Eine unmögliche Forderung - Heinz-Josef van Ool - E-Book

Eine unmögliche Forderung E-Book

Heinz-Josef van Ool

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Beschreibung

Ich wandte mich wieder dem Vorhang zu. Eine Aura des Besonderen, des Außergewöhnlichen umgab mich. Das Halbdunkel, der schwere intensive Weihrauchduft, der blutrote Vorhang, all das verstärkte dieses Gefühl noch. Vorsichtig streckte ich die Hand aus. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe. Meine Fingerspitzen berührten den Vorhang. Hart spürten sie seine Oberfläche. Unendlich langsam versuchte ich ihn zur Seite zu bewegen, um einen Blick in das Allerheiligste dahinter zu werfen. Zentimeter um Zentimeter bewegte ich meinen Arm. Nur noch ein Stückchen Vorhang, dann musste doch etwas zu sehen sein. Meine Finger zitterten. Nur jetzt kein Geräusch, das nach außen dringt. Dann kam der Schrei. ………. Eigentlich sollte es eine ganz normale Studienreise zu besonderen Stätten des Judentums und Christentums im Heiligen Land werden. Aber ausgerechnet dort vor Ort mischt sich Gott ein und das mit einer unmöglichen Forderung. Und damit auch alles nach seinem Plan läuft, schickt Gott den Erzähler in die Vergangenheit zum Anschauungsunterricht pur.

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Seitenzahl: 502

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Frieden kommt in die Herzen der Menschen, wenn sie die Wunder des Universums wahrnehmen, wenn sie feststellen, Wunder sind überall, um uns herum und in jedem von uns.

(nach Black Elk, einem Dakota-Seher)

Mein besonderer Dank für ihre vielfältige Unterstützung, Kritik und Ermutigung meiner Frau Ursula.

Inhaltsverzeichnis

Norderney

Die erste Nacht

Jerusalem

Vor Tekoa

Die Geburt

Am Morgen danach

Frühstück mit Königen

Arad

Erste Vision

Versöhnung

Die Hochzeit

Beziehungen

Norderney zwei

Chirbet Qumran

Erklärungsnotstand

Vorabend

Zweite Vision

Das Fest des Königs

Katharina

Tausend Augen

Bestechung

Samaria

Totenklage

Visionen

Siebenquell

Norderney drei

Amos

Eine Mitwisserin

Magdala

Bet-El

Abschied

Sarah

Das Wrack

Norderney

Die Sonne, die aufging und wieder unterging, atemlos hetzt sie zurück an den Ort, wo sie wieder aufgeht. Er weht nach Süden, dreht nach Norden, dreht, dreht, weht, der Wind. Weil er sich immerzu dreht, kehrt er zurück, der Wind. Alle Flüsse fließen ins Meer, das Meer wird nicht voll. Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen.

(Kohelet 1,5-7)

„Toll seht ihr aus, in euren Sonntagskleidern und Maßanzügen. Gott wird sich mächtig über eure ernsten Gesichter freuen. Er wird verdammt froh sein, dass ihr alle kommen konntet. Aber ich garantiere euch, ihr hättet auch nackt auftauchen können, er hätte euch kein bisschen mehr beachtet........“

Mehrere Herren in ordensgeschmückten Schützenuniformen stürzten sich auf mich und drängten mich mit unmissverständlicher Gewalt in die Sakristei der Pfarrkirche, aus der ich schon bald darauf von Polizeibeamten abgeführt wurde.

...

Ein Sonnenstrahl fiel durch den fingerbreiten Spalt des Vorhanges über das Bett auf die gegenüber liegende Wand. Staubpartikel tanzten darin. Aber- und abertausend. Ich genoss dieses Wachwerden, dieses Entdecken eines neuen Tages, der schön zu werden versprach. Während ich mich genüsslich in alle Richtungen streckte und die friedliche Ruhe im Haus und draußen auskostete, schrillte plötzlich mein Wecker los.

Schnell stellte ich ihn aus, und ebenso schnell warf ich einen Blick auf meine Frau.

Sie schlief weiter.

Nachdem wir in der ersten Urlaubswoche vom Wetter auf dieser Nordseeinsel weder verwöhnt noch begeistert waren, hatte gestern wohl der bessere Teil unserer Urlaubszeit begonnen. Meine Frau beschloss daraufhin, die restlichen Tage als Sonnenanbeterin am Strand zu verbringen, um, wie sie sagte, wenigstens ein bisschen Urlaubsfarbe zu bekommen.

Ich bin nicht der Typ für solche Farbwechsel. Außerdem fallen sie bei mir meistens in Richtung Rot denn in einem anziehenden Urlaubsbraun aus; und auf die unangenehmen Begleitumstände verzichte ich gern.

Meine Frau wollte ausschlafen, an den Strand gehen, sonnenbaden.

Ich hatte vor, die Insel bis zur äußersten Ostspitze, an der ein Wrack lag, zu erkunden. Aus diesem Grund wollte ich früh los. Aber obwohl ich wach und voller Tatendrang war, fühlte ich mich bleischwer an dieses Bett gebunden.

Ein leichtes Frösteln lief plötzlich über meinen Körper genau in dem Augenblick, als der Sonnenstrahl durch die Vorhänge blasser wurde und in ein fahles, kaltes Morgenlicht überging.

Erinnerungsfetzen an meinen Traum kehrten zurück.

Einen Traum, der mich in vielen Varianten immer wieder aufsuchte und quälte. Ein Traum ohne Anfang und mit immer dem gleichen Ausgang. Seit zirka einem Jahr träumte ich mich an die unmöglichsten Orte, nur um dann mit lauter Stimme und starken Worten vor einer mehr oder weniger großen Menschenmenge entweder beißende Sozialkritik zu üben, politische Machenschaften anzuprangern, Ungerechtigkeiten, Folter und Mord aufzuzählen, religiöse Kultpraktiken lächerlich zu machen oder sogar das Ende unseres allgemeinen Wohlstandes durch irgendein Weltuntergang-Ereignis kundzutun.

Jedes Mal erntete ich höhnisches Gelächter und beißenden Spott. Jedes Mal fühlte ich mich wie einer dieser unverbesserlichen Weltbelehrer und Besserwisser. Und jedes Mal endete mein Traum damit, dass ich mich blamiert bis auf die Knochen in irgendeiner polizeilichen Ausnüchterungszelle wieder fand.

Diese Nacht, in diesem Traum, hatte ich wohl die Teilnehmer einer Fronleichnams-Prozession nach ihrer Rückkehr in die Kirche mit meinen Reden total verärgert. Zuerst hatten sie mich bestaunt, wie ich ihnen, auf den Stufen vor dem Altar stehend, zurief: „Toll seht ihr aus.........“ Doch sehr schnell war das Erstaunen in ihren Blicken offenem Ärger gewichen, der dann, als ich aus dem Raum gedrängt wurde, deutlicher Erleichterung Platz machte.

Wie ein Ritual lief dieser Traum ab, so dass ich schon nicht mehr erschrocken und verschwitzt aufwachte, sondern mir im Aufwachen immer nur die Peinlichkeit meines Auftritts bewusst wurde.

Der Sonnenstrahl hatte seinen Weg durch den Vorhangspalt zurückgefunden, und mit der Helligkeit und Wärme des Lichtes schien auch langsam mein inneres Gleichgewicht zu mir zurückzufinden.

Abrupt verließ ich Alptraum und Bett, huschte schnell ins Bad, wo ich beschloss, den mir gänzlich Unbekannten, der mich aus dem Spiegel anblinzelte, zu ignorieren und nicht zu rasieren. Ich stieg in meine am Abend vorher zurecht gelegte Kleidung, Jeans und T-Shirt, zog ein Paar alte, aber ungemein bequeme Turnschuhe über und verstaute ein paar Bananen, ein Glas Joghurt, ein Butterbrot und eine Flasche Mineralwasser in meinen Rucksack. Dann schlich ich mich leise aus der Ferienwohnung über den Hof, holte mein Fahrrad aus dem Unterstellplatz und hielt die ganze Zeit über den Atem an in der Hoffnung, dadurch unserer Vermieterin nicht zu begegnen, die als guter Geist dieser Pension mit ihrer ständigen Präsenz, ihrer Nettigkeit und Zuvorkommendheit mir manchmal zu viel an Betreuung zukommen ließ. Erst als ich mich in den Sattel schwang und die Straße in Richtung Strandpromenade entlang radelte, ließ die Spannung etwas nach, und in mir breitete sich ein euphorisches Gefühl von Freiheit aus.

Freiheit, einen ganzen Tag lang meinen Gedanken nachhängen zu können, keinen Zeitteufel im Rücken zu haben, keinem Stress zu unterliegen. Freiheit, wie ein Entdecker den Radweg durch die Dünen, den gekennzeichneten Pfad vom Ostparkplatz in Richtung Wrack und Ost-Ende der Insel und auch den Rückweg am Spülsaum vorbei, heute als erster befahren und betreten zu können. Freiheit, den Möwen, Gänsen und Austernfischern zuzusehen und zu hören.

In meiner Vorfreude war ich schnell durch die Stadt hindurch geradelt und sah schon von weitem den dicken Holzpfahl mit der grün angemalten Kappe und der weißen Zwei darauf. Hier begann der gepflasterte Dünenweg, der sich wild romantisch durch die bewachsenen Sandberge schlängelte und erst am Leuchtturm in der Inselmitte endete.

Die noch kalte Morgenluft konnte nicht verhindern, dass mir leicht der Schweiß ausbrach, als ich die Dünen hochzufahren in dem gleichen Tempo zu meistern versuchte wie hinunter. An der Aussichtsdüne hielt ich kurz an, um mir den Walkman aus dem Rucksack zu angeln, doch noch im Bremsen ging mir durch den Kopf, dass mir im Moment keine Musik das Um-Mich-Herum von Möwenschreien, heiseren Gänserufen, Wind- und Meeresrauschen ersetzen konnte. Also hielt ich erst gar nicht, sondern stemmte mich wieder in die Pedale, um meine alte Geschwindigkeit wieder aufzunehmen.

Hügelig wie die Dünenlandschaft war auch der Weg; das Auf und Ab mit anstrengenden Anstiegen und rasenden Abfahrten ließen mich an den Lebensweg des einzelnen Menschen mit seinen Höhen und Tiefen denken. Mit einem unbestimmten Gefühl stellte ich für mich fest, dass mein Leben eher mit einem Weg zwischen sanft aufsteigenden und abfallenden Dünen vergleichbar war, denn mit Pfaden durch Berge oder Täler im Mittel- oder Hochgebirge. Irgendwie beruhigte mich das Gewiss-Sein des sanften Übergangs, irgendwie enttäuschte mich aber auch die Erkenntnis des Fehlens steiler Gipfel.

Geschützt und behütet in einer katholischen Großfamilie, war meine Kindheit geprägt von der ständigen Anwesenheit eines Erwachsenen, sei es Mutter, Großmutter oder Großvater. Nur mein Vater war in dieser Präsenz etwas weniger auffällig, da er sehr früh am Morgen zur Arbeit aus dem Haus ging, und wenn er zurückkam, meistens in Garten, Schuppen oder Haus mit irgendwelchen wichtigen Arbeiten verschwand.

Ein Höhepunkt in meiner Kindheit war gewiss der Aufenthalt bei meinen Großeltern.

Als Ältester von mehreren Kindern war ich schon mit sieben oder acht Jahren von zwei Verhaltensweisen geprägt worden: Zum einen machte man mich meistens für meine jüngeren Geschwister verantwortlich, zum anderen konnten alle anderen anstellen, was sie wollten, meistens traf die Schuld mich.

Verantwortungsbewusstsein und ein sehr feines Gerechtigkeitsgefühl waren deshalb auch Eigenschaften, die mich prägten. Dieses anerzogene Verantwortungsgefühl drückt sich heute noch in meinen Versuchen aus, alles möglichst perfekt organisieren zu müssen und selbst da Verantwortung zu übernehmen, wo ich gar nicht explizit gefragt bin.

Da waren die Tage, an denen meine Oma mich mit zu sich nach Hause nahm, ganz anders. Ich durfte spielen, durfte Kind sein, durfte mich entfalten, durfte Blödsinn anstellen, für den nur ich mich verantworten musste und lebte irgendwie auf.

Ein zweites Gefühl ist die unbändige kalte Wut, die mich immer dann packt, wenn ich Ungerechtigkeiten miterleben muss. Meine Einmischung in solchen Situationen führte schon häufig dazu, dass ich gezwungen wurde, meinen Blickwinkel zu überdenken und mich für meine störende Einmischung zu entschuldigen, da ich manches viel zu sehr mit der getönten Brille eines „Heile-Welt-Fanatikers“ betrachtet hatte.

...

Der Warnruf eines Fasanenmännchens riss mich aus meinen Gedanken. Majestätisch, mit aufmerksamem Blick, thronte es auf einer kleinen Anhöhe. Von seinem Harem konnte ich nichts entdecken. Als ich ungefähr auf gleicher Höhe mit seinem Feldherrnhügel war, drehte es mir den Rücken zu und verschwand ganz ohne Eile in der braunen Heide.

Der Weg führte auf eine neue Dünenspitze zu, und als ich sie überquerte, erschrak ich genauso wie das Pärchen Brandgänse - sie wohl über mein plötzliches Erscheinen; ich über ihr unerwartetes Durchstarten direkt vor mir. Mit klatschenden Flügelschlägen und heiseren Schreien flogen sie seitwärts von mir weg.

Ich mag diese Vögel, sowohl ihr Aussehen spricht mich an wie auch ihre stolze Wachsamkeit. Sie erinnern mich an meinen Großvater, der selten Gefühle zeigte und wenn, dann in einer ziemlich groben Art. Meine Geschwister erschreckte er meistens durch diese Art seiner Zuneigung. Ich dagegen mochte es, wenn er mir einen leichten Boxhieb verpasste und mich nicht ohne ein gewisses Maß von Zärtlichkeit in der Stimme sein „unbeholfenes Kaninchen“ nannte.

Meine Großeltern hielten Hühner, Enten und Gänse, und mein Großvater war derjenige, der diese Tiere auch schlachtete. Nur heimlich habe ich ihn dabei beobachten können, immer in der Sorge, von Oma erwischt zu werden. Hühner und Enten zu schlachten war für ihn nichts Besonderes, hatte ich den Eindruck, aber jedes Mal, wenn er eine seiner stolzen Gänse töten musste, meinte ich eine große Traurigkeit zu spüren, die von ihm ausging, wenn er mit dem toten Vogel in der Hand zum Rupfen über den Hof kam.

Mein Weg hatte jetzt die Zufahrtsstraße zum inseleigenen Wasserwerk gekreuzt und verlief in einem ziemlich flachen Stück geradeaus durch die Dünenlandschaft, um bald wieder in ein stetiges Auf und Ab zu fallen. Bald tauchte auch der Leuchtturm inmitten der Hügel auf, und ich wusste, dass kurz vorher die größte Steigung zu meistern war, bevor es flach durch die Marschwiesen zum letzten Parkplatz weiterging. Auf dem lang gezogenen flachen Stück vor dieser letzten Herausforderung legte ich noch einmal ein ordentliches Tempo vor und erreichte völlig außer Atem mit letztem Schwung die Kuppe dieser extrem hohen Düne.

Ich hielt an, um Luft zu holen und auch, um die Aussicht zu genießen, die sich hier nach fast allen Richtungen bot. Ein Holzhäuschen war an dieser Stelle aufgestellt worden mit einer Bank darin, um sich bei schlechter Witterung unterstellen zu können. Ein Inselplan und ein Schaubild der auf der Insel vorkommenden Vogelarten hingen an der einen Wand, während die andere Wand über und über mit Kritzeleien „verziert“ worden war.

Ich lehnte mein Fahrrad an die Seitenwand und genoss die Aussicht über das Gebiet, das ich soeben durchfahren hatte. Der gepflasterte Weg schlängelte sich durch die mit niedrigen Sträuchern bewachsenen Sandwellen. Außer der jetzt im Sommer noch braunen Heide erkannte ich hier und da einen Ginsterbusch. Auf der anderen Seite konnte man gegen die noch tief stehende Sonne das Rollfeld des Inselflughafens überblicken. Wie ein Wall lief der Deich in der Ferne am Rande des Flughafenfeldes vorbei, und dahinter spiegelte sich silbern das Meer, das weite Teile des Watts noch überspült hatte.

Ich setzte mich noch immer außer Atem auf die Bank, um mich ein bisschen auszuruhen.

Plötzlich zuckte ich zusammen.

Ohne dass ich vorher etwas gehört oder gesehen hatte, stand ein älterer Mann vor mir. Sein kräftiges „Moin moin“ verriet den Einheimischen. Er musste wohl den Pfad aus Richtung Leuchtturm hochgekommen sein, so dass ich ihn nicht bemerkt hatte. Mit dem grauen Vollbart, der blauen Schiffermütze und dem dazu passenden halblangen Mantel mit doppelter Knopfreihe sah er wie das Urbild eines pensionierten Seemannes aus.

Ich grüßte zurück und versuchte dabei, wieder normal zu atmen. Durch die Anstrengung der schnellen Fahrradtour war mein T-Shirt im Rücken- und Achselbereich von Schweiß durchnässt und ließ mich frösteln. Außerdem hatte ich ein taubes Puddinggefühl in den Beinen, als ich jetzt aufstehen wollte, um meine Tour fortzusetzen. Dieser frühe Spaziergänger störte mein Gefühl von Alleinsein mit der Natur, und ich konnte mich dem am besten durch ein rasches Aufbrechen und Weiterfahren entziehen.

Beide Hände in den Taschen vergraben und mit zusammengekniffenen Augen schaute der Mann in Richtung Sonnenstand und Wattenmeer, so, als erwarte er dort etwas sehr Interessantes zu sehen.

Ich wollte mich gerade auf mein Fahrrad schwingen, als er sich zu mir umdrehte und mich ansprach: „Sie sind aber heute früh unterwegs. Wohl noch viel vor?“

„Tja“, war meine Antwort, „ich möchte mir heute mal das Wrack ansehen.“

„Jooo, dat is man nog een gutes Stück“, nickte er.

Dann fragte er mich, ob Fahrrad fahren oder spazieren gehen oder wandern meine Hobbys wären, und ehe ich mich versah, waren wir mitten in einer Unterhaltung, die ich eigentlich durch meinen schnellen Aufbruch hatte verhindern wollen. Unser Gespräch drehte sich um Freizeit, Hobbys, Reisen und die ganzen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die die freie Zeit beschnitten und doch unabdingbar waren. Obwohl er keinerlei Bemerkung in dieser Richtung machte, schien aus seinen Worten zu klingen, dass er Welt erfahren und weit herumgekommen war.

Um einem Fahrensmann wie ihm zu zeigen, dass man auch etwas von der Welt gesehen hat, erwähnte ich ganz beiläufig, dass ich im vorigen Jahr eine Israelreise gemacht, viele biblische Orte gesehen und eine Menge über das Verhältnis von Israelis und Palästinensern erfahren hatte.

Mein Gegenüber schien unbeeindruckt. Er lächelte und meinte dann zu meinem Erstaunen, Israel, Ägypten, Jordanien, Syrien und Palästina seien auch die Gegenden in der Welt, in denen er sich am häufigsten und am liebsten aufgehalten habe.

„Sind Sie denn nicht zur See gefahren?“

Meine Frage brachte ihn zum Lachen.

„Das mag vielleicht so aussehen, aber ist nicht so“, antwortete er.

„Ich bin viel im Vorderen Orient herumgereist und habe dort anthropologische Studien und Forschungsarbeiten gemacht.“

Jetzt war ich beeindruckt und wollte gerade kundtun, dass ich das für ein sehr wichtiges Aufgabengebiet halte, um zu zeigen, dass mir das Wort „Anthropologie“ nicht fremd war, als er mich direkt ansah und meinte:

„Wenn Sie einmal etwas von einem Johann Heinrich Wilhelm Hansen lesen, dann haben Sie etwas von mir gefunden beziehungsweise dann bin ich zitiert oder ausgelegt worden.“

Er lächelte wieder an mir vorbei in Richtung Wattenmeer und Sonne. Der Name sagte mir absolut nichts, aber das wollte ich ihm nicht direkt sagen.

„Hatten Sie ein spezielles Thema bei ihren Forschungsarbeiten?“

„Ja, natürlich! Für mich war wichtig festzustellen, inwieweit prophetisches Wissen und prophetische Gabe in den dortigen Menschentypen grundgelegt sind, ob es ein bestimmtes Prophetentum semitischen Ursprungs gibt und inwieweit so etwas auch in unseren modernen Zeiten noch ausgeprägt und wirksam ist.“

Ich gab zu, da nicht mitreden zu können, und tat dann noch ein weiteres, um seine scheinbare Eitelkeit zu befriedigen, indem ich ihn nach Literatur befragte, die er mitgeschrieben beziehungsweise selbst geschrieben oder beeinflusst habe.

Er wandte sich nun mir direkt zu, und sein Blick war jetzt nicht mehr von einem Lächeln begleitet, sondern ließ mir unangenehm bewusst werden, dass es ja doch ein völlig Fremder war, mit dem ich mich in aller Frühe hier oben auf ein tiefsinniges Gespräch eingelassen hatte.

„Eine meine zentralen Figuren, die ich immer wieder versucht habe zu finden, war Amos.“

Die Sonne wärmte mich nun überhaupt nicht mehr. Ein kaltes Prickeln lief mir über den Rücken. Alle Alarmglocken schrillten auf, alle Warnlampen leuchteten rot.

Aber das konnte nicht sein.

Nicht hier.

Nicht dieser Mann.

Da gab es keinen Zusammenhang.

Ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte. „Amos sagt mir etwas. Von ihm habe ich im letzten Jahr viel gehört, als wir in Richtung Negev an seiner Heimatstadt Tekoa oder vielmehr an dem, was davon übrig zu sein scheint, das heutige Chirbet Tequa, am Rande der Wüste Juda vorbeikamen!“

„Haben Sie mal Amos gelesen?“

Vorsicht, schrillte es wieder in mir. Dabei war ich mir schon gewiss, dass alles zu spät war.

Ich kannte ganze Passagen auswendig aus dem Prophetenbuch Amos. Ich hatte mir viele Kommentare besorgt, um die Entstehungs- und Auslegungsgeschichte kennen zu lernen, und doch antwortete ich jetzt: „Ein paar Verse, mehr nicht.“

Jetzt lächelte Johann Heinrich Wilhelm Hansen, mein Gegenüber, wieder, und ich begann eifrig zu überlegen, wie ich mich, ohne unhöflich zu sein, jetzt verabschieden und möglichst schnell verschwinden könnte. Der Mann war mir unheimlich.

Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er zu mir: „Sehen Sie, in diesem Buch Amos komme ich auch vor. Zwar nicht unter meinem vollen Namen, aber unter meiner Abkürzung JHWH.“

Ich lachte.

Ich brüllte vor Lachen.

Ich prustete los und lachte ihn aus oder an oder was auch immer.

Ich lachte aus Angst.

Oder vielleicht doch, weil es komisch war?

Ich lachte, weil ich mich befreit fühlte, weil die Vergangenheit mich eingeholt hatte, weil ich allein war, weil ich hilflos war, weil ich Angst hatte.

Ich musste einfach lachen.

Und mein Gegenüber ertrug dieses Lachen.

Er ließ mich meine Angst, meinen Frust auslachen.

Als mir alles weh tat, meine Wangen, mein Zwerchfell, meine Brust; als meine Augen vor Lachen tränten und ich kaum noch Luft bekam, da begann er fast zärtlich mit mir zu reden wie mit einem verwirrten Kind, wie mit jemandem, der sich maßlos verirrt hat.

„Dein Erkennen kommt spät. Hast du gedacht, ich ließe dich einfach wieder los, einfach wieder der sein, der du früher warst? Hast du geglaubt, ich hätte dich nach einem Jahr einfach wieder vergessen, weggelegt, wie ein ausgelesenes Buch? Hast du so wenig aus der Amosgeschichte gelernt?“

Langsam kam ich zur Ruhe.

Das irre Lachen war weg.

Auch die Angst schien vorbei, jetzt. Die zugeschnürte Kehle war wieder frei. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und putzte meine Nase.

Der Mann hatte mir mein Fahrrad aus den Händen genommen und es wieder an die Hütte gelehnt; dann führte er mich zu der Bank, und ich ließ mich widerstandslos darauf drücken.

Ich sah ein Segelboot im Sonnenlicht über das Wattenmeer gleiten, hörte das Geschnatter der Austernfischer und roch das Meer. Und dennoch konnte ich mich des Gefühls der Unwirklichkeit, der Irrealität nicht erwehren.

Der Mann setzte sich neben mich, worauf der Schatten, den er auf mich geworfen hatte, etwas von seiner Düsternis verlor. Immer noch oder immer mehr schien ich in einem Traum.

„Ich habe dich nicht um Unmögliches gebeten, oder?“ Ich wusste, dass er keine Antwort verlangte.

„Du hast Amos viele Tage seines Lebens hindurch begleitet. Ich wollte, dass du verstehst, was es bedeutet: „Rufer“ zu sein. Ich wollte, dass du auf deine Art heute, in deiner Zeit, in deiner Welt eine Art „Rufer“ wirst.“

Ich spürte erst jetzt die Traurigkeit, die aus ihm sprach.

„Amos hat mich verstanden. Aber auch für ihn war es am Anfang schwer zu begreifen. Wie du weißt, hat er dann mit seinen Mitteln versucht, etwas zu bewirken. Seine Worte wurden lange Zeit nach ihm noch verstanden.“

Jetzt reizte es mich zu widersprechen.

„Vielleicht haben damals die Menschen Amos verstanden, weil er in ihrer Zeit, mit ihren Worten sprach. Er hat ihr Unrecht und das Böse gesehen, was sie taten. Was aber ist mit heute? Wenn ich heute jemandem, der seinem Nachbarn das Leben zur Hölle macht, von Amos erzähle, mit Amos drohe, denkt er vielleicht an einen Zwillingsbruder von Superman und lacht mich aus. Wer kennt denn noch Amos? Wer interessiert sich noch für Amos? Ein paar Bibelkundige. Ein paar Exegeten. Amos und seine Geschichte und seine Worte sind alt. Altes Testament. Und was soll ich heute bewirken, außer mich lächerlich zu machen? Wie viele Weltverbesserer, Droher, Mahner gibt es, treten täglich auf, ohne etwas zu bewirken. Ja, ohne dass überhaupt jemand sie zur Kenntnis nimmt. Und du weißt, dass mir für ein Leben wie Martin Luther King oder gar Ghandi oder Mutter Theresa jeglicher Mut fehlt. Also, was soll ich schon bewirken? Wieso gerade ich? Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“

Er stand auf und sah zu mir hinunter. Ich dachte schon: Jetzt hast du ihn ärgerlich gemacht. Ich hegte schon die leise Hoffnung, dass ich ihn überzeugt hätte, der Falsche zu sein. Aber ich irrte mich.

„Überlege noch einmal! Vielleicht fällt dir ja doch ein Weg ein, wie du jetzt und hier etwas tun kannst. Ich lasse dich nicht in Ruhe, denn ich lasse nie jemanden in Ruhe, selbst den größten Atheisten nicht. Nicht jeder ist so sensibel wie du. Du spürst mich mehr als manch anderer, dessen Leben so dahin gleitet, der stirbt und nichts hinterlässt als die Unruhe, die ich ihm mitgab. Überleg noch einmal.“

Damit wandte er sich um und ging den Dünenweg hinab, den ich gekommen war.

Ich murmelte Vers 3,8 aus dem Amos-Prophetenbuch, der sich mir seit dem vorigen Jahr unauslöschlich eingeprägt hatte, vor mich hin: „Hat der Löwe gebrüllt, wer fürchtet sich dann nicht? Hat JHWH geredet, wer verkündet dann nicht?“

Ich war wie ausgelaugt.

Keine Kraft schien ich mehr zu haben; keinen Mumm mich jemals wieder zu bewegen. Ich saß nur da und sah ihm nach, bis er meinen Blicken entschwunden war.

Dann tauchten in meinem Blickfeld andere Bilder auf.

Ein Jahr war es erst her.

Die erste Nacht

Alle Dinge sind rastlos tätig, kein Mensch kann alles ausdrücken, nie wird ein Auge satt, wenn es beobachtet, nie wird ein Ohr vom Hören voll. Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Zwar gibt es bisweilen ein Ding, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues - aber auch das gab es schon in den Zeiten, die vor uns gewesen sind.

(Kohelet 1,8-10)

Es war kalt.

Ich war eingeschlafen und hatte geträumt.

Langsam verlagerte ich mein Gewicht in dem eisernen Terrassenstuhl, um meine steifen Glieder wieder zu lockern.

Alles drängte mich danach, durch die Tür in meinen kleinen Gästebungalow zu verschwinden, in das bisher unbenutzte Bett zu kriechen, mich lang auszustrecken und auf der Stelle weiterzuschlafen. Doch der Blick von diesem höher gelegenen Kibbuz auf die mondbeschienene Ebene in Richtung Latrun hielt mich gefangen. Der voll werdende Mond - oder nahm er wieder ab? ich konnte mir das noch nie richtig merken - warf ein fahles Licht auf die kleine Terrasse. Er schien auf den sanft abschüssigen Hügel, an dem die Gästebungalows des Kibbuz lagen, und auf den in der Ferne gut sichtbaren Wald bewachsenen Hügel von Latrun.

Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir: Es war drei Uhr früh, und ich hatte wohl über eine Stunde hier draußen gesessen und mich in einer Art Halbschlaf befunden. Als ich mich kurz nach Mitternacht hierher gesetzt hatte, schien sich ein langer aufregender Tag dem Ende zuzuneigen. Mit dem Gefühl, trotz körperlicher Müdigkeit noch geistig hellwach zu sein, wollte ich meine erste Nacht in Israel auf mich wirken lassen. Wollte versuchen, die uralte Geschichte dieses Landes zu spüren und einzuatmen.

Natürlich wollte ich auch irgendwann ins Bett, aber mir gingen noch zu viele Gedanken durch den Kopf, es zogen zu viele Bilder an meinem inneren Auge vorbei, die mir immer wieder zeigten, was heute alles auf mich eingeströmt war.

Wie es zu meinem Naturell gehört, war ich fast eine Stunde zu früh am Flughafen gewesen. Um 13.00 Uhr sollte abgeflogen werden. 11.00 Uhr war als Zeitpunkt zum Treffen für unsere Reisegruppe angesetzt worden; aber ich stand schon um 9.45 Uhr abflugbereit mit meinem Gepäck da und durfte mich mal wieder im Warten üben.

Kurz vorher hatte ich mich von meiner Frau verabschiedet. Sie hatte mich zum Flughafen gefahren. Sie war nicht nur beruflich daran gehindert mitzureisen, sondern auch ihre Interessen lagen irgendwo ganz anders. Mit religiösen Dingen konnte sie nichts anfangen. Man konnte mit ihr nicht einmal über diese Dinge diskutieren. Bis vor nicht allzu langer Zeit hatte das für uns beide auch keine Bedeutung gehabt. Seit ich mich aber für diese Israelreise interessierte und die Reisegruppe sich zur thematischen Vorbereitung mehrmals getroffen hatte, war bei mir immer mehr das Bedürfnis entstanden, zu Hause über die Thematik, die das „Heilige Land“ betraf, sprechen zu können.

Meine Frau hatte nichts gegen meine Reise, sie fand sie interessant und zollte meinem wachsenden Wissen über israelitische Geschichte und Kultur zunehmend Beifall. Aber sie versuchte auch die eng verbundene Verknüpfung von Geschichte und Religion in Israel als überholtes Absurdum abzutun, und wenn ich begeistert berichtete, dass ich beim Nachdenken über die Gespräche während der thematischen Bibelarbeit in der Reisegruppe zu dieser und jener Erkenntnis gekommen war, fand ich bei ihr keinen Widerhall, sondern hörte allenfalls ein mitleidiges: „Hör mir bloß auf damit!“

Wie schon gesagt, hatte sich die Reisegruppe mehrmals vorher getroffen. Es waren organisatorische Fragen zu Flug, Visa, Rundreise, Hotels, Verhaltensweise und zu Land und Leuten besprochen worden. Was dieser Reise dann aber etwas Besonderes verlieh, waren die inhaltlichen Schwerpunkte, die bestimmte Orte mit Themen und Personen aus der Bibel verknüpften.

Für mich waren biblische Themen in einem ganz neuen Licht erschienen, ich betrachtete alles aus einem anderen Blickwinkel als bisher. Dies hatte dazu geführt, dass ich meine alte, verstaubte und kaum gebrauchte Bibel aus einer Ecke des Bücherschrankes genommen und begonnen hatte, darin zu lesen. Mit Hilfen, Anregungen und Tipps aus unseren Treffen begann ich, Texte neu zu lesen und auch neu zu verstehen oder anders zu sehen. Und ich fand das äußerst spannend.

Meine Frau hatte das mit dem lapidaren Satz, den sie aber nicht bös meinte, kommentiert: „Gestern noch Gottesverächter, heute schon frommer Betbruder.“

Aber ich glaube, das war zu einfach.

Ich war nicht frommer geworden, sondern eher auf eine spezielle Weise interessierter.

In der Reisegruppe waren viele, die sich eingehend mit der Auslegung und Erforschung der Bibel, besonders des Alten Testamentes, beschäftigten. Für sie war diese Reise Anschauungsunterricht erster Güte. Auch hatte ich etwas neidisch festgestellt, dass manche aus der Gruppe schon über ein fundiertes Wissen über das eine oder andere Thema verfügten und in meinem Hinterkopf begann die Idee zu entstehen und sich festzusetzen, Themen wie Bibelauslegung, Bibelhistorie, die verschiedenen Methoden der Textkritik, Literarkritik, Formkritik, Entstehungsgeschichte oder Autoren usw. usw. zu meinem Hobby zu machen.

Ganz unverbindlich natürlich.

Ohne Glauben, Frömmigkeit und das ganze Drumherum.

Rein wissenschaftlich.

Auf dem Flugplatz wartete ich jetzt darauf, dass die anderen Mitglieder der Reisegruppe eintreffen würden. Ich suchte mir ein Plätzchen, von dem aus ich in Ruhe das hektische Treiben um mich herum beobachten konnte. Die Zeit des Wartens wurde mir auch schon deswegen nicht lang, weil ich mich so innerlich auf die Möglichkeit vorbereiten konnte, mir hier und jetzt einen Traum zu erfüllen.

Meine Frau schwärmte von den Städtetouren, die sie mit ein paar Freundinnen regelmäßig unternahm, natürlich mit Besuchen von Museen, Kirchen und Ausstellungen, aber vor allem mit ausgiebigem Geschäftebummel. Einmal hatte ich mich ihr angeschlossen..... Es wurde eine Enttäuschung und die einzige Stadt, die mich magisch immer wieder zu rufen schien, war Jerusalem.

So hoffte ich, dass diese Reise mit dem geplanten mehrtägigen Besuch Jerusalems ihren absoluten Höhepunkt finden würde.

Im Moment genoss ich es, mich darauf zu freuen und dabei ein stiller, unbeweglicher Teil der Flughafen-Betriebsamkeit zu sein. Ich genoss es, Verabschiedungs- und Begrüßungsszenen zu beobachten, Lautsprecherdurchsagen zu verfolgen, die Informationen auf den großen überdimensionalen Anzeigetafeln weiterklacken zu hören und Gesichtern aus aller Welt zu begegnen.

Eine halbe bis dreiviertel Stunde mochte so vergangen sein, ehe sich ein weiterer Teilnehmer unserer Reisegruppe – nach allen Seiten Ausschau haltend - in meiner Nähe einfand.

Katharina war mit Mitte Dreißig die Jüngste aus der Gruppe.

Sie war von Beruf Gemeindereferentin, doch ihr Interesse ging über die rein theologischen Inhalte dieser Reise weit hinaus. Ich hatte festgestellt, dass sie über ein enormes Wissen verfügte, vor allen Dingen schien sie alles, was mit dem Thema der Prophetie im Alten Testament zusammenhing, in sich aufgenommen zu haben. Aber ich wusste ja, dass fast jeder der anderen Teilnehmer sein Lieblingsthema hatte, über das er stundenlang referieren könnte.

Was ich an Katharina schätzte, war ihre Ausgeglichenheit. Seit ich sie kennen gelernt hatte, war sie immer freundlich gewesen, dazu sah sie gut aus und war jederzeit zu Späßen aufgelegt – sie verkörperte für mich die selbstbewusste Frau, mit der man sich gern unterhielt.

Auch über solch schwierige Themen wie die Propheten aus der Bibel.

In Jeans, Wanderschuhen und dicker Daunenjacke, mit einem Rucksack auf dem Rücken kam sie, nachdem sie mich entdeckt hatte, auf mich zu. Hinter ihr zog ein zirka zwei Meter großer Hüne ihren Koffer und blieb in einiger Entfernung hinter ihr stehen, während Katharina und ich uns herzlich begrüßten.

Nachdem das geschehen war, stellte Katharina den Riesen als ihren Mann vor. Ziemlich schüchtern reichte er mir seine Hand und trat gleich darauf wieder in den Hintergrund, während seine Frau zu reden begann.

„Als ich mich so im Spiegel gesehen habe, dachte ich, dass ich eher wie ein Bergwanderer aussehe denn als Israeltouristin. Aber auf das Praktische kommt es an. Ich habe auch die dicken Schuhe nicht mehr in den Koffer bekommen. Er ging einfach nicht zu, obwohl Heiner sich alle Mühe gab.“

Sie lächelte ihren Mann an und gab ihm ein Küsschen auf die Wange, während er das Lächeln etwas verkniffen zurückgab und das Küsschen in der Öffentlichkeit ihn wohl genierte.

Katharina und ich unterhielten uns weiter, und sie bezog ganz zwanglos die nach und nach hinzukommenden weiteren Reiseteilnehmer in die Unterhaltung mit ein.

Irgendwann tauchte dann auch unser Reiseleiter auf, und auf sein Zeichen hin machte sich die gesamte Gruppe mit noch verbliebenem Anhang in Richtung Abfertigungsschalter auf den Weg.

Die nächsten zwei Stunden zogen sich zäh wie Kaugummi dahin.

El-Al Bedienstete durchleuchteten und durchsuchten mehrmals meinen Koffer. Von einer Schlange ging es zur nächsten. Jeder von uns musste eine Menge Fragen beantworten. Zwischendurch gab es immer wieder Verabschiedungsszenen, weil nicht alle Angehörigen bis zum Ende der ganzen Prozedur warten konnten.

Mit gut dreißig Minuten Verspätung rollte das Flugzeug endlich zur Startposition, immer noch von Polizei- und Zivilfahrzeugen mit israelischen Sicherheitskräften begleitet.

Erst als ich den Schub des Abhebens spürte und wir die Erde - im wahrsten Sinne des Wortes - verließen, empfand ich wieder dieses euphorische Gefühl, das mir in der Hektik der Abflugformalitäten total abhanden gekommen war.

Während ich den Sicherheitshinweisen zuhörte, hielt ich ein Blatt in der Hand, das zweisprachig, nämlich in Englisch und Irvith, dem modernen Hebräisch, gehalten war. Und allein die für Fremde exotischen Buchstaben des hebräischen Alphabets übten Faszination und Startpunkt in ein unbekanntes Abenteuer für mich aus.

Ich lehnte mich zurück und genoss das Getragenwerden.

Die weitere Reise bis zu dem Kibbuz, in dem ich mich nun befand, verlief eigentlich unspektakulär; und jetzt auf der Terrasse des kleinen Gästebungalows ging mir durch den Sinn, wie schnell Ereignisse vorbei sind, auf die man sich wochen-, ja monatelang mit den unterschiedlichsten Empfindungen vorbereitet hatte.

Das leichte Frösteln von meinem Nickerchen in freier Natur war immer noch da, und ich stand jetzt resolut auf, um ins Bett zu gehen.

Vorher trat ich jedoch noch an die niedrige ummauerte Abgrenzung meiner Terrasse, als ich von rechts neben mir das gleiche Geräusch vernahm, welches mein Stuhl beim Aufstehen auf den Steinfliesen verursacht hatte.

Und dann trat wie eine Wiederholung der Szene, die ich gerade selbst gespielt hatte, jemand aus dem Schatten des Bungalows nebenan an den Rand seiner kleinen Terrasse.

Es war Katharina.

Dass sie im Haus neben mir nächtigte, hatte ich nicht gewusst, und so war ich angenehm überrascht.

Im hellen Mondlicht konnten wir uns beide gut erkennen. Ja, ich konnte sogar ihr erstauntes Lächeln sehen.

„Ich nehme an, du kannst auch nicht schlafen?“ fragte sie mich.

Ich trat an das Zwischenmäuerchen und musste mich erst räuspern, ehe ich ein vernünftig verstehbares Wort herausbrachte. Meine Stimme war wie eingerostet.

„Ich habe im Stuhl hier draußen gedöst, bis es mir zu kalt wurde. Aber im Moment bin ich hellwach.“

„Wenn du Lust hast, kannst du dich etwas zu mir setzen. Ich habe hier den Luxus von zwei Stühlen.“

„Augenblick, ich komme. Ich hole mir nur schnell was zum Überziehen.“

Mit zwei, drei Schritten war ich drinnen, schnappte mir meine warme Jacke und stieg über das niedrige Mäuerchen auf die Nachbarterrasse. Im Gegensatz zu meinem spartanischen Eisenstuhl standen hier zwei von der Sorte, jeweils mit einer dicken Auflage. Dazwischen stand sogar ein Tischchen mit einem Aschenbecher, in dem ein Teelicht flackerte.

Katharina saß bereits in eine dicke Decke gehüllt als formloses Paket in dem linken Stuhl.

„Richtig gemütlich hast du es hier“, bemerkte ich und setzte mich in den anderen Stuhl, während die Flamme heftig zuckte.

„Leider kann ich dir nichts anbieten, denn ich war heute noch nicht einkaufen“, lächelte sie mir mit ihrer Art von Humor zu.

Ich grinste nur und meinte, dass mir das wohl nichts ausmachte.

Dann schwiegen wir eine Weile.

„Ich war viel zu aufgeregt, um ins Bett zu gehen“, sagte Katharina irgendwann in die Stille hinein.

Ich antwortete ihr nicht, und sie schien das auch nicht zu erwarten. Wir starrten beide in Richtung der fernen Hügelkette von Latrun, hinter der sich der Himmel schon langsam heller zu färben begann.

„So viele Orte werden wir besuchen oder streifen, von denen ich gelesen habe, die in der alttestamentlichen Geschichte eine Rolle spielen.“

Wieder schien sie keine Antwort, keine Bemerkung von mir zu erwarten. Im Gegenteil, sie schien mir nur ihre Gedanken und Gefühle über diese Reise und auch ihre Hoffnungen mitteilen zu wollen.

„Morgen sind wir in Jerusalem, und übermorgen wandern wir in Richtung Tekoa.“

„Der Ort sagt mir nichts“, warf ich ein und war erschrocken über meine brüchig klingende Stimme.

Katharina sah mich an. Bisher war nur ihr Profil vom Mond beleuchtet gewesen. Jetzt waren ganz neue Schatten und Konturen in ihrem Gesicht zu erkennen.

„Tekoa ist die Heimatstadt des Propheten Amos“, belehrte sie mich. Dann war dieses Zwischenspiel mit Frage und Antwort für sie auch schon wieder vorbei. Sie blickte geradeaus, als wäre sie nicht unterbrochen worden, und begann mir zu erzählen:

„Als ich das erste Mal etwas von Amos gelesen habe, hat mich das Ganze ziemlich kalt gelassen. Mir schien es, dass er mit seinen Worten, also mit dem, was im Buch Amos in neun Kapiteln steht, mehr oder weniger das wiederholt oder nur mit anderen Worten umschreibt, was auch die Propheten vor und nach ihm von sich gegeben haben. So wie mir ist es bestimmt auch schon anderen ergangen, die einfach die Bibel aufschlugen und ohne Vorwissen Amos lasen. Ich hörte dann einmal den Satz, Amos sei der einzige Prophet, der keinerlei Heilszusage in seinen Worten gehabt habe. Ich habe daraufhin sein Buch nochmals gelesen und war eigentlich genauso schlau wie vorher. Neugierig wie ich nun mal bin, habe ich mir dann an Literatur besorgt, was ich bekommen konnte. Bücher über Amos, die die Entstehungsgeschichte, Auslegungsgeschichte, das historische Umfeld beleuchteten. Bücher von Eleonore Beck, von H.W. Wolff oder Jens Jeremias, um nur einige zu nennen, habe ich sozusagen verschlungen. Und mit der Zeit trat da plötzlich ein Mann aus dem Dunkel der Vergangenheit, der mir etwas zu sagen hatte und vor dem man selbst heute noch achtungsvoll den Hut ziehen sollte. Amos wird so zwischen 760 und 750 aufgetreten sein. Er stammt wohl aus Tekoa, was ungefähr zwanzig Kilometer südlich von Jerusalem liegt, und wird meiner Meinung nach mindestens zweimal aufgetreten sein. Einmal scheint er in Samaria, der Hauptstadt von Israel, gegen die Reichen und Mächtigen prophezeit zu haben. Ein andermal in Bet-El. Ich stelle mir seinen Auftritt ziemlich spektakulär vor. Denk dir irgendwo einen Wallfahrtsort. Stell dir vor, es ist die Hauptwallfahrtszeit. Tausende Menschen sind unterwegs. Prozessionen mit betenden und singenden Menschen und rechts und links in den Geschäften blüht der Kommerz. In den Gaststätten ein immerwährendes Kommen und Gehen, Hochkonjunktur für Bier und Schnitzel. Selbst nachts sind die Straßen gefüllt. Alle, die da beten, singen, essen und trinken, sind überzeugt, dass sie direkt an diesem Ort mit Gott oder Jesus oder Maria Kontakt haben, dass ihre Bitt-, Dank-, Lob- oder Klagegesänge direkt zum Himmel gelangen. Stell dir einmal diese Szenerie vor.

Und dann kommt Amos.

Er sagt den Würdenträgern, Messdienern, Schwestern, Patres und einfachen Leuten, sie täten etwas Sinnloses hier, solange sie nicht konsequent die Gebote der Nächstenliebe ernster nehmen würden. Er sagt ihnen, dass ihr Tod, ihr Untergang von genau diesem Gott, von dem sie sich so auserwählt wissen wollen, längst beschlossenen worden ist. Dass Gott es leid ist, dass ihn „seine Kinder“ auf der einen Seite des Schlachtfeldes um den Segen für ihre Lanzen und Schwerter bitten, mit denen sie dann „seine Kinder“ auf der anderen Seite, die über ihre Waffen die gleichen Gebete sprechen, ins Jenseits schicken wollen.

Stell dir Amos vor, der diesen ganzen hohlen Kultbetrieb anprangert. Der mit Kleinigkeiten anfängt wie mit jenem Mann, der hierher kommt und zu Gott betet, dass er ihm wegen seines Leberleidens Heilung schickt. Dafür legt er gern 20 Kilometer zu Fuß zurück, zündet 10 Kerzen an und spendet ein paar Münzen Und nach diesem Pflichtbesuch, nach diesem erledigten, abgehackten Gottesdienst geht er in die nächste Kneipe, um erst einmal einen zur Brust zu nehmen, als gottgefälliges Werk.

Stell dir den Eklat vor, zu hören von diesem Amos, eigentlich ein Viehzüchter von Beruf, Gott will vielleicht gar keine Superdome und Heiligkeiten, sondern eine Gemeinschaft, in der es keine Armen mehr gibt, eine Gemeinschaft ohne Lieblose, Hilfsbedürftige, Ausgenutzte, Versklavte und Gehasste.

All das wirft dieser Prophet Amos aber nicht seinen Bekannten und guten Freunden in seiner Heimatstadt Tekoa vor. Auch schleudert er es nicht seinen Landsleuten in der Hauptstadt Jerusalem an den Kopf. Nein, nach Bet-El geht er, in das Staatsheiligtum des Nachbarvolkes Israel. So mächtig hat Gottes Ruf ihn ergriffen, dass er als Ausländer im Nachbarland solch starke Vorwürfe erhebt.“

Sie schwieg und machte eine so lange Pause, dass ich schon dachte, sie wäre eingeschlafen. Das war sie aber nicht, sie hatte anscheinend die Szene nur noch einmal vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen. „Ich hätte ihn gerne einmal kennen gelernt“, hörte ich sie nach einer Weile sagen.

Draußen jenseits unserer Terrassen krähte ein Hahn. Danach war es plötzlich ganz still. Katharina hatte vorher mit wachsender Erregung gesprochen, und ich hatte ihr fasziniert zugehört, sodass die sich nun ausbreitende Stille die Bedeutung ihrer Worte unterstrich. Dieser Prophet Amos war durch ihre begeisterte Erzählung eine erfassbare Gestalt für mich geworden.

„Ich hoffe, ich habe dich nicht gelangweilt?“

Sie sah mich an, und ich konnte in der mittlerweile schon fortgeschrittenen Morgendämmerung gut ihr spitzbübisches Lächeln ausmachen. Ich grinste zurück. „Nein, überhaupt nicht. Langsam wird in mir eine gewisse Neugier geweckt, mehr über die Gestalten aus der Bibel zu erfahren. Viele entpuppen sich durch Erzählungen wie deine als äußerst interessant und menschlich. Und dieser Amos scheint mir mit seinen Anliegen auch heute noch sehr modern. Oder vielleicht wiederholt sich auch nur die menschliche Geschichte als eine Folge von Irrtümern und Fehltritten.“

Katharina nickte heftig. „Je mehr ich über ihn und seine Prophetie erfuhr, desto mehr begann ich ihn zu bewundern.“

Wieder krähte ein Hahn. Dann hörten wir das Gebimmel eines Glöckchens und sahen bald darauf eine kleine Ziegenherde, die sich Futter suchend über den Hügelhang vor uns bewegte.

„Wie spät ist es?“ fragte Katharina.

Ich sah auf die Uhr und konnte gut erkennen, dass es bald halb sechs war.

Katharina sprang auf: „Genug gequatscht. Um acht Uhr ist Frühstück, bis halb acht kann ich dann wohl noch schlafen. Also, junger Mann?“

„War das ein Rausschmiss?“ lachte ich und schwang mich zurück auf meine Terrasse. „Gute Nacht, bis gleich.“

Ich ging nicht mehr ins Bett, sondern stieg unter die Dusche und freute mich noch mehr als bisher auf die Reiseentdeckungen, die die folgenden Tage bringen würden, nachdem schon die erste Nacht so viel Neues und Interessantes für mich gebracht hatte.

Frisch geduscht und wieder einmal viel zu früh reisefertig, ging ich bald darauf den Weg durch die Bungalows entlang und sah mir die anderen Teile des Kibbuz neugierig an. Ich hatte schon so viel von dieser Lebensweise in fester Arbeits- und Interessensgemeinschaft gehört, dass ich es äußerst spannend fand, die Sache einmal vor Ort in Augenschein zu nehmen.

An den Empfangsgebäuden für die Feriengäste vorbei führte der Hauptweg bergab, einer großen offenen Hallen mit landwirtschaftlichen Geräten und Traktoren entgegen. Eine Seitenstraße führte rechts durch flache Verwaltungstrakte zu den Privathäusern der Kibbuzniks, die hier lebten. Von dort her drangen fröhliche Kinderstimmen an mein Ohr. Geradeaus lief der Weg direkt auf offene Stallgebäude zu, und bald konnte ich den Misthaufen riechen. Kühe standen oder lagen in einer langen Reihe unter dem Dach. Aus diesen Gebäuden mussten auch die Ziegen auf Wanderschaft gegangen sein, deren Gebimmel wir heute vor den Gästehäusern gehört hatten.

Über dem gesamten Kibbuz lag noch eine allgemeine morgendliche Müdigkeit.

Ich dachte gerade darüber nach, ob ich diesen Tag nach der durchwachten Nacht wohl ohne eine ausgedehnte Mittagspause überstehen würde, als ich aus den Augenwinkel links zwischen abgestelltem landwirtschaftlichen Schrott eine Bewegung sah. Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, einem blauen Overall und einem orangefarbenen T-Shirt darunter kam mit ungelenken Bewegungen auf mich zu. Ich wandte ihr den Rücken zu, um langsam wieder zurück zu schlendern und gleichzeitig von ihr weg zu kommen, aber ich konnte ihr Näher kommen wie einen Druck in meinem Nacken spüren. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich als Fremder hier einfach so neugierig herumgelaufen war und befürchtete, dass man mir das vielleicht übel nehmen könnte. Darüber nachdenkend, was in dieser Situation das Beste sei, drehte ich mich noch einmal um, und da stand sie direkt vor mir, nur eine Armlänge entfernt. Über die Schulter der Frau hinweg sah ich eine weitere Frau und einen Mann auf uns zulaufen, die anscheinend den Namen der vor mir Stehenden riefen.

Diese Frau – oder war es noch ein Mädchen? - stand vor mir mit schlaksigen Armen. Ihr Mund war schief und ihre Augen irrten ziellos, wie mir schien, über meine ganze Gestalt. Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber mehr als zwanzig schien sie nicht zu sein. Sie stand vor mir und starrte mich an, und ein Lächeln schien sich in ihrem geistig verwirrten Gesicht anzudeuten.

Vielleicht waren es nur Sekunden, die wir uns gegenüberstanden, bis die beiden anderen uns erreicht hatten, vielleicht war es länger. Aus meiner anfänglichen Angst wurde Mitleid, und so fiel mir nichts Besseres ein, als ihr ein herzlich gemeintes „Guten Morgen“ zu sagen. Sie schien immer noch zu lächeln. Als die Frau bei uns angekommen war, ergriff sie das Mädchen bei den Schultern und drehte es sanft von mir weg in die Richtung, aus der sie gekommen waren, während sie unablässig in einer für mich fremden Sprache auf die andere einredete.

Der Mann ging auf der anderen Seite neben dem Mädchen her, nicht ohne mir einen bösen Blick zuzuwerfen und mir ein paar Nettigkeiten entgegen zu schleudern, die ich leider oder auch Gott sei Dank nicht verstand. Freundschaftsangebote waren jedenfalls aus seinem Mienenspiel nicht zu entnehmen.

Zwei, drei Schritte hatten sie sich bereits von mir entfernt, und ich wollte mich schon abwenden, als die Geistig-Behinderte sich sanft aus dem Griff ihrer Begleiterin löste und sich noch einmal mir zuwandte. Wiederlächelte sie, wie es schien, und dann rief sie zu mir herüber: „Hi, Amos.“

Jerusalem

Ich, Kohelet, war in Jerusalem König über Israel. Ich hatte mir vorgenommen, das Wissen daraufhin zu untersuchen und zu erforschen, ob nicht alles, was unter dem Himmel getan wurde, ein schlechtes Geschäft war, für das die einzelnen Menschen durch Gottes Auftrag sich abgemüht haben. Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst. Was krumm ist, kann man nicht gerade biegen; was nicht da ist, kann man nicht zählen.

(Kohelet 1,12-15)

Ich bin angekommen.

Draußen ist es später Nachmittag und noch sehr warm.

Ich sitze in der Kirche St. Anna am Teich Betesda. Die Kirche ist in der Kreuzritterzeit erbaut worden, irgendwann im 12. Jahrhundert. Eine Stunde hat die Reisegruppe Zeit, bevor es geschlossen zum Hotel zurückgeht.

Ich bin müde, verschwitzt und auch ein bisschen enttäuscht und desillusioniert vom heutigen Tag. Die Kirche mit ihren dicken Mauern ist schlicht, dunkel und kühl. Sie lädt geradezu dazu ein, sich über Gefühle klar zu werden, sich Gedanken zu machen, zu träumen, zu beten. Mir scheint, dies ist der erste „heilige Ort“, dem ich heute begegnet bin.

„Heilige Orte sind Stätten, an denen die Menschen von alters her ein ganz besonders starkes Gefühl zu Gott empfinden“, hatte unser Reiseleiter heute bei der Himmelfahrtsmoschee auf dem Ölberg erklärt. Ich konnte dieses Gefühl allerdings angesichts der zahlreichen Touristengruppen, die sich lärmend aneinander vorbei schoben, beim besten Willen nicht nachempfinden.

Und jetzt sitze ich hier. Immer, wenn ein Flügel des Kirchenportals aufgeht, fällt ein breiter Sonnenstrahl durch den Mittelgang bis zu der Bank vor mir. Die Besucher, die hereinkommen oder hinausgehen, erscheinen als schwarze verzerrte Schatten in diesem großen gelben Rechteck. Doch bald nehme ich auch das nicht mehr wahr, sondern versinke in dieser angenehm kühlen Stille in meinen Gedanken. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier sitze, da legt sich eine Hand auf meine Schulter. Erschrocken fahre ich auf und versuche zu erkennen, wer mich da stört, als eine leise Stimme fragt: „Können Sie mir helfen?“ Ich blinzle in die Sonne, die durch das noch immer offen stehende Portal herein fällt, doch erkennen kann ich nichts. Das einzige, was ich deutlich sehe, ist die faltige Hand auf meiner Schulter und eine schwarze Gestalt gegen einen blendenden Hintergrund.

„Aber ja doch“, antworte ich trotzdem.

„Es wird aber nicht so einfach.“

Ich will aufstehen und sehen, womit ich helfen kann, doch der sanfte, aber feste Druck ihrer Hand auf meiner Schulter ist es, der mich wie gelähmt in der Bank festhält.

„Was kann ich denn für Sie tun?“

„Sie müssen da raus gehen und den Menschen sagen, dass es so nicht weitergeht.“

„Was?“ Meine Frage hallt durch die Kirche. „Was soll ich?“ flüstere ich noch einmal.

Ich spüre oder ahne nur, wie die Frau seitwärts hinter mir in sich hineinlacht. „Nicht so laut bitte!“ höre ich sie sagen.

„Wer sind Sie, und was wollen Sie?“ Ich will jetzt Klarheit darüber, dass mich hier niemand veralbert. Resolut wende ich mich um. Doch nur mein Wille schafft das Umdrehen. Mein Körper hängt in der Hand der alten Frau wie leblos, wie erstarrt.

„Sie wissen doch, wer ich bin! Warum fragen Sie?“

Ich bin störrisch. „Nein, weiß ich nicht. Und wenn ich es wüsste, würde ich es dennoch gern von Ihnen hören!“ Ich denke, je sicherer ich auftrete, desto eher ist meine Gesprächspartnerin dieses Possenspiel leid.

„Ich bin, der ich bin“, sagt die Stimme, und mir bleibt der Atem stehen. Jetzt geht das Ganze doch zu weit.

„Eine Frau?“ Wieder spüre ich, wie neben mir leise gelacht wird.

„Kennen Sie eigentlich mein Gebot, dass Sie sich kein Abbild von mir machen sollen?“

Ich weiß, eine Antwort wird von mir gar nicht erst erwartet.

„Sie haben sich nicht nur eins gemacht, sondern Ihre Vorstellung ist dabei auch noch eng und falsch und voller Klischees.“

„Moment“, widerspreche ich, doch die Hand auf meiner Schulter zwingt mich zu schweigen. „Sie haben diesen Ort hier richtig eingeschätzt, es ist ein Ort der Begegnung. Weil Sie ein feines Gespür für diesen Ort entwickelt haben, hoffe ich, dass Sie mir helfen.“

„Wie stellen Sie sich das vor?“

„Ganz einfach. Sie gehen hin, sagen, Sie sind von mir geschickt und erklären den Menschen, ab sofort muss Schluss sein mit ihren Kriegen, Menschenrechtsverletzungen, Umweltkatastrophen, um nur einige zu nennen, sonst.....“, das Flüstern der Frau hinter mir wird kalt und bedrohlich, und eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken, „....sonst vernichte ich diesen ganzen schönen blauen Planeten.“

Ich bin schockiert. Dann stammle ich los, stottere fast, weiß nicht, wie ich das von mir abwälzen kann, verhasple mich, und es kommt nach vielen Ansätzen doch nur der Satz heraus: „Und Sie meinen, das ist so einfach.“

„Nach all den Erfindungen wie Fernsehen und Internet stelle ich Sie doch wohl nicht vor das Problem, wie Sie mein Anliegen publik machen können?“

Ich schüttele fassungslos den Kopf.

„Das Wie ist nicht das Problem. Aber ausgerechnet ich soll das machen? Warum gehen Sie nicht selbst da raus und zeigen es denen? Das ist viel wirkungsvoller. Warum ausgerechnet ich?“ Während der letzten Frage ist meine Stimme wieder etwas lauter geworden. Irgendwo aus der Kirche kommt ein „Pscht“, es soll mir zeigen, dass man hier nicht so laut spricht, nehme ich an.

„Lieber Gott im Himmel, ich glaube, ich werde verrückt.“

Jetzt tätschelt die Hand meine Schulter.

„Da pass ich schon auf, dass so etwas nicht passiert.“

Fassungslos sitze ich da, den ganzen Bauch voll Angst, sehe auf die Staubpartikel, die im Sonnenlicht tanzen, spüre die Hand, die wieder zentnerschwer auf meiner Schulter liegt, und soll auf eine Frage antworten, obwohl ich schon genau weiß, dass ich an der Antwort scheitern werde.

„Lassen Sie mich da raus, bitte! Ich kann doch absolut nichts für Sie tun. Ich bin doch der Letzte, der für Sie interessant sein könnte. Ich....“

„Ganz ruhig, junger Mann.“

Die Hand hält jetzt fast zärtlich meine Schulter umfangen.

„Ich lasse Sie ja nicht allein. Ich helfe Ihnen ja. Schließen wir hier und jetzt einen Kompromiss. Ich zeige Ihnen einen Weg. Das ist übrigens eine ausgezeichnete Idee. Ich bringe Sie zu meinem Propheten Amos. Ein wunderbarer Mann. Lernen Sie sein Leben kennen. Erfahren Sie, wie die Menschen damals lebten. Sehen Sie mit eigenen Augen, wie reich und vermögend die Oberschicht und wie arm und verelendet die Mehrzahl der Bevölkerung war. Erleben Sie mit, wie ich damals Amos beauftragt habe und wie er damit umgegangen ist. Dann haben Sie ein anschauliches Beispiel für Ihr eigenes Tun. Und dann, wenn Sie die Geschichte des Amos kennen, dann werde ich kommen und Sie noch einmal fragen, einverstanden?“

Ich nicke nur, nicht in geringster Weise überzeugt. Was würde das anderes bringen für mich als schlaflose Nächte und Angst vor der Zukunft. Tausend neue Fragen tauchen in diesem Augenblick auf. Wie soll ich das Leben dieses Amos kennen lernen? Wie soll ich das alles miterleben? Schließlich ist ja schon alles Vergangenheit. Wer soll mir etwas beibringen?

Fragen, Fragen, Fragen, endlos.

Ich möchte noch etwas sagen. Einfach noch einen kleinen Zweifel anbringen. Die Echtheit dessen, was die Frau hinter mir behauptet, die mich um Unmögliches bittet, in Frage stellen. Aber sie ist nicht mehr da. Die Hand auf meiner Schulter ist weg, und der Sonnenstrahl, grell und störend, ist verschwunden. Die Kirche ist kühl, still und leer.

Ich springe aus der Bank, renne zum Portal, reiße es auf und stoße mit einem Franziskanermönch zusammen. Italienisch werde ich ausgeschimpft. Egal. Gehetzt blicke ich nach allen Seiten, eine alte oder ältere Frau ist nirgendwo zu sehen. Ich glaube, ich habe auch nicht erwartet, eine zu finden.

Kann ich jetzt mit beruhigender Gewissheit behaupten, es waren alles Halluzinationen? So realistisch, so „live“?

Ich habe den ganzen Tag in der Sonne verbracht, ohne Kappe, Mütze oder Hut, man ist ja eitel. Genau, das wird die Ursache sein. Dann die kühle Kirche, die Stille, die Andacht, die Atmosphäre, die dieser Ort ausströmte. All das hat mich wohl in einen Albtraum gestürzt. Gott als Frau. Irre, wenn ich das jemandem erzähle.

Erleichterung macht sich breit. Tagträume, denke ich jetzt.

Zuviel Religion, zuviel Amos, zu schwer sind die Eindrücke der letzten Zeit.

Gegenüber der Kirche stehen Bänke, und ich lasse mich beruhigt und erleichtert auf einer nieder, strecke die Beine aus, entspanne mich. Ich grinse, weil ich daran denken muss, wie meine Frau wohl reagiert, wenn ich ihr das erzähle. Lieber nicht.

Jetzt scheint alles wieder klar, den richtigen Rhythmus habe ich jetzt wieder gefunden. Doch es bleibt ein kleiner Rest Zweifel. Es bleibt ein unbestimmtes „es könnte doch sein“.

Entschlossen stehe ich auf und gehe wieder in die Kirche zurück. Ich setze mich bewusst in eine andere Ecke, in der ich nicht von der durch das Portal einfallenden Sonne geblendet werden kann. Leute kommen und gehen. Jeden nehme ich scharf unter die Lupe. Doch es bleibt still, die Frau taucht nicht mehr auf. Rein gar nichts geschieht.

Nur schemenhaft laufen die Ereignisse des heutigen Tages noch einmal an mir vorbei. Während der Fahrt vom Kibbuz in Richtung Jerusalem hatte ich versucht, in der Bibel Amos zu lesen. Nur leider musste ich der durchwachten Nacht Tribut zollen. Schon als ich die Völkersprüche las, verschwammen die Buchstaben vor meinen Augen, die Bibel sank aus meinem Blickfeld, und von Zeit zu Zeit schlief ich tatsächlich für Bruchteile von Sekunden fest ein. Aber der erste Schlaf seit 24 Stunden war mir nicht gegönnt und so hatte die Fahrt keinesfalls etwas von Erholung an sich. Immer wieder wurde ich aufgeschreckt. Einmal war es eine Unebenheit der Straße, ein andermal war es das Anschwellen der Lautstärke im Bus, die sich durch ein Ereignis draußen, durch eine Bemerkung oder sonst etwas, drastisch verstärkte. Es war mir nicht vergönnt, tief und fest zu schlafen, und ich konnte noch nicht einmal jemandem einen Vorwurf machen außer mir selbst, der sich einfach den falschen Zeitpunkt für so etwas ausgesucht hatte.

Zwischendurch erhaschte ich einen Blick und ein mitleidiges Lächeln von Katharina, die fünf oder sechs Reihen vor mir frisch und munter schien.

Mit einem Jubel wurde Jerusalem begrüßt, als es in Sichtweite auftauchte. Ich setzte mich auf und war hellwach. Aber wir sahen nur die neuen Trabantenstädte, die wie ein Ring um das alte Jerusalem angelegt sind. Neumodische Betonberge und Abhänge. Architektonische Versuche, Leute in Kreisen anzusiedeln, die Jerusalem und die dort lebenden Palästinenser total einschnüren. Letztes offenes Tor in diesem Ring war die Straße in Richtung Bethlehem.

Unser Bus aber fuhr eine andere Strecke.

Erstes und einziges, was ich von der berühmten und von mir ersehnten Stadt sah, war die Altstadtmauer und das Herodestor. Dann standen wir auch schon in dem Innenhof, in dem der Eingang zu unserem Hotel lag.

Zimmerverteilung!

Frisch machen!

Zwei Stunden später ging es weiter.

Der Bus fuhr hoch auf den Scorpusberg. Hier blieben ein paar Minuten Zeit, den wundervollen Ausblick auf die heilige Stadt zu genießen.

Aber schon stand die Weiterfahrt auf den Ölberg an.

Ab hier jagte ich von einer Enttäuschung in die nächste.

Eine Gruppe schien die andere zu jagen. Alles Volk der Erde wollte von überall etwas mitnehmen und vor allem die Reiseroute genauestens abhaken. Denn ohne Fassbares, so schien es mir, kein Glaube. Überall Menschenmassen, Hektik, Lärm und Kommerz.

Alles ging Schlag auf Schlag.

Ölberg runter.

Zur Paternosterkirche bitte rechts.

Hier lang zum Mariengrab.

Dort zur Klagemauer.

Ein bisschen Felsendom vielleicht?

Wie, Sie waren noch nicht in der Grabeskirche?

Eine Dornenkrone gefällig? Ganz aus Plastik, keine Verletzungsgefahr, mit Gummizug, universal einsetzbar.

Und so ging es weiter und weiter und ...

So heilig und begehrenswert mir Jerusalem bisher immer erschienen war, so ernüchtert bin ich heute.

Als ich in Israel ankam, erhoffte ich vielleicht zuviel. Als ich in Jerusalem ankam, noch mehr.

Was ist mir geblieben?

Zuerst sah ich heute eine Masse Menschen an so genannten heiligen Orten. Doch von Gott habe ich nichts gespürt. Ich sah die Zinnen und Türme der heiligen Stadt, hörte ihre Glocken, Hörner und Muezzins. Doch von Gott habe ich nichts gespürt. Ich hastete durch Basare, Wohnviertel, die Sehenswürdigkeiten, durch die Hektik der Gläubigen, durch die Sucht nach Geld und Geschäft und habe von Gott nichts gespürt.

Jetzt sitze ich hier ernüchtert in der Annenkirche am Teich Betesda und frage mich, was ich da eben erlebt habe.

Winfried, ein Mitglied unserer Reisegruppe, stößt mich an. Es ist wieder mal Zeit zum Aufbruch und man hat mich schon gesucht. Nur ungern verlasse ich diesen Ort. Aber vielleicht ist es besser so.

Vor Tekoa

Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben bei denen, die noch später kommen werden.

(Kohelet 1,11)

Gegen vier Uhr morgens fuhren wir noch sehr verschlafen vom Hotel aus durch Vororte Jerusalems in Richtung Süden. Ich hatte mich auf der letzten Bank des Busses in die linke Fensterecke gekuschelt und starrte in die Dunkelheit. Nur gelb-orange Laternen warfen von Zeit zu Zeit ein gespenstisches Licht auf verlassene Häuserfassaden.

Im Bus war es still. Gespräche fanden – wenn - nur geflüstert statt. Es ruckte und rumpelte, und ich konnte trotz dieser Schaukelei nur mühsam die Augen offen halten.

Erst in der Nähe von Bethlehem wurde ich aufmerksamer. Ich glaube hier standen mehr Laternen, und dadurch herrschte kälteres Licht.

Der Bus wurde langsamer, als wir uns den israelischen Kontrollstellen näherten. Wir brauchten nicht zu halten, sondern schoben uns im Zickzack durch Absperrungen hindurch. Ab und zu sah ich einen schwer bewaffneten israelischen Soldaten im Augenwinkel. Doch ehe ich genauer hinsehen konnte, war der Spuk auch schon vorbei.

Noch immer in langsamem Tempo rollte der Bus jetzt an einem garagenähnlichen Gebäude vorbei, auf dem an einer langen schlanken Stange die palästinensische Flagge schlaff hinunter hing. Absperrungen sah ich hier keine, auch kein Licht in dem Gebäude, nicht einmal einen Wachsoldaten. Im Gegensatz zu dem grellen israelischen Wachposten wirkte hier alles düsterer, verschlafener.

Als der Bus wieder schneller fuhr, kehrte auch meine Müdigkeit zurück. Die Fahrt durch Bethlehem erlebte ich fast wie in einem Schwebezustand. Zwischen festem Schlaf und hellem Wachsein glitt ich dahin, um in wachen Augenblicken irgendeinen kleinen Ausschnitt der menschenleeren Bethlehemer Häuserfassaden zu erhaschen und in Halbschlafphasen zu spüren, wie mein Kopf ein Eigenleben entwickelte und je nach Schlagloch und Seitenneigung des Busses nach rechts oder links pendelte.

Dass wir den autonomen Bereich Bethlehems verließen, konnte ich nur an der etwas langsameren Fahrweise des Busses feststellen.

Hinter Bethlehem in südlicher Richtung auf Bersheba zu wurde es dann plötzlich rabenschwarz. Die Dunkelheit war hier vollkommen. Diesen Eindruck konnten auch vereinzelte Laternen nicht schmälern.

Dann hielt der Bus.

Im Scheinwerferlicht war ein mit dicken Steinen übersäter, nicht asphaltierter Parkplatz zu sehen.

Ich torkelte aus der Tür und stieß mit jemandem zusammen, der mir mit seiner Taschenlampe mitten ins Gesicht leuchtete und sich entschuldigte. Unser Guide hielt zum Sammeln seine Taschenlampe hoch und bat uns, nicht zu stolpern oder zu fallen, sondern vorsichtig zu sein und sich bei ihm einzufinden.

Als der Bus mit seinen starren Lichtkegeln verschwunden war, um uns irgendwo südlich am Ausgang eines Wadis auf einem wahrscheinlich ähnlichen Parkplatz zu erwarten, hatte ich es endlich geschafft, in meinem Rucksack meine Taschenlampe und meine Wasserflasche zu finden.

Der Halbschlaf im klimatisierten Bus hatte meine Kehle ausgetrocknet, und die paar Schlucke halbwarmen Wassers erzeugten in mir ein Gefühl, das jemand haben muss, der nach stundenlangem Dürsten endlich eine frische Quelle findet. Ein Gefühl der Frische, aber auch der Erleichterung. Mit nach hinten gelegtem Kopf genoss ich dieses Gefühl und bemerkte dabei nicht zum ersten Mal, seit ich vor zwei Tagen in Israel angekommen war, den sternenübersäten Himmel, der sich über mir ausbreitete. Während um mich herum die Lichtkegel der Taschenlampen über den Boden - teilweise wie Betrunkene - hin und her wankten, genoss ich für einen kurzen Moment diese Licht überflutete Unendlichkeit über mir. Im Nu war dieser Augenblick der Ewigkeit vorüber, als mich jemand aufforderte mitzukommen, damit ich im Dunkeln den Anschluss an die Reisegruppe nicht verlöre. Unwillig ließ ich mich aus dem sternenübersäten Morgenhimmel auf die mit schwankenden Lichtkegeln übersäte Erde zurückholen. Wortlos reihte ich mich in die Schlange schemenhafter Schatten vor mir ein, mit einem Gefühl des Bedauerns, den Himmel verlassen zu müssen.

Mehr stolpernd als gehend gelangten wir auf einen mit losen Steinen überschütteten Pfad, der leicht abwärts führte. Die Gegend rechts und links lag noch in völliger Dunkelheit, und trotzdem war irgendwo schon ein Hauch von Morgenhelle zu spüren.