Kein Fährmann wartet am Totenfluss - Alexander Bertsch - E-Book

Kein Fährmann wartet am Totenfluss E-Book

Alexander Bertsch

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Beschreibung

Die tragische Flucht einer iranischen Familie in ein Land, wo sie ein friedliches, menschenwürdiges Leben ohne politische Verfolgung und Unterdrückung führen möchte. An ihrem Fall wird exemplarisch das Schicksal unzähliger Menschen aus vielen Ländern dieser Welt aufgezeigt, die sich aus existentieller Not und Verzweiflung auf diese gefahrvolle Reise begeben, getrieben von dem Funken Hoffnung, eine neue Heimat zu finden. Oft bezahlen sie einen hohen Preis.

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Titel

Alexander Bertsch

Kein Fährmann wartet am Totenfluss

Impressum

Impressum

Autor: Alexander Bertsch Titel: Kein Fährmann wartet am Totenfluss Untertitel: Die Flucht des Loran Moradi aus dem Iran nach Süddeutschland Umschlaggestaltung: Jochen Baumgärtner, vr Satz: Katja Leschhorn, vr E-Book-Erstellung: Nico Busch, vr EPUB: ISBN 978-3-89735-012-0

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 64 S., Broschur. ISBN 978-3-89735-916-1.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Weder Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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verlag regionalkultur Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Speyer

Korrespondenzadresse:

Wenn du ein Flüchtling bist und du stirbst, stellt niemand Fragen, aber um anderswo leben zu können, werden dir tausende Fragen gestellt. (Zitat aus einem Flüchtlingsbericht)

The answer, my friend, is blowing in the wind.

Sein Name ist Loran Moradi. So viel weiß ich inzwischen.

Mario, der Kellner im Café Milano, hat es mir gesagt.

Loran Moradi kommt immer wieder hierher, setzt sich an einen der beiden Tische an der hinteren Wand neben der Zwergpalme.

Mario geht zu ihm hin. Wie immer? Der Mann nickt.

Einen Kaffee!, ruft Mario.

Ein warmer Oktobertag 2013. Im vorderen Teil des Lokals hat man einen ganz annehmbaren Blick auf den Fluss. Zwei kleine Ausflugsschiffe liegen gegenüber, Menschen gehen auf einem breiten Uferweg spazieren, ein paar Kinder erschreckensie mit ihren Fahrrädern, auf dem Wasser fahren Boote in verschiedene Richtungen.

Im hinteren Teil des Cafés dagegen: eine schmutzig-braune Wand mit dieser Kübelpflanze. Nimmt der Mann das überhaupt wahr? Sein Blick hat etwas Weltabgewandtes, nichts Verträumtes, eher vielleicht Indifferentes, als würde Loran die reale Welt nicht interessieren.

Ich beobachte ihn. Er trinkt mit kleinen Schlucken seinen Kaffee, holt sein Handy aus der Hosentasche, sieht nach, liest etwas, tippt eine Nachricht, schaltet das Gerät ab und steckt es ein. Alle seine Bewegungen wirken fast bedächtig und gleichzeitig unendlich gleichgültig.

Er blickt auf diese braune Wand. Ein hoher, pfeifender Klingelton. Zögernd holt er das Gerät erneut heraus, blickt kurz darauf und lässt es wieder in seiner Tasche verschwinden.

Irgendwann erhebt er sich, streift die Menschen im Lokal mit seinem abwesenden Blick und verlässt mit langsamen, gemessenen Schritten das Café.

Ich sehe ihm nach, wie er den Uferweg entlanggeht, an den Menschen vorbei, an den großen Bäumen am Fluss, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Schultern etwas hochgezogen, als würde er irgendeine Last tragen.

Er wohnt im Heim, sagt Mario, der plötzlich neben mir steht und meinem Blick gefolgt ist. Er kommt aus dem Iran.

Woher weißt du das?

Von Hassan. Vor kurzem waren zwei von seinen Mitbewohnern hier. Sie saßen hier vorne.

Loran auch?

Nein, er saß dort hinten an seinem Tisch. Hassan sagte mir, dass der nur selten mit jemandem redet.

Vielleicht können sie sich gar nicht verständigen.

Sprechen die nicht alle arabisch?

Ich muss ein wenig lachen. Nicht unbedingt. Wo kommt denn Hassan her?

Aus dem Irak. Er spricht schon ganz gut deutsch.

Aber Loran ist doch offensichtlich Iraner. Die sprechen Farsi … Persisch.

Ich trinke einen Schluck Kaffee.

Sie wohnen alle zusammen in einem Raum. Da muss man doch irgendwie miteinander sprechen, sagt Mario.

Das ist aber in diesem Fall nicht ganz so einfach.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich ständig mit anderen Leuten in einem kleinen Zimmer hausen müsste und mich kaum verständigen könnte.

Wie groß sind die Zimmer eigentlich?

Hassan meinte, etwa neun Quadratmeter.

Nun, das ist nicht gerade berauschend.

Mario weiß offensichtlich immer alles.

Loran muss auf seiner Flucht etwas Schlimmes erlebt haben.

Ich sehe ihn fragend an.

Genaueres weiß ich nicht, sagt Mario. Hassan vermutet das.

Ich bezahle und gehe nach draußen.

Auf dem Weg zurück in meine Redaktion denke ich an den Iraner.

Wie alt mag er wohl sein? Wahrscheinlich um die fünfzig.

Loran Moradi interessiert mich. Kann man einem Menschen ansehen, was er durchgemacht hat? Ja und nein.

Später im Büro, als ich meinen Artikel über die Situation der Menschenrechte in Russland beendet habe, streckt Reiner Bachmeier, der Leiter unserer Politik-Redaktion, seinen Kopf zur Tür herein.

Mike, kommst du kurz in den Konferenzraum? Wir wollen noch etwas besprechen.

Okay.

Reiner kommt gleich zur Sache.

Ja, Leute. Eben ist eine Nachricht durchgekommen: Vor Lampedusa sind mehrere hundert Menschen ertrunken.

Es wird eine lange Besprechung. Die hereinkommenden Nachrichten werden gesammelt, besprochen, analysiert.

Die Stimmung ist gedrückt. Wir sind schockiert von den Ereignissen.

Reiner schlägt vor, dass wir eine Serie starten müssten. In der Zeitung sollten häufiger Artikel über die Situation von Flüchtlingen erscheinen.

Immer mehr Menschen kommen nach Europa, aus dem Nahen Osten, vor allem Syrien, aus Afrika, auch aus den Balkanländern, beginnt Reiner.

Wir können doch nicht alle aufnehmen, wirft Alfred Polzer ein.

Klar, sagt Reiner, aber es werden immer mehr kommen. Wir müssen uns darauf einstellen. Es ist wichtig, dass wir unsere Leserinnen und Leser informieren. Wir sollten schon unseren Teil zu einer Bewusstseinsbildung beitragen …

Alfred, einer der älteren Journalisten unserer Redaktion, verzieht das Gesicht.

Bleib doch bitte auf dem Teppich!, brummt er.

Ich kann mich nun nicht zurückhalten:

Du bist auch vor zwanzig Jahren aus Kasachstan gekommen und warst froh, dass du hier eine Existenz aufbauen konntest …

Moment! Wir waren und sind Deutsche! Das ist ja wohl nicht zu vergleichen.

Ach nee!, platzt nun Canan Özkan dazwischen. Es geht hier um etwas völlig anderes! Diese Menschen brauchen unsere Hilfe …

Moment, Moment! Reiner Bachmeier versucht, die Wogen zu glätten, was ihm erst nach längerem Hin und Her gelingt.

Canan, eine junge Journalistin, die etwa vor einem halben Jahr zu uns gekommen ist, gelingt es oft nicht, ihr Temperament zu zügeln. Ich finde es immer erfrischend, wenn sie loslegt.

Jedenfalls einigen wir uns schließlich darauf, dass mehrere von uns die Flüchtlings-Unterkünfte besuchen, die Leute zu ihrer Situation befragen, über ihre Schicksale berichten. Eine ganze Serie von Artikeln soll in den nächsten Wochen erscheinen.

Klar habe ich unter anderem gleich an Loran gedacht. Wahrscheinlich wird es schwierig, an ihn heranzukommen. Aber ich werde es versuchen.

Das Flüchtlingsheim der Stadt liegt in einem Industriegebiet zwischen Schrottverarbeitungs-Betrieben, einer Kläranlage, mehreren Transportunternehmen und sonstigen Fabrikanlagen. Es ist laut. Die Luft ist stickig. Manchmal riecht es nach faulen Eiern.

Ich bin mit Reiner Bachmeier unterwegs. Am Eingang müssen wir einem Wachmann, der sich gerade mit einer etwas missmutig blickenden Sozialarbeiterin unterhält, unseren Ausweis zeigen.

Ich frage nach Loran Moradi.

Die Frau sieht in einem Verzeichnis nach.

Dort drüben. Erster Stock rechts, vorletztes Zimmer.

Danke.

Wir gehen auf den gegenüberliegenden Gebäudekomplex zu.

Das Ganze macht den Eindruck einer heruntergekommenen Kaserne. Wenig Grün. Ein winziger Spielplatz mit ein paar Geräten. Kinder rennen über eine Art Rasen.