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Fünf Wochen Wanderung auf dem Jakobsweg – dieser Bericht erzählt von außergewöhnlichen Erlebnissen auf dem bekanntesten Pilgerweg der Welt, dem Camino Francés nach Santiago de Compostela. Hunderttausende sind alljährlich dorthin unterwegs, denn – so besagt eine alte Legende – in dieser Stadt befände sich das Heilige Grab des Apostels Jakobs des Älteren. Im kargen Hochgebirge der spanischen Mesetas wird diese Wanderung zu einer Reise in die Vergangenheit. Anekdoten aus fünf abenteuerlichen Wochen drehen sich um Begegnungen mit vielen Pilgern aus aller Welt, von lustig bis absurd, abgerundet durch Legenden über den faszinierenden Weg und historische Informationen.
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Seitenzahl: 231
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Michael Sohmen
Eine Pilgerreise
zum Ende der Welt
Abenteuer,
ungewöhnliche Erlebnisse
und Legenden vom Jakobsweg
E-Book Version 2
Überarbeitete Fassung März 2015
Erste Veröffentlichung Dezember 2014
Das Buch ist auch erhältlich als Printausgabe:
ISBN-13: 978-1505647945
Fünf Wochen Wanderung auf dem Jakobsweg – dieser Bericht erzählt von außergewöhnlichen Erlebnissen auf dem bekanntesten Pilgerweg der Welt, dem Camino Francés nach Santiago de Compostela. Alljährlich sind hunderttausende Pilger dorthin unterwegs, denn – so besagt eine alte Legende – in dieser Stadt befände sich das Heilige Grab des Apostels Jakobs des Älteren.
Im kargen Hochgebirge der spanischen Mesetas wird diese Wanderung zu einer Reise in die Vergangenheit. Anekdoten aus fünf abenteuerlichen Wochen drehen sich um Begegnungen mit vielen Pilgern aus aller Welt, von lustig bis absurd, abgerundet durch Legenden über den faszinierenden Weg und historische Informationen.
1. August, St.-Jean-Pied-de-Port
Irgendwo an einer Busstation 5 Uhr morgens in Frankreich oder in Spanien. Genaugenommen habe ich keine Ahnung, wo ich gerade gelandet bin.
Der Bus hatte gehalten, der Fahrer sagte etwas durch, ich habe jedoch kein Wort davon verstanden. Um diese Zeit sollte der Fernbus in der baskischen Stadt San Sebastian ankommen. Also habe ich mir meinen Rucksack gegriffen und bin ausgestiegen.
Allen Freunden und Verwandten hatte ich erzählt, dass ich den Jakobsweg gehen werde, Spannendes werde ich berichten. Damit entwickelte sich ein ›Point of no return‹. Ein Rückzieher im letzten Moment, das wäre eine Blamage. Also habe ich mich in den Fernbus gesetzt, um ohne Übernachtung zum Anfang des Camino Francés zu gelangen.
Mit der technischen Unterstützung, meinem neuen Smartphone und GPS, so die Planung, werde ich den Weg zum Strand finden. Dort warten, bis die Sonne aufgeht und schauen, wie ich weiterkomme. Einzelne Personen sind zu dieser Nachtstunde mit ihrem Hund unterwegs – und eine Gruppe von Halbstarken, die mich in verschiedenen Sprachen begrüßt, mir aber etwas unheimlich erscheint. Südländische Städte haben den Ruf, nachts ein gefährliches Pflaster zu sein. Ich grüße kurz zurück und setze den Weg mit einem schnelleren Schritt durch die Nacht fort.
Die Orientierung mit der technischen Lösung gelingt nicht, daher versuche ich es mit einer anderen Strategie. In zunehmend weiten Kreisen laufen, bis etwas nach Strand aussieht – oder bis ich einen Fluss erreiche, dem ich bis zum Meer folgen kann. Dies funktioniert. Dem Fluss folge ich stromabwärts bis zu einen Sandstrand. Dort lädt mich, passend für ein Frühstück, eine gemütliche Sitzbank ein. Einige Brötchen besitze ich noch, Nektarinen, reichlich Vorrat an Mineralwasser und genieße die Morgendämmerung am Strand. Als geübter Langschläfer sehe ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder Frühsportler – eine Spezies, die beim ersten Sonnenstrahl schon auf den Beinen ist.
Von San Sebastian - inzwischen bin ich sicher, dass ich mich wie geplant dort befinde - gibt es die Möglichkeit, mit dem Zug zum Startpunkt des Camino Francés zu fahren. Jedenfalls hatte ich eine Landkarte im Internet gesehen, auf der eine Bahnstrecke nach St.-Jean-Pied-de-Port eingezeichnet ist. Beim Fluss entdecke ich Wegweiser zum Bahnhof, mit deren Hilfe ich die Station ›Euskatren‹ finde. Das ist die baskische Bahn. Am Schalter erfahre ich, ein Zug würde nach Irun fahren, dort müsse ich umsteigen und würde mit der französischen Bahn weiterkommen, bis nach St. Jean.
In der Grenzstadt Irun, kurz hinter der Bahnstation, nehmen Polizisten eine Grenzkontrolle vor. Zwischen Spanien und Frankreich – was ungewöhnlich für EU-Staaten ist. Wo Basken leben, gelten wohl spezielle Sicherheitsregeln.
Vor dem Bahnhofsgebäude sitzen oder liegen einige erschöpfte jüngere Leute. An Rucksäcke gelehnt, einige davon laut schnarchend. Jakobspilger! Also bin ich auf dem richtigen Weg. Eineinhalb Stunden verbleiben bis zur Weiterfahrt, die Zeit ist in der Gesellschaft von Backpackern jedoch recht kurzweilig. Die Polizisten erscheinen wieder, auf einer Patrouille durch das Bahnhofsgebäude kontrollieren sie die Ausweise von zwei Leuten etwas länger – es scheinen Südamerikaner zu sein, ich hatte sie schon während der Busfahrt gesehen. Es stellt sich vermutlich heraus, dass sie keine gültigen Papiere haben. Sie werden abgeführt.
Als ich einen Schluck zu mir genommen habe und meine Wasserflasche wieder im Rucksack verstauen will, platzt dessen Reißverschluss. Die Katastrophe schlechthin, wenn mein Rucksack schon vor Beginn der Wanderung den Geist aufgibt. Oje. Und das, nachdem er schon sieben Jahre lang den fast täglichen Gebrauch durchgehalten hat. Es gelingt mir aber, den Reißverschluss wieder zusammen zu pfriemeln. Kein Drama, alles wieder gut, die Tour ist soweit gerettet – vorerst. Bald fährt auch die Bahn. Mit den anderen Backpackern befinde ich mich im Zug. Zum Startpunkt des Camino Francés.
Von Irun aus, der letzten spanischen Stadt an der Grenze zu Frankreich, startet eine andere Variante des Jakobswegs. Der Camino del Norte führt am Meer entlang, an der Küste des Atlantischen Ozeans. Und ist eine eigenständige Route nach Santiago de Compostela, die sich erst kurz vor dem Ziel mit diesem Weg vereint. Es gibt von dort auch eine Abzweigung auf den Camino Primitivo, den ursprünglichen und ältesten Jakobsweg.
In Irun beginnt die Fahrt mit der französischen Bahn zum Fuß der Pyrenäen, führt parallel an einem Gebirgsfluss entlang, teils durch Schluchten mit rauschenden Wildwassern, vorbei an Berghängen, durch dichte Vegetation. Häufig streift das von den Felsen herabhängende Gebüsch die Fenster des Zuges – eine Fahrt durch die Wildnis. Während der komfortablen Reise mit der Bahn genieße ich die Landschaft, sehe unten am Fluss Kanus und Schlauchboote – Paddler, die auf einer Tour durch das Wildwasser in der umgekehrten Richtung unterwegs sind oder gerade am Ufer rasten. Ein landschaftliches Paradies. Durch die Schluchten der Pyrenäen aufwärts zu wandern, das würde ich auch gerne unternehmen.
Kurz vor dem Ziel erscheint eine Brücke, die den Namen ›Pont d'enfer‹ trägt. Von der Legende einer Brücke, die der Teufel erbaut haben soll, hatte ich zuvor gehört. Ihm wurde die Seele von demjenigen versprochen, der zuerst über die Brücke gehen würde, jedoch schickte man stattdessen als erstes einen Ziegenbock voraus. Das ist jedoch eine andere Legende – bei dieser Brücke nahe der kleinen Ortschaft Bidarray soll sich der Teufel in die Tiefe gestürzt haben. Aus Verzweiflung, da er nicht in der Lage war, die baskische Sprache zu verstehen. Kein Wunder, Baskisch ist eine völlig eigenständige und komplizierte Sprache.
Es gibt weder eine Verwandtschaft mit sonstigen Sprachen auf der iberischen Halbinsel noch mit einer anderen in Europa. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Basken recht isoliert von anderen Stämmen gelebt haben. Anders als viele Stämme sind sie während der prägenden Zeit der Völkerwanderung bei ihrem angestammten Gebiet geblieben und haben keine Elemente der romanischen Sprachen übernommen.
Der Zug erreicht St.-Jean-Pied-de-Port. Ich bin am Ziel meiner Reise. Oder vielmehr, am Anfang.
Die Festung am Ausgangspunkt des Camino Francés ist eine mittelalterliche Verteidigungsanlage, die sich an einem strategisch wichtigen Punkt vor dem Pyrenäenpass befindet. Lange Zeit diente sie zur Sicherung der Grenze des Königreiches Navarra. Der französische Name der Stadt bedeutet ›Fuß des Passes über die Pyrenäen‹, ›St. Jean‹ ist Johannes der Täufer. Im zwölften Jahrhundert wurde diese Festung errichtet, kurz nachdem eine frühere Siedlung namens St.-Jean-le-Vieux, die sich ganz in der Nähe befand, durch König Richard ›Löwenherz‹ von England vollständig ausgelöscht wurde – bis dahin bestand diese Siedlung seit römischer Zeit. Und vor ihrer Zerstörung existierte dort das größte Hospital des Jakobsweges.
Hier, am Fuße des Pyrenäenpasses, bekommt man alles, was ein Pilger braucht: Jakobsmuscheln, Pilgerstöcke, Strohhüte, Anhänger für die Halskette ... vieles davon ist verziert mit der baskischen Rose. Diese sieht einem Symbol in der deutschen Geschichte nicht unähnlich. Den Vergleich will ich lieber nicht weiter ausführen, jedoch ist eine gewisse optische Ähnlichkeit vorhanden.
Zunächst besorge ich mir im Pilgerbüro den Pilgerpass – für die Stempel, die ich auf dem Weg sammeln werde und reserviere mir einen Platz in der Herberge. Diese wurde augenscheinlich komplett neu renoviert, jedenfalls ist sie sehr sauber und äußerst gemütlich. Der Eindruck wird sich auch bei den späteren Unterkünften wiederholen. Nach dem großen Ansturm von Pilgern im Jakobusjahr 2010 scheint einiges in die Infrastruktur der Herbergen investiert worden zu sein.
Etwas fremd fühle ich mich in dieser neuen Umgebung. Den Nachmittag habe ich viel Zeit, die Stadt und die historische Festungsanlage mit der Zitadelle im Zentrum zu erkunden. Ich begebe mich auf die Burganlage, um etwas zu Picknicken, sitzend auf einer Bank genieße ich die Aussicht auf die grüne Pyrenäen-Landschaft. Eine Idylle, die eine unheimlich entspannende Wirkung hat.
Beim Lesen meiner Emails bekomme ich einen Schreck – zwei neue, sehr wichtige Nachrichten, Kunden beschweren sich wegen Programmierfehlern in meiner Software. Und die sollte ich möglichst kurzfristig beheben. Schlimmer hätte es nicht kommen können – zu einem Zeitpunkt, an dem ich die Wanderung noch nicht einmal begonnen habe. Ich hatte mir ein Smartphone angeschafft, um notfalls damit arbeiten zu können, unterwegs. So umständlich das Programmieren über das kleine Touchdisplay so eines Gerätes auch ist – mit einem Laptop hätte ich kaum auf eine mehrwöchige Wanderung gehen können.
Vor der Tour hatte ich einkalkulieren müssen, dass ein ernsthaftes Problem auftauchen könnte, das sich auf diese Weise nicht lösen lässt. Ich müsste die Tour abbrechen und zurückfahren, um das Problem von zuhause zu beheben. Um flexibel zu bleiben, hatte ich auch noch keine Rückreise gebucht – hier und jetzt, bevor ich überhaupt auf den Weg gestartet bin, abbrechen zu müssen, der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht.
Das Vornehmen von Korrekturen mittels Smartphone und das Übertragen von geänderten Dateien hatte sich zuerst schwierig gestaltet, aber vielleicht hat es funktioniert. Telefonat mit einem Kunden, Mitteilung per Email mit dem Anderen – alles scheint in Ordnung zu sein. Die Katastrophe ist abgewendet.
2. August, St.-Jean-Pied-de-Port → Roncesvalles
Morgens um 5 Uhr ist es mit der Nachtruhe in der Herberge vorbei, als die ersten Pilger im Schein von Taschenlampen hektisch mit dem Packen ihrer Rucksäcke beginnen. Zwei Stunden später bin ich der letzte Pilger, der sich bereit macht – ich schalte die Zimmerlampe an und zwei, die noch am Packen sind, äußern sich dankbar, da sie jetzt nicht mehr blind im Dunklen wühlen müssen. Bei der Übernachtung für 10 Euro ist noch ein kleines Frühstück - Brot, Marmelade und Kaffee - inklusive. Es wird Zeit zu starten.
Der Pfad führt durch die Ortsmitte, von Anfang an mit gut sichtbaren Jakobsmuscheln oder gelben Pfeilen markiert, es folgt ein Anstieg, der durch eine grüne und danach felsige Landschaft führt, bald habe ich die Höhe erreicht. Eine beeindruckend weite Sicht über die Bergkämme der Pyrenäen. Ein Gefühl der Freiheit stellt sich ein. Großartig! Was war der wichtigste Auslöser, diese Tour zu unternehmen? - kommt mir in den Sinn. Jahrzehnte ist es her, wir hatten damals mit der Familie eine Mehrtageswanderung in Norwegen unternommen. Vielleicht war es die Idee, einen alternativen Sprachurlaub zu unternehmen? Oder Bücher, die ich über den Weg gelesen habe? Wie als Antwort kommt mir ein altes Gedicht in den Sinn:
Die Straße gleitet fort und fort, Weg von der Tür, wo sie begann, Weit überland, von Ort zu Ort, Ich folge ihr, so gut ich kann. Ihr lauf ich raschen Fußes nach, Bis sie sich groß und breit verflicht Mit Weg und Wagnis tausendfach. Und wohin dann? Ich weiß es nicht.
Das Gedicht des Hobbits von J.R.R. Tolkien! Tatsächlich - das könnte es sein - die Erinnerung an die Abenteuer des kleinen Helden aus dem Auenland war die eigentliche Motivation, den ersten Schritt zu wagen. Eine sehr abenteuerliche und ereignisreiche Wanderung auf dem Jakobsweg steht mir ebenso bevor.
Auf der ersten Etappe hinauf in die Pyrenäen gelange ich am frühen Vormittag zu einer Hütte mit einer vorgelagerten Terrasse zum Rasten. Die passende Zeit, bei einer Kaffeepause Kräfte zu sammeln. Nach einer weiteren Wanderung aufwärts, in luftigen Höhen, treffe ich mittags auf einen Wohnwagen, der als Imbiss dient. Dort probiere ich zu einem Kaffee etwas baskischen Schafskäse, der als regionale Spezialität angeboten wird. Der Verkäufer in dem Campinggefährt malt eine Strichliste des Tages an seinen Wagen, die eine Statistik der Nationalitäten der vorbeikommenden Pilger zeigt. Fast alle Länder der EU sind vertreten. Sogar die indische Nation.
Dem Inder begegne ich am nächsten Tag – mich hatte gewundert, wie jemand von dort auf die Idee gekommen war, den Jakobsweg zu gehen. Als ich erfahre, dass er momentan in Madrid studiert, stellt es sich nicht mehr als so abwegig heraus.
An einem Platz in der Höhe sind Marienstatuen aufgestellt. Und dort, wenn man den Felsen weiter erklimmt, wird man durch eine Aussicht auf die Gebirgsketten rundum belohnt. Folgt man fortan dem Weg über den Pass, findet man die Rolandsquelle. Jemand erfrischt sich dort gerade an dem kühlen, frischen Quellwasser – ein Spanier, der im spartanischen Stil wandert, ohne ein Trinkgefäß mitzunehmen. Sicherheitshalber trage ich selbst dagegen 3 Liter Wasser.
Etwas später auf einem Waldweg treffe ich auf eine Familie, die mit einem Kinderwagen die Pyrenäen überquert. Spanier sind wohl etwas anders gestrickt. Die Etappe bis zum nächsten Ort beträgt 27 Kilometer über die Höhen der Pyrenäen. Man überwindet 800 Höhenmeter bis zum höchsten Punkt – auch wenn es eine Erleichterung ist, dass der Anstieg ziemlich gleichmäßig und stetig bergauf führt.
Der Ibañeta-Pass - seinerzeit hatte diesen auch Napoleon auf seinem Spanienfeldzug für die Überquerung der Pyrenäen mit seinen Truppen gewählt - befindet sich bald auf Wolkenhöhe, jedenfalls hat sich hier dichter Nebel festgesetzt. Nach der Heidelandschaft in der Höhe und einem Rastplatz, an der viele Pilger gerade eine Brotzeit halten, durchquere ich auf einem steilen Pfad abwärts einen dichten Wald und gelange am Ende an einen kleinen Bach.
Dort, vor mir, erhebt sich eine gigantische Klosteranlage aus der Ebene. Roncesvalles! Der Legende nach soll der ruhmreiche Ritter Roland hier sein Ende gefunden haben. Eine bronzene Statue am Fuße des Klosters erinnert an den Helden, der dem Tal seinen Namen gab. Vielleicht sehenswert ist auch der Schrein, in dem eine überdimensionale Krone dem mittelalterlichen Kaiser Karl ›dem Großen‹ gewidmet ist. Charlemagne, wie er hier genannt wird.
Das ehemalige Kloster in Roncesvalles dient als Pilgerherberge. Ich lasse meine Credentials - den Pilgerausweis - stempeln und verbringe dort die Nacht.
Drei Tage sind vergangen, seit Karl mit seiner Armee aufgebrochen war. Den Feind im Rücken, mussten sie über den Pass und durch schwieriges Gelände. Bis in die dunklen Nächte haben sie Waffen und Nahrung durch dichten Wald transportiert, den kaum ein Sonnenstrahl zu durchdringen vermag. Ein Kraftakt für die erschöpften Männer, unter Aufbietung all ihrer Reserven – eine endlose Karawane aus Trägern und Packpferden hatte sich den steilen Pfad hinauf bis zum Pass gequält, um in der Höhe mit dichtem Nebel konfrontiert zu werden.
Roland, der tapfere Neffe des Königs und ein verlässlicher Ritter ohne jeden Tadel, wurde abgeordnet, mit seinen Paladinen den Rückzug zu decken. Die Mauren könnten versuchen, ihnen während der Überquerung der Pyrenäen in den Rücken zu fallen. Auf dieser Seite des Gebirges und auf der gesamten Iberischen Halbinsel fand Karl, für den es nur Untertanen oder Feinde gab, weder Freunde noch Verbündete.
Mittags endlich erscheinen Späher bei Roland mit der Nachricht, Karls Truppen und die Transportkarawane hätten erfolgreich die Pyrenäen überquert. Keine Feinde sind gesichtet worden, der Weg scheint sicher. Die Nachhut solle sich sammeln und sogleich aufbrechen.
Roland seufzt erleichtert bei der Aussicht, endlich dieses gefährliche Tal verlassen zu dürfen. Seine Fußsoldaten marschieren nun diesen schmalen schlammigen Pfad aufwärts, der durch die Regengüsse der letzten Tage und von den Hufen der Packpferde aufgeweicht wurde. Fast unerträglich ist der Marsch mit Rüstung und Waffen.
Endlich ist eine Anhöhe erreicht. Der steile und an den physischen Kräften zehrende Aufstieg im Regen über den zerfurchten Untergrund, auf dem ihre Füße kaum Halt finden konnten, ist überwunden. Arm- und Beinschienen haben die Ritter abgelegt, für den Marsch wäre der Schutz allzu hinderlich gewesen. Die Helme ebenso – wegen des Nebels, in dem sie kaum noch ihre Hand vor Augen sehen konnten. Ein Platz auf einem Felsen bietet die passende Gelegenheit, um eine Pause einzulegen. Zeit zum Rasten. Eine kleine Mahlzeit wird eingenommen, zum Wärmen etwas Wein, Klatsch und Tratsch.
Die Truppe bricht wieder auf. Zunehmend mühsam setzen die Ritter ihren Weg über einen schmalen schlammigen Pfad fort und folgen Spuren. Unpassierbarer dichter Wald befindet sich auf der rechten Seite, linker Hand gähnt ein Abgrund. Der Ibañeta-Pass. An einer Quelle können die vollkommen erschöpften Männer ihren Durst stillen und sich von Schlamm reinigen.
Der Ruf einer Eule ist zu vernehmen - der sich nach einer menschlichen Stimme anhört, es folgen Schreie aus dem Nebel. Unbekannte Stimmen, in einer unbekannten Sprache. Wilde Männer brechen aus dem nebligen Wald und rennen auf die Truppe des Roland zu, alle mit Speeren bewaffnet und ohne Rüstung. Die erschöpften Franken wird völlig überrascht. Chaos und Verwirrung im dichten Nebel - es ist zu spät, um eine Schlachtordnung zu finden. Bedroht von einer wilden Horde, Männern mit Speeren und Heugabeln, werden die Soldaten in den dicht bewaldeten Abgrund gedrängt. In ihrer Rüstung können die Ritter in diesem Gelände kaum das Gleichgewicht halten. Der Paladin Olivier beschwört seinen Herrn inständig, das fränkische Heer mit dem Signalhorn zu Hilfe zu rufen – der stolze Ritter Roland lehnt ab.
Basken! - Karl hatte sich wahrlich keine Freunde gemacht, als er ihre Festung Pamplona zerstörte - im Morgengrauen haben sie sich an Rolands Truppe vorbei durch den Wald geschlichen, oberhalb des Weges im Wald versteckt und auf einem strategisch günstigen Hügel vor den Augen der königlichen Späher verborgen. Und dort gewartet, um blutige Rache zu üben.
Zwar sind die Basken in der Unterzahl, kennen jedoch in diesem Gelände jeden Winkel. Schnell gewinnen sie die Oberhand.
Die Paladine und einige verbleibende Soldaten halten mit dem Mut der Verzweiflung stand. Die Lage wird jedoch schnell aussichtslos. Hals über Kopf fliehen sie in den steil abfallenden Wald, ihre Verfolger im Rücken, durch dichten Nebel zurück ins Tal. Dort werden sie von weiteren Gegnern überrascht. Sie sind eingekesselt, ein Kampf um Leben und Tod beginnt. Die Niederlage ist absehbar - dennoch geben die Soldaten und Ritter nicht auf. Es geht nur noch darum, ihre Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Möglichst viele Feinde mit in den Tod zu nehmen.
Rücken an Rücken kämpfen die letzten Überlebenden. Bis zur völligen Erschöpfung. Der Kampf ist verloren. Es geht nur noch um Ruhm und Ehre.
Auf Drängen seines treuen Begleiters - Bischof Turpin - stößt Roland in sein Horn Olifant. Ein letzter Hilfeschrei, der weithin hörbar ist. Aber zu spät. Tödlich verletzt schmettert Roland sein Schwert Durendal mehrmals gegen einen Felsen und schlägt eine gewaltige Bresche - keinesfalls darf diese mächtige Waffe in die Hände des Feindes geraten.
Der Held ist gefallen.
3. August, Roncesvalles → Pamplona
Frühstück ist in der Klosterherberge auf Selbstbedienungsbasis. Die Auswahl wird durch den Münzautomaten bestimmt. Ein eingeschweißter Croissant und ein Kaffee genügen fürs Erste.
Im Klosterkeller sammle ich meine Klamotten, die ich abends noch gewaschen hatte, vom Wäscheständer. Alle Kleidungsstücke sind komplett nass geblieben, einfachheitshalber verstaue ich alles in einer Plastiktüte. Da ein unangenehmer kalter Nieselregen niedergeht, ziehe ich vor dem Verlassen der Unterkunft einen Plastikponcho über. Diese sehr gewichtssparende Version von einem Regenschutz mitzunehmen, fand ich besonders geschickt - es handelt sich dabei im Prinzip um einen Müllbeutel, in den zwei Löcher für die Arme und ein Überzug für den Kopf integriert sind. Das wiegt nur ein paar Gramm. Bei dem Versuch, den Poncho über den Rucksack zu ziehen, habe ich erst etwas Schwierigkeiten, ein Hospitalero bietet mir seine Hilfe an. Hospitaleros sind Freiwillige, die sich um die Herbergen kümmern und Pilger versorgen.
Am Ortsende nennt ein Schild die Entfernung zum Ziel – 790 Kilometer bis Santiago de Compostela. Da habe ich mir Einiges vorgenommen. Nach meiner Schätzung werde ich insgesamt 5 Wochen zu Fuß unterwegs sein auf dieser Wanderung. Falls ich nicht vorher aufgebe.
Der Regen lässt glücklicherweise nach, über drei leichtere Pässe führt der Wanderweg entspannt voran. Ab und zu passiere ich Verkehrsschilder, die fast ausnahmslos alle bemalt und kreativ umgestaltet sind, immer sehr witzig. Es scheint in der Gegend wohl Volkssport zu sein. Oder es sind künstlerisch veranlagte Pilger vorbeigekommen.
Zur Mittagszeit endet der Pfad an einer alten Brücke und ich gelange in die Siedlung Zubiri. Baguette und Chorizo, eine spanische Salamispezialität, besorge ich mir in einem Supermarkt und geselle mich am Flussbett unterhalb der Brücke zu einigen anderen Pilgern für ein Picknick.
Zubiri ist baskisch und bedeutet Dorf an der Brücke. Die Legende der Brücke erzählt von einem Ereignis, das sich beim Bau des mittleren Pfeilers zugetragen haben soll. Nach unvorhergesehenen Schwierigkeiten, die sich bei dessen Errichtung ergeben hatten, wurde tiefer in den Fels gegraben, dort wurde der Leichnam einer Jungfrau gefunden. Einer Schutzheiligen gegen Krankheiten, die vor allem gegen Tollwut helfen soll. Nach dem Fund wurde ihr Körper wieder an der gleichen Stelle beigesetzt - seither soll der Legende nach jeder, der die Brücke überquert, ob Mensch, ob Tier, von Krankheiten erlöst werden.
Weil der Tag noch recht jung ist, beende ich die Etappe nicht in Zubiri und wandere nun über einen von Felsstaub bedeckten Boden - durch das Areal von Magna, einer gigantischen Zementfabrik.
Im nächsten Dorf komme ich zuerst an einem Cola-Automaten vorbei, danach an einem Brunnen. Ein großes Hinweisschild wurde seitlich angebracht, auf dem darauf hingewiesen wird, dass das Wasser nicht chloriert und aus dem Grund nicht als Trinkwasser geeignet ist. In acht Sprachen. Was mich nicht irritiert - hier fülle ich meine Wasserflaschen auf, kostenlos. Ein Polizeiwagen fährt in dem Moment langsam an mir vorbei, hält neben mir an und der Polizist, der am Steuer sitzt, macht mich darauf aufmerksam, dass man dieses Wasser nicht trinken dürfte, da es nicht chloriert und unhygienisch wäre. Es hatte nur gefehlt, dass er auf den Cola-Automaten hinweist, der nur 10 Meter von hier entfernt ist.
Etwas später überholen mich zwei Holländer, begrüßen mich und erzählen, in dem Ort, an dem der Weg gerade vorbeiführt, gäbe es eine Herberge - dort könnte man übernachten. Oder weiter bis nach Pamplona, das wäre jedoch eine Tagesetappe von insgesamt 42 km. Marathonentfernung - von Roncesvalles aus gerechnet. Das hört sich nach einer Herausforderung an, mich packt der Ehrgeiz. Also folge ich dem Weg weiter, durch malerische Dörfer, fühle mich etwas in das Allgäu und in die Voralpen versetzt. Das Baskenland ist eine der wohlhabendsten Regionen Spaniens, die Ortschaften sind attraktiv und gepflegt, umgeben von einer intensiv grünen Landschaft. Häufig führt der Weg durch dichten Urwald. Den hätte ich in Spanien niemals erwartet.
Am Ende des Waldes folgen Felder, bald eine Brücke, kurz darauf eine Entfernungsangabe: 8 Kilometer bis Pamplona. Erleichtert denke ich, fast habe ich es geschafft - bin ich auch - und kann mich bald ausruhen. Die Sonne des Nachmittags brennt unerbittlich vom Himmel, kein Schatten in Sicht, der etwas Abkühlung spenden würde. Nach einer halben Stunde passiere ich eine Festungsruine, kurz darauf sehe ich einen Wegweiser mit einer Entfernungsangabe. Der besagt, es wären noch 10 Kilometer bis Pamplona. Ich frage ich mich selbst laut: Welchen Weg habe ich denn noch vor mir? Und wann werde ich, wenn überhaupt, heute noch ankommen?
Über einen Bergpass weiter, an abgeernteten Feldern entlang, parallel zur Schnellstraße. Stunden später durchquere ich eine heruntergekommen wirkende Vorstadt, überall sind Graffiti zu sehen, häufig mit dem Schriftzug, der darauf hinweist, dass man sich im Baskenland befindet:
»Pilgrim, you are in Euskerian Country!«
Auf dem Weg durch eine Betonsiedlung taucht eine Gruppe von Kindern auf, die mir entgegenlaufen. Hier bin ich lieber vorsichtig – diese Siedlung vermittelt nicht gerade den Eindruck von Sicherheit. Etwas überrascht bin ich, als die Kinder mich mit Handschlag begrüßen wollen. Einem Pilger die Hand zu schütteln, oder ihn zu berühren, soll Glück bringen. Eigentlich war ich bisher nur auf der Wanderung. Nun bin ich ein echter Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela! Ein erhebendes Gefühl.
Pamplona! Die Hauptstadt der baskischen Region Navarra ist rundum mit Festungsmauern umgeben - man durchquert erst ein unteres Festungstor, dann ein oberes Stadttor und gelangt in die Innenstadt. Hier wird man auf die politischen Aktivitäten aufmerksam gemacht, fast an jedem Haus der Altstadt wehen Banner, die ein autonomes Baskenland - Euskadi auf baskisch – fordern. Viele Bürger scheinen die Unabhängigkeit Navarras anzustreben.
Von Pompeius gegründet ist Pamplona - Iruña in der baskischen Sprache - vor allem berühmt wegen der Stierläufe, die eine Woche lang vom 7. - 14. Juli stattfinden. Besucher kommen von weit her zu diesem Fest, das ursprünglich Firminus dem Märtyrer gewidmet wurde. Stiere werden durch das Zentrum bis zur Arena getrieben. Vorneweg rennen besonders Mutige, oder Leichtsinnige, zumeist Jugendliche. Einige werden von Stieren erwischt, ihren Hörnern durchbohrt oder niedergetrampelt.
Informationen zu Übernachtungsmöglichkeiten erhalte ich bei einer Touristeninformation. Die erste Möglichkeit ist die zentrale Herberge Jesús y Maria, dort hängt ein Schild am Eingang und verkündet: komplett ausgebucht. Es gibt nur noch eine zweite Herberge, die Casa Paderborn, die jedoch viel zu weit außerhalb liegt - jetzt noch weiter wandern, das machen meine Füße nicht mehr mit. Es ist halb sieben Uhr abends - in einer zentral gelegenen und belebten Straße der Fußgängerzone soll es noch Hotels geben. Einem Hinweisschild entnehme ich, man solle an einer Bar fragen - ein dort beschäftigter Kellner informiert mich: wenn ich mich noch eine halbe Stunde in Geduld üben könnte, würde ich ein Einzelzimmer bekommen.
Das Zimmer, das ich beziehe, ist zwar halbwegs gemütlich, aber ohne Fenster und zu warm. Mit einem Deckenventilator, der nur wenig Abkühlung verschafft. Trotz allem eine Wohltat - endlich kann ich mich ausruhen und die Füße hochlegen. Die noch immer nassen Klamotten verteile ich im Badezimmer zum Trocknen und entspanne mich danach mit einer Flasche Wein. Überflüssiges Gewicht reduzieren, den Wein hatte ich noch vor der Tour besorgt und will ihn nicht weiter im Rucksack schleppen. Später und nachts, noch eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen. Schwierigkeiten stellen sich bei dem Versuch ein, aus der Tür des Hotels herauszukommen, so überfüllt ist die Gasse mit Menschen. Es ist Freitag.
Mir wird erzählt, per Gesetz ist es in Pamplona zum Ende der Woche offiziell erlaubt, auf der Straße zu feiern und sich zu besaufen - daher sitzen sie überall auf der Straße mit einem Bier oder stärkeren Getränken. Und palavern. Das ist die Lieblingsbeschäftigung der Spanier.
Im Einzelzimmer werde ich nicht von Frühaufstehern geweckt und kann bis 9 Uhr ausschlafen. Ungünstigerweise ist die Wäsche bei dem schwülen Wetter noch nicht getrocknet und findet erneut einen Platz in der Plastiktüte.
Nach der harten Etappe des Vortages will ich mir nicht so viel vornehmen, eine Weile gemütlich durch Pamplona spazieren - eine Stadtbesichtigung ohne Rucksack. Anzuschauen gibt es Einiges.
Wegen der strategisch wichtigen Lage war die Stadt häufig umkämpft - im Laufe der Geschichte wurde Pamplona mehrmals zerstört. Die ältesten Teile der Befestigung stammen aus dem 16. Jahrhundert, der Zeit, als Navarra noch ein Königreich war. In dem ältesten Stadtteil kann man an den Mauern entlang durch die mittelalterliche Festungsanlage wandern und etwas über ihre Entstehung lesen - geschichtliche Informationen sind dort vielerorts auf Tafeln angebracht. Auf spanisch, baskisch, englisch und französisch. Am Rande der Festung befindet sich auch die Stierkampfarena, umgeben von einem Park.
Bei meinem Spaziergang durch das Stadtzentrum werfe ich einen Blick in die Kathedrale, in der gerade ein Gottesdienst stattfindet. Drei Priester halten eine Messe - für insgesamt drei Besucher.
Zwei Stunden und einige Fotos später begebe ich mich vorbei an einigen Kirchen, dem Parlament, dem Rathaus, über den Plaza del Castillo zurück, hole meinen Rucksack und folge wieder den Zeichen des Jakobsweges. Auf zur nächsten Etappe.
4. August, Pamplona → Puente la Reina
Hinter Pamplona folgt eine Ebene mit ausgedehnten Feldern, auf denen Weizen und Sonnenblumen gedeihen. Bald ist das Ende des Tals erreicht, ein steiler Anstieg führt einen schmalen Pfad hinauf und verläuft danach an einem Bergkamm entlang. Windräder erheben sich vor einem blauen Himmel. Auf dem Schotterpfad überhole ich Radfahrer, die hier aufwärts nur schieben können und stellenweise ihren fahrbaren Untersatz den Weg hinauf tragen müssen.