Eine Idee des Doctor Ox - Jules Verne - E-Book

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Jules Verne.

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Beschreibung

Die belgische Kleinstadt Quiquendone, besteht seit 800 Jahren, hat 2393 Einwohner und liegt 15,25 km südöstlich von Brügge in Flandern an der Vaar, einem Nebenfluss der Schelde. Von dem Naturwissenschaftler Dr. Ox wird sie wegen des phlegmatischen Charakters ihrer Einwohner zum Schauplatz eines ungewöhnlichen Experiments ausgewählt. Dieser hat für eine Gasbeleuchtung in der gesamten Stadt Rohre verlegt. Die Gasbeleuchtung soll mit Knallgas, einer Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff betrieben werden. 

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Eine Idee des Doctor Ox

Jules Verne

Veröffentlicht: 1872Kategorie(n): Fiction, Action & Adventure
Über Verne:

Jules Gabriel Verne (February 8, 1828–March 24, 1905) was a French author who pioneered the science-fiction genre. He is best known for novels such as Journey To The Center Of The Earth (1864), Twenty Thousand Leagues Under The Sea (1870), and Around the World in Eighty Days (1873). Verne wrote about space, air, and underwater travel before air travel and practical submarines were invented, and before practical means of space travel had been devised. He is the third most translated author in the world, according to Index Translationum. Some of his books have been made into films. Verne, along with Hugo Gernsback and H. G. Wells, is often popularly referred to as the "Father of Science Fiction". 

Kapitel1 Dem zufolge es unmöglich ist, die kleine Stadt Quiquendone selbst auf den besten Karten zu finden.

Wenn Ihr Euch daran macht, auf einer älteren oder neueren Karte von Flandern die kleine Stadt Quiquendone aufzusuchen, wird Eure Mühe sich wahrscheinlich als vergeblich erweisen. Ist Quiquendone denn vom Erdboden verschwunden? Nein. Eine Stadt der Zukunft vielleicht? Auch das nicht. Sie existirt den Handbüchern der Geographie zum Trotz, und zwar schon seit acht- oder neunhundert Jahren; ja, sie zählt sogar 2393 Seelen, wenn man jedem ihrer Bewohner eine Seele zuerkennen will. Quiquendone erstreckt sich dreizehn und ein halb Kilometer nordwestlich von Audenarde und fünfzehn und ein Viertel Kilometer südöstlich von Bruges, mitten in Flandern. Die Stadt liegt an dem Vaar, einem kleinen Nebenfluß der Schelde, über den drei Brücken hinwegführen, die sämmtlich nach alterthümlicher Weise überdacht sind.

Als Merkwürdigkeiten der Stadt sind zu nennen ein altes Schloß, dessen Grundstein vom Grafen Balduin, dem zukünftigen Kaiser von Constantinopel, gelegt wurde, und ein Rathhaus mit gothischen Bogenfenstern, das von Zinnen gekrönt und von einer dreihundertsiebenundfünfzig Fuß hohen Warte mit Thürmchen überragt wird. Man hört hier jede Stunde ein Glockenspiel von fünf Octaven, ein förmliches Luftclavier, das einen noch größeren Ruf hat, als das Glockenspiel in Bruges. Die Fremden – wenn nämlich überhaupt Fremde nach Quiquendone kommen – verlassen die Stadt nicht, ohne sich den Saal der Stadthouder angesehen zu haben, der mit einem Bilde von Brandon geschmückt ist, das Wilhelm von Nassau in Lebensgröße darstellt; ferner besuchen sie das Empor der Kirche Saint-Magloire, ein Meisterwerk der Baukunst aus dem sechzehnten Jahrhundert, den schmiedeeisernen Brunnen, der mitten auf dem großen Platze Saint-Ernuph ausgegraben ist, und dessen wundervolle Verzierung man dem Maler und Grobschmied Quentin Metsys verdankt, und endlich ein Grabmal der Maria von Burgund (Tochter Karl's des Kühnen), das ihr hier errichtet ist, obgleich sie jetzt in der Notre-Dame-Kirche zu Bruges ruht. Als Hauptindustriezweig betreibt Quiquendone die Fabrikation von Schlagsahne und Gerstenzucker auf großer Scala, und wird diese Fabrik seit Jahrhunderten in der Familie Tricasse verwaltet und vom Vater auf den Sohn vererbt. Aber trotz alledem ist Quiquendone nicht auf der Karte von Flandern zu finden; ob aus Vergeßlichkeit der Geographen oder aus böslicher Absicht, ist mir unerforscht geblieben. So viel jedoch steht fest: Quiquendone existirt, und seine engen Straßen, seine befestigte Umfassungsmauer, seine Markthalle und endlich sein Bürgermeister legen beredtes Zeugniß dafür ab; ja der Letztere würde Euch auf das Klarste darthun können, daß Quiquendone in jüngster Zeit der Schauplatz eines ebenso außerordentlichen und unwahrscheinlichen, als wahrhaftigen Natur-Phänomens gewesen ist, und hierüber wollen wir in vorliegender Erzählung getreulich berichten.

Von den Flamändern des westlichen Flanderns läßt sich gewiß weder Böses sagen noch denken; sie zeigen sich als rechtschaffene, sparsame, gesellige, gleichmüthige und gastliche Leute, die, was ihre Sprache und geistigen Fähigkeiten anbetrifft, vielleicht ein wenig schwerfällig sind, aber das erklärt noch immer nicht, wie es kommt, daß eine der interessantesten Städte des Landes sich ihren Platz in der neueren Kartographie erst noch erobern soll. Ja, diese Unterlassungssünde der Geographen ist gewiß zu bedauern. Wenn nun wenigstens die Geschichte, oder statt ihrer die Chroniken, oder doch wenigstens die Ueberlieferung des Landes die Stadt Quiquendone erwähnten! Aber nein; weder die Atlanten noch die Reisehandbücher sprechen von diesem vergessenen Ort, und selbst Herr Joanne, den man sonst wohl als einen Jäger auf kleine Nester bezeichnen kann, sagt kein Wort darüber. Daß solch ein Schweigen dem Handel und der Industrie von Quiquendone schaden muß, liegt auf der Hand; wir wollen diesem Ausspruch aber eiligst hinzufügen, daß die Stadt weder auf Handel noch Industrie Anspruch macht und ganz vorzüglich ohnedem fertig wird. Ihr Gerstenzucker und ihre Schlagsahne wird am Orte selbst verzehrt und nicht weiter ausgeführt. Kurz, die Quiquendonianer brauchen Niemanden; ihr Wünschen ist beschränkt und ihre Existenz eine durchaus bescheidene; sie verhalten sich ruhig, gemäßigt, kalt, phlegmatisch, mit einem Wort, als richtige »Flamänder«, wie sie ab und zu noch zwischen Schelde und Nordsee angetroffen werden.

Kapitel2 In dem sich der Bürgermeister van Tricasse und Rath Niklausse über städtische Angelegenheiten unterhalten.

»Sie glauben wirklich? fragte der Bürgermeister.

– Ja, ich glaube es, antwortete der Rath nach einem minutenlangen Schweigen.

– Wir müssen uns hüten, in dieser Sache leichthin zu verfahren, versetzte der Bürgermeister.

– Wir sprechen nun bereits seit zehn Jahren von der betreffenden, wichtigen Angelegenheit, würdiger van Tricasse, und ich muß gestehen, daß ich noch immer zu keinem Entschluß kommen kann.

– Ich begreife Ihr Zögern sehr wohl, hub der Bürgermeister nach einer viertelstündigen Ueberlegungspause wieder an, ich begreife Ihr Zögern sehr wohl und billige es; wir dürfen vor eingehender Prüfung der Frage keinen bestimmten Entschluß fassen.

– So viel ist gewiß, einen Civilcommissar haben wir in einer so friedlichen Stadt, wie Quiquendone, nicht nöthig, bemerkte Rath Niklausse.

– Unser Vorgänger, sagte der Bürgermeister in ernstem Ton, unser Vorgänger würde nie gewagt haben zu behaupten, daß irgend etwas gewiß sei. Jede solche Versicherung ist unangenehmen Rückschlägen unterworfen.«

Der Rath verneigte sich zum Zeichen seiner Zustimmung; dann hüllte er sich etwa eine halbe Stunde lang in tiefes Schweigen; während dieser Zeit waren Bürgermeister und Rath vollkommen ruhig gewesen, sie hatten auch nicht einen Finger gerührt. Endlich richtete Niklausse die Frage an Tricasse, ob sein Vorgänger – vor etlichen zwanzig Jahren – nicht auch den Gedanken gehabt habe, die Stelle eines Civilcommissars eingehen zu lassen und so der Stadt Quiquendone die Ausgabe einer Summe von jährlich 1375 Franken und so und so viel Centimes zu ersparen.

»Allerdings, antwortete der Bürgermeister, indem er mit majestätischer Grandezza die klare Stirn berührte, allerdings; aber der würdige Mann ward uns entrissen, ehe er in Bezug auf diese wie auch manche andere Verwaltungsmaßregel einen Entschluß zu fassen gewagt hätte. Es war ein weiser Mann! warum sollte ich ihm nicht nachahmen?«

Rath Niklausse wäre außer Stande gewesen, Gründe anzugeben, die diesen Ausspruch des Bürgermeisters entkräftet hätten.

»Wenn ein Mensch stirbt, ohne in seinem Leben irgend eine Entscheidung getroffen zu haben, fügte Tricasse mit nachdrücklichem Ernst hinzu, so ist er nahe daran gewesen, die Vollkommenheit auf dieser Welt zu erreichen!«

Nach diesen Worten drückte der Bürgermeister mit der Spitze seines kleinen Fingers auf ein Glöckchen, das hierauf einen Ton hören ließ, der mehr ein Seufzer als ein eigentlicher Klang zu nennen war, und fast unmittelbar darauf vernahm manleichte Schritte, die über die Fliesen der Hausflur herannahten. Eine Maus hätte nicht weniger Geräusch machen können, wenn sie über eine dichte Mokette trippelte. Die Zimmerthür ging auf, indem sie sich auf ihren geölten Angeln drehte, und ein junges Mädchen mit langen blonden Flechten trat ein. Es war Suzel van Tricasse, die einzige Tochter des Bürgermeisters. Sie überreichte ihrem Vater seine kunstgerecht gestopfte Pfeife und ein kupfernes Kohlenbecken und verschwand alsbald ebenso geräuschlos, wie sie gekommen war, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben.

Der Bürgermeister zündete nun den ungeheuren Feuerraum seines Rauchinstruments an und verschwand bald in einer dichten Wolke bläulichen Dampfes, während sich Rath Niklausse von Neuem den allertiefsten Ueberlegungen hingab.

Das Zimmer, in dem diese beiden mit der Verwaltung von Quiquendone betrauten, angesehenen Persönlichkeiten also beriethen, war ein reich mit Sculpturen aus dunklem Holz geschmückter Saal. Ein hoher Kamin, ein so enormer Heerd, daß man in ihm hätte einen Eichstamm verbrennen oder einen Ochsen braten können, nahm ein ganzes Fach der getäfelten Wand ein, und ihm gegenüber lag ein Gitterfenster mit geblendeten Scheiben, durch das die Sonnenstrahlen mit sanftem, gedämpftem Licht hereindrangen. Ueber dem Kamin hing in einem antiken Rahmen ein alterthümliches Portrait irgend eines Pfahlbürgers, das einen Ahnherrn derer van Tricasse darstellen sollte und Hemling zugeschrieben wurde. Der Stammbaum der Familie van Tricasse reichte authentisch bis in's vierzehnte Jahrhundert zurück, einer Zeit, in der die Flamänder und Gui von Dampierre gegen den Kaiser Rudolf von Habsburg kämpften.

Der beschriebene Saal bildete einen Theil des bürgermeisterlichen Hauses, eines der reizendsten Gebäude von Quiquendone; es war in echt flämischem Geschmack errichtet und mit all den malerischen und phantastischen Grillen und Ueberraschungen ausgestattet, welche die Spitzbogen-Architektur mit sich bringt. Wäre dies Haus ein Karthäuser-Kloster oder eine Taubstummenanstalt gewesen, so hätte es darin nicht ruhiger und stiller zugehen können; man wagte kaum aufzutreten und bewegte sich nur gleitend vorwärts; es wurde nicht laut gesprochen, sondern leise geflüstert, und doch fehlten dem Bürgermeisterhause nicht weibliche Bewohner, denn es beherbergte außer Frau Brigitte van Tricasse, der Frau des Herrn van Tricasse, die Tochter des würdigen Paares Suzel und ihre Magd Lotchè Janshéu. Auch müssen wir die Schwester des Bürgermeisters, Tante Hermance, eine alte Jungfer, anführen, die auf den Namen Tatanémance hörte, den ihr ihre Nichte Suzel, als diese noch ein kleines Mädchen war, beigelegt hatte. Trotz all dieser Elemente der Zwietracht, des Lärms und der Schwatzhaftigkeit war das Bürgermeisterhaus, wie schon erwähnt, so still und ruhig wie eine Wüste.