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An Landschaft und Kultur ist der Camino del Norte entlang der spanischen Nordküste so vielfältig wie kaum ein anderer Weg. Die Pilgertour führt durch Naturschutzgebiete, über kilometerlange Strände und in mittelalterliche Städte. Doch Vorsicht vor den Pilgern! Man lernt Menschen kennen, denen man im realen Leben nie begegnen würde. Die Wanderung beginnt in Begleitung eines belgischen Ex-Soldaten, der als Türsteher eines Swingerclubs arbeitet. Viele spanische Junkies und Chicas sind unterwegs sowie Pilger aus Frankreich, Deutschland und Dänemark. Auf den Schlussetappen gibt es Ärger mit dänischen Seniorinnen, bis die Tour mit einem Polizeieinsatz gegen die eigene Pilgergruppe endet. Ein Bericht über ein etwas verrücktes Abenteuer.
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Seitenzahl: 261
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Michael Sohmen
Der Jakobsweg am Meer
Meine Wanderung auf dem Camino del Norte
© 2019 Michael Sohmen
Buchcover: Michael Sohmen
E-Book Version 1
Erste Veröffentlichung April 2019
Kontakt: [email protected]
Internet: http://www.pilgern-online.de
Das Buch ist auch erhältlich als Printausgabe:
ISBN: 9783749449941
Pais Vasco
1. August, Irun, der Startpunkt des Camino del Norte
Viele träumen davon, einen 8000er zu besteigen, die Antarktis zu durchqueren oder gar einen neuen Kontinent zu entdecken. Den meisten bleibt es verwehrt. Aber es gibt großartige Abenteuer, die jeder Mensch erleben kann. Auf dem Jakobsweg.
Vor zwei Jahren war ich auf meinem ersten Pilgerweg, dem Camino Francés. Der bekannteste aller Caminos war ein Erlebnis, das mich nie mehr losgelassen hatte. Dramen, Bilder und Erinnerungen sind noch so präsent, als wäre alles gestern erst passiert.
Diesmal habe ich mir einen ganz besonderen Leckerbissen vorgenommen. Die spanische Nordküste direkt am Meer. Frühmorgens lande ich mit dem Fernbus in San Sebastian, wo der Weg zwar nicht beginnt, doch da ich um 5 Uhr morgens angekommen bin, setze ich auf Bewährtes. Ich begebe mich zum Strand und warte auf die Morgendämmerung.
Als sich die Sonne am Horizont erhebt, laufe ich zur Station des Euskatren. Die Fahrt nach Irun gleicht einer Reise durch die Schweizer Berge. Tunnel, Bergrücken und enge Täler mit Ortschaften, deren Gebäude sich bis an die Felswände schmiegen, manches Haus klammert sich an einen Abhang.
Dass mir noch unbekannt ist, wo sich die Herberge von Irun befindet, sehe ich positiv. So kann ich die Wartezeit mit einer Erkundigung überbrücken. Bei der Suche erreiche ich ein kleines Haus mit der Aufschrift Frontière. Der Grenzübergang. Auf der anderen Seite befindet sich Frankreich, Hendaya nennt sich die Stadt jenseits. Bei einer Rundtour entdecke ich keine erwähnenswerten Sehenswürdigkeiten, decke mich in einer Boulangerie mit Croissants ein und kehre nach Spanien zurück. Grenzbeamte sind nirgends zu sehen. Hier zeigt die Europäische Union ihre wunderbare Seite. Bei der Überquerung der Brücke über den Fluss würde mir nicht einmal auffallen, dass ich von einer Stadt in die nächste wechsle.
Als ich zur Mittagszeit die Herberge endlich gefunden habe, begegne ich am Eingang dem Verwalter, der mir sagt, dass die Unterkunft erst am späten Nachmittag geöffnet wird.
Die Zeit bis dahin vertreibe ich mir mit einem Stadtrundgang. Als mir immer noch viel Zeit bleibt, begebe ich mich in einen Naturpark unterhalb der Stadt. Dort befindet sich ein Vogelschutzgebiet mit einem Rundgang, der durch eine Auenlandschaft führt. Es gibt Beobachtungsstationen, aus denen man heimlich Möwen, Enten, Schwäne und mir unbekannte Vogelarten beobachten kann.
Eine halbe Stunde vor der Öffnungszeit kehre ich zur Herberge zurück, dort hat sich mittlerweile eine Schar an Pilgern versammelt. Als sich die Tür öffnet, geht es zu wie beim ersten Sommerschlussverkauf nach der Öffnung der DDR-Grenze. Zu viele Leute, zu wenig Angebote. Ich bin froh, dass ich mir einen Platz vorne in der Schlange erkämpfen kann und nicht bei der Verteilung der Schlafplätze leer ausgehe.
2. August, Irun → San Sebastian
Nachdem ich Irun hinter mir gelassen habe, führt ein steiler Aufstieg auf ein Plateau, welches mit dem Santuario de Guadalupe gekrönt ist. Die Kirche aus dem sechzehnten Jahrhundert ist in der großen Ära der Seefahrt erbaut worden, rundum kann man das Meer sehen. Die Aussicht könnte idyllisch sein, wenn der Nebel nicht so dicht wäre und kein Nieselregen fallen würde.
Die Trübsal löst sich auf, als ich ein bewaldetes Gelände hinter mir gelassen habe und mir der Blick hinunter eine grandiose Aussicht auf einen Hafen bietet. Mächtige Lastschiffe und Ruderboote machen sich bei der Fahrt durch einen engen Kanal gegenseitig den Platz streitig.
Unterhalb von mir befindet sich eine Burgruine. Nachdem ich viele Stufen an ihr vorbei bis zum Hafen hinabgestiegen bin, zieht mich die malerische Altstadt von Pasai Donibane in ihren Bann. Deren Häuser sind so eng zusammengerückt, dass sogar die Straße darunter verschwindet. Ich wandere durch Tunnel an grün-roten Flaggen und Plakaten vorbei, die für ein autonomes Baskenland werben und erreiche eine Anlegestelle. Am Ufer ist eine Pilgerfigur aus Metall aufgestellt, die ein Ruder in der Hand hält. Ich hatte gelesen, dass man sich komfortabel mit dem Boot zur anderen Seite bringen lassen könnte. Wenn ich das täte, wäre ich ein Touregrino. So bezeichnet man Pilger, die sich per Taxi von Ort zu Ort kutschieren lassen. Andere sollen das ruhig tun, doch mein Weg ist das nicht. Meine Füße können mich noch weit tragen, zudem habe ich es nicht eilig. Ich will jeden Meter des Camino del Norte in vollen Zügen genießen. Nicht in einer überfüllten Bahn, sondern zu Fuß.
Als ich die Anlegestelle und die malerische Stadt hinter mir gelassen habe, folgt totale Ödnis. Die Neubausiedlungen sind wenig abwechslungsreich und als ich den industriell genutzten Teil des Hafens erreiche, sehe ich nur noch Schrott. Unmengen von Schrott. Aus dem, was über die See angeliefert wurde, hatte man ein gigantisches Gebirge aus Altmetall errichtet. Mit einem Güterzug wird es weitertransportiert, an dem komme ich am Ende des Geländes vorbei. Während ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn vorangehe, führe ich ein stummes Selbstgespräch.
Ich hätte mir die fünf Kilometer der totalen Monotonie mit einer kurzen Bootsfahrt ersparen können. Doch auf der allerersten Etappe des Caminos so einen Kompromiss einzugehen, schien mir absurd. Wäre mir jedoch klar gewesen, was ich mir durch diesen Umweg eingebrockt habe, wäre eine Überfahrt die bessere Entscheidung gewesen.
Während die Temperaturen ansteigen, gestaltet es sich schwierig, einen geeigneten Weg vom Hafen durch Vorstadtsiedlungen bis zum heutigen Ziel zu finden. Als ich den Sandstrand endlich vor mir sehe, fällt eine Last von mir. Ich bin angekommen. Es ist San Sebastian mit seiner schier endlosen Strandpromenade. Leider darf ich es mir nicht erlauben, eine längere Pause einzulegen und die Sonne zu genießen. Die Erinnerung an den gestrigen Pilgeransturm treibt mich vorwärts. Mein Umweg hat mich viel Zeit gekostet und vermutlich bin ich schon zu spät. Wenn ich mich beeile, kann ich in der Unterkunft vielleicht noch den letzten Platz erwischen.
Nach meinen Informationen gibt es für Pilger nur die Jugendherberge, diese befindet sich erst ganz am Ende von San Sebastian. Nach unzähligen Schritten die Promenade entlang und nach einem Tunnel weist der gelbe Pfeil nach links, bergauf. Nach wenigen Metern entdecke ich schon den gesuchten Hinweis an einem Gebäude. Die Herberge. Ich bin angekommen. Doch ich hätte mir Zeit lassen können, denn die Herberge ist noch nicht geöffnet und bis auf eine kleine Schülergruppe wartet niemand.
Nachdem ich mich eingerichtet habe, nehme ich Kontakt zu Javi auf. Den spanischen Pilger habe ich auf dem Camino Francés kennengelernt. Er wohnt in San Sebastian, nicht weit von der Herberge und er verspricht, in wenigen Minuten mit dem Auto hier zu sein. Ich warte am Eingang, als plötzlich eine Kolonne von Polizeiautos vorbeifährt. Die Straße wird abgesperrt. Eine Stunde lang passiert nichts, danach rauschen Radfahrer vorbei. Es folgen unzählige. Mal fährt ein einzelner den Berg hinab, mal eine größere Gruppe. Während die Leute am Rand applaudieren, denke ich an Javi. Irgendwo steht er mit seinem Auto an den Absperrungen und kommt nicht durch. Nach zwei Stunden ist der Spuk fast vorbei, lustig dekorierte Kettcars und Dreiräder fahren vorbei und nach einem kurzen Seifenkistenrennen wird die Absperrung aufgehoben. Die Clásica San Sebastián ist beendet.
Nach dem Zwischenfall und einer verspäteten Begrüßung begebe ich mich mit Javi an die Küste, um den Strandbesuch nachzuholen und das sonnige Wetter zu genießen. Nach einer Abkühlung im Meer lasse ich mich von seinem besonderen Tipp überzeugen, den Monte Igueldo am Ende der Küste zu besichtigen. Mit der Bergbahn geht es hinauf, auf dem Plateau befindet sich ein umfangreicher Themenpark. Man kann mit dem Boot auf einem Wasserlauf rund um den Hügel fahren, etwas weiter sind Fahrgeschäfte und Stände aufgebaut. Bevor wir uns dem leiblichen Wohl widmen, führt Javi mich auf eine Terrasse.
»Es ist der schönste aller Jakobswege. Auf den folgenden 800 Kilometern wirst du das Meer stets auf deiner rechten Seite sehen.« Er weist zum bewaldeten Gebirge. Dunkles Grün, so weit das Auge reicht. In der Tiefe hört man die Brandung gegen die Felsen hämmern und sieht Wellen, die sich in weißer Gischt aufbäumen. Vom diesem Hügel hat man eine wunderbare Fernsicht.
Nach dem sagenhaften Blick auf die kommende Etappe gehen wir weiter. Javi zeigt zur Altstadt und weist eine Anhöhe hinauf. Dort thront ein mächtiges Gebäude mit zwei Türmen.
»Dies war früher der Bischofssitz. Es ist mit Abstand das größte Gebäude und wird heute als Schule genutzt«, erzählt er und zeigt weiter in die Ferne, zum Ende der Stadt. »Dort befindet sich die teuerste Privatwohnung von ganz Spanien. Die ist nichts Besonderes, doch San Sebastian ist die begehrteste Stadt unter den Spaniern. Sogar der einstige Diktator General Franco hatte hier seine Sommerresidenz errichtet.«
»Wie wäre es mit Bier?«, frage ich ihn. Ich hatte genügend über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt erfahren, mittlerweile setzt die Dämmerung ein.
»Okay«, antwortet er und wir begeben uns zu einer der Jahrmarkt-Buden. »Ich gebe die erste Runde aus, du die zweite.«
Er reicht mir einen Plastikbecher mit Bier, bis zum Rand gefüllt und frei von Schaum. So, wie es sich auf dem Jakobsweg gehört. »Wie war die erste Etappe?«
»Derzeit sind unglaublich viele Pilger unterwegs«, antworte ich. Zum Glück kann ich mich mit Javi fließend in Englisch verständigen.
»Das wundert mich nicht. Im Juli und August sind viele auf dem Camino del Norte unterwegs, die eigentlich gar keine Pilger sind. Viele wandern nicht und sitzen nur am Strand.«
Während ich wie verabredet das zweite Bier besorge, entschuldigt er sich, dass er nicht viel über den Küstenweg sagen könnte, da er ihn noch nicht unternommen hätte. Derweil meldet sich mein Hunger, da ich ohne Frühstück gestartet bin und mich auf dem Weg nur mit einer Tortilla gestärkt hatte. Wir verlassen den Hügel, schlendern durch die Innenstadt und sehen uns nach Restaurants um. Meine Hoffnung, jenes auf dem Jakobsweg beliebte Pilgermenü für 10 Euro auf einer Speisekarte zu entdecken, erfüllt sich nicht. Selbst die preisgünstige Alternative namens Plato combinado wäre mir recht, doch auch die gibt es nirgends. Stattdessen wird Essen zu Preisen ab 18 Euro aufwärts angeboten und zwar ein Getränk. Wir klappern das neunte Restaurant ab und können uns für kein Angebot entscheiden. Zudem hatte uns keine der Lokalitäten wirklich angesprochen, da wir an diesem lauwarmen Abend gerne draußen sitzen würden.
»Ein preisgünstiges Lokal kenne ich leider auch nicht. Im Baskenland ist alles viel teurer als in anderen spanischen Regionen«, klärt er mich auf.
Als wir um die Ecke biegen, entdecken wir ein Restaurant. Es hat eine Glasfassade und davor eine Terrasse, auf der ein Tisch unbesetzt ist. Es ist die einzige Gelegenheit, bei der wir draußen sitzen können. Es wird ein Menü beworben, das mit Aufpreis auf der Terraza 20 Euro kosten würde. Mittlerweile ist mir klar, dass eine Suche nach etwas Preisgünstigerem in dieser Stadt eine Illusion ist.
»Wie wäre es hier?«, fragt er und ich nicke kurzentschlossen.
»Es gibt für Donostia typische Spezialitäten«, sagt er nach einem Blick auf die Karte und übersetzt die Auswahlmöglichkeiten, da ich daraus nicht schlau werde. Wir entscheiden uns für Gemüselasagne als Vorspeise. Als Hauptgericht wählt er Gambas und als Dessert Eiscreme, ich entscheide mich für Lamm und Flan als Nachspeise. Wenn ich Glück habe, ist es nicht der Fertigpudding, sondern die besonders leckere Spezialität Crema Catalana.
Nachdem Javi die Bestellung aufgegeben hat, bin ich neugierig, was es mit der Bezeichnung Donostia auf sich hat. Den Namen hatte ich häufiger gelesen, dessen Bedeutung hatte sich mir bisher noch nicht erschlossen.
»Donostia ist der baskische Name von San Sebastian.«
»Aha.« So einfach. Ich frage ihn: »Kannst du baskisch?«
»Ein wenig. Nachdem ich mit meinen Eltern ins Baskenland umgezogen war, hatte ich an der Schule begonnen, die Sprache zu lernen. Es gibt fast niemanden, der damit als Muttersprache aufgewachsen ist. Denn zur Zeit der Franco-Diktatur war baskisch streng verboten und auch die anderen regionalen Sprachen wurden unterdrückt. Die Hochsprache Castellano sollte zum Standard werden. Nach dem Ende der Diktatur wurde das Verbot jedoch aufgehoben und man begann, die Vielfalt der Sprachen wiederzubeleben.«
Während wir plaudern, werden die Speisen serviert. Diese sind sehr übersichtlich. Mein Teller mit Lasagne ist nach drei Löffeln leer. Meine Lamm-Spezialität stellt wenig mehr dar als drei Knochen zum Abnagen. Dennoch schmecken die Gerichte lecker, besser als gar nichts, zudem haben wir eine Flasche Wein inklusive. Wir unterhalten uns über Urlaubspläne. Für Javi wäre es wegen seiner Projektarbeit unmöglich, Urlaub zu nehmen. Genauso wenig könnte er mehrere Wochen auf dem Küstenweg wandern. Dafür hat er geplant, nächstes Jahr die ungarische Pilgerin in ihrer Heimatstadt Budapest zu besuchen. Auf dem portugiesischen Jakobsweg hatte sich Agnes unserer Gruppe angeschlossen und unterwegs hatten die beiden zusammengefunden.
Javi will mir noch etwas Besonderes zeigen. Ein Kunstwerk, das beim abendlichen Wellengang seine Wirkung entfaltet. Wir gehen über den leeren Sandstrand wieder in Richtung Monte Igueldo. Am Fuß des Hügels nimmt die Uferpromenade eine Abzweigung zum Meer und endet dort an einer Aussichtsplattform, auf der sich einige Kinder amüsieren. Ein Mädchen steht dort, ein Zischen ist zu hören, der Rock wird hochgewirbelt und Haare fliegen in die Höhe. Eine Sekunde dauert der Spuk und die Kinder fallen in wildes Gelächter.
»Das hat sich ein Künstler ausgedacht. Unter der Plattform befindet sich ein Hohlraum, der mit dem Meer verbunden ist«, erklärt Javi das Phänomen. »Die Wellen füllen den Raum und verdrängen die Luft, die nach oben geführt wird.«
Das muss ich auch ausprobieren. Ich stelle mich auf eine der Öffnungen am Boden und warte. Ich höre, wie das Wasser donnernd gegen die Felsen kracht und einen Augenblick später fühle ich den Luftzug und Meerwasser. Es macht riesigen Spaß, auch wenn man nass wird. Wir amüsieren uns wie Kinder. Mit der Zeit wird es jedoch kalt und wir begeben uns zurück zum Strand. Eine Strandbar ist geöffnet und mit dem letzten Bier des Tages stoßen wir auf den Camino an.
»Hast du andere vom Camino Francés wiedergetroffen?«, fragt er.
»Paolo war vor zwei Monaten zu Besuch in Heidelberg, wir haben das Schloss besichtigt«, antworte ich. Der witzige Italiener war mit Javi auf dem Camino Francés unterwegs. Auf den Schlussetappen hatte ich die beiden kennengelernt.
»Er war vergangenen Herbst beim baskischen Rockfestival mit dabei«, erzählt Javi. »Drei Tage zelten, saufen und Hardrock-Musik.«
Ich bewundere Paolo. Ständig reist er durch die Welt und ist überall mit von der Partie, wo es etwas zu Feiern gibt.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich zur Unterkunft zurückkehren muss. Die Pforten der Herberge schließen um 1 Uhr, die Zeit ist knapp geworden. Javi bringt mich mit dem Auto zur Unterkunft. Aus dem Zustand seines Fahrzeuges schließe ich, dass er als freiberuflicher Programmierer kein Vermögen verdient. Sein alter VW-Passat ist ein Bastler-Fahrzeug. Die Hinterbank fehlt und beim Einsteigen muss man die Autotür festhalten, damit sie nicht herausfällt.
3. August, San Sebastian → Getaria
Die Etappe beginnt mit einem steilen Aufstieg. Nachdem ich die Stadt hinter mir gelassen habe, befinde ich mich in einer Naturidylle und dem absoluten Kontrast zur pulsierenden Stadt San Sebastian. Ich sehe Kühe, die genüsslich auf saftigen Wiesen mampfen oder faul in der Sonne liegen. Von meiner Gegenwart lassen sich die mächtigen Tiere nicht stören. Wie Javi versprochen hatte, liegt der Ozean tiefblau zu meiner rechten Seite. Diese grüne, hügelige Landschaft mit vielen Gehöften hat eine Ähnlichkeit mit dem Allgäu.
Parallel zum Camino führt ein Stromkabel in vier Metern Höhe. Zu hoch für mich, jedoch nicht für das Eichhörnchen, das mich eine Weile begleitet. Hat es noch nie einen Pilger gesehen? Ist es neugierig? Das Eichhörnchen verlässt das Stromkabel wieder und verschwindet in den Laubbäumen. Offensichtlich war ich für dieses Wesen doch nicht so interessant.
Der Weg ist sehr abwechslungsreich. Vermutlich ist es eine alte Römerstraße, die sich vom Meer abwendet und talwärts führt. So ganz stimmt es mit dem beständigen Meeresblick doch nicht. Ich komme an mittelalterlichen Ruinen vorbei und sehe eine Pilgerherberge am Wegesrand. An diesem Vormittag ist es noch zu früh, um mich einzuquartieren, dennoch trete ich ein und schaue mich um. Kein Mensch ist anwesend. Ich wandere durch das Haus und gelange durch den Hinterausgang auf eine Terrasse. Dort finde ich, wie ich gehofft hatte, einen Stempel. Ich drucke mir einen Sello, wie die Spanier es nennen, in den Pilgerausweis. Diese Stempel sind für Pilger das, was für einen General die Orden sind. Zuhause sehe ich mir diese gerne an oder zeige sie stolz vor, wenn ich von meiner Wanderung auf dem Camino berichte. Der Pilgerausweis ist zugleich die Eintrittskarte für die Pilgerherbergen. Falls ein Herbergsverwalter kontrollieren sollte, so habe ich mit den Stempeln den Beweis, dass ich den Weg aus eigener Kraft zurückgelegt habe. Ich verstaue das Kleinod in meinem Rucksack und setze den Weg fort.
Die mittelalterliche Stadt, die ich kurz darauf erreiche, wirkt völlig ausgestorben. Es ist Mittagszeit und alle halten Siesta, denke ich. Die Kirche zu meiner Linken weckt meine Neugier. Sie scheint auf einer Art Burgmauer errichtet worden zu sein. Die Straße daneben fällt steil ab, sodass sich die Burgmauern von der Basis gesehen in eine Höhe von drei bis vier Stockwerken erheben. Die Türen der Kirche sind leider verschlossen, dennoch hat sich der Gang um die Kirche gelohnt. Auf halbem Weg werfe ich einen Blick über die Dächer auf eine Bucht. Die Pfeile weisen eine Treppe hinab und ich folge diesen abwärts, bis ich mich fast auf Meereshöhe befinde. Plötzlich wird mir klar, warum dieser Ort bisher wie ausgestorben wirkte: alle Bewohner sind hier versammelt, sie feiern! Auf einem überfüllten Platz stehen sie dichtgedrängt und lauschen einer Musikkapelle. Diese Gelegenheit nutze ich und nehme am Rand eines Brunnens Platz. Nach einer halben Stunde entscheide ich mich jedoch, meinen Weg fortzusetzen. Die Musik begeistert mich nicht wirklich, sie hört sich an wie deutsche Vereinsmusik.
Am Ende des Ortes erfahre ich, wie der Ort hieß: Orio. Der Weg führt um die ganze Bucht herum, bis ein Wegweiser nach links weist. Ich durchquere einen heruntergekommen wirkenden Campingplatz, lasse diese unattraktive Übernachtungsmöglichkeit schnell hinter mir und wandere einen Serpentinenweg hinauf, der durch Weinberge führt. Während sich dieser viele Höhenmeter hinaufschraubt, gerate ich ins Schwitzen. Mittlerweile ist es früher Nachmittag und bestes Strandwetter. Wolkenloser Himmel und schätzungsweise 35 Grad im Schatten. Zum Wandern kaum geeignet und eine Situation, bei der ich zum Philosophieren tendiere. Mir kommt das Thema Franco-Diktatur in den Sinn. Wie konnte es Menschen geben, die ihre Selbstbestimmung vollkommen aufgaben, um sich jemandem zu unterwerfen? Ein kurzer Handstreich eines Kumpanen hätte genügt, um ihn ins Jenseits zu befördern.
Während mir die Hitze der prallen Sonne zu Kopf steigt, überlege ich mir, wie ich mich als Diktator machen würde. Ich würde mir eine Narrenkappe aufsetzen und meine Minister mit einer lustigen Tracht ausstatten.
Der Anstieg endet so plötzlich, wie sich meine Träume in Luft auflösen. Eine erfrischende Brise sorgt für Abkühlung. Ich sehe vor mir eine mit Kuhmist gepflasterte Straße, meine politische Karriere wird wohl warten müssen.
Einige Meter weiter taucht ein Schild auf, das auf zwei Varianten hinweist. Der kürzere Weg wäre, dieser Straße zu folgen. Die andere Strecke ist länger und führt zum Meer. Bisher war ein Umweg auf dem Camino stets die bessere Variante und daher entscheide ich mich für die zweite Alternative. Diese führt mich durch einen Campingplatz, an Zelten und Surfbrettern vorbei, und auf einen mit Gras und Kräutern bewachsenen Hügel. Dieser bietet einen Panoramablick auf die weite Küste. Es war abermals die richtige Entscheidung, diesen Umweg zu wählen, der mich mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Ich folge einem Trampelpfad durch Dünenlandschaft, steige eine Holzbohlentreppe hinab und genieße die Aussicht auf eine malerische Bucht. Im Schneckentempo geht es abwärts, da Bikini-Schönheiten vor mir ein Surfbrett schleppen und ich sie erst an der nächsten Wende überholen kann. Als ich unten angekommen bin, streife ich die Schuhe ab und setze den Fuß in den Sand. Es ist, als würde ich durch das Paradies wandern, kilometerweit. Doch bald muss ich den Strand verlassen, da sich laut Plan hier die Pilgerherberge befindet. Zarautz. Was für ein seltsamer Name für einen Ort.
Auf dieser Etappe bin ich bisher keinem einzigen Pilger begegnet, doch was sehen nun meine müden Augen? Einen Massenauflauf vor der Herberge! Möglicherweise sind es vor allem Touristen, die hier eine billige Bleibe für die Nacht suchen. Das ist so was von unfair!
Die Unterkunft wirkt wie eine ehemalige Schule im 70-er Jahre-Stil. Mit Sicherheit wurde die Farbe an der Fassade seit Jahrzehnten nicht mehr aufgefrischt. Ich werfe einen Blick auf das Eingangschild, diese Herberge bietet Platz für 30 Gäste und öffnet erst um 16 Uhr. Es ist halb drei.
»Es sind schon 34 Pilger hier«, spricht mich einer von ihnen an und zeigt zum Garten, in dem mehrere Gruppen wartend zusammensitzen. »Es wird schwierig, noch einen Platz zu bekommen.«
»Manchmal gibt es Extraplätze. Ich bin nicht anspruchsvoll. Gibt es Matratzen, auf denen man schlafen könnte?« Ich blicke ihn ratlos an.
»Vielleicht. Aber keine Ahnung, ich wollte nur berichten, dass wir schon zu viele sind. Der nächste Ort liegt fünf Kilometer weiter, dort gibt es auch eine Herberge.«
Ich überlege, ob ich kontrollieren sollte, ob es wirklich mehr als dreißig Personen sind. Oder soll ich bis vier Uhr warten und den Herbergsverwalter fragen, ob ich auf dem Boden schlafen könnte? Nein, das wäre keine gute Idee. Wenn ich die Antwort nach einem Schlafplatz erst in eineinhalb Stunden bekomme, kann ich in der Zeit auch fünf Kilometer weitergehen.
»Okay. Ich versuche es eben im nächsten Ort.« Ich verabschiede mich und begebe mich wieder auf den Camino.
Am Ortsende weist eine Karte am Wegesrand erneut auf zwei Alternativen hin. Man kann über den Berg klettern, aber mein Bedarf an Höhenmetern ist gedeckt und ich will mittlerweile nur noch ankommen. Daher entscheide ich mich für die zweite Variante. Der kombinierte Fuß- und Radweg am Meer bietet eine wundervolle Aussicht auf einen riesigen Felsen, der aus dem Meer ragt. Dort befindet sich auch die Stadt Getaria. Die Stadt wirkt äußerst vielversprechend, was Sehenswürdigkeiten angeht. Schon die merkwürdige Burg am Ortsbeginn weckt meine Neugier. Lateinische Inschriften und ein riesiges rotes Kreuz lassen mich erst an eine mittelalterliche Kreuzritterburg denken, dafür wirkt dieses seltsame Bauwerk jedoch zu neu. Beim näheren Blick entpuppt sich das Bauwerk als kaum mehr als eine Fassade. Es erweckt den Eindruck, als wäre es im Anflug von Größenwahn erschaffen worden. Auf dessen Portal thront eine überlebensgroße Figur, die wie eine Kreuzung zwischen einem Engel und unserem Hermannsdenkmal aussieht.
Meine Hoffnung auf eine baldige Stadtbesichtigung wird getrübt, da ich erst einen Platz in der Pilgerherberge finden muss und die Unterkunft liegt außerhalb des Ortes. Der steile Anstieg macht mir ein wenig zu schaffen. Diesmal habe ich Glück. Der Herbergsverwalter ist anwesend und versichert mir, es gäbe reichlich freie Betten.
»Gibt es eigentlich Leute, die den Umweg über den Berg nehmen?«, frage ich neugierig. »Ist es dort landschaftlich interessant?«
»Der Weg am Meer entlang existiert erst seit einem Jahr. Vorher mussten alle den Hügel überqueren, diese Variante ist aber recht langweilig und lohnt sich nicht.«
Diesmal habe ich wohl nichts verpasst. Während der Verwalter mich in die Gästeliste einträgt, nutze ich die Gelegenheit, ihn nach der Bedeutung des Denkmals zu fragen.
»Es ist Elcano gewidmet«, antwortet er. »Er ist der erste, der die Welt umsegelt hat.«
Nach einer Dusche nutze ich die Gelegenheit, meine Klamotten zu waschen. Das vorige Thema geht mir nicht aus dem Kopf. Der Erste Weltumsegler war meines Wissens Magellan.
Nachdem ich meine Wäsche im Garten auf die Leine gehängt habe, besorge ich mir ein Bier und setze mich auf die Terrasse.
»Hättest du Lust, dich mit meinem Sohn auf Englisch zu unterhalten?«, spricht mich eine Spanierin an. »Er will auf dem Camino die Zeit nutzen, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Er hatte in all seinen Prüfungen zuletzt eine Eins bekommen.«
»Gerne«, antworte ich. Solche Noten hatte ich zu meiner Schulzeit nie, daher kommen mir erst Zweifel, ob meine Englischkenntnisse überhaupt besser als seine wären. Für mich wäre es sicher eine gute Übung, denke ich und wenig später sitzt der Junge neben mir und stottert einzelne englische Wörter.
Was es mit den Noten auf sich hat, wird mir bewusst, als das Zuhören bei seinem Gestammel zur wahren Qual wird. Eine Eins ist in Spanien die schlechteste Schulnote!
Mutter und Sohn stammen aus Valencia, erfahre ich von ihm, dort gäbe es eine von fünf amtlichen Sprachen.
»Es gibt doch nur vier offizielle Sprachen in Spanien«, widerspreche ich und zähle auf: »Galizisch, die offizielle Amtssprache Kastilisch, desweiteren Katalanisch, das man in Barcelona spricht und zuletzt die Sprache, die in dieser Region verbreitet ist, Baskisch. Was spricht man denn in Valencia?«
»Valencianisch.«
So langsam geht mir der Nachhilfekurs für die Dumpfbacke von Schüler auf die Nerven. Besonders, da dieser Dialog hier nur in aller Kürze wiedergegeben ist, ausgelassen habe ich unzählige Nachfragen und ständige Wiederholungen. Soll der Junge in seinem nächsten Schuljahr durchfallen und sitzenbleiben, er hätte es redlich verdient.
»Ich muss noch etwas erledigen«, entschuldige ich mich und versuche, unbemerkt aus der Herberge zu fliehen. Ich versichere mich, dass mir dieser Einserschüler nicht folgt und renne zur Stadt hinab.
Erleichtert darüber, entkommen zu sein, trete ich durch das Portal. So interessant wie erwartet stellt sich das Denkmal bei genauerer Besichtigung nicht dar. Als ich die malerische Altstadt hinter mir gelassen habe, durchquere ich das Hafengelände und gelange zum Fuß des mächtigen Felsens. Er liegt im Meer wie jene von den Engländern besetzte Halbinsel, ist aber um einiges kleiner als Gibraltar. In Serpentinen führt ein Pfad hinauf und eine Viertelstunde später erreiche ich den Gipfel. Dieser wird von einer Art Kapelle gekrönt. Besser gesagt, durch sie verunstaltet. Als ich eintrete und durch das leere Gebäude aus Beton wandere, bin ich enttäuscht. Es ist ein außergewöhnlicher Platz und man hätte hier doch etwas Schöneres hinstellen können. Dass es mit Graffiti beschmiert ist, macht es nicht besser. Mir ist erst nicht klar, welchen Zweck dieses Bauwerk aus Beton erfüllen sollte. Ein ehemaliger Bunker, der als Gotteshaus getarnt wurde? Im Halbrund, das wie eine Apsis aussieht, befinden sich Öffnungen, die aussehen wie Schießscharten, durch die man das Meer rundum beobachten kann.
Ich schaue mich weiter um und werfe einen Blick die Klippen hinunter. Am Ende des Hügels entdecke ich einen Leuchtturm, zu dem ein Pfad hinaufführt, der jedoch durch ein verschlossenes Gitter versperrt ist. Diese Besichtigungstour hat sich nicht gelohnt, enttäuscht begebe ich mich auf den Rückweg. Im Gestein am Wegrand erkenne ich Reliefs, die Götter wie Neptun darstellen, Maria und religiöse Figuren. Beeindruckend ist das jedoch auch nicht. Als ich erneut den Hafen durchquert habe und den Strand sehe, überlege ich, ob ich eine Weile dort verweilen sollte. Die Antwort kommt vom zugezogenen Himmel und leichter Nieselregen beantwortet meine Frage mit einem klaren Nein.
Wieder zurück in der Herberge werde ich sofort von dem nervigen Jungen abgefangen. Der Englischkurs wird fortgesetzt und zu einer wahrhaftigen Tortur. Es ist unglaublich mühselig, aus seinem Gestammel schlau zu werden. Nach einer Stunde schaue ich auf die Uhr. Es ist Zeit für mein Abendessen. Ich hatte mir ein Restaurant ausgesucht, das Pilgermenüs anbietet. Diese gibt es aber nur bis 21 Uhr. Als ich in die Stadt hinuntergehe, hängt sich der Einserschüler wie eine Klette an mich. Er will dolmetschen. Als ich in das Restaurant eintrete und bestellen will, drängelt er sich vor und fragt mich, was ich denn haben wolle. Meine Antwort, das Menü, versteht er nicht, so wiederhole ich es nochmals und abermals. Ungeduldig beobachte ich, wie der Zeiger auf der Wanduhr sich kontinuierlich weiterbewegt. Nach einer halben Stunde hat er immer noch nichts begriffen und ich versuche, mich an ihm vorbei zu drücken, um bei dem Mann hinter dem Tresen eine Bestellung abzugeben, doch der Junge hält mich aggressiv davon ab. Als er endlich meine Erklärungen in Englisch verstanden hat, wendet er sich an den Barmann und fragt nach dem Pilgermenü. Dieser zeigt zur Antwort auf die Wanduhr, die mittlerweile neun Uhr überschritten hat. Zu spät. Frustriert begebe ich mich auf den Rückweg. Heute muss ich auf das Abendessen verzichten. Der Schüler hat die Note Eins wirklich verdient.
In der Nacht setzt ein Gewitter mit Platzregen ein. Eilig retten ich und andere aus dem Schlaf gerissene Pilger die Klamotten aus dem Garten, um sie auf Wäscheständern im überdachten Flur aufzuhängen. Unter der Wäsche bilden sich Wasserpfützen.
4. August, Getaria → Deba
Bei düsterem Tagesanbruch fällt Nieselregen. Ich sammle meine Klamotten vom Wäscheständer und packe sie in eine Plastiktüte. Als der Regen nachlässt und sich die grauschwarzen Wolken verzogen haben, begebe ich mich auf die nächste Etappe. Ich hoffe, dass es im Laufe des Tages wärmer wird, damit ich die Kleidung an meinen Rucksack zum Trocknen hängen kann.
Der Weg führt in eine fast alpine Landschaft, die mit vereinzelten Bauernhöfen sehr dünn besiedelt ist. Weizenfelder und grüne Weiden bestimmen das Panorama. Unterwegs komme ich mit zwei Pilgern ins Gespräch. Sie kommen aus Barcelona, erfahre ich. Katalanen. Diese haben unter ihren Landsleuten einen schlechten Ruf. Sie gelten als weltfremd und eine Mehrheit von ihnen will sich von Spanien lossagen. Viele sprechen nur ihre regionale Sprache Katalanisch. Dieser Katalane, der mit seiner Tochter wandert, gehört offensichtlich nicht dazu. Er hat auch keine Probleme, sich in der landesweiten Hochsprache Kastilisch oder in Englisch zu unterhalten. Nationalismus würde auch nicht zum Jakobsweg passen, denn Pilger sind weltoffen und kontaktfreudig, selbst wenn sie aus Katalonien stammen.
Während die beiden weitergehen, studiere ich an einem Rastplatz einen Übersichtsplan, auf dem verschiedene Wegvarianten eingezeichnet sind. Es gibt offensichtlich drei Möglichkeiten. Bevorzugt würde ich einen Weg direkt an der Küste wandern – falls der Weg mit Pfeilen gekennzeichnet ist. Vielleicht hätte ich mir einen Wanderführer mit detaillierten Beschreibungen besorgen sollen. Der Etappenplan, den ich aus dem Internet habe, ist sehr spartanisch.
Als ich weitergehe, sehe ich an einem Zaun den bekannten gelben Pfeil, der nach links zur Straße führt. Am gleichen Pfosten weisen auch weiß-rote Markierungen nach rechts. In diesem Moment entdecke ich eine Gruppe, die dort einen Trampelpfad entlanggeht und spontan folge ich ihnen. Nach wenigen Metern jedoch endet der Pfad an einem Stacheldrahtzaun. Einen anderen Weg gibt es nicht. Die Pilger helfen sich gegenseitig, um das Hindernis zu überwinden und auch mir wird geholfen, den Zaun zu überqueren. Es ist abenteuerlich. Da sie sich in Spanisch unterhalten, nehme ich an, dass sie sich hier auskennen. Ich folge der Gruppe über ein Feld, auf dem Wiederkäuer sitzen, am Ende des Geländes beginnt ein Schotterweg und ich wandere neben einem Pilger, der einen halben Kopf größer als ich ist und auf dessen Rucksack der Name ›Gabi‹ aufgenäht ist. Hat er diesen von seiner Schwester ausgeliehen, oder stammt er von seiner Mutter, so wie meiner?
»Seid ihr spanische Pilger? Und ist dieser Weg interessant?«, frage ich ihn.
»Keine Ahnung«, antwortet er. »Auch ich bin denen spontan gefolgt. Ich komme aus Belgien.«
Es ist eine spontan zusammengewürfelte Gruppe. Der Schotterweg endet an einem Bauernhof und kein Pfeil deutet daraufhin, in welche Richtung man gehen soll. Es gibt eine asphaltierte Straße, die in die umgekehrte Richtung führt. Als ein Mann vor dem Eingang des Gebäudes auftaucht, marschieren zwei aus der Gruppe auf ihn zu. Es beginnt eine Diskussion in Spanisch und diese dauert eine Weile, bis geklärt ist, wie es weitergeht.