Mörderische Ausgrenzungen - Alexander Bertsch - E-Book

Mörderische Ausgrenzungen E-Book

Alexander Bertsch

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Beschreibung

Unterhalb einer Burgruine wird eine tote junge Frau gefunden. Eine grausige Tat, die auf einen Ritualmord hindeuten könnte. Eine Sonderkommission unter Hauptkommissar Hans Funk beginnt mit den Ermittlungen, ebenso stellt Anton Vinaeger Nachforschungen an. Der Privatdetektiv ist außerdem ein bekannter Gewürzspezialist, dessen feine Spürnase auf subtile Weise zum Einsatz kommt. Die Ermittler stoßen auf einen ganzen Morast von Vorurteilen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen. Bei den Untersuchungen führen die Spuren in mehrere Richtungen: in die rechte Szene, in die Kreise von Salafisten und schließlich zum Islamischen Staat.

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Alexander Bertsch

Mörderische Ausgrenzungen

Impressum

Titelbild: Burg Helfenberg, Foto: Ursula Bertsch Autor: Alexander Bertsch Titel: Mörderische Ausgrenzungen Umschlag: Jochen Baumgärtner, vr Satz: Katja Leschhorn, vr E-Book-Erstellung: Nico Busch, vr EPUB: ISBN 978-3-89735-013-7 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch erhältlich. 144 S., Broschur. ISBN 978-3-95505-012-2.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Weder Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

© 2019 verlag regionalkultur Alle Rechte vorbehalten.

verlag regionalkultur Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Speyer

Korrespondenzadresse:

Wir durcheilen

die Zeit

Und ich?

Glocken

versöhnen

den Verlierer

(Gustav Nagy, Fuge)

Mein Freund Schnuckenack nennt das Leben

eine Lehre, die man hat,

wenn man sie nicht mehr gebrauchen kann,

und er hat die Lehren satt.

Zwischen tausend Tabernakel sucht er

Gott wie eine Laus,

denn er will ihn höflich fragen,

ob er rechnet mit Applaus.

(André Heller, Mein Freund Schnuckenack)

Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

I

Seit vielen Jahren bewohnt er das Haus auf halber Höhe. An die linke Seite des Grundstücks schließen sich Weinberge an, die den größten Teil des Hügels in Beschlag nehmen. Die andere Hälfte wird von einem Gelände aus Bäumen, Buschwerk und Gestrüpp begrenzt. Das Bauwerk auf diesem etwa zwölf Ar großen Gelände hat etwas von einem Försterhaus: Überall mit Holz verkleidet, ringsum mit einem Balkon versehen, darunter größere Holzstapel oder alle möglichen Gerätschaften. Vielleicht hat es ja vor Zeiten einmal einem Förster gehört. Doch Anton Vinaeger ist kein Jäger. Obwohl er selbst ab und zu hinter Menschen her ist. Allerdings nicht, um sie wie Wild zur Strecke zu bringen, sondern um zu beobachten, zu registrieren, manche sagen auch: um zu schnüffeln, zu lauern oder mit seinen Fühlern in alle möglichen, oftmals auch sehr delikate Bereiche hineinzuhorchen. An einem der beiden dicken Pfosten des Eingangstors befindet sich ein angerostetes kleines Schildchen: Anton Vinaeger, Privatdetektiv.

Das Anwesen ist von einem Lattenzaun umgeben und wird zusätzlich von Lampion bewacht. Lampion, oft auch ‚Lampi‘ genannt, ist ein nicht zu übersehender ‚Schäfer-Mix‘, dessen Muttertier sich mit irgendeinem nicht genauer zu eruierenden, aber wesentlich größeren Artgenossen gepaart haben muss. Von vorne ist er ganz unverkennbar ein Schäferhund, sein Hintergestell jedoch scheint auf eigenartige Weise nicht mit dieser Rasse zusammenzupassen. Bei normaler Vorwärtsbewegung hat man jedenfalls den Eindruck, als würde das Hinterteil etwas tollpatschig hinterherschaukeln. Bei schneller Fortbewegung ist davon jedoch nichts zu sehen. Manchmal kreuzt Matze, ein temperamentvoller Kater, seinen Weg. Dann beginnt eine wilde Jagd durch das gesamte Terrain, vorbei an mehreren Birken und zwei Kiefern, über Beete und Wiesenstücke. Wenn Matze nicht schon früh den nächsten Baum erklimmt, enden an einem zusätzlich eingezäunten Bereich des Gartens zumindest die Versuche Lampis, seinen Verfolgungsdrang auszuleben – der Kräutergarten, ein Tabu-Gelände, auf dem Vinaeger einem seiner wichtigsten Hobbies nachgeht: dem Züchten und Hegen der verschiedenartigsten Kräutersorten aus heimischen und soweit möglich auch aus exotischen Gefilden.

Aber es geht ihm nicht nur um das Anpflanzen von Kräutern allein. Er beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte der gesamten Gewürz- und Kräuterwelt, mit den ersten Spuren dieser würzenden und geschmacksgebenden Zutaten in der Jungsteinzeit, um 7000 vor Christus, oder mit den großen Seefahrern, wie beispielsweise Vasco da Gama, Ferdinand Magellan und anderen im 15. und 16. Jahrhundert, die von ihren großen Fahrten rund um die Welt mit zahlreichen bis dato in Europa noch unbekannten Gewürzen und Kräutern zurückkehrten. Viele Bücher in Vinaegers stattlicher Bibliothek zeugen von seinem großen Interesse in diesem Bereich. Auch das ‚Kräuterzimmer‘, in dem eine Unmenge von Kräutern und Gewürzen aus vielen Teilen der Welt aufbewahrt wird, belegt seine Vorliebe und seine großen Kenntnis auf diesem Gebiet.

Noch etwas ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert: Vinaegers Geruchssinn. Seiner Nase entgeht kaum der Duft einer einzelnen Kräuterpflanze und darüber hinaus ist sein Geruchsorgan in der Lage, durchaus auch außergewöhnliche Gewürz- und Kräutermischungen wahrzunehmen und zu einem hohen Prozentsatz zu analysieren.

Dieser Privatdetektiv, der vor wenigen Wochen seinen fünfzigsten Geburtstag in aller Zurückgezogenheit gefeiert hat, mit seiner stämmigen, etwas untersetzten Gestalt, einem runden Gesicht mit Knollennase, wachsamen dunkelbraunen Augen, wild wuchernder, bereits etwas ergrauter Haartracht und einem immer noch rötlichen Kinnbart, lebt nicht etwa allein. Abgesehen von dem treuen Lampion, mit dem er sich zwar oft unterhält, von dem er aber selten Antworten bekommt, ist da noch Tulla:

Sie waltet drinnen als Hausfrau, Köchin und Geliebte, nicht besonders ‚züchtig‘, aber dafür nachhaltig. Sie wird in Weggendorf, so heißt der Ort im Schwäbischen, auf den Vinaeger von seinem Platz am großen Wohnzimmerfenster hinunterblickt, die stumme Tulla genannt.

Diese Tulla ist aber keinesfalls stumm. Es ist zwar richtig, dass sie wenig redet, was unter anderem auch von der Tatsache herrührt, dass sie manchmal ein wenig stottert, manchmal deshalb, weil sie nur dann nicht flüssig redet, wenn sie durch irgendetwas verunsichert wird. Wenn sie sich jedoch ärgert, kann sie loslegen wie ein Feldwebel. Vinaeger bekommt von Zeit zu Zeit sein Fett ab. Dann geht er zu ihr hin, blickt sie derart treuherzig und schuldbewusst an, bis Tulla zu stottern beginnt. Tulla ist etwa drei Jahre älter als Vinaeger. Ursprünglich kam sie als Haushaltshilfe zwei Mal in der Woche zu ihm, dann drei oder vier Mal und schließlich blieb sie bei ihm.

Was meinst du, Tullachen, willst du nicht überhaupt hierbleiben?

Wwwas mm mmeinst du, A a an-ton … , ist ddd das ddein Ernst ?

Hier ist doch genug Platz für uns. Und: du weißt doch, dass ich dich mag.

Mit einer fast dramatischen Bewegung trat sie nach vorne, fuhr ihm mit einer Hand über das Haar, riss ihn an sich und küsste ihn.

In dieser Nacht kam sie in sein Zimmer, trat an sein Bett und begann eine Rede zu halten.

Eines möchte ich k.. klarstellen, Anton Vinaeger! Wir haben nicht offiziell geheiratet, haben also keinen Tr.. Trauschein, keine Brautjungfern, keinen Pf.. Pfaffen oder sonst was. Aber ich be.. bestehe auf eine Ho.. Hochzeitsnacht!

Anton Vinaegers Werdegang verlief keinesfalls geradlinig. Zunächst studierte er in Freiburg ein paar Semester Religionswissenschaft und Psychologie.

Allerdings sagte ihm der akademische Betrieb wenig zu. Er verabschiedete sich von der Alma Mater und ging eine Zeitlang auf Reisen, das heißt, er trampte quer durch Europa. Schon damals regte sich sein Interesse an Gewürzen während seiner zahlreichen Wanderungen durch verschiedene Balkanländer bis hinunter nach Griechenland oder durch Frankreich: das Rhônetal, die Provence oder die Cevennen. Bis nach Spanien und Nordafrika führten ihn seine Touren.

Mehrere Jahre arbeitete er als Vertreter für eine Kosmetikfirma, danach als Taxifahrer in der Landeshauptstadt und begann schließlich eine Ausbildung für den Dienst bei der Kriminalpolizei. Aber Anton Vinaeger ist ein Mensch, dem selten etwas auf die Dauer zusagt. Er überlegte hin und her, in welchem Berufszweig sich für ihn ein gewisses Maß an Zufriedenheit einstellen könnte.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe, das Schicksal, das Glück, was es auch immer gewesen ist. Eine Tante, die Schwester seines Vaters, eine überzeugte Junggesellin, setzte ihn als einzigen Erben ein, aber nicht, weil sie, wie sie früher schon sagte, ihren ‚vergratenen‘ Neffen besonders mochte, sondern weil sie sich mit allen anderen Verwandten total überworfen hatte und noch auf dem Sterbebett hoffte, dass sich die übrige Verwandtschaft tierisch über dieses Testament ärgern würde.

Anton Vinaeger beschloss, Privatdetektiv zu werden. Er suchte und fand dieses Haus mit entsprechendem Grundstück am Ortsrand einer Gemeinde, das zum Verkauf angeboten wurde, nicht weit zur nächsten größeren Stadt und vor allem mit Autobahnanbindung. So kam er nach Weggendorf.

Die Weggendorfer staunten natürlich nicht schlecht, was für ein ‚Vogel‘ ihnen hier zugeflogen war.

Vinaeger, ein Einzelgänger seit jeher, ein Eigenbrötler, individualistischer Grübler, der einen Kräutergarten anlegt, kaum unter die Leute geht, sich überhaupt selten zeigt, keinem Verein beitritt und sich nicht sofort mit jedem verbrüdert. Solche Menschen mag man in Weggendorf nicht besonders.

Mit Vinaeger redet man am besten nicht. Je weniger man einen Menschen kennt, desto mehr zerreißt man sich das Maul über ihn. Aber nur eine gewisse Zeitlang, dann legt sich alles wieder. Manchmal etwas aggressiv werden, das könnte schon geboten sein. Aber das war es dann.

Ab und zu erhält er Aufträge, die er gewissenhaft ausführt. Doch im Übrigen widmet er sich seinen Kräutern, sammelt im Laufe der Zeit ein großes Wissen an, hält Vorträge, gibt Volkshochschulkurse, wird einmal sogar in eine Talk-Show geholt. Letzteres spielt sich allerdings nur ein einziges Mal ab. Als ihn die Talkmasterin ständig unterbricht und alles besser weiß, verlässt er die Runde mit einer unanständigen Detonation.

Sein Geruchssinn entwickelt sich stetig und für so manchen Mitmenschen beeindruckend weiter. Manche wollen ihn auf die Probe stellen und halten ihm raffinierte Kräutermischungen unter die Nase. Die meisten Zusammensetzungen erschnüffelt er mit Bravour.

*

Während eines Falls vor etwa drei Jahren kam Vinaeger eben dieser Umstand zugute, wobei es sich nicht einmal um eine übermäßig schwierige Kräutermischung handelte.

Am Flussufer, neben einer kleinen Gartenwirtschaft in der Stadt, war eine fünfundzwanzigjährige Frau tot aufgefunden worden. Die Polizei ging von einem Gewaltverbrechen aus und begann in alle möglichen Richtungen zu ermitteln. Es stellte sich heraus, dass die junge Frau die Tochter einer alten Bekannten Vinaegers war, die in einem Mehrfamilienhaus am Rande eines größeren Parks wohnte. Die Mutter lebte allein und brach völlig zusammen, als man ihr die Nachricht überbrachte. Ihre Tochter war vor ein paar Jahren ausgezogen und hatte sich einer Wohngemeinschaft in einem Vorort der Stadt angeschlossen.

Vinaeger hatte die Frau und ihre Tochter Bettina zuletzt bei einer Geburtstagsfeier ein halbes Jahr davor gesehen. Nun rief ihn die Frau an, berichtete ihm verzweifelt, was geschehen war, und bat ihn mit großer Dringlichkeit, sie bei der Identifizierung zu begleiten. Sie könne da nicht allein hin.

Als sie bei dem zuständigen Pathologen ankamen, war auch Kommissar Hans Funk mit einem Kollegen anwesend.

Anton!

Funk ging sofort auf ihn zu.

Was tust du denn hier? Du weißt doch …

Langsam, langsam, sagte Vinaeger. Frau Maron hat mich gebeten …

Bitte, Herr Kommissar, sagte die Frau.

Hans Funk stimmte schließlich zu.

Entschuldigen Sie, Frau Maron, sagte Funk. Kommen Sie mit. Ich weiß, wie schwer das für Sie ist. Mein Name ist Funk, mein Kollege: Herr Müller. Wir sind von der Kriminalpolizei.

Die tote Frau lag auf dem Autopsie-Tisch. Der Pathologe hatte sie gerade entkleidet. Die teilweise zerrissenen Kleidungstücke lagen in einem Behälter neben dem Tisch. Frau Maron blickte sie nur kurz an und drehte sich weg. Vinaeger fing sie gerade noch auf. Sie setzten sie auf einen Stuhl. Der Kommissar sah sie fragend an:

Frau Maron?

Ja, sagte sie mit zitternder Stimme. Meine Bettina, flüsterte sie.

Eine Mitarbeiterin des Pathologen führte sie in einen kleinen Raum nebenan.

Inzwischen hatte sich Vinaeger zu dem Korb hinuntergebeugt und näherte seine Nase den Kleidungsstücken.

Stimmt etwas nicht?, fragte der Pathologe verwundert.

Thymian, Rosmarin und Oregano, begann Vinaeger.

Bitte?

Auch Kommissar Funk und sein Kollege traten hinzu.

Thymian, Rosmarin, Oregano … Majoran!, fuhr Vinaeger erregt fort. Dazu eine Brise Basilikum, Estragon, Lorbeer … und etwas Kerbel!

Bist du übergeschnappt?, fragte Funk.

Will der sich wichtigmachen?, fragte sein Kollege dazwischen.

Ich bin mir fast sicher, sagte Vinaeger. Ich kenne diese Mischung.

Wovon redest du? Willst du uns auf den Arm nehmen?

Herbes de Provence! Da gibt es für mich keinen Zweifel.

Herbes de Provence!, rief Funk. Das kannst du heute überall kaufen. Oftmals kommen diese Kräuter gar nicht aus der Provence, sondern häufig vom Balkan oder aus Nordafrika! Aber vor allem: Was hat das jetzt mit uns hier …

Er nahm Vinaeger am Arm und führte ihn zurück in den Vorraum.

Kümmere dich um Frau Maron, sagte er zu seinem Kollegen und an Vinaeger gewandt: Anton, ich kenne ja deine Marotten. Aber manchmal, das muss ich dir – wieder mal – verklickern, gehst du mir gewaltig auf die Nerven.

Vinaeger und Funk kannten sich noch aus der Zeit in der Landeshauptstadt, als sie beide bei der Kriminalpolizei angefangen hatten. Funk hatte sich häufig über Vinaegers unorthodoxe Methoden geärgert, Methoden, die allerdings immer wieder völlig unerwartet erfolgreich gewesen waren.

Hans, ich weiß, dass dir das seltsam erscheinen muss, aber ich kenne diese Mischung. Es handelt sich um eine ganz spezielle Zusammensetzung dieser Kräuter, die vor allem bei Pierre Meugnon auftaucht. Du kennst doch sicher das Lokal Chez Pierre in der Stadt, nicht weit vom …

Ja, ich habe dort schon ein paarmal gegessen, unterbrach ihn Funk ungeduldig.

Ich erst vor kurzem wieder. Ich kann dir sagen, Pierre bereitet eine Ratatouille zu – einzigartig. Und zwar genau mit dieser Kräutermischung. Das ist Pierres spezielle Mixtur …

Ich glaube, es ist am besten, wenn du nun Frau Maron nach Hause bringst!

Hans Funk ließ ihn wütend stehen.

Es stellte sich heraus, dass Bettina weder an diesem Tag noch an den Tagen davor etwas zubereitet hatte, das mit einer solchen Kräutermischung gewürzt worden wäre. Ein Verdächtiger war festgenommen und wieder entlassen worden.

Vinaeger begab sich an einem der nächsten Abende in das Lokal Chez Pierre. Er bestellte sich eine Ratatouille niçoise, bei der die erwähnte Kräutermischung noch durch etwas Lavendel ergänzt wurde. Pierre Meugnon setzte sich kurz zu ihm an den Tisch. Sie kamen auch auf den Mordfall zu sprechen. In der Lokalzeitung war inzwischen ein groß aufgemachter Artikel erschienen: Brutaler Mord nach Vergewaltigung. Die junge Frau war am Flussufer gefunden worden. Die Tat selbst musste den Ermittlungen zufolge aber an einem anderen Ort begangen worden sein. Als sich Pierre wieder erhob, sagte er noch zu Vinaeger, dass er immer wieder Ärger mit dem Personal habe. Sein Souschef, der Stellvertreter des Küchenchefs, habe sich vor ein paar Tagen überraschend krank gemeldet und das führe natürlich bei einem gut frequentierten Spezialitätenlokal zu leichten Engpässen bei der Versorgung der Kundschaft.

Die Ermittler des Falles traten zunächst auf der Stelle. Man war allen möglichen Hinweisen aus der Bevölkerung nachgegangen, ohne dass sich eine ernst zu nehmende Spur ergeben hätte.

Da erschien nach einer Woche Anton Vinaeger auf dem Kommissariat.

Ich möchte gerne Herrn Funk sprechen, sagte er zu einer Beamtin.

Kriminaloberkommissar Funk ist im Moment bei einer Besprechung.

Es ist wirklich wichtig. Es geht um den Mordfall Maron. Ich habe vor einer Stunde mit Herrn Meugnon telefoniert.

Nach längerem Hin-und-Her erhob sich die Frau und verschwand durch eine seitliche Tür. Nach einer Minute kam sie wieder heraus. Hinter ihr Hans Funk.

Ich könnte nicht sagen, dass ich wahnsinnig erfreut bin, sagte Funk.

Ganz meinerseits, sagte Vinaeger.

Sie lachten.

Ich hatte vor kurzem ein längeres Gespräch mit dem Wirt des Spezialitätenlokals Chez Pierre. Dabei erfuhr ich etwas, das ich dir unbedingt mitteilen wollte.

Hochinteressant, sagte Funk mit einem spöttischen Grinsen.

Vinaeger berichtete ihm, Pierre Meugnon habe ihm erzählt, dass der Souschef seiner Küche, ein ebenfalls aus Frankreich stammender Koch und Gewürzspezialist aus Saint-Rémy-de-Provence, sich zuerst krank gemeldet habe und dann bei näherer Nachforschung wie vom Erdboden verschwunden sei.

Das spöttische Grinsen in Funks Gesicht begann sich nach und nach zu verflüchtigen.

Wann wurde dieser Koch zuletzt gesehen?

Am Abend des Tages, bevor der Mord geschah.

Hm. Funk überlegte kurz.

Wir werden die Sache überprüfen, sagte er schließlich.

Wenn ihr meine Hilfe braucht …

Falls notwendig, melden wir uns.

Am nächsten Tag klingelte bei Vinaeger das Telefon.

Es war Funk.

Wir sind in dem Appartement des Kochs. Kannst du gleich vorbeikommen?

Er sagte ihm die Adresse in der Stadt. Eine kleine Wohnung in der Nähe des Heilbronner Theaters.

Als er eintraf, befanden sich Hans Funk und mehrere Mitarbeiter vor Ort.

Vinaegers Nase machte sich sofort an die Arbeit. Gewürzaromen aller Art wurden wahrgenommen. Alles sah nach einem überhasteten Aufbruch aus. Vereinzelt lagen Kleidungsstücke herum, im Badezimmer noch eine Bürste, ein paar Toilettenartikel.

Vinaeger ging schließlich zu einem Schrank: eine Hose, ein Anzug, ein Sakko lagen auf dem Schrankboden. Er bewegte seine Nase an den Kleidungsstücken entlang. Unter dem Sakko ein zerrissenes Hemd.

Vorsichtig überreichte Vinaeger dieses Kleidungsstück den Beamten.

Irgendwelche Spuren, vielleicht Blutspuren?

Nichts zu sehen, sagte Vinaeger, aber … der Geruch!

Ja?

Genau wieder dieser Geruch. Thymian, Rosmarin, Oregano …

Funk hob beschwörend die Hand.

Ist ja schon gut, fuhr Vinaeger fort. Hier scheint mir allerdings noch eine Spur von Salbei und Lavendel dabei zu sein.

Bist du dir ganz sicher?, fragte Funk.

Kein Zweifel.

Einpacken und genau untersuchen!, sagte Funk. Vielleicht findet ihr noch ein Haar oder ein kleines Stückchen Haut und so weiter.

Der mutmaßliche Täter wurde zur Fahndung ausgeschrieben, sein Foto und sein Name an entsprechende Stellen, an die Presse etc. weitergeleitet. Man nahm an, dass er Deutschland längst verlassen hatte. Über Interpol erreichten die Daten die verschiedensten Länder – und man wurde fündig. Lucien Leuwen, ein falscher Name, wie sich später herausstellte, wurde von der Polizei im belgischen Ostende aufgespürt. Dort war er, zunächst auf Probe, in einem französischen Restaurant als Hilfskraft eingestellt worden.

Nach längerer Vernehmung gestand er die Tat. Und noch ein weiterer Mordfall, der sich auf ähnliche Art und Weise vor zwei Jahren in der Nähe von Aix-en-Provence ereignet hatte, wurde auf diese Weise aufgeklärt.

Bettina Maron hatte wohl zufällig am späten Abend seinen Weg gekreuzt, als sie mit dem Fahrrad durch den Park gefahren war.

Seine Mitarbeit bei der Aufklärung des Mordfalls im Zusammenhang mit seiner besonderen Spürnase schadete dem Ruf Vinaegers nicht, ganz im Gegenteil. Selbst Hans Funk raffte sich zu einer anerkennenden Bemerkung auf. Da in der Presse ausführlich über die Lösung dieses Falles berichtet wurde, begann man auch in Weggendorf den einen oder anderen positiven Kommentar abzugeben, allerdings in gewissen Grenzen, denn man erinnerte sich beharrlich noch an ein Gespräch mit Vinaeger während der ersten Monate seines Aufenthalts in der Gemeinde in einem Biergarten neben der Kirche, in dem eine Gruppe von Weggendorfer Gemeinderäten zusammensaß und fröhlich zechte. Denn in Weggendorf war man es nicht nur gewohnt, Menschen, die nicht so ganz in bestimmte Denkschemata passten, auszugrenzen, sondern man war auch ziemlich nachtragend.

Vinaeger war am frühen Abend erschienen und wollte sich an einen freien Tisch im hinteren Teil des Gartens setzen, als ihn einer der Gemeinderäte, ein dorfbekannter Wichtigtuer, ansprach.

Na, was machen die Kräuter?

Danke der Nachfrage. Sie wachsen.

Vinaeger wollte weitergehen, aber der Mann, wohl auch ermutigt durch das Gelächter ringsum, das seine Frage begleitete, ließ nicht locker.

Was uns schon immer interessiert hat: Wieso beschäftigen Sie sich eigentlich mit Kräutern?

Wieder Gelächter.

Tja, begann Vinaeger, wie kommt Kuhscheiße aufs Dach?

Hä? Ich will Ihnen mal was sagen: Ich sage es immer so, wie ich’s denke!

Sehr gut, sagte Vinaeger, genau das tue ich auch.

Dann ging er zu seinem Tisch.

II

So vergehen die Jahre. Man ist sich nicht besonders grün, aber abgesehen von ein paar dörflichen Gefühlsaufwallungen bei Tullas Einzug in sein Haus, lässt man Vinaeger größtenteils in Ruhe.

Nicht bei allen Aufträgen, die er bekommt, geht es um Probleme, die er mit seiner Nase lösen kann, aber in manchen Fällen hilft ihm, wie gesagt, dieses Sinnesorgan.

Dann geschieht etwas, das die Bewohner von Weggendorf erschrecken lässt. Man kann nicht sagen, dass eine Idylle gestört worden wäre, denn idyllisch ist das Leben auf dem Land ohnehin nie gewesen. Aber es handelt sich um Ereignisse, die dazu angetan sind, die Menschen zu beunruhigen und auch zu ängstigen.

Es beginnt damit, dass der Seniorchef eines Metallverarbeitungsbetriebs, der ortsansässigen Firma Mockerau & Co, Karl Mockerau, seinen jüngsten Sohn Alwin als vermisst meldet. Er berichtet der Polizei, dass sein einundzwanzigjähriger Sohn seit zwei Tagen verschwunden sei und sich, was für ihn sehr untypisch sei, überhaupt nicht gemeldet habe. Zunächst wird die örtliche Polizei aktiv, befragt Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte. Als Alwin Mockerau jedoch auch weiterhin verschwunden bleibt, als wäre er buchstäblich vom Erdboden verschluckt, wird auch die Kriminalpolizei auf den Plan gerufen. Die lokale Presse berichtet über den Fall und veröffentlicht eine Fotografie von Alwin. Wer den jungen Mann zuletzt gesehen und mit ihm gesprochen habe.

Funks erster Besuch gilt der Familie Mockerau. Ein großes Anwesen, auf das eine stattliche Villa hingeklotzt worden war. Inzwischen wohnen dort nur noch das Ehepaar Karl und Mechthild Mockerau und ihr jüngster Sohn. Der älteste Sohn lebt mit seiner Familie in der Stadt. Er arbeitet beim Landratsamt. Die Tochter ist in Norddeutschland verheiratet.

Funk sitzt in der ‚guten Stube‘ in einem tiefen Sessel dem Ehepaar Mockerau gegenüber, das auf einer breiten Couch Platz genommen hat. Karl Mockerau ist ein relativ schlank gebliebener Endfünfziger, der seine Worte mit großen Gesten, aber auch hektischen Bewegungen unterstreicht. Seine Frau neben ihm macht einen sehr bedrückten Eindruck, was wohl mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Sohnes zu tun haben wird: müde, rote Augen, die immer wieder ängstlich ihr Gegenüber anblicken und sich schnell wieder auf den Parkettboden richten. Ihre Hände zittern unablässig. Eine Atmosphäre von Angst und Sorge herrscht in dem Raum.

Vorsichtig tastet sich Funk vor. Er fragt zunächst nach den Freunden von Alwin. Karl Mockerau zuckt mit den Achseln, seine Frau wirft ihm einen ängstlichen oder auch ärgerlichen Blick zu?

Hat Ihr Sohn denn überhaupt keine Freunde gehabt?, fragt Funk noch einmal. Klassenkameraden? Vielleicht in einem Verein? Sonst irgendwo?

Er kam erst in der zwölften Klasse wieder auf diese Schule. Er war vorher auf dem Gymnasium in Marbach. Dort hatte er ein paar Freunde, sagt Mockerau.

Hier hängt er dauernd mit diesem Dettel herum, sagt Frau Mockerau mit sehr leiser Stimme und fast ein wenig trotzig.

Karl Mockerau streift seine Frau mit einem vorwurfsvollen Blick.

Wer ist denn Dettel?, fragt Funk.

Dieser Dettel, beginnt sie.

Er heißt Detlev Nordhoff, unterbricht Mockerau seine Frau ärgerlich. Er geht in der Stadt auf ein berufliches Gymnasium. Die beiden kennen sich seit der Grundschule.

Aber sie hängen doch ständig zusammen, flüstert seine Frau nun, und außerdem …

Wieder fällt er ihr ins Wort: Mein Sohn und ich sind Mitglied des örtlichen Schützenvereins. Wir kennen dort ein paar Leute. Aber ich wüsste nicht, dass mein Sohn …

Könnte ich mal das Zimmer Ihres Sohnes sehen?

Funk findet einen aufgeräumten, ‚sauberen‘ Raum vor. Nichts liegt einfach so herum. Ein Schreibtisch, PC, ein kleinerer TV, zwei Poster mit Filmanzeigen „Die Mumie“ und „Twilight“, Schulbücher, Karl May „Durchs wilde Kurdistan“. An manchen Stellen der Wand hellere Flecken, als hätten sich dort weitere Poster befunden, die aber abgehängt worden sind. Ansonsten CDs, vor allem ‚Heavy Metal‘, ein paar DVDs, „Game of Thrones“, „Lawrence von Arabien“, „Von Beirut nach Damaskus“. Links neben dem Schreibtisch ein kleines, halbhohes Bücherregal. Funks Blick streift die oberste Buchreihe. ‚Arabisch für Anfänger‘, ‚Der Islam‘, der Koran auf Deutsch und Arabisch. Mehrere Lexika.

Er interessiert sich für so viele Sachen, sagt Frau Mockerau.

Dann bleibt Funks Blick an dem Papierkorb hängen, hintern dem der Teil eines Posters zu sehen ist: Eine behandschuhte Hand hält eine Waffe, oberhalb ist ein Kopf mit übergestülpter Wollmütze und Sehschlitzen zu erkennen.

Der Kommissar blickt das Ehepaar etwas erstaunt an, sagt aber nichts dazu.

Fehlen irgendwelche Kleidungsstücke, Koffer oder sonstige Dinge, die ein Mensch mitnimmt, wenn er eine Reise macht?

Nicht, dass ich wüsste, sagt Mockerau.

Wir sollten den PC zur Auswertung mitnehmen. Vielleicht finden wir einen oder mehrere Hinweise.

Hm, brummt Karl Mockerau.

Er hat sicher ein Handy?

Ja. Ein Smartphone und ein Tablet. Aber die muss er mitgenommen haben.

Funk benachrichtigt kurz zwei Beamte, die vor dem Haus warten.

Der Rechner wird geholt, Funk geht mit den Leuten zurück durch die Wohnung. Das Wohnzimmer in altdeutschem Schnörkel-Stil mit der wuchtigen Couch-Garnitur, an den Wänden Bilder, auf denen Gebirgslandschaften zu sehen sind, unter anderem das Matterhorn während eines Gewitters.

Die Eltern sind natürlich sehr betroffen, vor allem die Mutter, sagt Funk später zu seinen Kollegen. Und dennoch habe ich ständig das merkwürdige Gefühl, dass sie irgendetwas vor uns verbergen. Aber was könnte das sein? Wisst ihr, was mir aufgefallen ist? Er lernt arabisch, besitzt einen Koran. Und hinter dem Papierkorb konnte ich den Teil eines Posters erkennen, auf dem ein bestimmter Krieger abgebildet ist.

Was für ein Krieger?, fragt seine Kollegin Inge Weigand.

Tja, er hält wahrscheinlich eine Kalaschnikow und trägt so eine Kopfbedeckung mit Sehschlitzen.

Du glaubst … IS?

Auf der Abbildung schon, aber das will noch nichts heißen.

In Weggendorf?, ruft Inge Weigand. Das kann ich mir nicht vorstellen.

Ich auch nicht. Aber …

Hans Funk stattet auch dem Direktor des Gymnasiums im benachbarten Ort B. einen Besuch ab. Die Herbstferien sind inzwischen zu Ende.

Alwin Mockerau besucht eine der Abiturklassen unserer Schule, beginnt der Direktor. Wir haben keine Ahnung, was diese Abwesenheit bedeuten soll. Wir hoffen natürlich, dass nichts Schlimmes geschehen ist?

Ich bedaure, aber wir können im Augenblick auch nichts Näheres sagen, sagt Funk.

Gibt es bestimmte Hinweise, die für uns wichtig sein könnten? Wie steht es denn mit seinen Leistungen? Konnten in letzter Zeit irgendwelche Änderungen im Verhalten des jungen Mannes beobachtet werden?

Der Direktor zögert, bewegt mit bedenklicher Miene seinen Kopf hin und her.

Funk insistiert:

Sie müssen verstehen: Alles ist für uns von Belang. Wir wollen alles tun, um das Verschwinden von Alwin Mockerau aufzuklären und vor allem: Wir wollen ihn, wenn möglich, wiederfinden!