, wellige Haar, die gleiche lange, schmale Nase und hohe Wangenknochen. Das war eine seltsame Situation, die Schwester oben bei den Dozenten und der Bruder spülte das Geschirr. Ich fragte mich, ob sie ihm diesen Job besorgt hatte. Wenn ja, dann verriet sein Tonfall, dass er ihr das übel nahm.
Ihr Ton war genauso brüsk. »Ist Antoine da?« Sie warf mir einen kurzen Blick zu, als wolle sie Nate daran erinnern, dass Studenten anwesend waren.
Nate deutete mit dem Kopf in Richtung Küche, aber sie machte keinerlei Anstalten, durch die Tür zu gehen. »Geh und hol ihn bitte, ja?«
Nate warf ihr einen Mörderblick zu. Ich stand jetzt an der Tür zum Foyer und wollte gerade rausgehen, als ich Glas splittern hörte. Ich fuhr herum. Nate beugte sich zu Boden und hob den Stiel und den zerschellten Kelch eines Weinglases auf. Er drehte die Scherben im Licht und lächelte schief, dann legte er sie auf den Tresen. Seine dunklen Augen trafen ihre. »Zerbrichst immer noch Sachen, was?«
»Du weißt ganz genau«, erwiderte sie, »dass ich nicht mal in die Nähe des Glases gekommen bin.«
»O ja«, stimmte er ihr aalglatt zu. »Berührt hast du es ganz bestimmt nicht.« Er hob die Glasscherben wieder auf. »Aber kaputt ist es trotzdem.«
»Das hat nichts mit mir zu tun.« Ihre Stimme klang abgehackt, weil sie schwer atmete. Sie machte einen Schritt zurück vom Tresen, wirbelte herum und eilte davon. Sie drängte sich so nah an mir vorbei, als hätte sie mich gar nicht gesehen. Vom Tresen aus schaute Nate ihr hinterher, lächelte und drehte die Überreste des Glases in der Hand, so dass die schartigen Kanten im Licht glitzerten.
Als ich zwei Stunden später wieder herauskam, wartete Nate auf mich. Er hielt eine Plastiktüte in der Hand. »Ein Geschenk von Antoine«, sagte er und ging neben mir her. »Die Filets, von denen er meinte, man hätte sie sonst wegwerfen müssen.«
»Sehr schön, danke«, antwortete ich. Ich hatte, wie Antoine nur zu gut wusste, die Absicht, den größten Teil davon selbst zu essen und nur die Stücke mit den deutlichen Bissspuren an Kater zu verfüttern, der mitten in der Unterrichtsstunde verschwunden war, in der wir lernten, wie man mit einem Luftsack in der Rohrleitung umgeht. Als Kater zurückkam, hatte er den Rest der Unterrichtsstunde damit verbracht, sich den Schnurrbart zu putzen. »Und danke, dass du auf ihn aufgepasst hast.«
»Null Problemo.« Nate drehte den Kopf und schaute mich an. Wenn er die Kappe nicht trug, fiel sein Haar ihm in Wellen auf die Schultern. Kurz geschnitten wäre es eine einzige Masse von Locken gewesen. Er hatte ein schmales, bewegliches Gesicht, das von seinen Augen beherrscht wurde. Sie waren dunkel und starrten mich in einer Art und Weise an, die ich sehr unangenehm fand. Ich reckte das Kinn vor, und der Augenblick zog sich hin, wuchs sich zu einem Duell aus. Ich würde nicht als Erste fortschauen, aber ich merkte, dass er die Herausforderung angenommen hatte und sich nicht besiegen lassen wollte. Ich wandte die Augen nicht ab, zog leicht die Brauen in die Höhe, als sei ich belustigt. Schließlich blinzelte er zuerst und wandte den Kopf ab.
Ich lächelte und schaute wieder auf die Tüte in meiner Hand. »Heute Abend werden wir gut essen. Danke.«
»Er ist ein schlauer kleiner Kater.« Nate warf mir einen weiteren finsteren Glitzerblick zu, nickte dann in Richtung des Gartens der Otways. »Siehst du Annette oft?«
Branwell Brontë, so hatte Peter ihn genannt, den talentierten Burschen, von dem alle Großes erwarteten; und nun spülte er hier mit gut zwanzig in einem lächerlichen Café für College-Studenten Geschirr. Was machte er bloß mit all seinem Talent? Erreichte er bei Fantasy-Computerspielen die höchsten Levels? Zeichnete er komplizierte Bilder von Motorrädern? Rauchte er Dope und machte sich so tiefe Gedanken über Gott und die Welt, dass wir anderen sie unmöglich verstehen konnten? Er hatte das überlegene Gehabe, das ich schon öfter bei Leuten bemerkt hatte, die Drogen nehmen. Ich mochte ihn, aber ich wollte nicht mit ihm über Annette sprechen. »Ich bin die bezahlte Hilfskraft im Garten«, sagte ich. »Ich habe nicht viel mit der Familie zu tun.«
»Ich mach mir nur Sorgen um sie.« Er verzog das Gesicht. »Wir sind nicht besonders gut befreundet, aber wir haben uns bei dem Theaterstück, das wir aufgeführt haben, wirklich prima verstanden – hast du das gesehen? Ein Halloween-Stück, über Zombies. Ich musste sie entführen.«
»Nein«, antwortete ich. »Ich habe es nicht gesehen, aber erst kürzlich hat mir jemand erzählt, wie gut es war.« Vielleicht investierte er seine Energie da, führte Regie und trat in Stücken auf. »Wieso machst du dir wegen ihr Sorgen?«