Auf dem Jakobsweg durch die weiße Hölle - Michael Sohmen - E-Book

Auf dem Jakobsweg durch die weiße Hölle E-Book

Michael Sohmen

0,0

Beschreibung

Auf der Wanderung im Sommer erfuhr ich, es gäbe noch einen weiteren Jakobsweg in Spanien. Einen viel älteren. Camino Primitivo – der ursprüngliche Weg. Erste Pilger waren schon im 9. und 10. Jahrhundert aufgebrochen, nahmen die Wanderung durch die gebirgige Landschaft im Nordwesten Spaniens auf sich, überwanden hohe Pässe mit dem Ziel Santiago de Compostela. Die Kleine Schweiz nennen Spanier diese wilde Region, über der sich die majestätischen Gipfel der Picos de Europa erheben. Ruhelos, geistig noch auf dem Camino Francés und ständig mit dem Gedanken befasst zurückzukehren, hatte ich mir vorgenommen, noch vor Jahresende eine weitere Tour zu unternehmen. Dieser alte Pilgerweg mit einer Länge von 320 Kilometern wäre leicht in zwei Wochen zu Fuß zurückzulegen. Goldenes Herbstwetter wurde vorhergesagt und Pilgerherbergen sind laut Plan durchgehend bewirtschaftet. Kurzentschlossen starte ich. Alles wird anders: Vom Wintereinbruch überrascht, entwickelt sich der Marsch im Schneesturm über tiefverschneite Bergpässe zum Alptraum. Willkommen in der weißen Hölle!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 133

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Sohmen

Auf dem Jakobsweg

durch die weiße Hölle

Das Winterabenteuer auf dem

Camino Primitivo

Der älteste Pilgerweg nach

Santiago de Compostela

E-Book Version 1

Überarbeitete Fassung Mai 2015

Erste Veröffentlichung April 2015

Das Buch ist auch erhältlich als Printausgabe:

ISBN-13: 978-3746046594

Ein etwas anderer Bericht vom Jakobsweg.

Auf der Wanderung im Sommer erfuhr ich, es gäbe noch einen weiteren Jakobsweg in Spanien.

Einen viel älteren.

Camino Primitivo – der ursprüngliche Weg.

Erste Pilger waren schon im 9. und 10. Jahrhundert aufgebrochen, nahmen die Wanderung durch die gebirgige Landschaft im Nordwesten Spaniens auf sich und überwanden hohe Pässe mit dem Ziel Santiago de Compostela.

Die Kleine Schweiz nennen Spanier diese wilde Region, über der sich die majestätischen Gipfel der Picos de Europa erheben.

Ruhelos, geistig noch auf dem Camino Francés und ständig mit dem Gedanken befasst zurückzukehren, hatte ich mir vorgenommen, noch vor Jahresende eine weitere Tour zu unternehmen.

Dieser alte Pilgerweg mit einer Länge von 320 Kilometern wäre leicht in zwei Wochen zu Fuß zurückzulegen. Goldenes Herbstwetter wurde vorhergesagt und Pilgerherbergen sind laut Plan durchgehend bewirtschaftet.

Kurzentschlossen starte ich.

Alles wird anders: Vom Wintereinbruch überrascht, entwickelt sich der Marsch im Schneesturm über tiefverschneite Bergpässe zum Alptraum.

Willkommen in der weißen Hölle!

Fahrt durch die Nacht

24. November, Anreise

»Diesen Weg sollte man auf keinen Fall im Winter unternehmen.«

Als ich die Warnung im Pilgerbericht lese, ist meine Entscheidung getroffen: Ich werde den Camino Primitivo gehen.

Es ist Ende November, goldener Herbst und kein Winter in Sicht. Bis jetzt noch nicht. Also der richtige Moment, die ultimative Chance, vor Einbruch der kalten Jahreszeit das Jahr mit einer letzten Wanderung zu segnen.

Am Spannendsten finde ich, Wege selbst zu entdecken. Nicht nach einem Plan oder mit einem Reiseführer vor der Nase zu wandern. Ganz unvorbereitet wollte ich die Tour aber nicht beginnen: sind die Pilgerherbergen überhaupt zu dieser Jahreszeit geöffnet? Wo kann ich übernachten?

Eine Liste aller Herbergen des Weges - in welchem Ort sie sich befinden und welche Entfernungen dazwischen liegen - habe ich mir ausgedruckt. Laut den Informationen einer spanischen Internetseite sind alle Pilgerherbergen 365 Tage im Jahr, also durchgehend geöffnet. Das entscheidende Kriterium ist erfüllt. Perfekt!

Jetzt sitze ich im Fernbus, bin auf dem Weg zurück nach Spanien, fahre durch Frankreich und nähere mich den Pyrenäen.

Eigentlich war ich niemals ganz fort von hier – mein Geist war im vergangenen Sommer auf dem Jakobsweg, dem Camino Francés nach Santiago de Compostela hängengeblieben. Dort, in der weitläufigen Hochebene, in einem Dorf der tiefsten spanischen Provinz, hatte ich von einem portugiesischen Pilger in einer Herberge erfahren, es solle noch eine andere Variante des Jakobsweges geben. Einen noch viel älteren. Den ursprünglichen Weg. Den Camino Primitivo.

Für mich ist es ein Versuch, mental zurück in die Wirklichkeit zu finden. Möglicherweise wird es schauderhaftes Wetter geben, vielleicht wird die Tour unangenehm. So werde ich zur Erkenntnis kommen: der Camino ist etwas ganz Normales. Und vielleicht ist es die passende Medizin, wenn man sich auf dem Jakobsweg davor unglücklich verliebt hat.

Es sitzen viele Pendler im Bus, Glücksritter auf der Suche nach einem Job. Aushilfsarbeiter, die sich in Deutschland für wenige Münzen verdingt haben und in ihre Heimat zurückkehren. Ein Spanier, der ebenso mit dem Fernbus reist, erzählt mir während einer Pause: er wäre dem Ruf nach Frankfurt gefolgt, denn man hätte ihm einen Job auf einer Baustelle angeboten. Dort angekommen - fährt er fort - sagte man ihm: nein, es wäre ein Irrtum, momentan hätte man keinen Bedarf. Pech gehabt! Der Spanier hat noch einen weiten Weg vor sich. Er kehrt zurück nach Malaga, eine weitere Tagesreise mit dem Bus.

Alle drei Stunden verlassen wir die Autobahn und halten an einer Raststätte. Neun Uhr abends erneut Pause und Gelegenheit, mir die Beine zu vertreten. Als ich an unserem Reisebus vorbeilaufe, öffnen sich die Klappen des Gepäckfachs und in dem Moment fällt etwas heraus. Bin ich der Einzige, der dies bemerkt? Überrascht erkenne ich: es ist mein Rucksack! Genaugenommen ist es nicht mein eigener, denn diesen habe ich nur geliehen. Unter keinen Umständen darf er verloren gehen, denn darin befindet sich alles, was ich für die Pilgerreise mitgenommen habe. Flugs greife ich nach ihm, verstaue ihn tiefer im Gepäckraum und äußere stumm den Wunsch, er möge bis zum Ende der Reise nicht verloren gehen. Ich bin nicht abergläubisch, daher interpretiere ich dieses Malheur auch nicht als ein böses Omen. Wenn ich erst in Oviedo angekommen sein werde, von dort aufbreche und die letzten Tage des Jahres bei einer wunderschönen Herbstwanderung auf dem Jakobsweg verbringen kann, wird das Jahr vollkommen sein.

Die Nacht bricht herein, Schatten senken sich über die Landschaft. Unsere Busbegleiter dimmen das Licht, schalten den Bordfernseher ein und starten DVDs zur Unterhaltung der Reisenden. Action ist angesagt:

Es beginnt mit dem Film ›Der Legionär‹ mit Jean-Claude van Damme. Zu deutsch vermutlich: Hans-Klaus vom Deich. Es folgt ein Thriller mit Bruce Willis: ›Stirb langsam‹. Wenn möglich, sollte dies nicht der Slogan für meine Tour werden. Die Dialoge des Films sind in Spanisch, dazu werden Untertitel eingeblendet: »Bem, Bem! Bom …« Was ich zuerst für eine Comic-Sprache halte. Später komme ich zu der Vermutung: es ist Portugiesisch. Es folgt ein weiterer Actionfilm mit Bruce Willis, dessen Titel mir entgangen ist – hauptsächlich besteht er aus monotoner Handlung: 90 Minuten durchgehend Maschinengewehrsalven, unterstützt von Granaten, permanentem Geschützfeuer.

Zum Glück ruft auf meinem Mobiltelefon in diesem Moment keiner meiner besorgten Verwandten an. Wegen der Geräuschkulisse im Hintergrund mit lauten Explosionen und Dauerfeuer aus schweren Geschützen könnten sie befürchten, ich hätte mich nicht auf den Pilgerweg nach Santiago begeben, sondern für die gefährlichere Variante nach Jerusalem entschieden und würde mich jetzt in Syrien mitten im Bürgerkrieg befinden.

Eine Stunde nach Mitternacht endet der Film und wir werden in die Nacht entlassen. Ein letzter Stopp, Buswechsel, ich werde zum Umsteigen aufgefordert. Sicherheitshalber nehme ich den Rucksack diesmal in den Bus mit und stelle ihn zwischen meine Füße. Bald haben wir die spanische Grenze erreicht und fahren über das Grenzgebirge.

Ich liebe diese Fahrt in den Pyrenäen, wenn der Bus auf dem kurvenreichen Highway durch die Nacht rauscht, wenn eine endlose Lichterkette aus Straßenlaternen wie eine riesige Python vorbeizieht, während Lichtermeere spanischer Siedlungen in der Ferne funkeln wie ein Meer von Sternen.

Zurück

25. November, Ankunft in Oviedo

Ankunft 10 Uhr morgens. Endlich kann ich nach 24 Stunden Busfahrt meine Gelenke wieder zurechtrücken. Ich habe Oviedo erreicht, die Hauptstadt der spanischen Provinz Asturien.

Es gibt einen großen Schuhmarkt und ich hätte mich mit ein paar passenden Stiefeln eindecken können, wenn ich das vorher gewusst hätte. So jedoch hatte ich mir vor der Tour eiligst preisreduzierte Wanderschuhe in einem Restposten-Markt organisiert, mit denen ich mich bisher nicht richtig anfreunden konnte. Da sie mein Fußgelenk einquetschen und ich Schmerzen bei jedem Schritt empfinde. Aber ich werde mich an diese Schuhe gewöhnen müssen. Vielleicht werden sie sich dehnen und meinen Füßen anpassen. Und wenn nicht – egal. Diesmal habe ich nur eine kürzere Wanderung vor mir. Weniger als zwei Wochen, vermutlich 10 Tage werde ich für diesen Weg brauchen.

Eine Woche zuvor war mildes Wetter vorhergesagt, es sah nach einem goldenen Herbst aus. Nachdem ich die Busfahrt gebucht hatte, wurde die Prognose für die kommenden Tage nach unten korrigiert und jetzt ist es ziemlich frisch. Es fröstelt ein wenig. Sicherlich fühlt sich die Temperatur wegen meiner Müdigkeit kälter an, da ich vergangene Nacht im Bus schlaflos verbracht habe. Jedoch muss ich mich in Geduld üben und warmhalten. Die Pilgerherberge öffnet laut Hinweis ihre Pforten erst um 17:30 Uhr.

Bei einem Spaziergang durch die Stadt bestaune ich die malerischen schneebedeckten Berggipfel im Hintergrund: die mächtige Gebirgslandschaft der Picos de Europa, die sich über der Ebene erhebt. Möglicherweise habe ich Glück, treffe unterwegs auf erste Vorboten des Winters und die ersten Schneeflocken fallen. Vielleicht. Derzeit ist es dafür aber noch nicht kalt genug.

Die Straßen der Altstadt sind gesäumt von zahlreichen Restaurants, von denen ich keines besuche. Ich fühle mich hier noch fremd. Oder zu müde. Bei einem Spaziergang durch einen Park fallen mir Jugendliche ins Auge, die in einem Kreis gruppiert auf dem Rasen sitzen, die sich abwechselnd erheben, um einen Baum zu umarmen. Spirituelle Menschen, die mit dieser rituellen Berührung Kraft aus der Natur ziehen. Vielleicht eine religiöse Randgruppe. Möglicherweise Pilger.

Am Rande des Parks befindet sich die Touristeninformation, eine nette Spanierin händigt mir dort einige Informationen aus und so habe ich eine gute Übersicht über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Die Wartezeit bis zum Abend vertreibe ich mir bei einem Spaziergang durch die Stadt und bewundere die vielen Gebäude im Jugendstil, besichtige die Kathedrale, sowie einige Kirchen. Eine von ihnen ist Judas gewidmet. Seltsam, denn in der Christenheit besitzt er keinen besonders guten Ruf. Von einer Kirche bin ich besonders beeindruckt: San Juan el Real – künstlerische Perfektion, abgerundet mit leuchtend roten Kuppeldächern.

Als ich am späten Nachmittag ein Bett im Schlafsaal beziehe, um mir nach der weiten Anreise ein paar Stunden Ruhe zu gönnen, befürchte ich, der Einzige zu sein – bis spät abends zwei Pilger ihren Kopf durch den Türrahmen in den Saal stecken und mich freundlich begrüßen. Zwei Franzosen. Ich fühle mich nun nicht mehr ganz verloren.

Abends sind die Beiden damit beschäftigt, Dehn- und Streckübungen im Aufenthaltsraum zu vollführen, während ich mir in der Kochecke mit Käse belegte Brötchen toaste. Nebenbei erfahre ich von meinen zwei Mitbewohnern: sie sind Skilehrer aus Chamonix - einer Stadt am Fuße des Mont Blanc – und wären einige Tage auf dem Camino del Norte gewandert: dies ist der Küstenweg und eine weitere Variante des Jakobsweges, der am Atlantik im Norden entlangführt. Weil dort fast keiner unterwegs gewesen wäre, erzählen sie, hätten sie sich entschieden, auf den Camino Primitivo zu wechseln. Und ich sei erst der dritte Pilger, dem sie unterwegs begegnen.

Regen

26. November, Oviedo → St. Jean de Villapanada

Wir haben unsere Rucksäcke gepackt, es ist kurz nach 8 Uhr und wir werfen einen Blick durch die Tür hinaus. Ich sehe nur Schwärze. Ein Regenschauer geht nieder.

»Wir gehen jetzt los. Kommst du nicht mit?«

»Wenn es etwas heller geworden ist«, murmele ich demotiviert, »und der Regen nachlässt.«

»Na dann – sehen wir uns heute Abend«, verabschieden sich die beiden Franzosen freundlich.

Ich schließe die Tür wieder und setze meinen Rucksack ab. Nein, das muss nicht sein, nicht für mich. Gleich beim ersten Schritt vor die Tür habe ich nasse Kälte gefühlt, die unangenehm in den Nacken kriecht. Eilig habe ich es nicht und fläze mich zurück auf das Bett. Das tut gut, da ich noch etwas müde von der langen Anfahrt bin.

Eine Stunde später spähe ich durch das Fenster. Auf der Scheibe lassen sich keine neuen Regentropfen nieder, die Morgendämmerung bricht herein. Freude regt sich bei mir – ich habe das große Los gezogen! Heute werde ich wieder auf dem Camino sein: dem Weg des Mythos, dem Pfad der Legenden und Abenteuer durch Spanien. Wie bedrückt habe ich mich die letzten Monate gefühlt, wie ein Vogel im Käfig. Wie fieberte ich dieser Wanderung entgegen, häufig mit dem Gedanken beschäftigt, zurückzukehren. Nun ist es wahr geworden: ich bin hier. Glückselig wie ein Erleuchteter verlasse ich die Herberge, genieße jeden Schritt durch die Stadt, schwebe an den Bauwerken im Jugendstil vorbei, während am Horizont die friedlichen Riesen der Picos de Europa über allem thronen.

Oviedo habe ich bald verlassen und der Pfad führt hinauf in eine leicht alpine grüne Landschaft, die mich an Österreich erinnert. Rinder beobachten mich neugierig mit großen Augen und mampfen friedlich, als ich an ihren Feldern vorbeimarschiere.

Ich bin auf dem Camino! Die gelben Pfeile, die Muschelsymbole, alles ist da. Was brauche ich mehr? Es kommt mir so vor, als wäre es meine eigentliche Heimat. Jetzt bin ich wirklich angekommen, es ist wundervoll. Endlich zurück. Mein Körper und mein Geist haben sich wiedergefunden. Ich fühle mich wie der ewig lächelnde Buddha. Glückselig. Vollkommen.

Auf einem Serpentinenpfad hole ich zwei Pilgerinnen mittleren Alters ein, die sich sogleich vorstellen: sie kämen aus Mallorca und Madrid, hätten sich in Oviedo verabredet und würden den Camino ohne Zeitdruck gemütlich angehen. Da die beiden Spanierinnen tatsächlich sehr langsam unterwegs sind, verabschiede ich mich nach der kurzen Unterhaltung wieder. Asturien wäre ihre »kleine Schweiz«, hatte die Pilgerin aus Madrid erzählt. Die Bezeichnung finde ich sehr passend für diese Gebirgslandschaft. Bald geht es abwärts, einem mäandernden Bach folgend, durch einen Kastanienwald. Gerade zur richtigen Jahreszeit, denn eine Menge Esskastanien liegen direkt auf dem Weg. Eifrig sammle ich, fülle eine ganze Tüte und habe einen großzügigen Vorrat. Da ich mich auf der letzten Wanderung im vergangenen Sommer häufig von Brombeeren ernähren konnte, hatte ich mich zuletzt gefragt, mit welcher Nahrung sich der »primitive« Pilger im Winter versorgen kann. Die Frage ist beantwortet: es gibt Kastanien in Hülle und Fülle.

Zugvögel haben sich in den Sträuchern versammelt und debattieren mit wildem Gezwitscher. Einen Augenblick später, wie auf ein Kommando, erheben sie sich mit kräftigem Flügelschlag, finden zu einem Schwarm zusammen und schweben einen Moment über mir. Sie ziehen nach Süden. Es sind die ersten Vorboten des Winters.

Irgendwo bin ich falsch abgebogen, weitere Wegmarkierungen fehlen. Das letzte Muschelsymbol an einer Gabelung war nicht ergänzt mit einem gelben Pfeil. So musste ich raten, welche Abzweigung die Richtige ist. Egal. Wichtig ist, dass ich unterwegs bin. Mir kommt eine spirituelle Erleuchtung: man muss nicht immer vorgegebenen Pfaden folgen. Wenn man weiß, wo man hin will, ist man auf dem richtigen Weg. Der Camino ist überall. Außerdem habe ich ein Smartphone mit GPS, bin nicht orientierungslos und kann meine Schritte in Richtung der nächsten Siedlung lenken.

Rechts des Weges, so besagt ein Schild, befänden sich Überbleibsel einer mittelalterlichen Siedlung. Vereinzelte Steine, die aus einer grünen Wiese herausragen. Man braucht viel Phantasie, um sich eine Ruine vorzustellen.

Als ich die Muschelsymbole und somit den Camino wiedergefunden habe, ist der Fußweg mit Quadern aus Sandstein gepflastert. Eine alte Römerstraße muss dieser Pfad durch den Wald sein, vermute ich, als ich plötzlich Getrappel von Hufen höre. Hinter einem Zaun erscheinen zwei Pferde und beobachten mich neugierig. Als ich meinen Weg fortsetze, laufen sie hinter ihrem Zaun parallel nebenher, bleiben kurz stehen, trappeln weiter und blicken mich erneut an. Was wollen die Beiden? Etwas zum Knabbern? Kastanien hätte ich anzubieten. Ob die so etwas vertragen? Was, wenn sie sich den Magen daran verderben? Vielleicht sind es wertvolle Reitpferde, gezüchtet für Milliardäre in Dubai. Dann könnte das teuer werden. Nein, lieber mampfe ich alle Kastanien selbst. Der Wald mündet in eine Lichtung, dort endet das eingezäunte Gelände und meine unermüdlichen Begleiter müssen zurückbleiben.

Eine Gabelung mit Wegweisern folgt: Der Camino de Santiago direkt geradeaus oder ein Camino zu irgendwelchen Ruinas Romanas linker Hand. Darunter ist angegeben, dies wären 2 km Umweg. Nicht zu viel, um mir römische Ruinen entgehen zu lassen. Etwas versteckt hinter einer Kirche entdecke ich sie auch: das Kellergewölbe einer kleinen Römertherme, ein Raum von maximal einem Meter Höhe, in dem das Feuer von Sklaven geschürt werden musste, damit die Herren darüber es schön warm hatten. Vor zweitausend Jahren. Spektakulär sind diese Ruinen jedoch nicht.

Bald rücken die Berge von beiden Seiten zusammen und ich wandere durch einen Canyon. Durch Ortschaften, die aus einem oder zwei Gebäuden bestehen und so kann ich häufig zwei Schilder, die den Ortsanfang und das Ortsende markieren, gleichzeitig sehen.

Bis Grado bin ich trockenen Fußes vorangekommen, jetzt öffnet der Himmel seine Schleusen und es stellt sich heraus: es ist sehr vorteilhaft, dass dieser geliehene Rucksack einen integrierten Sackschutz hat. Gegen den Regen.

Grado ist nicht gerade eine Stadt, die man gesehen haben muss: Beton, besprüht mit Graffiti. Nach einer kurzen Rast bei Tortilla und Bier setze ich meinen Weg fort, es geht eine Weile aufwärts, später muss ich eine neugebaute Autobahn umständlich umwandern, um die Herberge von St. Jean de Villapanada