Eine Sinfonie der Welt - Alexander Bertsch - E-Book

Eine Sinfonie der Welt E-Book

Alexander Bertsch

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Beschreibung

Das ungewöhnliche Schicksal eines Komponisten im 20. Jahrhundert: Franz Niemann schließt sich 1935 in Frankfurt einer Widerstandsgruppe an, wird zwei Jahre später von der Gestapo aufgespürt und gerät in die Mühlen der Nazidiktatur. Nach dem Krieg beginnt er in seiner Künstlerklause am Philosophenweg in Heidelberg mit der Komposition einer großen Programm-Sinfonie. Er versucht, seine traumatischen Erlebnisse durch die intensive Beschäftigung mit Musik zu verarbeiten. Themen und Melodien beziehen sich oft auf Menschen, die er geliebt und verloren hat. 'Alas, my love', ein englisches Lied, wird zum Leitmotiv des Werkes – Erinnerung an eine Geliebte, die in diesen leidvollen Zeiten für immer aus seinem Leben verschwunden ist. Erst nach Jahren gelingt es ihm durch seine Musik, dem mörderischen Kriegsgeschehen das 'Prinzip Hoffnung' entgegenzusetzen.

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Titel

Alexander Bertsch

Eine Sinfonie der Welt

Impressum

Impressum

Autor: Alexander Bertsch Titel: Eine Sinfonie der Welt Umschlaggestaltung: Jochen Baumgärtner, vr Satz: Heinz Högerle, Horb-Rexingen E-Book-Erstellung: Alwina Schweizer, vr EPUB: ISBN 978-3-89735-011-3

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 552 S., Broschur. ISBN 978-3-89735-855-3.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Weder Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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Der aufrechte Gang wird am letzten gelernt. Kopf oben, frei umherblickend, nur dazu ist er da.

Ernst Bloch, Politische Messungen

Es ist ein Überholend-Unabgeschlossenes in der Musik, dem noch keine Poesie genug tut, es sei denn diejenige, welche die Musik, mög­licherweise, aus sich entwickelt.

Die Offenheit dieser Kunst zeigt zugleich, auf besonders eindringliche Art, dass auch für die Inhaltsbeziehung der anderen Künste noch nicht aller Tage Abend gekommen ist.

Ernst Bloch,Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, zitiert in 'Das Prinzip Hoffnung'

Introduktion Allegro – Adagio, ma non troppo

Plötzlich und unerwartet.

Lapidar, auf den Punkt gebracht, dachte Martina. Die übliche Formel. Nicht zu euphemistisch. Das wäre ihm zuwider gewesen.

Franz Niemann war am 2. Februar gestorben. An einem Dienstagmorgen.

Ich kann Beerdigungen nicht leiden, aber ... es ist Franz! Wenn die Menschen, die uns etwas bedeuten, lange leben, denken wir einfach, dass sie immer da sein müssten.

Sie war nach Heidelberg unterwegs. Verstört und beunruhigt. Irgendwie beunruhigt.

Am frühen Nachmittag sollte die Beisetzung auf dem Bergfriedhof stattfinden. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie sich zuletzt getroffen hatten – das letzte Mal. Und dachte an frühere Begegnungen. Wie ein Film zogen sie an ihr vorbei.

Das Wetter spielte verrückt. Schon zweimal war durch einen Platzregen der Verkehr auf der Autobahn fast zum Erliegen gekommen.

Alles schien im Moment mit der bevorstehenden Beerdigung zusammenzuhängen: die Monotonie der Autobahnlandschaft, die Unberechenbarkeit des Wetters, ein paar Raben auf einer Wiese, der Kadaver eines undefinierbaren kleinen Tieres auf der Überholspur. Wieder war es dunkler geworden.

Kurz vor Darmstadt stand sie im Stau. Warten. Ausharren. Kurze Zeit später kam die Sonne wieder durch und tauchte alles in gleißendes Licht. Während der ganzen Fahrt hielt dieser Wechsel von Licht und Dunkelheit an.

Die Beerdigung findet auf Wunsch des Verstorbenen nur im engsten Familien- und Freundeskreis statt.

Was bedeutet in diesem Fall engster Kreis?, dachte Martina. Neunundachtzig Jahre! Wenn jemand so viele Jahrzehnte diese Welt bewohnt, wer bleibt dann noch übrig? Von den Familienangehörigen leben wohl nicht mehr viele. Und von den Freunden? Gibt es noch welche?

Sie war frühzeitig in Frankfurt losgefahren. Aber als sie den Wagen abstellte, hatte die Trauerfeier schon begonnen.

Sie eilte durch den Bergfriedhof nach oben auf die Kapelle zu. Auf den Wegen da und dort ein flüchtig zusammengewürfeltes Blättermosaik. Manchmal sickerte ein wenig Sonnenlicht durch die Wolken. Wie zufällig wurden eine Grabplatte, ein paar Sträucher, eine Stele oder eine Engelstatue für kurze Zeit angeleuchtet. Dann fiel wieder das Dunkel über den Friedhof, der Wind schüttelte die Wassertropfen von den Bäumen und Sträuchern auf die Gräber.

Hat Franz überhaupt einer bestimmten Religion angehört? Ich habe nie darüber nachgedacht. ›Sein Leben gehörte der Musik‹ – hoffentlich muss ich mir keine Sprüche dieser Art anhören!

Leise betrat Martina die Kapelle. Es hatten sich gerade einmal etwas mehr als zwei Dutzend Menschen eingefunden.

Der Sprecher am Rednerpult, ein Heidelberger Schauspieler, den Martina flüchtig kannte, las gerade einen Text. Die letzten Reihen waren alle frei geblieben. Martina ging nach vorne und setzte sich hinter eine Frau, die zwei Mädchen mitgebracht hatte: Zwillinge, die sich neugierig nach ihr umblickten. Auch die Frau drehte sich um, nickte ihr freundlich zu und reichte ihr ein Blatt Papier, das Programm für die Beerdigung.

»... Der Klang der Hirtenflöte, der Panflöte, der Syrinx bei den Griechen (was überall dasselbe bedeutet), soll die ferne Geliebte erreichen. So beginnt Musik sehnsüchtig und bereits durchaus als Ruf ins Entbehrte. Unter den Indianern des Felsgebirges ist noch heute dieser Glaube verbreitet: Der junge Indianer geht hinaus in die Ebene und klagt auf der Panflöte seine Liebe; das Mädchen soll dann weinen, wie weit sie auch entfernt sei. Die Panflöte hat es am Ende weit gebracht, sie ist der Urvorfahr der Orgel, doch weit mehr: sie ist die Geburtsstätte der Musik als eines menschlichen Ausdrucks, tönenden Wunschtraums ...«

Martina hörte diese Sätze, ließ sich von ihnen mittragen, registrierte die Gedankenströme, die sie in ihr selbst auslösten.

Nach dieser Lesung trat eine grauhaarige, mittelgroße schlanke Frau in schwarzem Anzug nach vorne, ging am Rednerpult vorbei und setzte sich an ein Klavier, das neben dem Sarg aufgestellt worden war.

Irene Nakowski! Martina hatte sie lange nicht mehr gesehen. Eine Pianistin, die sie schon in vielen Konzerten gehört hatte. War sie eine Verwandte der Familie Niemann?

Die linke Hand begann mit einem Quintsprung nach oben ein getragenes, gravitätisch fortschreitendes Thema, das nach einigen Takten von der rechten Hand übernommen wurde, während die andere Hand eine Gegenstimme spielte.

Ähnlich wie bei dem Text von Ernst Bloch wurde Martina nun auch von der Musik sehr berührt, die sie zwar schon lange kannte, die aber in diesem Augenblick ihre besondere Wirkung nicht verfehlte.

Dieses d-Moll, diese unvollendete Fuge. Wie das d-Moll des unvollendeten Requiems, das d-Moll des Streichquartetts Der Tod und das Mädchen oder im ersten Lied der Vier ernsten Gesänge.

So vieles ging ihr durch den Kopf, während Bachs Musik durch den Raum klang. Ein zweites Thema kam dazu, ein drittes, das mit den Tönen BACH begann. Dann das plötzliche Abbrechen der Fuge. Auch hier hatte der Tod dem Fortgang des Stückes ein Ende gesetzt, bevor der Komponist noch ein viertes Thema hinzufügen konnte. Das Ende der Kunst der Fuge, einer Gattung, die Bach wie kein anderer beherrscht hatte.

Der Schauspieler trat wieder ans Rednerpult:

Bertolt Brecht, An die Nachgeborenen.

Martina mochte das Gedicht sehr. Vor allem den Schluss des dritten Teils:

Dabei wissen wir doch:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unsrer

Mit Nachsicht.

Martina warf einen Blick auf das Programm. Arnold Schönberg, Nr.VI aus Sechs kleine Klavierstücke, Opus 19. Man bitte darum, noch kurz sitzen zu bleiben, um den Klängen nachzuhorchen. Dann möge man in aller Stille auseinandergehen.

Irene Nakowski begann zu spielen. Ein sehr langsames Stück, bestehend aus neun Takten, das Schönberg auf den Tod von Gustav Mahler komponiert hatte. Die Dynamik zwischen Pianissimo und vierfachem Piano. Am Ende wie ein Hauch verklingend.

Martina war von dem besonderen Ritual dieser Beerdigungsfeier sehr betroffen. Sie war sich fast sicher, dass Franz Niemann dieses Programm festgelegt hatte. Nun war ihr vor allem wichtig: niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Sie stand auf, verließ die Kapelle, ging durch den Friedhof zurück, stieg in ihren Wagen, fuhr wieder über den Fluss, die Bergstraße hinauf bis Handschuhsheim, nach rechts bis zu einem Waldweg. Bei der ersten Parkmöglichkeit hielt sie an.

Allein sein, bei sich und ihren Erinnerungen bleiben, ein bisschen ziellos vor sich hin gehen. In Gedanken versunken setzte sie einen Fuß vor den anderen.

In den letzten Jahren hatte sie Franz Niemann nicht sehr häufig gesehen. Jetzt bereute sie es ein wenig.

Die ersten Regentropfen veranlassten Martina zur Umkehr. Rasch spannte sie den Schirm auf und rannte zu ihrem Auto zurück. Es gelang ihr gerade noch, die Tür zu öffnen und sich auf den Fahrersitz fallen zu lassen, als bereits ein Regenschauer einsetzte, der sie bestimmt bis auf die Haut durchnässt hätte.

Die Tropfen prasselten auf den Wagen, als wollten sie den Lack herunterwaschen. Auf den Waldpfaden bildeten sich große Pfützen, an anderen Stellen schossen Rinnsale die Wege hinunter.

Nach wenigen Minuten ließ der Regen wieder nach. Doch Martina saß im Trockenen und dachte im Moment nicht daran, den Wagen zu starten und wegzufahren.

Erinnerungen holten sie ein und drängten sich ihr auf, ohne dass sie sich dagegen wehren wollte.

Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Franz, sah sich als kleines Mädchen, wie sie mit zwei Freundinnen das Grundstück am Philosophenweg betreten hatte. Schon häufiger waren sie an dem Gartentor vorbeigekommen und hatten den wildbewachsenen Garten betrachtet. An dem Tag war das Tor ein wenig offen gestanden.

Die Neugierde von Kindern einem unbekannten Stückchen Welt gegenüber. Was verbirgt sich dahinter? Doch wohl kein Ungeheuer – oder doch?

Deutlich erinnerte sie sich an diese Szene vor so vielen Jahren ...

Der wilde Garten wirkte wie ein Zauberwald, der hin­abführende Weg hatte etwas Geheimnisvolles. Martina ging hinein, bedeutete ihren zögernden Freundinnen, ihr zu folgen. Vorsichtig bewegten sie sich den Weg hinunter und auf einmal hörten sie leise Musik.

Ich gehe nicht weiter, flüsterte Tanja.

Edith blieb stehen. Das hört sich an wie ein Klavier.

Martina ging immer weiter. Kommt!, rief sie ihren Freundinnen zu.

Schließlich sahen sie das Haus. Sie wagten sich bis zur Eingangstür. Die Klaviermusik war nun lauter geworden.

Hier drüben führt ein Weg vorbei, sagte Edith.

Über diesen Plattenweg links neben dem Haus gelangten sie zur Vorderseite, hatten plötzlich wieder die Stadt vor sich, sahen unten den Fluss und die Altstadt mit dem Schloss darüber.

Sie bemerkten nicht, dass plötzlich keine Musik mehr zu hören war, und hinter ihnen sagte eine männliche, aber keinesfalls unfreundliche Stimme:

Mit wem habe ich das Vergnügen?

Sie drehten sich erschrocken um. Tanja und Edith rannten sofort weg.

Ich bin Martina ...

Vor ihr stand ein hochgewachsener schlanker Mann mit einer braunen Haarmähne, die da und dort graue Streifen aufwies. Er sah sie freundlich an.

Und weiter?

Fahrenbach, Martina Fahrenbach.

Der Mann blickte sie aufmerksam an. Für einen Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Doch dann lächelte er wieder.

Wie kommt ihr denn hierher?

Das Gartentor war offen und da sind wir hineinge­gangen. Wir wollten bestimmt nichts Böses tun. Und dann ...

Ja?

Da war auf einmal Musik.

Hat sie dir gefallen?

Ja.

Waren das deine Freundinnen?

Sie nickte.

Ruf sie mal her!

Tanja, Edith! Ihr könnt ruhig kommen.

Vorsichtig kamen die beiden den Plattenweg herunter.

Guten Tag!

Guten Tag. Ihr wart also neugierig auf diesen Garten?

Edith und Tanja sahen Martina an.

Also, wenn ihr mal wiederkommen wollt, schleicht ihr nicht einfach durch den Garten, sondern ihr klingelt vorne an der Haustür.

Einfach klingeln?, fragte Martina.

Ich bin übrigens Franz Niemann. Ihr könnt auch gerne Onkel Franz sagen ...

Über vierzig Jahre ist das her, dachte Martina. Und doch erinnerte sie sich an diese Begegnung, als hätte sie gestern stattgefunden.

Am Abend dieses Tages hatte sie ihrer Mutter davon erzählt. Was? Ihr wart im Niemannschen Garten? Ihre Mutter schien ziemlich erregt, fasste sich aber schnell wieder. Eigentlich ist mir das nicht so recht, Martina.

Warum, Mama? Ist das schlimm? Onkel Franz war sehr nett.

Onkel Fr .. anz ...?

Ja, er hat gesagt, dass wir wiederkommen dürfen.

Ihre Mutter blickte stumm vor sich hin.

Mama, kennst du den Garten?

Zeit für dich, schlafen zu gehen, Martina! ...

Wenige Monate später waren sie nach Mannheim gezogen. Die im Krieg zerstörte große Villa der Fahrenbachs in der Oststadt, nicht weit vom Luisenpark, war wieder vollständig aufgebaut worden. Für Martina war es ein großes, ödes Haus. Klein war die Villa am Neckar in Heidelberg ja auch nicht gerade gewesen. Aber Martina hatte sie gemocht.

Außerdem war ihr geliebtes Kindermädchen nicht mehr bei ihr.

Noch ein paarmal hatte sie mit ihren Freundinnen Franz Niemann in seinem Gartenhaus besucht. Manchmal spielte er auf seinem Flügel. Dann war für sie das Märchen vollkommen. Die Musik brachte sie zum Träumen und der Mann am Instrument war nicht mehr Onkel Franz, sondern ein Zauberer, der mit seiner Musik alles herbeilocken konnte ...

Mama, ich möchte Klavier spielen.

Wie kommst du denn darauf?, hatte ihre Mutter verwundert gefragt und sie dabei eindringlich angesehen.

Es gefällt mir eben. Edith spielt auch.

Klavier spielen ... meinetwegen.

Ein paar Wochen nach der Beerdigung der Brief vom Heidelberger Nachlassgericht.

Der am 2. Februar 1999 verstorbene Franz Niemann hatte Martina in seinem Testament dazu bestimmt, sich um den künstlerischen Nachlass zu kümmern.

Das kam für Martina völlig überraschend. In einem ersten Impuls dachte sie an Ablehnung. Das würde sehr viel Arbeit bedeuten, die sie neben ihrer beruflichen Tätigkeit an der Hochschule bewältigen müsste.

Doch hatte eine solche Aufgabe nicht auch etwas Verlockendes?

Sie ließ sich zuerst einmal in ihren bequemen Sessel fallen und dachte nach.

Martina wusste, dass Franz Niemann an einem großen Werk gearbeitet hatte. Das eine oder andere Mal hatte sie sich danach erkundigt.

Franz hatte sich dazu nicht geäußert. Gab keinen Kommentar ab. Das war sein Geheimnis. Er wollte einfach nichts davon preisgeben.

Damit musst du dich nun mal abfinden, Martina. Sollte ich jemals etwas davon veröffentlichen, wirst du es sicher erfahren.

Einmal hatte sie ein paar beschriebene Notenblätter auf dem Flügel liegen sehen. Ein kurzer, neugieriger Blick hatte nicht ausgereicht, um etwas über den Stil sagen zu können.

Avantgardistisch schien die Komposition nicht zu sein, jedenfalls nicht, was die weitgehend traditionelle Nota­tion anging.

Pardon! Franz war plötzlich neben ihr aufgetaucht. Rasch raffte er die Blätter zusammen und legte sie auf einen Stapel.

Vor drei Jahren, als ihre Beziehung zu Bernhard Kellermann ein schnelles Ende gefunden hatte, war Martina von Bergen-Enkheim in diese Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss eines Hauses an der Bockenheimer Anlage nahe der Frankfurter Innenstadt gezogen. Es gefiel ihr hier sehr gut und die Hochschule war ganz in der Nähe.

Sie dachte gerade daran, eine Freundin anzurufen, als das Telefon läutete.

Es war Dorothea Cantieni-Niemann, die jüngere Schwester von Franz, die sie darum bat, den Willen ihres verstorbenen Bruders zu erfüllen.

Ich weiß noch nicht, begann Martina.

Martina, du unterrichtest doch an der Musikhochschule! Du bist in der ganzen weiteren Verwandtschaft die Einzige, die das entsprechende Musikwissen hat. Es liegt mir wirklich sehr daran.

So etwas muss gründlich überlegt sein.

Natürlich. Aber ich bin überzeugt, dass dich schon allein seine Sinfonie sehr interessieren wird. Dieses Werk ist so etwas wie sein Vermächtnis. Er hat sehr viel, wie soll ich sagen, aus seinem Leben ›hineinkomponiert‹. Menschen, denen er begegnet ist und die er wieder verloren hat, Schicksale, Verluste, eigenes Leid. Franz ist nie über diesen Krieg hinweggekommen und über all die Zusammenhänge, die ihn ermöglicht haben.

Dann handelt es sich um ein programmatisches Werk? Eine Art Programmsinfonie?

Ich denke schon.

Das hört sich alles spannend an, sagte Martina nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens.

Dorothea lud sie nach Heidelberg ein. Man könne doch über alles reden.

Ich werde mich melden, sagte Martina am Ende des Gesprächs.

Nun lächelte sie vor sich hin. Jener Besuch der ›besonderen Art‹ bei Franz Niemann fiel ihr ein.

1972! Mein mehrtägiger Aufenthalt bei Franz im Gartenhaus! Ich war schon ziemlich verrückt damals. Aber andere waren noch verrückter. Entlastet mich das in irgendeiner Form?

Pianistin wollte ich werden. Was hieß das in jenen Zeiten?

Bürgerlicher Schnickschnack, reaktionäres Kulturverständnis! Seht euch doch diese Klavierprofessoren an: Hauptfachpäpste mit falschem Bewusstsein!

Martina hatte ihre Ausbildung, die sie 1969 in Frankfurt begonnen hatte, abgebrochen und war zu Ronald Grossmann, einem imposanten Jungrevolutionär und strammen Ideologen, den sie anfänglich vergötterte, in dessen Wohnung in Heidelberg-Eppelheim gezogen, um sich fortan neben der Pflege ihres revolutionären Machos dem Studium der Soziologie und der Politikwissenschaften zu widmen.

Wir haben die Weisheit aller Zeiten in uns hineingelöffelt. Wir waren selbstverständlich gar nicht arrogant. Wir wollten die Welt auf den Kopf stellen – und dann wieder vom Kopf auf die Füße. Uns machte das kein Kopfzerbrechen.

Als sich damals der ideologische Nebel langsam aus ihrem Kopf zu verziehen begann, hatte Martina längst mit ihrer Familie gebrochen und sie musste zusehen, dass sie aus den verschiedenen Ausbildungsfragmenten irgendetwas zusammensetzte, das zu einer beruflichen Perspektive führte. Sie war nach Frankfurt zurückgekehrt, hatte sich erneut der Musik verschrieben, auch der Musikwissenschaft. Martina war nach dem Examen vorübergehend Lehrerin an einem Gymnasium in Offenbach, promovierte mit einer Arbeit über Gustav Mahler. Im Wintersemester 1984/85 begann sie ihre Lehrtätigkeit an der Frankfurter Hochschule als Dozentin für Tonsatz und Musikgeschichte. Außerdem war sie seit 1990 Mitarbeiterin des Neuen Musikalmanach, einer Musikzeitschrift, deren Schwerpunkt auf der zeitgenössischen Musik lag.

Martina hatte gekämpft. Und sie hatte es allen zeigen wollen.

Ich wollte das hinkriegen. Aus eigener Kraft. Notfalls mit dem Kopf durch die Wand. Nicht wie so mancher ehemalige Revoluzzer, der sich längst in einem spießigen Leben eingerichtet hatte. Meine Erzeuger mit ihrem Geld konnten mir gestohlen bleiben. Gelegenheitsjobs, Klavierstunden, wissenschaftliche Arbeit. Ein Blick in die Vergangenheit folgte auf den nächsten. Ihr Kopf ließ sie nicht in Ruhe. Das Karussell war schwer zu stoppen. Kleine, winzige Pferdchen in den Neuronen-Bahnen. Häufig in letzter Zeit. Ist das so, wenn wir älter werden?

Während der feucht-fröhlichen Feier zu ihrer Promotion in einem Gartenlokal in Frankfurt-Sachsenhausen. Man hatte das Glas erhoben und ihr zugeprostet: Eine tolle Leis­tung, liebe Martina! Auf dein Wohl!

Ich habe auch zäh und ausdauernd gearbeitet!, hatte sie geantwortet und plötzlich zu lachen begonnen, unbändig, ohne aufzuhören, alle anderen ansteckend.

Zäh und ausdauernd! Das war eine Lieblingsvokabel meines Vaters, hatte sie hinterher erklärt. Vielleicht noch ein Relikt aus seiner ›Zäh-wie-Leder-Zeit‹. Ihr müsst wissen: Als sich durch die Geburt meiner Person im Jahre 1950 der Kinderwunsch meiner Eltern endlich erfüllte, war mein Vater, der alte Gernot, doch ein wenig enttäuscht, dass er keinen Zäh-wie-Leder-Sohn begrüßen konnte.

Der Ausruf eines Kommilitonen: Martina, da ist noch jemand gekommen!

Ein hochgewachsener, weißhaariger älterer Herr bahnte sich lächelnd seinen Weg durch die fröhliche Runde. Sie hatte ihn eingeladen, ohne tatsächlich mit seinem Kommen zu rechnen.

Franz!

Sie lagen sich in den Armen. Rings um sie herum ein Beifallssturm.

Wir haben zuerst gedacht, der Mann sei dein Vater, hatte eine Freundin später zu Martina gesagt.

Ich wollte, ich hätte so einen Vater gehabt! Übrigens sind wir tatsächlich weitläufig verwandt. Meine Mutter war, soviel ich weiß, eine Kusine zweiten Grades von Franz Niemann. In meiner Familie wurde er weitgehend totgeschwiegen.

Der Verrückte vom Philosophenweg!, hatte ihr Vater einmal bemerkt.

Aber ... ich habe doch so etwas wie ein Vorbild gehabt. Das muss ich zugeben. Der ... Verrückte vom Philosophenweg.

Vor elf Jahren war ihr Vater gestorben. Drei Jahre später ihre Mutter.

Martina war längst enterbt worden. Das war die letzte schriftliche Mitteilung ihres Vaters gewesen. Aber es gab den gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtteil. Und der war beträchtlich angesichts des großen Vermögens ihrer Eltern.

Und das bei meiner politischen Vergangenheit! Alle, die mich von früher her kennen, würden sich totlachen, wenn sie das wüssten.

Mit der Zeit hatte sie gelernt, schon um ihr Gewissen zu beruhigen, wie man mit Geld für andere etwas Sinnvolles tun konnte. Sie unterstützte mehrere Hilfsorganisationen für Jugendliche, auch eine Aidsgruppe.

Ist das nun von meinen politischen Träumen übrig geblieben? Von meinen großen Sprüchen und Zielen?

Martina, wir sollten niemals stehen bleiben, hatte Franz einmal zu ihr gesagt. Es wäre doch lächerlich, wenn wir mit vierzig oder fünfzig Jahren immer noch dieselben Meinungen von uns gäben wie mit zwanzig. Nur Idioten bleiben ihr Leben lang auf derselben Stelle kleben.

Aber gibt es nicht so etwas wie grundsätzliche Einstellungen, politische Grundpositionen?, hatte sie erwidert.

Natürlich. Das meine ich damit nicht. Es geht mir um die Ideologiebesessenheit an sich, um diese Weltveränderungsfantasien. Ich habe ihm damals bürgerlichen Skeptizismus vorgeworfen. Und Franz hat gelacht. Laut und ausgiebig.

Einer der Augenblicke, in denen ich wirklich wütend auf ihn wurde.

In der zweiten Aprilwoche fuhr Martina nach Heidelberg.

Dorothea Cantieni-Niemann war sehr erfreut gewesen, als Martina angerufen hatte.

Sie war zu früh in der Stadt angekommen und bog zunächst nach der Theodor-Heuss-Brücke in die Neuenheimer Landstraße ein, um einen Blick auf das frühere elterliche Haus, jenen ›Neckarpalast‹, zu werfen, der unverändert über dem Fluss thronte.

Wer die Villa wohl heute bewohnt?

Dort oben, im dritten Stock rechts: mein Kinderzimmer. Und dann die gute, dicke Hilde, mein Kindermädchen. Wie es sich für eine Tochter aus großbürgerlichem Hause gehörte! Aber was heißt hier schon Kindermädchen! Ich habe sie um den Finger gewickelt – und sie war vernarrt in mich. Ich liebte Hilde. Sie las mir Märchen und Geschichten vor. Sie beschützte mich, wenn ein Gewitter kam, vor dem ich immer furchtbar Angst hatte. Oder sie tröstete mich, wenn ich schlecht geträumt hatte, und blieb bei mir, bis ich wieder eingeschlafen war. Sie war meine Komplizin, wenn ich trotz Verbots die Wendeltreppe zum Dachboden hochstieg, um dunkle und geheimnisvolle Räumlichkeiten zu erforschen. Ich hatte so lange gebettelt, bis Hilde nachgab.

Was konnte man da nicht alles finden! Nicht nur zahllose Schränke, überdimensionale Schreibtische, Kisten und Truhen, Spiegel und Bilder, auf denen fantastische Landschaften abgebildet waren: Gebirgsgegenden mit Wasserfällen, Wiesen und Wälder oder auch altertümliche Dörfer, in denen sich manchmal merkwürdig gekleidete Menschen befanden.

Meine Mutter entdeckte uns schließlich.

Wir hatten gerade ein eigenartiges Bild aus seiner Verpackung befreit.

Ich konnte nichts Bestimmtes darauf erkennen, aber es war ganz bunt, mit vielen unterschiedlichen Formen und Gebilden.

Hier seid ihr also! Plötzlich die Stimme meiner Mutter. Ich wurde sofort in mein Zimmer geschickt und die arme Hilde musste eine Strafpredigt über sich ergehen lassen.

Als sie nach Mannheim zogen, ging Hilde auf den Bauernhof ihrer Eltern bei Lindenfels im Odenwald zurück. Martina sah sie nicht wieder.

Später stellte sich heraus, dass es sich bei dem Bild, das sie gefunden hatten, um ein Werk von Wassily Kandinsky handelte. Das Bild, von dessen Existenz niemand etwas wusste, hatte sich seit vielen Jahren dort oben befunden. Ihr Vater hatte vermutet, dass sein inzwischen verstorbener Onkel Heinrich, der so etwas wie ein schwarzes Schaf in der Familie gewesen war, es vielleicht gekauft hatte, um mit diesem Modernen seine Verwandten zu ärgern. Doch Genaueres wusste niemand. Immerhin hatte das Bild auf diese Weise das Tausendjährige Reich überdauert.

Nun machten sich Verkehrsteilnehmer bemerkbar. Martina war nicht angefahren, obwohl die Ampel Grün zeigte. Eine hilflose Geste der Entschuldigung gegen die aggressive Zeichensprache der Ungeduldigen.

Bei der nächsten Wendemöglichkeit fuhr sie zurück.

Das Niemannsche Haus in der Bergstraße, eine typische Professorenvilla aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Türmchen und vielen Erkern. Ein Vorgarten mit zwei Statuen sowie einer dicken, girlandengeschmückten Amphore und eine größere Gartenanlage auf der Rückseite. Ein paar hohe Bäume, die den Giebel des Gebäudes überragten.

Was für Leute würden Martina erwarten? Hoffentlich musste sie ihre Zustimmung nicht bereuen.

Dorothea, die jüngste Schwester von Franz, lebte nun mit ihrem zweiten Mann in dem Haus ihrer Eltern. Der Germanist Bernhard Niemann und seine Frau Martha, die eine Ausbildung als Pianistin abgeschlossen hatte, waren einige Jahrzehnte lang die Bewohner gewesen. Als sie Mitte der fünfziger Jahre in ein kleineres Haus in der Nähe von Meersburg am Bodensee gezogen waren, hatte Jutta, Franz’ zweite Schwester, bis zu ihrem Tode hier gewohnt.

Komm herein, Martina! Lange nicht gesehen!

Do­rothea führte ihren Gast in den Salon. Sie sagte ›Salon‹ und Martina fühlte sich fast in eine andere Zeit versetzt. Tatsächlich schien der Begriff ›Wohnzimmer‹ für derartig repräsentative Räumlichkeiten fehl am Platze zu sein.

Und Martina staunte.

Diese Frau mit ihren kurzen grauen Haaren, den lebhaft blickenden dunklen Augen, diese temperamentvolle schlanke Person sollte achtundsiebzig Jahre alt sein?

Lange nicht gesehen!, sagte sie einfach.

Martina konnte sich überhaupt nicht an sie erinnern.

Du bist einmal zum Gartenhaus gekommen, als ich Franz gerade besuchte. Du warst damals ein richtiger Wildfang.

Martina lächelte. Sie fand die Schwester von Franz auf Anhieb sympathisch und fühlte sich erleichtert.

Was kann ich dir anbieten? Tee, Kaffee oder etwas anderes?

Gerne eine Tasse Tee.

Mein Mann musste geschäftlich für ein paar Tage nach Italien.

Sie schenkte Tee ein.

Ja, das Gartenhaus. Im Moment fällt es mir noch ein wenig schwer, dorthin zu gehen. Vor einer Woche bin ich mit meinem Mann wieder da gewesen ...

Ich kann mir denken, dass es für dich nicht einfach ist.

Dorothea schwieg einen Moment, presste die Lippen zusammen.

Im Gartenhaus herrscht ein ziemliches Chaos, begann sie schließlich, du wirst erst einmal Ordnung schaffen müssen.

Das werde ich schon irgendwie auf die Reihe bekommen.

Ich bin so froh, dass du es angehst, Martina. Franz hat mir sehr viel bedeutet. Er hat mir vertraut, auch sehr vieles anvertraut. Wir Geschwister, ich schließe dabei auch meine verstorbene Schwester Jutta mit ein, hatten immer ein gutes Verhältnis untereinander. Vielleicht war es einfach eine günstige Konstellation, ich weiß, dass so etwas nicht oft vorkommt. Ich selbst war ja ohnehin ein Nachkömmling, aber auch zwischen Jutta und Franz gab es kaum irgendwelche Eifersüchteleien oder die üblichen Rivalitäten.

Dorothea trank einen Schluck Tee und blickte in Gedanken versunken vor sich hin.

Vor allem nach dem Krieg, als sich Franz mehr und mehr in das Gartenhaus zurückzog, war ich in meiner freien Zeit oft bei ihm. Er erzählte mir von seiner Zeit in Wien und Frankfurt. Vom Krieg, von den Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten. Nach der Beendigung meines Studiums blieb ich noch eine Zeitlang in Heidelberg. Dann lernte ich meinen ersten Mann kennen und nach unserer Heirat zogen wir nach Mainz und eröffneten dort eine Praxis. Doch wir ließen den Kontakt nie abreißen. 1949 ist übrigens meine Tochter Sabina geboren. Fast dein Jahrgang, Martina.

Dorothea unterbrach sich einen Augenblick und trat an eines der Fenster.

Das Domizil von Franz am Philosophenweg, begann Martina, das war schon etwas ganz Besonderes.

Dorothea setzte sich wieder.

Ja, das Gartenhaus! In den ersten Jahren gab es nur einen kleinen Holzschuppen.

Befand sich das Grundstück schon lange im Besitz der Familie?

Seit Anfang der zwanziger Jahre. Ich war damals knapp ein Jahr alt. In den folgenden Jahren entstand allmählich das Gartenhaus.

Konnte sich Franz bis zum Schluss selbst versorgen?

Den Umständen entsprechend, ja. Aber wir haben schon geholfen. Frau Kranich, unser Faktotum für Haus und Garten, und auch ich selbst.

Das Telefon klingelte. Dorothea erhob sich.

Entschuldige mich für einen Moment.

Martina sah sich in diesem herrschaftlichen Raum um. Dunkle Möbel, vor allem Bücherschränke, die wohl noch aus altem Familienbesitz stammten, kontrastierten mit moderneren Möbelstücken, aber ohne dass sie sich gegenseitig störten. Ihr Blick fiel auf ein großes Bild, das einen jüngeren Mann darstellte: Unter einer wilden, dunklen Haarmähne schienen zwei Augen auf eine ferne Welt zu blicken.

Über dem sinnlichen Mund eine fein geschwungene Nase. Ein Gesicht, in dem eine große Nachdenklichkeit lag. Die rechte Hand fast ein wenig lässig auf die Stuhllehne gelegt.

Martina stand auf und ging näher an das Bild heran.

In diesem Augenblick kam Dorothea zurück und trat zu Martina.

Das ist Friedrich Gundolf. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit mit einer starken Ausstrahlung. Meine Eltern waren mit ihm befreundet, später auch Franz. Gundolf war seit 1916 an der Universität. Damals ein bedeutender Literaturwissenschaftler.

Den Namen habe ich schon gehört. Die Naziherrschaft hat er aber nicht mehr erlebt?

Er starb sehr früh, 1931, im Alter von einundfünfzig Jahren. Zwei Jahre später wurden seine Bücher von den Nazis verboten.

Dorothea nahm sie an der Hand.

Komm, ich zeige dir noch etwas anderes.

Dorothea führte sie in einen langen Korridor. Sie blieben vor einem Bild stehen, das eine ganz andere Persönlichkeit darstellte. Hochmütig und arrogant blickte der Mann am Betrachter vorbei. Über der hohen Stirn sorgsam drapiertes Silberhaar. Am meisten gab die Linie des Mundes zu denken. Die leicht nach unten gezogenen Mundwinkel schienen zu sagen: Ich bin unglaublich bedeutend! Ein herrischer Ausdruck ging von diesem Gesicht aus, unterstützt noch durch die sehr markante Kinnpartie.

Ja, sagte Martina, das war damals wohl der neue Messias der Literatur. Dieses Portrait ruft bei mir völlig andere Gedanken hervor.

Dorothea lachte. Das wundert mich nicht im Geringsten.

Stefan George, fuhr Martina fort. Es tut mir leid, aber ich habe einfach meine Probleme mit Menschen, die sich als Führer aufspielen. Immer wieder gelingt es einzelnen Leuten, Mitmenschen als Jünger um sich zu scharen. Ich habe mich nur einmal mit ihm befassen müssen. Während des Studiums, als ich Schönbergs George-Vertonungen, Das Buch der hängenden Gärten, untersucht habe. Natürlich sind das keine schlechten Gedichte, nicht mein Geschmack, aber ... so blutleer wie Marmorklippen.

Franz mochte ihn auch nicht, sagte Dorothea, als sie wieder am Teetisch saßen.

George ist ein paarmal hiergewesen, wie man mir erzählte. Aber ich glaube, wir sollten nun auf unser eigentliches Anliegen zu sprechen kommen. Wir alle sind froh, dass du dich um den künstlerischen Nachlass von Franz kümmern willst. Ich selbst könnte das nicht. Ich war Internistin. Mein Mann ist Rechtsanwalt. Wir mögen beide die Musik sehr. Aber wir sind eben interessierte Laien.

Ich habe in der Zwischenzeit mit dem Chefredakteur meiner Musikzeitschrift gesprochen. Er könnte sich, nach eingehender Prüfung, vorstellen, etwas über diese Sinfonie zu veröffentlichen. Außerdem würde ihn der Briefwechsel interessieren, gerade auch die Auseinandersetzungen mit Adorno.

Schön, Martina. Ist es denn vorstellbar, dass einmal ein Teil seiner Sinfonie aufgeführt werden könnte?

Warum nicht? Aber dazu muss ich erst einmal einen Blick in die Partitur werfen. Wurde jemals etwas von ihm gespielt?

Nicht dass ich wüsste. Das heißt, doch, aber nicht seine Sinfonie: ein Klaviertrio und drei Sätze aus einem unvollendeten Septett – im Familien- und Freundeskreis. Das muss Mitte der fünfziger Jahre gewesen sein. Aber soweit ich weiß, hat er sich neben seiner Lehrtätigkeit später nur mit dieser Sinfonie beschäftigt.

Martina schüttelte den Kopf.

Wenn ich daran denke, Dorothea. Da lebt jemand jahrzehntelang in so einem Haus in einem wilden Garten und kümmert sich fast ausschließlich um seine Musik.

Ja, Martina, sagte Dorothea. Einmal hat er zu mir gesagt: Doro, weißt du eigentlich, dass die Musik beinahe die einzig mögliche Sprache ist, die uns einen Ort anzeigt, an dem wir noch nicht angekommen sind? Die Musik lässt in uns eine Heimat anklingen, zu der wir noch nicht gelangt sind.

Musik als einzig mögliche Utopie? Eine Welt des Klangs, in der alle Gegensätze aufgehoben sind?, fragte Martina weiter. Er hat sich mit Ernst Bloch beschäftigt.

In seinem Werktagebuch schreibt er einiges zu diesem Thema. Es befindet sich übrigens im Gartenhaus, sagte Dorothea. Wir haben den größten Teil des Materials, das für dich wichtig sein könnte, um den Schreibtisch herum deponiert, neben dem Flügel. Auch die umfangreiche Partitur.

Sie stand auf und holte ein dickes Paket aus einem der hohen Schränke.

Hier sind alle seine Tagebücher. Wenn du sonst noch Fragen hast, kannst du dich jederzeit an mich wenden, wenn ich nicht gerade in Italien bin.

Sie überreichte Martina die Tagebücher und noch einen weiteren Umschlag.

Was ist das? Martina zog ein paar mit Schreibmaschine beschriebene Blätter aus dem Umschlag heraus.

Es handelt sich um so etwas wie biografische Anmerkungen. Nichts Systematisches. Bei der Lektüre bin ich auf so manche Überraschung gestoßen. Es wird dir vermutlich nicht anders ergehen, sagte Dorothea.

Du machst mich richtig neugierig.

Ich hätte es lieber gesehen, Franz hätte tatsächlich eine Autobiografie geschrieben, aber so ganz ist das nicht hingekommen. Zu unübersichtlich, manchmal sind die Zusammenhänge zu kompliziert, mit Vor- und Rückblenden.

Komme ich auch ... darin vor?, fragte Martina vorsichtig.

Dorothea nickte.

Ende der achtziger Jahre hat Franz damit begonnen. Bis etwa 1977 ist er gekommen. Dann hat er einfach aufgehört. Ich hole eine Tasche, sagte sie.

Als sie zurückkam, hielt sie einen kleinen Schlüsselbund hoch.

Das hätte ich fast vergessen.

Hier, ich habe noch etwas mitgebracht.

Sie zeigte Martina eine Fotografie.

Das ist Franz im Alter von zwanzig Jahren.

Martina nahm das Foto in die Hand: Neugierige und zugleich verträumt wirkende Augen richteten sich auf den Betrachter, der Anflug eines Lächelns, vielleicht etwas spöttisch. Das längliche Gesicht von einer stattlichen Haarmähne umgeben. Mit verschränkten Armen an eine Hauswand gelehnt, blickte er unbekümmert, ein wenig herausfordernd in seine Zukunft.

Dorothea zögerte ein wenig, ehe sie weiterredete.

Martina, könntest du dir vorstellen, seine Biografie zu schreiben?

Ich? Aber ... so etwas habe ich noch nie gemacht.

Das dürfte dir doch nicht schwer fallen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass du das hinkriegst.

Martina schüttelte den Kopf.

Eine Bekannte von mir schreibt Firmengeschichten oder erzählt Viten von Firmengründern. Aber das hier ist doch etwas ganz anderes!

Eben, sagte Dorothea. Außerdem: euer Beruf! Da gibt es doch viele Gemeinsamkeiten.

Na ja, mal sehen, Dorothea.

Denk darüber nach! Dorothea streckte ihr die Hand hin.

Ich bin so froh, Martina!, sagte Dorothea zum Abschied.

An einem Nachmittag Ende April hatte sich Martina auf den Weg gemacht.

Der Philosophenweg. Ein warmer Frühlingstag. Der Himmel hing wie eine blaue Glocke über dem Land. Heidelberg, eine Ansichtskartenstadt.

Martina begegnete zahlreichen Spaziergängern. Nicht nur japanischen Touristen oder Schulklassen, sondern auch solchen Menschen, die diese Aussicht schon kannten und einfach hungrig waren nach Licht, nach Wärme, nach Frühling.

In den Gärten standen Forsythien und Schwarzdorn, Goldregen, Holunder und Magnolien in voller Blüte; da und dort das rosafarbene Leuchten der Mandelbäume. Überall begann das Grün herauszubrechen.

Und der Duft!

Martina war lange nicht mehr hier gewesen. Dieses Duftgemisch erinnerte sie erneut an ihre Kindheit. Wieder tauchte etwas längst Vergangenes auf und erfüllte sie mit ein wenig Wehmut.

Was ist nur los mit mir? Früher hätte ich so etwas gar nicht wahrgenommen! Anscheinend bin ich dabei, in einem nostalgischen Wust zu versinken.

Seit der Beerdigung von Franz tauchten ihre Gedanken immer wieder in die eigene Vergangenheit ein, als hätte sein Tod etwas in ihr ausgelöst, als wäre ein lang aufgestauter Damm gebrochen. Und nun floss eine Episode nach der anderen durch ihren Kopf wie durch eine liegende Acht.

Mit solchen Gedanken und einem leicht merkwürdigen Gefühl ging sie am Philosophengärtchen vorbei. Nach einem weiteren kleinen Wegstück gelangte sie an ein eisernes Tor, hinter dem ein Pfad in einen großen, dichtbewachsenen Garten hinunterführte.

Da ist er wieder, dachte sie. Hier hat sich kaum etwas verändert. Für kurze Zeit der Zaubergarten meiner Kindheit.

Sie entnahm ihrer Umhängetasche den Schlüssel und wollte aufschließen. Doch das Schloss gab nicht nach. Sie versuchte es mehrmals.

Kann man Ihnen behilflich sein?, fragte hinter ihr eine männliche Stimme.

Martina drehte sich um. Ein älteres Paar war stehen geblieben und sah sie mit eher neugierigen als hilfsbereiten Blicken an.

Ich probier’s noch mal, sagte Martina, spuckte auf den Schlüssel, steckte ihn wieder ins Schloss – und es knackte.

Ich produziere zwar kein Schmieröl, aber Sie sehen: es funktioniert.

Guten Tag!, sagte der Mann.

Martina zog den Schlüssel ab, drückte das Tor wieder zu und betrat das Grundstück.

Der Pfad führte halb rechts abwärts. Von den Beeten und Blumenrabatten war nicht mehr viel zu sehen. Überall Wildwuchs, jahrelanges Wuchern von Pflanzen aller Art, denen niemand mehr Einhalt geboten hatte.

Schließlich machte der Pfad eine Biegung nach rechts und nun stand sie vor dem Haus, das man oben vom Weg her nicht sehen konnte.

Martina versuchte es mit mehreren kleineren Schlüsseln. Der dritte passte.

Kein gewöhnliches Gartenhaus. Eine Behausung, die von Franz Niemann viele Jahre ständig bewohnt worden war.

Hierher hast du dich zurückgezogen, um deine große Sinfonie zu komponieren. Dein Reich – dein Privatreich, in dem niemals Kriege verhindert werden. Aber vielleicht konntest du den Krieg ›verarbeiten‹, den du hinter dir hattest? Ich werde das herausfinden müssen.

Martina war gespannt, was sie erwartete.

Franz war Mitarbeiter mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften gewesen und hatte im Laufe der Jahre verschiedene Bücher publiziert: Für seine Studenten einen Band Kontrapunktische Übungen und ein Repetitorium der Musikgeschichte, dazu kamen Veröffentlichungen über Olivier Messiaen und Alban Berg. Auch eine Biografie des Komponisten Leoš Janácek.

Irgendwann verlieh man ihm den Titel eines Honorarprofessors. Martina erinnerte sich dunkel an eine Ernennungsurkunde.

Seine Sinfonie war nie vollendet worden, wie ihr Dorothea gesagt hatte. Bei seinem Tod habe er den unvollendeten achten Satz und viele Skizzen und Entwürfe zum neunten und letzten Satz des vermutlich an die sechs bis sieben Stunden dauernden Werkes hinterlassen.

Als Martina das Haus betrat, sah sie sich einer von einzelnen länglichen Glasscheiben unterbrochenen hölzernen Wand gegenüber, die den Vorraum von dem Wohn- und Arbeitszimmer abtrennte. Vor ihr eine leicht getönte Glastür. Auf der linken Seite ein hölzerner Garderobenständer, an dem noch immer der dunkelblaue Umhang hing. Damit war er bei kaltem oder regnerischem Wetter umhergewandert, bei Spaziergängen, in der Stadt. So hatten ihn seine Mitmenschen in Erinnerung, die ihn entweder erstaunt angesehen – oder belächelt hatten. Dazu gehörte auch der verwegen anmutende Hut mit der breiten Krempe am Haken daneben und der Stock mit dem Löwenkopf, der in der Ecke lehnte.

Als wäre er eben noch unterwegs gewesen.

An der Wand gegenüber ein großes Bild: eine Wiedergabe der Heiligen Cäcilie von Max Ernst.

Martina öffnete die Glastür und stand vor einem großen, in völliger Dunkelheit liegenden Raum. Sie betätigte einen Lichtschalter, den sie am Balken zu ihrer Linken ertastet hatte. Ganz vorne über dem Flügel ging eine Lampe an: Sie betrachtete ein Chaos unbeschreiblicher Art, das sie zwar von früher her kannte, das sich aber in den letzten Jahren noch verstärkt haben musste. Berge von Büchern und Noten, die zwei von den seitlichen Fenstern überwachsen hatten.

Sie bewegte sich vorsichtig nach vorne auf den Flügel zu, umrundete ihn, trat vor den rechts daneben stehenden Schreibtisch und fand in der Ecke endlich eine dicke Kordel für den dunklen Vorhang.

Licht flutete nun wie eine Riesenwelle in das große Zimmer. Die gesamte vordere Front bestand aus Glasscheiben, die vom Boden bis zur Decke reichten. Martina schaute auf den Fluss hinunter. Der zum Klischee erstarrte Blick Merians auf Schloss und Altstadtpanorama. Franz Niemanns Spezialblick! Über viele Jahrzehnte diese besondere Aussicht. Immer wieder ein Panorama für Inspiration?

Auf dieser Seite war nichts zugewachsen. Das Grundstück fiel hier ziemlich steil ab. Die Vegetation war niedrig gehalten. An vielen Stellen Rosenhecken. Auch an einem Freisitz außerhalb, zu dem eine Tür auf der linken vorderen Seite des Raums hinführte, rankten sich Rosenzweige an einem Gitter hoch. Durch dieselbe Tür kam man zu einer Treppe, über die man nach unten in einen Vorratsraum und zwei weitere Kellerräume gelangte, die unmittelbar unter dem Hauptraum lagen.

Auf der rechten Seite des großen Raums führte eine Tür zu einem Anbau, in dem sich das Bad und ein weiteres Zimmer befanden.

Im Laufe der Zeit war ständig etwas dazugebaut, erweitert, ergänzt worden. Mehr und mehr hatte dieses Gartenhaus den Charakter eines Wohnhauses angenommen.

An der Wand neben der Badezimmertür hatte Franz seine Ernennungsurkunde aufgehängt, unmittelbar neben einer Wiedergabe von Paul Klees Zwitschermaschine. Auf der Urkunde noch ein paar Anmerkungen von seiner Hand: Honorarprofessor! Deutsche Titelphantasien sind nicht ›honoris causa‹, sondern nur ›humoris causa‹ zu ertragen.

Nun erinnerte sich Martina wieder. Franz hatte nichts von Titeln, überhaupt nichts von Hierarchien gehalten. Dennoch Honorarprofessor?

Dieses Fenster war, wenn sie sich richtig erinnerte, Mitte der siebziger Jahre eingebaut worden. Nach ihrem ›politischen Asyl‹ im Juli 1972. Wie lange war das nun her! Fast siebenundzwanzig Jahre. Er war wie ein Vater zu ihr gewesen. Obwohl sie es ihm bestimmt nicht leicht gemacht hatte.

Martina lächelte vor sich hin:

Damals, mit meinen zweiundzwanzig Jahren, wusste ich natürlich ganz genau, wo es lang ging! Eine Sache hat mich allerdings mit großer Dankbarkeit erfüllt. Er hat mich bei unseren Gesprächen fast immer ernst genommen. Nie von oben herab, nie sein großes Wissen und seine wesentlich größere Lebenserfahrung in irgendeiner Form ausgespielt. Ich war für ihn eine Gesprächspartnerin, die er zwar auf einem Irrweg sah, aber ich fühlte mich als gleichberechtigte Diskutantin. Ich glaube, er mochte mich. Und ich mochte ihn.

Mit großem Elan ging sie daran, erste Ordnungsmaßnahmen in dem allgemeinen Chaos zu treffen. Sie räumte den Schreibtisch frei, zog die verschiedenen Schubladen auf, suchte nach der Großen Partitur. Ihr Blick fiel schließlich auf einen Wäschekorb unter dem Flügel. In ihm befanden sich über ein halbes Dutzend sorgsam verschnürte Bündel mit beschriebenen Notenblättern sowie das umfangreiche Werktagebuch. Martina schlug die ersten Seiten auf.

Franz hatte mit akribischer Sorgfalt beschrieben, wie er bei der Komposition seiner Sinfonie verfahren wollte. Dabei ging es nicht nur um werkanalytische Details, sondern oft auch um allgemeine, über das bloße Komponieren hinausgehende Überlegungen.

Er schrieb auf einer der ersten Seiten:

... Es muss doch möglich sein, eine Musik zu komponieren, welche die ganze Welt einbezieht. Die europäische Musik als Ausgangspunkt. Aber nicht aus eurozentrischen Vorstellungen heraus, sondern nur deshalb, weil ich ein Komponist bin, der in Europa geboren wurde. Dann möchte ich nach und nach Musik von möglichst vielen Völkern darunter mischen, soweit sie mir zugänglich ist. Die Musik der orientalischen, afrikanischen, asiatischen, amerikanischen Länder, der Ozeanien, der Eismeervölker, der Aborigines, der Maoris usw.

Das wäre doch die Möglichkeit, die ganze Menschheit in einer Sinfonie zu vereinen. Sinfonie bedeutet doch ›Einklang‹, ›Zusammenklang‹. Mit den verschiedenen Sprachen könnte ich das nicht bewerkstelligen. Das Ergebnis wäre nur ein unverständliches babylonisches Geräusch! Doch mit Musik ganz unterschiedlicher Herkunft kann ich mich auf die Suche nach einem besonderen Zusammenklang machen ...

Viele in gestochen scharfer Schrift beschriebene Seiten, die hier abgeheftet worden waren. Martina las das Blatt zum ersten Satz.

Alles war genauestens aufgeführt: das Themenmaterial, die thematisch-motivische Entwicklung, Überlegungen zur Klangfarbe, zur programmatischen Ebene.

Vielfältige Erwägungen zur kompositorischen Vorgehensweise.

Sie ging in den Garten hinaus, begab sich zu dem hölzernen weißgestrichenen Liegestuhl, der neben dem Gartentisch in Blickrichtung Altstadt stand, stellte die Rückenlehne hoch und setzte sich hinein.

Sie hatte das Werktagebuch mitgenommen, legte es neben sich auf den Boden. Sie schloss für eine kurze Zeit die Augen. Unten im Tal begannen die Kirchenglocken zu läuten.

Sie ließ sich von der Atmosphäre des Ortes anstecken und ihre Gedanken flogen in das Land hinaus:

Ja, ein besonderer Ort. Worin besteht sein Geheimnis? Dieses enge Tal, in dem sich die Stadt zu beiden Seiten des Neckars nach oben ausgebreitet hat. Die außergewöhnliche Lage an diesem Fluss: Dort verliert er sich in der weiten Rheinebene, er entschwindet in der Ferne, im Dunst, der ganz unterschiedliche Ursachen haben kann, es verschwindet etwas im Unbestimmten, die vage Ahnung eines Flusses liegt noch über der Ebene.

Sie nahm den dicken Ordner auf und begann wieder zu blättern. Sie stieß auf eine Stelle, wo Franz auf seinen Fluss zu sprechen kam.

... Er ist auf seinem Weg hierher an vielen Städten und Landschaften vorbeigeströmt. Er wird sie alle mitnehmen, die schönen und die öden Orte, die Schlösser und Burgen an seinen Uferhöhen, die Wiesenländer und dunklen Waldhänge. Für ihn gibt es keinen Stillstand, sein Weiterfließen gleicht einer unendlichen Melodie, die in der Tat niemals endet: Wenn er sich in Mannheim mit dem ›großen Bruder‹ vereinigt, bringt er seine Themen und Motive mit und verbindet sie mit jenen des Rheins, fließt mit ihm zusammen dem Meere zu und auf dem Weg dahin gesellen sich weitere Themen aus allen Richtungen hinzu – kann man sich eine größere Vielfalt an Stimmen vorstellen? Eine reichhaltigere Polyphonie?

Der Fluss ist mein Vorbild geworden. Er nimmt in seinem Bett alles auf – wie ich in meiner Musik: Thema gesellt sich zu Thema, Kontrapunkte bilden sich heraus, weitere Elemente werden dazugemischt, Dynamik und Klangfarbe. Alles trägt seinen Teil bei, ist gleichberechtigt, auch in der Fortspinnung und Verfremdung.

Jedes Element hat seinen Platz, klingt mit ...

Martina kehrte erst spät am Abend dieses Tages nach Frankfurt zurück. Eine Fülle von Eindrücken hatte sich in ihrem Kopf eingenistet. Sie fühlte, dass sie von dieser Vielfalt fast überwältigt wurde, spürte aber einen starken Willen der Bewältigung, getragen von der Gewissheit, dass sie das alles für Franz auf sich nehmen würde. Und dieser Gedanke stimmte sie froh und zuversichtlich. In den folgenden Wochen und Monaten las sie die Biografischen Anmerkungen, die Tagebücher und Briefe. Sie versetzte sich in dieses andere Leben hinein, stellte sich vor, wie Franz Niemann an den verschiedenen Orten seines Wirkens gelebt hatte, verfolgte seinen Weg durch die verworrene und oft tragische Geschichte seines Jahrhunderts und seines zeitweise irrsinnig gewordenen Landes.

Allegretto con moto

Zunächst ein üblicher Werdegang. Martha Niemann erteilte ihrem Sohn schon im Alter von fünf Jahren Klavier­unterricht. Die raschen Fortschritte, überhaupt die Begabung, die Franz dabei zeigte, empfand man als normal. Man hatte nichts anderes erwartet. Sein Weg zur Musik war bald vorgezeichnet. Die vielfältigen kulturellen Anregungen seines Elternhauses taten ein Übriges. Eine typische Karriere für einen männlichen Abkömmling aus einer bürgerlich-akademischen Hochburg bahnte sich an. Sein Vater hätte es gerne gesehen, wenn er ein Studium am Musikwissenschaftlichen Institut in Heidelberg begonnen und daneben vielleicht noch Germanistik und Philosophie belegt hätte.

Doch Franz wollte nach Frankfurt, an die dortige Musikhochschule, an das »Hoch’sche Konservatorium«. Seine Mutter war auf seiner Seite. Die Stadt am Main lag zwar nicht gerade am Ende der Welt, aber er wollte, wie er in seinem Tagebuch vermerkte, eine gewisse Distanz zum Elternhaus herstellen. Das schien ihm doch wichtig zu sein. Sein Vater gab schließlich ohne größeren Widerstand nach.

Franz Niemann erhielt seine klassische Klavierausbildung bei Paul Bückner, einem der besten Klavierlehrer an der Hochschule, Kompositionsunterricht bei dem Komponisten Bernhard Sekles, der als Direktor des Konservatoriums 1927 eine Jazz-Klasse unter der Leitung von Matyas Seiber eingerichtet hatte. Franz, der zu seinen ersten Schülern gehörte, war begeistert. Eine in dieser Zeit gewagte Neuerung, die natürlich Proteste der Deutschnationalen auf den Plan rief – amerikanische Nigger-Musik und dergleichen.

Zuerst machte Matyas Seiber seine Studenten mit den wichtigsten Grundbegriffen vertraut, untermauerte seine Erläuterungen mit Schallplattenbeispielen, die er auf einem Grammophon abspielte: den Ragtime, den ländlichen und klassischen Blues oder den Dixieland-Jazz.

Leider besitzen wir keine einzige Schallplattenaufnahme vom New-Orleans-Jazz, dem ersten, inzwischen legendären Jazz-Stil überhaupt, sagte Seiber. Wir können diesen Stil nur nachahmen, so wie es in Amerika auch gemacht worden ist.

Von Anfang an aber sollten seine Schüler selbst spielen. Ihr Lehrer stellte bestimmte Gruppen von Instrumenten zusammen. Klarinette, Trompete und Posaune als Melodieinstrumente, dann eine Rhythmusgruppe, die aus Schlagzeug, Klavier, Gitarre, Tuba oder Schlagbass bestand. Ein Banjo kam noch dazu. Zuerst hatte Seiber alles arrangiert, damit seine Schüler entsprechende Notenvorgaben hatten. Doch mit der Zeit wagten sie sich auch an das freiere Improvisieren.

Nicht nur Franz entdeckte sein Improvisationstalent, sondern auch ein sehr versierter Trompeter, Hans Glückauf, der Klarinettist Samuel Stern, der Posaunist Albert Klemm und der unvergleichliche Schlagzeuger Erwin Mantoni. Sie gründeten schließlich eine Band, bei der ab und zu noch andere Instrumente mitspielten. Bald traten sie auch in Kneipen und Cafés auf. All dies schuf mit die Grundlage für die spätere Jazz-Szene in Frankfurt.

Ab dem dritten Semester, im Herbst 1928, belegte Franz mehrere Vorlesungen am Musikwissenschaftlichen Institut, das der Hochschule angeschlossen war. Hier war es in erster Linie der charismatische Professor Walter Thalheimer, der Franz in seinen Bann zog. Thalheimer war vor allem auf das 18. und 19. Jahrhundert spezialisiert, hatte aber auch Arbeiten zu Heinrich Schütz und Johann Hermann Schein veröffentlicht. Fünf Jahre zuvor war sein Buch über Robert Schumann erschienen, das weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden war. Doch dieser Musikwissenschaftler beschäftigte sich außerdem mehr und mehr mit der Moderne in der Musik. Bei Thalheimer hörte Franz eine sich über zwei Semester erstreckende Vorlesung zu dem Thema »Aspekte zur Entwicklung der Harmonik in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts«. Diese Übergangszeit, die für die Entstehung der kommenden Moderne so wichtig war, faszinierte Franz besonders. Hier hörte er zum ersten Mal die Namen Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern. Für das folgende Semester kündigte Thalheimer unter anderem ein Seminar zum ›Stile barbaro‹ an, zu Hindemith, Bartók und Strawinsky.

Walter Thalheimer fand Gefallen an dem interessierten und engagierten Studenten. Er lud Franz oft in seine Wohnung in der Schubertstraße ein. Aus den Diskussionen über Musik wurden bald auch persönliche Gespräche über alle möglichen Themen. Die Anrede ›Herr Professor‹ redete er seinem Studenten bald aus.

Eine Sache finde ich wichtig, Franz Niemann, achten Sie stets die Leistung eines Mitmenschen, gleichgültig auf welchem Gebiet, und verachten Sie den Angeber, den Wichtigtuer, den Großsprecher. Denken Sie nicht in Hierarchien! Selbstverständlich ist das hierarchische Denken nicht nur eine deutsche Angelegenheit, obwohl es hierzulande stark verbreitet ist. Achten Sie auf den Menschen, Franz Niemann.

Walter Thalheimer lebte allein mit seinem Flügel, einer riesigen Bibliothek, einem breiten Schreibtisch mit einem Sessel von überdimensionalen Formen davor, in dem er völlig verschwand, wenn er sich hineinsetzte. Das kam allerdings auch daher, dass Thalheimer relativ klein war. Die Studenten nannten ihn manchmal scherzhaft den ›laufenden Meter‹. Außerdem war er ein wenig bucklig. Wenn er bei einem Vortrag etwas besonders eindringlich verkünden wollte, streckte er den Kopf nach vorne und vollführte mit den Armen zusätzlich kreisende Bewegungen. Von der Seite mochte er dann, auch bedingt durch den fast kahlen Schädel und einen verbliebenen Rest von Haarbüscheln am Hinterkopf, das Aussehen eines Gnoms haben. Doch wenn man direkt in seine dunk­len, klugen und wissenden Augen blickte, in dieses immer leicht lächelnde Gesicht, das sowohl dem einzelnen Gesprächspartner wie auch einer größeren Zuhörerschaft Anteilnahme und Empathie entgegenbrachte, dann verschwand jeder Eindruck von etwas Lächerlichem oder Kauzigem. Franz konnte sich nicht erinnern, jemals einem Gesicht begegnet zu sein, das eine solche Güte ausstrahlte. Dabei war Thalheimer keinesfalls nachsichtig, was wissenschaftliche Korrektheit, Genauigkeit der Analyse oder Exaktheit des sprachlichen Ausdrucks anging. Dennoch war seine Kritik kaum einmal verletzend, weil sie stets mit gleichzeitiger Hilfestellung und Weiterführung daherkam.

Doch das konnte man nicht von allen Lehrern behaupten. Franz ärgerte sich darüber, wenn beispielsweise Hubert von Stapelstein, ein deutsch-nationaler Musikgeschichtsprofessor, einem Studienanfänger gleich bei seinem ersten Referat ein freundliches Lob mit auf den Weg gab: Ihr Referat war prima – Oberprima!

Von Stapelstein war es auch, der die Studenten, die an Matyas Seibers Jazz-Klasse teilnahmen, als ›undeutsche Negerfreunde‹ bezeichnete.

Franz kochte innerlich. Er hätte den Professor gerne gefragt: Herr Professor, könnten Sie mir den genauen Unterschied zwischen einem deutschen und einem undeutschen ›Negerfreund‹ erklären?

Franz Niemann, regen Sie sich nicht so sehr auf!, beschwichtigte ihn Walter Thalheimer.

Das ist alles nur Gewöhnungssache, glauben Sie mir. Es gibt überall viele Leute, die gegen alles sind, was für sie in irgendeiner Form ›modern‹ ist, was immer sie darunter verstehen. Wichtig ist, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, unbeirrt sein Ziel zu verfolgen – eines Tages werden auch unsere Widersacher erkennen, dass wir für eine richtige Sache eingetreten sind.

Kennen Sie übrigens Theodor Wiesengrund-Adorno?, fragte ihn Thalheimer beiläufig.

Ich habe von ihm gehört.

Er hat zwei Jahre in Wien studiert, war Schüler von Alban Berg. Er ist seit 1926 wieder in Frankfurt, ist mit einigen Leuten vom Institut für Sozialforschung befreundet. Zu ihm sollten Sie einmal Kontakt aufnehmen, schlug Thalheimer vor. Er ist mir zwar ein wenig zu einseitig, aber er tritt sehr für die Moderne ein.

Das Gespräch mit Adorno verlief nicht ganz so, wie Franz sich das vorgestellt hatte. Erstens äußerte sich Adorno ziemlich abfällig über die Jazzmusik. Franz glaubte sogar so etwas wie ›Negermusik‹ herauszuhören. Zweitens, nicht ohne Arroganz, wie Franz feststellte, setzte er sich fast ausschließlich für die Musik der Neuen Wiener Schule ein, vor allem für Arnold Schönberg.

Franz wandte ein, dass es ja wohl nicht nur eine einzige Richtung in der Musik geben könne. Jede Richtung hat ihre Berechtigung, konterte Franz selbstbewusst, ob es sich um Ernst Toch oder Paul Hindemith, die Ihnen ja bekannt sein dürften, um Igor Strawinsky und Bela Bartók oder um die Komponisten der Neuen Wiener Schule handelt.

Adorno wollte nur Schönberg und seinen Kreis gelten lassen.

Alles Schönbergische ist heilig ... wer dagegen ist, wird zerschmettert! Das habe er schon 1925 an Siegfried Kracauer geschrieben! Der Streit nahm an Lautstärke zu.

In der Musik, in der Kunst überhaupt, muss Vielfalt möglich sein. Auch die Jazz-Musik gehört dazu!, schrie Franz, verließ das Zimmer, warf die Tür zu.

Wiesengrund-Adorno schien verblüfft gewesen zu sein, wie später Walter Thalheimer Franz schmunzelnd berichtete. Schließlich war Franz in Adornos Augen ein Grünschnabel, der es wagte, ihm, Dr.Theodor Wiesengrund-Adorno, zu widersprechen, der schon 1924 mit einer Arbeit über Edmund Husserl promoviert hatte, der inzwischen als Redakteur bei der Wiener Musikzeitschrift Anbruch arbeitete und dabei war, sich mit einer Arbeit über Kierkegaard zu habilitieren.

Was will er eigentlich? Will er allen Komponisten vorschreiben, wie sie zu komponieren haben? Will er eine Diktatur der Dodekaphonisten errichten? Sind Bartók oder Strawinsky nichts?, schrieb Franz in sein Tagebuch.

Immer wieder erwähnte Franz seine Besuche in Heidelberg. So oft er es möglich machen konnte, fuhr er hin, um Vorträgen und auch Vorlesungen von Friedrich Gundolf beizuwohnen, die, bedingt durch die Krankheit Gundolfs, immer seltener wurden. Franz hörte Vorlesungen zu Shakespeare, Hölderlin, den Romantikern oder zu Goethe. Ab und zu war er auch Gast im Gundolfschen Haus, der Villa Schepp in der Neuenheimer Landstraße.

Als Friedrich Gundolf 1931 starb, notierte Franz in sein Tagebuch:

Ich habe einen väterlichen Freund verloren, dem ich mich auch menschlich sehr verbunden fühlte, dessen Ausstrahlung sich kaum jemand entziehen konnte und dem ich sehr viel für mein Verständnis von Literatur zu verdanken habe ...

Und an anderer Stelle:

Das Einzige, was ich nie verstehen werde, auch wenn das nun, da Friedrich Gundolf uns verlassen hat, eigentlich keine so große Rolle mehr spielt, ist seine George-Verehrung. Als Gundolf 1926 wegen seiner Heirat mit Elisabeth Salomon von dem ›Großen Meister‹ verstoßen wurde, hörte diese Verehrung nicht auf. Immer wieder erwähnte er den Meister, gab seiner Hoffnung Ausdruck, der Meister möge ihm wieder gnädig sein.

Ich erinnere mich noch an einen Abend, ich war damals acht Jahre alt, als meine Eltern mich diesem ›Dichterfürsten‹ vorstellen wollten. Bei der Abendgesellschaft waren auch Friedrich Gundolf und Max Weber zugegen. Meine Mutter kam und nahm mich an der Hand.

Herr George hat jetzt zugestimmt, deine Bekanntschaft zu machen.

Wir gingen die Treppe zum ersten Stock hoch.

Wo ist er denn?, fragte ich nun schon etwas ängstlich.

Wir haben doch heute Nachmittag dieses Zimmer umgeräumt. Das ist nun sein Begrüßungsraum .

Wir kamen an die angelehnte Tür des besagten Zimmers und meine Mutter klopfte vorsichtig an. Keine Reaktion. Sie klopfte noch einmal.

Herein!, sagte eine männliche Stimme.

Geh jetzt hinein, flüsterte mir meine Mutter zu und schob mich durch die Tür.

Ich betrat den spärlich erleuchteten Raum und sah den Dichter auf einem breiten Stuhl zwischen den beiden Fenstern sitzen oder besser: thronen.

Ich blieb stehen. Ich hatte wirklich Angst.

George lächelte mir zu. Tritt näher, mein Freund!, sagte er.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. So sah ein König aus, der seine Untertanen empfing. Musste ich nun eine Verbeugung machen? Ich senkte den Kopf ein wenig.

Fürchte dich nicht und nenne mir deinen Namen, sagte er immer noch freundlich.

Ich änderte meine Stellung um keinen Millimeter. Ich hob den Kopf wieder, blickte in dieses Gesicht, das nun einen noch strengeren, gebieterischen Ausdruck angenommen hatte.

Du wirst doch wohl einen Namen haben?

Weitere Sekunden vergingen, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann nahm er eine kleine Glocke in die Hand und läutete.

Meine Mutter kam herein. Ich erwartete, dass sie sich nun vielleicht ebenfalls verbeugte.

Aber sie nahm mich nur an der Hand, lächelte dem Dichter zu und zog mich hinaus.

Ich habe diese Szene nie vergessen. Und sie hatte auch ihr Gutes. Denn ich lernte unter anderem aus dieser Begebenheit, auch wenn mir das erst viel später richtig bewusst geworden ist, was Überheblichkeit und Dünkelhaftigkeit, diese Erwartung von Unterwürfigkeit, bedeuten können.

Noch heute läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich an diesen selbsternannten Dichterkönig denke. Und an seine Jüngerschar. Zu der ich leider auch meine Eltern, Friedrich Gundolf und viele andere zählen muss.

Frühjahr 1932, Anfang Mai.

Bei einem Familienfest – der sechsundvierzigste Geburtstag seiner Mutter wurde gefeiert – lernte Franz eine junge Frau kennen, die ihn sofort faszinierte.

Immer wieder suchte er ihre Nähe, war zu schüchtern, um sie anzusprechen.

Er beschreibt sie in seinem Tagebuch: … eine schöne Frau ... mit diesen blonden Haaren, mit diesem wunderbaren Lächeln, mit ihren Bewegungen, ihrer ganzen Art ...

Beim Abendessen saß er ihr gegenüber, suchte mutig ihren Blick. Sie schien ihn kaum zu beachten. Zwar war sie ihm am Nachmittag vorgestellt worden, doch in dem allgemeinen Durcheinander bei der Begrüßung hatte er ihren Namen nicht richtig gehört. Nach dem Essen war sie wieder von allen möglichen Gästen umringt, Franz registrierte genauestens, dass ihr manche den Hof machten, war auch schon etwas eifersüchtig, fühlte sich ein wenig hilflos, konnte nichts dagegen tun.

Irgendwann an diesem Abend bekam Franz jedoch eine Chance, auf sich aufmerksam zu machen. Zunächst spielte seine Mutter den ersten Satz aus Beethovens Waldstein-Sonate.

Dann bat sie ihren Sohn um ein Geburtstagsständchen und Franz, der erst vor ein paar Wochen seinen Abschluss auf dem Klavier mit Auszeichnung bestanden hatte, ließ sich nicht zwei Mal bitten. Frédéric Chopin: zuerst die vierte Etüde aus Opus 10 in cis-Moll. Danach, weil der Beifall gar nicht enden wollte, das 1. Nocturne in b-Moll aus Opus 9.

Franz schrieb ganz offen, dass er eigentlich gerne den Ragtime aus Hindemiths Klaviersuite 1922 oder auch vielleicht eine eigene Komposition zum Besten gegeben hätte. Doch die Anwesenheit dieser jungen Frau habe ihn dazu bewogen, ein anderes Programm zu spielen. Zu Beginn diese virtuose Etüde und schließlich ein sehr getragen-melodiöses Klavierstück.

Franz nahm den Beifall entgegen und ging durch die offen stehende Terrassentür in den Garten hinaus. Seine Mutter war ihm sofort nachgelaufen und umarmte ihn, sagte ihm, wie stolz sie auf ihn sei und wie begeistert überhaupt alle seien. Möglichst wie nebenbei wollte er sich bei seiner Mutter erkundigen, wer die junge Frau sei, die er hier noch nie gesehen habe. Und eben diese junge Frau stand plötzlich neben ihnen und erklärte mit einem leicht spöttischen Lächeln, dass sie im Grunde ein wenig gekränkt sein müsse, denn sie sei ihm ja bereits vorgestellt worden. Und lachend sagte seine Mutter: Das ist doch Sofie Bertram, die Tochter meiner Kusine Helgard.

Seine Mutter ging wieder zu ihren Gästen zurück. Sofie überspielte die Unbeholfenheit und Verlegenheit von Franz, indem sie sofort munter darauf losplauderte, als würden sie sich schon seit längerer Zeit kennen.

Du kannst mich natürlich auch noch gar nicht gesehen haben, weil ich seit vielen Jahren gar nicht in Deutschland gelebt habe.

Und sie berichtete zuerst von ihren Kindheitsjahren in Schweden, wo ihr Vater als Diplomat akkreditiert war. Später wurde er nach Wien versetzt. Sofie hatte ein Internat in der Schweiz besucht, in der Nähe von Luzern.

Ich bin vor zwei Tagen angekommen. Ich werde wahrscheinlich zwei Wochen in Heidelberg bleiben. Weißt du eigentlich, dass du fantastisch Klavier spielst?

Die Frage kam für ihn völlig unerwartet, mitten im Erzählfluss. Franz empfand wieder seine Verlegenheit, fühlte sich überrumpelt, ärgerte sich über sich selbst, sagte schließlich, er habe vor kurzem sein Klavierexamen gemacht.

Auf dem Internat mussten wir auch ein Instrument lernen. Ich spiele Violine.

Dann könnten wir ja vielleicht mal zusammen ..., begann Franz ganz vorsichtig.

Sofie lachte auf.

Oh! Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich deinen Ansprüchen genüge!

Franz wollte ihr eben noch mitteilen, dass er komponiere und dass vielleicht bald etwas von ihm aufgeführt werde, ein Klaviertrio.

Ich denke, wir sollten wieder hineingehen, sagte Sofie.

Gerade fand ein allgemeiner Aufbruch statt. Viele Gäste verabschiedeten sich. Auch Sofie verließ die Gesellschaft in Begleitung einer älteren Dame, einer Tante, wie Franz später erfuhr. Die meisten beglückwünschten ihn zu seinem Klavierspiel und bedankten sich höflich.

Franz hörte kaum hin. Er ging auf sein Zimmer und fing an vor sich hinzuträumen.

Er hatte sie nicht einmal danach gefragt, wo sie wohnte! Aber das herauszubekommen, dürfte ja kein größeres Problem darstellen.

Franz fragte am nächsten Morgen, kurz vor der Abfahrt nach Frankfurt, seine Mutter, die ihm mit einem verschwörerischen Lächeln mitteilte, dass Sofie bei ihrer Tante in der Merianstraße zu Besuch sei.

Er notierte sich die genaue Adresse. Kaum in Frankfurt in seiner Bude in der Nähe des Börne-Platzes angekommen, setzte er sich hin und schrieb seinen ersten Brief an diese junge Frau, in die er sich zu verlieben im Begriff war. Also Neuland. Er brauchte lange, fand alles dumm, was er schrieb, traf nicht den richtigen Ton. Sein Papierkorb füllte sich mit Briefentwürfen. Endlich hatte er genug und entschied sich für eine kurze Mitteilung. Dass der Abend schön gewesen sei, dass er sich gefreut habe – und ob sie mit ihm am nächsten Dienstag in ein Konzert in Heidelberg gehen würde. Auf dem Weg zur Hochschule brachte er den Brief zur Post. Er glaubte eigentlich nicht an eine Antwort. Zu banal, zu kurz, zu förmlich und vor allem zu lieblos.

Drei Tage später die Antwort. Er öffnete rasch den Brief.