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In 'Eine Untersuchung über den Staat' widmet sich die Autorin Edith Stein einer detaillierten Analyse des Staates und seiner Funktion innerhalb der Gesellschaft. Stein untersucht die Rolle des Staates in Bezug auf individuelle Freiheit, soziale Verantwortung und ethische Grundsätze. Ihr literarischer Stil ist von einer klaren und präzisen Argumentation geprägt, die auf philosophischen und soziologischen Theorien basiert. Das Buch hebt sich durch seine scharfsinnigen Einsichten und die tiefe intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Thema hervor, was es zu einem wichtigen Beitrag zur politischen Literatur macht. Edith Steins Werk ist stark vom Gedankengut der Phänomenologie und der christlichen Ethik geprägt. Als jüdische Konvertitin zum Christentum und Philosophin bringt sie eine einzigartige Perspektive in die Diskussion über den Staat ein. Ihre Erfahrungen als Frau in einer von Männern dominierten akademischen Welt haben ihre Arbeit geprägt und ihre Analyse des Staates bereichert. 'Eine Untersuchung über den Staat' ist ein anspruchsvolles Werk, das sowohl für Studierende der Politikwissenschaft als auch für philosophisch interessierte Leserinnen und Leser von großem Interesse ist. Es fordert die Leser dazu auf, über die Grundlagen des Staates und die ethischen Prinzipien, die ihm zugrunde liegen, nachzudenken und bietet somit eine fundierte Grundlage für Diskussionen über Gerechtigkeit und Gemeinwohl.
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Seitenzahl: 213
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Die Staatstheorien verschiedenster Richtung nehmen ihren Ausgang davon, daß der Staat eine Form der Sozietät ist. In der Tat wird es sich als ein undurchstreichbares Moment in seiner Struktur erweisen, daß Subjekte in ihm leben und in seinem Aufbau ganz bestimmte Funktionen haben. Darum ist es ein möglicher Zugangsweg, wenn man diese Struktur durchschauen will, zunächst die prinzipiell möglichen Formen des Zusammenlebens der Subjekte im Staat zu untersuchen. Ob damit eine erschöpfende Charakteristik dessen, was Staat als solcher ist, erreicht werden kann, bleibt abzuwarten. Es darf keinesfalls vorausgesetzt werden.
Die möglichen Typen des Zusammenlebens von Subjekten herauszuarbeiten, haben wir an anderer Stelle versucht, und wir können an die gewonnenen Ergebnisse hier anknüpfen. – Den niedersten sozialen Typus bezeichneten wir als Masse, und wir fanden es für dieselbe charakteristisch, daß die ihr zugehörigen Individuen sich wechselseitig beeinflussen, ohne von dem Einfluß, den sie ausüben oder leiden, etwas zu wissen und ohne ihr Verhalten, das vermöge der wechselseitigen Beeinflussung ein gleichartiges sein mag, als gemeinsames zu erleben. Die Masse besteht immer nur, solange die sie konstituierenden Individuen in aktueller Berührung sind, und zerfällt, sobald diese Berührung aufhört. Es gibt hier keine das Zusammensein überdauernde Organisation und überhaupt keine von den Individuen abgelöste, objektiv gewordene Form des Zusammenseins. Solche objektiven Formen – Staatseinrichtungen in einem weitesten Sinne – finden wir überall, wo wir von Staaten sprechen, und sofern sie durch die Struktur des Staates, wo nicht als notwendig, so doch mindestens als prinzipiell möglich vorgezeichnet sind, kann die Masse nicht die typische Form des Zusammenlebens im Staat sein. Das schließt natürlich nicht aus, daß sich die Individuen innerhalb eines Staates vielfach in Massen zusammenfinden und daß das für seine faktische Gestaltung von ausschlaggebender Bedeutung werden kann. Der Struktur des Staates als solchen kann man von dieser Seite in keiner Weise näher kommen. – Noch unter einem anderen Aspekt läßt sich das plausibel machen: Man pflegt den Staat gern als Person zu bezeichnen, und das scheint darauf hinzuweisen, daß wir seinen Ort im Reiche des Geistes zu suchen haben – im Aufbau der Massen dagegen haben wir keine geistigen Funktionen entdecken können. Im Gegensatz dazu fanden wir die Gemeinschaft spezifisch im Geistigen begründet und auch sonst durch das ausgezeichnet, was der Masse fehlt: die Individuen leben in ihr gemeinsam »miteinander« in einem strengen Sinn; keines geht – wie die in der Masse lebenden Individuen – in seinem eigenen Erleben auf, sondern hat die anderen als Gefährten seines Lebens mitgegeben und fühlt sich als Glied der Gemeinschaft, die ihrerseits Subjekt eines Eigenlebens ist. Im Gemeinschaftsleben bilden sich feste Formen aus, deren Ausfüllung von verschiedenen Individuen nacheinander übernommen werden kann. Wir haben also hier eine von den Individuen selbst unterschiedene »Organisation« und scheinen der Staatlichkeit damit näher gekommen zu sein. Ehe wir jedoch an die Frage herangehen, ob wir im Staat einen Spezialfall von Gemeinschaftsorganisation vor uns haben und was ihn von Formen anderer gemeinschaftlicher Organisation unterscheidet, wollen wir zu Vergleichszwecken den dritten Haupttypus der Sozialität heranziehen: die Gesellschaft. Die Besonderheit der Gesellschaft sehen wir darin, daß in ihr – im Gegensatz zur Gemeinschaft – die Individuen wohl füreinander Objekt, aber eben Objekte und nicht wie in der Gemeinschaft mitlebende Subjekte sind. Das ist allerdings cum grano salis zu verstehen, sofern es sich nicht um Objekte schlechthin, sondern um objektivierte Subjekte handelt und diese Objektivierung das schlichte als Subjekt-Nehmen, wie es der Gemeinschaftseinstellung eigentümlich ist, voraussetzt. So läßt sich die Gesellschaft als rationale Umformung der Gemeinschaft auffassen. Was sich im naiven Zusammenleben »von selbst« ergibt, das wird im gesellschaftlichen Leben durch klar bewußte Willkürakte ins Dasein gerufen. Die Gemeinschaft erwächst, die Gesellschaft wird gegründet. Gemeinschaftsformen bilden sich heraus, Gesellschaftsformen werden geschaffen. –
Es ist nun die Frage, welcher Form der Sozialität wir die staatliche Organisation zuzuweisen haben. Es will mir scheinen, daß es sich nicht um ein Entweder-Oder handelt. Freilich wer – wie die herrschende europäische Staatslehre – der Vertragsauffassung huldigt, d. h. den Staat als auf einen Vertrag der ihm angehörigen Individuen gegründet ansieht, der hat unsere Frage zugunsten der Gesellschaft entschieden; denn er nimmt eine rein rationale Entstehung, eine Schöpfung kraft eines Willküraktes an. Aber diese Theorie geht über klare Phänomene der Staatenbildung und des Staatslebens hinweg, die sich ihrem Schema keineswegs fügen. Wenn ein Erobererstamm mit einem unterworfenen Volk in einem Staatswesen verschmilzt (wie in allen germanisch-romanischen Staaten), so kann oder braucht doch von einem Vertrag zwischen den heterogenen Elementen, die sich dem neuen Staatswesen einordnen, keine Rede zu sein. Die Sieger übernehmen kraft ihrer Überlegenheit, die als ein reines Gemeinschaftsverhältnis denkbar ist, ohne jeden formellen Akt der Unterwerfung seitens der Besiegten und ohne formelle Besitzergreifung, wie sie für eine gesellschaftliche Gründung erforderlich wäre, die führende Rolle und alle Rechte und Funktionen, die ihnen belieben. Andere überlassen sie den Unterjochten, wiederum ganz naiv, ohne sich die Abgrenzung zur rationalen Klarheit zu bringen und in Willkürakten als Recht zu setzen. Auf dieselbe »naive« Art können bestehende Rechtsformen und staatliche Einrichtungen auf dem Wege des Eingewöhnens übernommen und zu Bestandteilen des erwachsenden Staatsgebildes werden. – Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit des Eingreifens rationaler Erwägungen und willkürlicher Vereinbarungen bzw. einseitiger Festsetzungen. Doch scheint es, daß solche Willkürakte für die Begründung und Fortentwicklung von Staaten nur dann Bedeutung haben, wenn sie bestehenden Gemeinschaftsverhältnissen Rechnung tragen und sie gleichsam nur sanktionieren. Das bedarf freilich noch näherer Erwägung. Zunächst halten wir fest: Staaten können sowohl auf gemeinschaftlicher wie auf gesellschaftlicher Grundlage ruhen. Die nähere Untersuchung dürfte zeigen, daß es sich um gesellschaftliche Organisation immer erst auf einer höheren Stufe staatlicher Entwicklung handelt (d. h. das Gegenteil dessen, was die Vertragstheorie – als Ursprungshypothese verstanden – lehrt).
Noch eine Möglichkeit ist zu erwägen: ob nicht die Individuen im Staat leben können, ohne miteinander in Verbindung zu treten. Diese Möglichkeit kommt jedoch erst in Betracht, wenn man mit der Auffassung bricht, die im Staat eine Form des Zusammenlebens sieht, und ihn als etwas Darüber-Hinaus-Liegendes zu Gesicht bekommen hat. Wir verschieben die Erörterung hierüber darum, bis sich für uns dieser Durchbruch als notwendig erwiesen hat.
Vorläufig halten wir uns an die durch die empirische Anschauung illustrierte Möglichkeit, daß sich Staaten auf der Grundlage eines Gemeinschaftslebens erheben können, und fragen nach der Eigentümlichkeit der staatlichen Gemeinschaft – d. h. der Gemeinschaft der im Staat lebenden Individuen – gegenüber anderen Gemeinschaften.
Gemeinschaften differenzieren sich einmal nach der Zahl der Individuen, die sie umfassen, sodann nach der Art, wie sie in den sie fundierenden Individuen verankert sind; schließlich nach dem Verhältnis, in dem sie zu anderen – ihnen gleich-, neben- oder untergeordneten – Gemeinschaften stehen. Fangen wir mit dem letzten Punkt an. Es gibt niederste Gemeinschaften in dem Sinne, daß sie keine andern mehr in sich befassen und auf keinen anderen aufgebaut sind: das sind Familie im engsten Sinne des Wortes und Freundschaftsverhältnis. Sie können von größeren Gemeinschaften (Sippe, Volk, Religionsgemeinschaft u. dgl.) umfaßt, evtl. auch durchschnitten werden. Es ist dann möglich, daß die besondere Ausgestaltung der jeweils engeren Gemeinschaften weitgehend von der Struktur der umfassenden beeinflußt wird. Doch bleibt unbeschadet dieses Einflusses ihr Charakter als Familie, als Freundschaftsbund unangetastet. Es ist für diesen Charakter prinzipiell gleichgültig, ob eine Einordnung in umfassende Gemeinschaften stattfindet oder nicht. – Als Gegenpol dieser engsten Gemeinschaften ist die eine allumfassende Gemeinschaft aller geistigen Individuen anzusehen. Ihr sind alle anderen Gemeinschaften eingeordnet, während sie keine mehr über sich hat. Ihre jeweilige Ausgestaltung ist von der Art und Zahl und der mannigfaltigen Wechselbeziehung der ihr eingeordneten Gemeinschaften abhängig. Insofern als das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu dieser allumfassenden Gemeinschaft je nach dem Geist der engeren Gemeinschaften und der Beschaffenheit der ihnen angehörigen Individuen ein mehr oder weniger ausgebildetes und die Stellungnahme zu ihr verschieden sein kann. Aber ungeachtet dieser Schwankungen besteht jene oberste Gemeinschaft, gleichgültig, welche anderen ihr eingeordnet sind: sie besteht in jeder engeren Gemeinschaft als ihre Grundlage und besteht über alle engeren hinaus als ihre potenzielle Erweiterung, die jederzeit aktuell werden kann. – Auf der Linie zwischen diesen beiden Polen liegt die staatliche Gemeinschaft. Sie umfaßt andere und wird ihrerseits von anderen umfaßt. Während aber die bisher besprochenen Gemeinschaften durch den Einfluß der ihnen unter- oder übergeordneten Gemeinschaften in ihrem spezifischen Charakter nicht berührt wurden, gibt es hier eine Grenze für die Bedingtheit durch andere Gemeinschaften, die nicht überschritten werden darf, wenn der Charakter der Staatlichkeit nicht aufgehoben werden soll. Aristoteles will von der Staatlichkeit dort sprechen, wo »eine Anzahl von Personen sich zu einer Lebensgemeinschaft zusammengeschlossen hat, um ein sich selbst genügendes Ganzes zu bilden …« Was uns an dieser Stelle in unserem Zusammenhang interessiert, ist die Bestimmung der Selbstgenügsamkeit (»Autarkie«). Sie weist nach derselben Richtung, in der wir das Spezifikum der staatlichen Gemeinschaft suchten. Sie läßt sich nicht rein intern, durch das Verhältnis der ihr zugehörigen Individuen zueinander und zu dem sie umfassenden Ganzen bestimmen, sondern es ist ihr eigentümlich, daß sie nach außen abgegrenzt und sichergestellt sein muß, um in sich bestimmt zu sein. Das, was Aristoteles mit seiner Autarkie meint, können wir wohl am besten interpretieren mit dem modernen Begriff der Souveränität – wenn auch beide, wie sich noch herausstellen wird, nicht gleichzusetzen sind. Der
Staat muß sein eigener Herr sein; die Formen des staatlichen Lebens dürfen ihm durch keine außer ihm stehende Macht – sei es eine Einzelperson, sei es eine über-, neben- oder untergeordnete Gemeinschaft – vorgeschrieben werden. Wenn von zwei Staaten – also ursprünglich nebeneinander geordneten Gemeinschaftsgebilden – der eine in die Lage kommt, in die Organisation des anderen einzugreifen und ihm Gesetze vorzuschreiben (sei es kraft militärischer oder wirtschaftlicher Überlegenheit oder wie immer), so ist die Souveränität des zweiten und damit seine Existenz als Staat aufgehoben; er ist dem anderen als Annex angegliedert, evtl. mit ihm zu einem neuen Staatsganzen verschmolzen. – Nehmen wir an, die allumfassende Gemeinschaft der Geister wäre derart organisiert, daß sie den ihr eingeordneten Gemeinschaften keine Gesetzlichkeit aus eigener Machtvollkommenheit mehr gestattete, so wäre damit die Möglichkeit einer Staatenbildung, bzw. es wären alle Einzelstaaten zugunsten eines Universalstaates aufgehoben. – Denken wir uns schließlich, daß dem Staate eingeordnete Gemeinschaften – Familienverbände, Parteien, Berufsgenossenschaften u. dgl. – die Möglichkeit hätten, die staatliche Organisation von sich aus zu durchbrechen und nach ihrer Eigengesetzlichkeit umzumodeln, so wäre der Staat von innen aufgelöst, durch Anarchie ersetzt. Diese letzteren Verhältnisse geben uns noch weitere Aufschlüsse über die Souveränität und ihre konstitutive Bedeutung für den Staat als unsere anfänglichen Bestimmungen. Es gehört zum Staat unaufhebbar, daß seine Aktionen und seine Gesetze ihm selbst und keiner unter, neben oder über ihm stehenden Gemeinschaft entspringen; daß prinzipiell alles in seinem Bereich geltende Recht auf ihn zurückzuführen ist (in welchem Sinne das gilt, wird sogleich näher zu erörtern sein), und alle Akte des Ganzen müssen in ihm selbst ihren letzten Auslaufspunkt haben. Und es gehört ferner dazu, daß es in ihm eine das Staatsganze repräsentierende Macht gibt, die der Urheber seiner Organisation und aller ihrer Umbildungen ist und für die Beobachtung der staatlichen Formen durch alle zu diesem Staat in irgendwelcher Beziehung stehenden Individuen Sorge trägt. Wenn man gesagt hat, daß das Wesen des Staates Macht sei, so sehen wir jetzt, welchen guten Sinn dieser viel mißbrauchte Satz hat. Er ist richtig, wofern man unter Macht die Fähigkeit versteht, die Eigengesetzlichkeit des Staates aufrechtzuerhalten. Welche Form diese postulierte Macht, die das Staatsganze repräsentieren soll, annimmt – ob eine Einzelperson ihr Träger ist, oder das ganze Volk oder eine Volksvertretung und ob die verschiedenen ihr zugehörigen Funktionen (»Legislative«, »Exekutive«) in einer Hand vereint oder getrennt sind – das ist für die Unverletztheit des Staates als solchen gleichgültig. Wenn man einer bestimmten Staatsform den Vorzug gegeben hat, so geschah es nicht auf Grund einer klaren Erkenntnis dessen, was der Staat seiner ontischen Struktur nach ist, sondern vom Standpunkt eines Staatsideals aus. Ein solches Staatsideal läßt sich aber seinerseits nicht frei konstruieren, sondern Sinn und Möglichkeit desselben sind nur auf Grund der Erkenntnis dessen, was ein Staat überhaupt ist, abzusehen.
Wir müssen nun untersuchen, in welchem Sinne der Staat bzw. die ihn repräsentierende Staatsgewalt letzter Urheber aller seiner Aktionen sowie alles in ihm geltenden Rechtes sein muß. Was das erstere anbelangt, so bedeutet es, daß der Staat Befehlsgewalt innerhalb seines Herrschaftsbereichs hat und seinerseits keiner anderen Befehlsgewalt untersteht. Er kann Personen, die zu seinem Herrschaftsbereich gehören, die Weisung geben, dieses oder jenes als Einzelperson oder auch in seinem Namen zu tun. »Er kann« – d. h. es steht ihm das Recht zu und insofern hängen Befehlsgewalt und rechtliche Initiative (in später zu klärender Weise) zusammen. Er kann sich dazu hergeben, im Auftrage von Personen und Verbänden, die zu seinem Herrschaftsbereich gehören, oder auch im Auftrag anderer Staaten, etwas zu unternehmen. Aber er tut dies kraft freien Entschlusses, und niemandem steht ein Recht zu, es von ihm zu verlangen, sofern es ihm nicht von dem sich damit selbst bindenden Staate eingeräumt wird. Solche Verbindlichkeiten im einzelnen auf sich zu nehmen, tut der Souveränität keinen Abbruch. Würde dagegen der Staat eine Befehlsgewalt über sich anerkennen, so wäre das Preisgabe der Souveränität und damit Selbstvernichtung. In analoger Weise kann es im Staat tatsächlich mannigfache Rechtsordnungen geben, die nicht von ihm ausgegangen sind. Aber sie sind nur in Kraft, sofern sie von ihm geduldet werden. Prinzipiell kann er jede außer Kraft setzen und alle Organisation innerhalb seines Gebietes in die Hand nehmen. Wenn er das nicht tut, wenn er anderes als von ihm gesetztes Recht in seinem Bereich gelten läßt und evtl. eingeordneten Verbänden oder auch Individuen ausdrücklich das Recht zugesteht, Recht zu setzen, so ist das eine Selbsteinschränkung und als solche keine Aufhebung der Souveränität. Ebenso liegt eine Selbsteinschränkung vor, wenn der Staat das sog. Völkerrecht anerkennt, d. h. sich in seinem Verhalten zu anderen Staaten an gewisse Formen bindet. Eine Aufhebung der Souveränität liegt nur dann vor, wenn die Staatsgewalt, das Organ der Selbstgestaltung, durch einen anderen als den staatlichen Willen eingeschränkt wird. In dem Augenblick, wo über allen gegenwärtig bestehenden Staaten sich eine Gewalt etablierte, die von sich aus ihrer Selbstgestaltung Grenzen setzte, wären sie ihrer Souveränität entkleidet. Damit wären sie aber zugleich als Einzelstaaten aufgehoben und der übergreifenden Organisation des einen Universalstaates eingegliedert. Die Etablierung einer Staatsgewalt ist ein Akt, durch den sie sich selbst setzt. Ob der in dieser Selbstsetzung begründete Anspruch, daß innerhalb des von ihr mit Beschlag belegten Gebietes allein das von ihr gesetzte und sanktionierte Recht gelten soll, erfüllt wird und der Staat faktisch ins Dasein tritt, hängt davon ab, ob er von den betreffenden Individuen anerkannt bzw. nicht angefochten wird. Ob diese Anerkennung oder Duldung ohne weiteres erfolgt, oder ob Mittel angewendet werden müssen, um die Individuen dazu zu bestimmen, das ist gleichgültig. Faktisch wird jede Staatsgewalt immer irgendwelcher Hilfsmittel bedürfen, um sich in den Sattel zu setzen und im Sattel zu halten. Welcher Art diese Hilfsmittel sind, das ist wieder nicht von prinzipieller Bedeutung. Wenn von zwei Gemeinwesen (wie Reich und Gliedstaat) eines einen Teil seiner Angelegenheiten von sich aus regelt, im übrigen aber an die Initiative des anderen gebunden ist, so wird die Frage auftauchen, welches von beiden der souveräne Staat ist. Die Entscheidung richtet sich darnach, von wessen Willen die Abgrenzung abhängt. Hat ein Staat von sich aus ein anderes Gemeinwesen mit einem Teil seiner Rechte und der Befehlsgewalt in seinem Machtbereich beauftragt – und zwar in der Form, daß er selbst diesen Auftrag von sich aus erweitern, einschränken und auch ganz annullieren kann, während ohne seine Mitwirkung nichts von alledem geschehen kann, – so bleibt er souveräner Staat und wird kein Teil des anderen Gemeinwesens. Dessen Herrschaftssphäre erstreckt sich nicht auf sein Gebiet, und es muß ein anderes Gebiet haben, wenn es überhaupt als Staat anerkannt werden soll. Hat dagegen ein Staat in der Form auf einen Teil seiner Funktionen verzichtet (gleichgültig ob stillschweigend oder ausdrücklich), daß es nicht in seiner Hand liegt, sie wieder zu übernehmen, und daß es Sache des anderen ist, was ihm überlassen bleibt, so hat er als Staat aufgehört zu existieren, evtl. in aller Form sich selbst ein Ende gemacht. Sein Herrschaftsbereich ist in andere Hände übergegangen. Die Tatsache, daß dem früher staatlich organisierten Gemeinwesen ein Teil seiner Funktionen geblieben ist, ändert daran nichts. – Können die beiden innerhalb einer Herrschaftssphäre mit staatlichen Funktionen betrauten Faktoren die Verteilung dieser Funktionen nur gemeinsam ändern, wie sie sie gemeinsam angeordnet haben, so ist die Frage nach dem Träger der Souveränität besonders schwierig. Jeden für sich als souverän zu betrachten geht ebenso wenig an, wie einem die Souveränität zuzusprechen. Nehmen wir, um konkreter sprechen zu können, als Beispiel das Deutsche Reich und seine Gliedstaaten, so ist – falls keines das Recht der einseitigen Kompetenzveränderung hat – keines souveräner Staat. Wären die Einzelstaaten souverän und hätten sich nur kraft eigenen Rechtes gewisser Funktionen zugunsten des Reiches entäußert, so wäre dieses als ihr Mandatar anzusehen und nicht als Staat. Hätte umgekehrt das Reich freie Verfügung über die Verteilung der Funktionen, so wäre es Staat und die so genannten Gliedstaaten mit staatlichen Funktionen betraute Gemeinwesen. Können nur Reich und Gliedstaaten gemeinsam die Verteilung der Funktionen ändern, so ist das in bestimmter Weise gegliederte Reich Träger der Souveränität. Es liegt hier eine innere Bindung vor, ähnlich wie bei einem Staate, der seine Verfassung für unabänderlich erklärt. Ein Unterschied zwischen beiden Fällen besteht noch insofern, als in einem Falle ein bestehender Staat sich selbst festlegt, im anderen dagegen ein Staat aus anderen entsteht und schon im Entstehen sich bindet, d. h. mit dieser Bindung ins Dasein tritt. Das Reich nimmt im Moment seines Entstehens die zu seinen Gunsten abdizierenden Staaten in sich auf. Sie abdizieren nur für einen Teil ihrer Funktionen, und diese Abdikation ist die Voraussetzung, die die Setzung des Reiches möglich macht. Nach außen hin ist die Souveränität ganz klar und zweifelsfrei. Aber ihr Träger ist in seiner Kompliziertheit »incredibile quoddam et monstro simile«, wie von Pufendorf das alte Reich genannt hat. Und diese Monstrosität ist ein Anreiz zum Rechtsbruch, durch den sich eine »normaler« gestaltete Staatsgewalt als souverän konstituieren könnte: das an keine bestimmte Struktur mehr gebundene Reich oder wiederum die ursprünglichen Staaten. – Wenn zwei verschiedene sich selbst setzende Staatsgewalten auf denselben Herrschaftsbereich Anspruch erheben – das wäre z. B. der Fall, wenn Reich und Gliedstaaten sich beide für sich als souveräne Staaten konstituieren wollten –, so entsteht ein Zustand der Schwebe, da die Erfüllung des einen Anspruchs die des anderen ausschließt. Welcher von beiden die realen Verhältnisse sich fügen, die erweist damit ihre staatliche Existenz. Solange der Kampfzustand andauert und keine sich durchzusetzen vermag, ist die strittige Herrschaftssphäre nicht als Staat anzusprechen. – Die Existenz des Staates ist also daran gebunden, daß eine Staatsgewalt durch sich selbst konstituiert und daß sie anerkannt ist bzw. Mittel besitzt, um ihre Anerkennung durchzusetzen und Übertretungen ihres Rechts zu ahnden. Als Souveränität bezeichnen wir die Eigentümlichkeit der Staatsgewalt, daß sie das alleinige Verfügungsrecht über ihre Herrschaftssphäre besitzt und dieses Recht nur selbst zugunsten anderer Gewalten einschränken kann. Wir können also der Theorie nicht zustimmen, welche die Souveränität als ein Prädikat der Staatsgewalt ansieht, das ihr zukommen kann oder auch nicht. Es hat keinen Sinn, von nicht-souveränen Staaten zu sprechen. Das ist vielmehr nur ein umschreibender Ausdruck für ein Gemeinwesen, dem ein Staat einen Teil seiner Funktionen übertragen oder überlassen hat und das eventuell zuvor ein Staat gewesen sein mag.
Eine abschließende Charakteristik der Souveränität ist mit den bisherigen Untersuchungen noch nicht erreicht. Das Gewonnene wird vertieft werden, wenn wir die Zusammenhänge von Staat und Recht untersuchen. Vorläufig fahren wir damit fort, die staatliche Gemeinschaft zu charakterisieren, und stellen zunächst eine Reihe von Konsequenzen fest, die sich dafür aus der Äquivalenz von Staatlichkeit und Souveränität ergeben: indem wir von einem Äquivalenzverhältnis sprechen, geben wir zu verstehen, daß keiner anderen als der staatlichen Gemeinschaft Souveränität wesentlich zukommt. Sie können wohl die Freiheit haben, sich selbst zu gestalten (z. B. die Kirche), aber sie werden in ihrem spezifischen Charakter nicht berührt, wenn ihnen diese Freiheit (etwa der Kirche durch den Staat) entzogen wird. Wir können auch sagen: die in ihrem Wesen gründenden Verhältnisse und Beziehungen gestatten wohl eine Sanktionierung durch Gesetze (d. h. durch ein positives Recht), aber sie fordern sie nicht. Und mit der Gleichgültigkeit gegen irgendwelche positiv-rechtliche Regulierung überhaupt ergibt sich die Gleichgültigkeit dagegen, ob die Gesetzlichkeit, wo sie vorhanden ist, ihren Ursprung dem Gemeinwesen selbst verdankt, dessen Leben sie regelt, oder einer außerhalb stehenden Macht.
Des weiteren ergibt sich aus der Äquivalenz von Staatlichkeit und Souveränität die Trennbarkeit von Staatsgemeinschaft und Volksgemeinschaft, die man vielfach für notwendig aneinandergebunden, wo nicht gar für identisch gehalten hat. Sie wird trennbar zunächst in dem Sinn, daß die Volksgemeinschaft fortbestehen kann, wenn die Souveränität und damit die Staatlichkeit aufgehoben ist. Das Volk kann in der Eigentümlichkeit seines Gemeinschaftslebens unberührt bleiben, wenn es durch eine äußere Macht der Möglichkeit beraubt wird, nach eigenen Gesetzen zu leben (Beispiel: die Zerstörung des polnischen Staates hat den Fortbestand des polnischen Volkes nicht aufgehoben; es ist sogar vielleicht danach in höherem Grade Nation geworden, als es vorher war). Das müßte noch weiter erleuchtet werden durch eine Untersuchung der besonderen Eigentümlichkeit der Volksgemeinschaft als solcher. Doch wenden wir uns zuvor noch der anderen Seite der aufgeworfenen Frage zu: ob eine staatliche Gemeinschaft auch fortbestehen kann bei Aufhebung der Volksgemeinschaft. Das kann noch einen doppelten Sinn haben: 1. Muß sich der Staat auf eine einheitliche Volksgemeinschaft aufbauen oder ist ein Staat denkbar, der eine Mehrheit in sich abgeschlossener und voneinander abgegrenzter Volkseinheiten umfaßt? 2. Ist ein Staat möglich, der überhaupt keine Volksgemeinschaft zur Grundlage hat? Die erste Frage ist dahin zu beantworten, daß die Existenzmöglichkeit des Staates nicht an die Volkseinheit gebunden ist. Der Nationalstaat oder Volksstaat ist eine besondere Spielart des Staates, aber nicht der Staat schlechthin. Es ist sehr wohl möglich, daß eine Reihe verschiedener Volksgemeinschaften durch eine sie alle als umfassendes Staatsganzes repräsentierende Macht vereint werden, die ihr Leben nach gewissen Richtungen gleichmäßig oder auch verschiedenartig regelt, ohne sie in ihrem Volkstum anzutasten. – Schwieriger zu entscheiden ist die zweite Frage: ob der Staat überhaupt eine Volksgemeinschaft als Grundlage fordert. Daß die ihm angehörigen Individuen eine Gemeinschaft bilden, haben wir schon früher festgestellt. Sehr in unserem Sinne sagt Aristoteles, die φιλία mehr noch als die Gerechtigkeit halte die Staaten zusammen und die Rechtlichkeit allein – ohne jene – vermöchte es nicht. Die Bedeutung von φιλία ist in dem Zusammenhang, dem diese Stelle entnommen ist, zweifellos sehr schwankend. Aber eine Grundbedeutung, die überall intendiert ist, ist die des Gemeinschaftbewußtseins. Irgendeine Art von Gemeinschaft wird auch innerhalb des volklich nicht geeinten Staatsganzen alle ihm angehörigen Individuen umschließen. Dies ist allerdings nicht als ein Constituens des Staates als solchen anzusehen, d. h. es ist durch seine ontische Struktur nicht notwendig gefordert. Diese verlangt nur einen Bereich von Personen als zum Bestande des Staates gehörig und ein bestimmt geartetes Verhältnis dieser Personen zum Staatsganzen (das noch näher zu erörtern sein wird), dagegen läßt sie es offen, wie die Personen zueinander stehen mögen. Nicht aus der Struktur des Staates, sondern aus der Struktur geistiger Personen ist es verständlich zu machen, daß – wie wir es bereits andeuteten – ein konkretes Staatsgebilde auf der Grundlage einer bestehenden Gemeinschaft erwächst und andererseits ein Band der Gemeinschaft um die von ihm umfaßten Personen schlingt; ferner, daß diese Gemeinschaftsbeziehungen erforderlich sind, um die Existenz eines Staates sicherzustellen. Die staatliche Gemeinschaft braucht – darauf kommt es an dieser Stelle an – keine Volksgemeinschaft zu sein. Ob dort, wo nicht mehrere Volksgemeinschaften dem Staatsganzen zugrunde liegen, der Verband der Individuen speziell eine Volksgemeinschaft sein muß, das werden wir erst entscheiden können, wenn wir die Untersuchung dessen, was Volksgemeinschaft ist, durchgeführt haben.
Von den engeren Gemeinschaften, die wir früher berührten – Familie und Freundeskreis – unterscheidet sich das Volk dadurch, daß dort ganz bestimmte Individuen das Fundament der Gemeinschaft bilden, daß sie mit ihrem vollen persönlichen Bestande in das Gemeinschaftsleben eingehen und daß sie alle miteinander in persönliche Berührung treten. (Diese Bestimmungen treffen freilich nur zu, wenn man Familie und Freundeskreis im engsten Sinne des Wortes nimmt und nicht alle im Verhältnis der Blutsverwandtschaft stehenden Individuen als eine Familie, alle zu einer Person in freundschaftlichen Beziehungen stehenden Individuen als einen Freundeskreis auffaßt. Unter Familie ist hier nur die auf eheliche Gemeinschaft bzw. auf Blutsverwandtschaft begründete aktuelle Lebensgemeinschaft zu verstehen, unter einem Freundeskreis die aktuelle Lebensgemeinschaft von zwei oder mehr Personen, die rein durch eine in der persönlichen Eigenart wurzelnde gegenseitige Anziehung verbunden sind. Faßt man Familien- und Freundesgemeinschaft so, dann ist es gegen die angegebenen Bestimmungen kein Einwand, wenn man auf die unleugbare Tatsache hinweist, daß weder Familienangehörige, noch Freunde einander immer vollkommen »verstehen«. Solche mehr oder minder weitgehende Fremdheit bzw. Entfremdung ist zwar allgemein festzustellen, aber sie stellt allemal eine Durchbrechung der betreffenden Gemeinschaft dar und ändert nichts daran, daß ihrer Intention