Welt und Person - Beitrag zum christlichen Wahrheitsstreben - Edith Stein - E-Book

Welt und Person - Beitrag zum christlichen Wahrheitsstreben E-Book

Edith Stein

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Beschreibung

Dieses eBook: "Welt und Person - Beitrag zum christlichen Wahrheitsstreben" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Inhalt: Die weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie Husserls Phänomenologie Gegensatz zwischen Husserl und Scheler Das Weltbild der drei Philosophen Natur und Übernatur in Goethes Faust Einfluß auf das Weltbild der Zeit Zwei Betrachtungen zu Edmund Husserl Die Seelenburg Martin Heideggers Existentialphilosophie Wiedergabe des Gedankenganges Die vorbereitende Analyse des Daseins Dasein und Zeitlichkeit Was ist das Dasein? Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik Aus dem Buch: "Der Katholik hat es verhältnismäßig leicht damit, weil seine Glaubenslehre ihm ein geschlossenes Weltbild gibt. Aber auch dieses Erbgut muß man sich erwerben, persönlich aneignen, um es zu besitzen. Wer das tut und sich sein Weltbild rein auf Grund der Glaubenslehre gestaltet, von dem kann man sagen, daß er eine religiöse Weltanschauung habe. Wer außerhalb der Kirche steht oder zwar in ihr aufgewachsen ist, aber es unterlassen hat, sich ihr Weltbild persönlich anzueignen und gar nicht ahnt, was ihm in seinem Glaubensgut gegeben ist, der hat es schwerer, denn er muß sich erst danach umtun, aus welchen Quellen er seine Weltanschauung schöpfen soll." Edith Stein (1891-1942), war eine deutsche Philosophin und Frauenrechtlerin jüdischer Herkunft, die 1922 zur katholischen Kirche konvertierte und 1933 Unbeschuhte Karmelitin wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde sie "als Jüdin und Christin" zum Opfer des Holocaust. Sie wird in der katholischen Kirche als Heilige und Märtyrin der Kirche verehrt. Teilen der evangelischen Kirche gilt sie als Glaubenszeugin. Papst Johannes Paul II. sprach Teresia Benedicta vom Kreuz am 1. Mai 1987 selig und am 11. Oktober 1998 heilig. Sie gilt als Brückenbauerin zwischen Christen und Juden.

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Edith Stein

Welt und Person - Beitrag zum christlichen Wahrheitsstreben

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-6615-2

Inhaltsverzeichnis

Die Weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie
Natur und Übernatur in Goethes „Faust“
Zwei Betrachtungen zu Edmund Husserl
Die Seelenburg
Martin Heideggers Existentialphilosophie
Die Ontische Struktur der Person und ihre Erkenntnistheoretische Problematik

Die Weltanschauliche Bedeutung der Phänomenologie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Weltanschauung und Philosophie

Das Thema setzt voraus, daß Phänomenologie nicht einfach Weltanschauung sei, stellt es zum mindesten in Frage, ob sie es sei, nimmt aber an, daß sie auch nicht ohne Einfluß auf die Weltanschauung des Phänomenologen selbst, vielleicht auch anderer Menschen sei. Um das Verhältnis von Phänomenologie und Weltanschauung zu untersuchen, muß man zunächst Klarheit haben, was unter beidem verstanden werden soll. Für die Phänomenologie läßt sich das nicht in kurzen Worten angeben, eher kann man das für Weltanschauung versuchen.

Man kann darunter ein geschlossenes Weltbild verstehen: einen Überblick über alles, was ist, die Ordnungen und Zusammenhänge, worin alles steht, vor allem über die Stellung des Menschen in der Welt, sein Woher? und Wohin? Ein Verlangen nach einer solchen Weltanschauung besteht in jedem geistig lebendigen Menschen; aber nicht jeder gelangt dazu, ja es bemüht sich nicht einmal jeder ernstlich darum.

Der Katholik hat es verhältnismäßig leicht damit, weil seine Glaubenslehre ihm ein geschlossenes Weltbild gibt. Aber auch dieses Erbgut muß man sich erwerben, persönlich aneignen, um es zu besitzen. Wer das tut und sich sein Weltbild rein auf Grund der Glaubenslehre gestaltet, von dem kann man sagen, daß er eine religiöse Weltanschauung habe. Wer außerhalb der Kirche steht oder zwar in ihr aufgewachsen ist, aber es unterlassen hat, sich ihr Weltbild persönlich anzueignen und gar nicht ahnt, was ihm in seinem Glaubensgut gegeben ist, der hat es schwerer, denn er muß sich erst danach umtun, aus welchen Quellen er seine Weltanschauung schöpfen soll.

In den letzten Jahrzehnten, ja eigentlich schon seit der Aufklärungszeit, war es in den Kreisen der sogenannten Gebildeten der höchste Ehrgeiz eine wissenschaftliche Weltanschauung zu besitzen. Was darunter zu verstehen ist, haben sich diejenigen, die darauf Anspruch erhoben, wohl nicht recht klargemacht, sonst hätte es ihnen fraglich werden müssen, ob es so etwas überhaupt geben könne. Wenn die Weltanschauung auf den Charakter der Wissenschaftlichkeit berechtigten Anspruch erheben wollte, so müßte sie entweder selbst Wissenschaft sein oder aus einer Wissenschaft stammen oder aus allen Wissenschaften zusammen. Es gibt aber nicht eine neben den andern, die das gesamte Weltall zu erforschen hätte. Es ist vielmehr wesentlich für die Wissenschaft als solche, daß sie sich in Einzelwissenschaften zur Erforschung einzelner Gegenstandsgebiete verzweigt und sich um so mehr spezialisiert, je wissenschaftlicher sie wird. Es kann also keine einzelne Wissenschaft ein geschlossenes Weltbild geben und die wissenschaftliche Weltanschauung kann demnach weder selbst eine Wissenschaft sein, noch aus einer Wissenschaft ihr Weltbild entnehmen. Wenn also die wissenschaftliche Weltanschauung überhaupt darauf Anspruch erhebt, ein geschlossenes Weltbild zu geben, so wird sie dafür aus allen Wissenschaften Bausteine zusammentragen müssen.

So ist es auch tatsächlich im allgemeinen aufgefaßt worden. Entweder hat der Einzelne aus dem, was ihm an Material, sei es durch eigene wissenschaftliche Arbeit oder aus populären Darstellungen aus verschiedenen Wissensgebieten, zur Verfügung stand, sich ein Weltbild zusammengesetzt, oder man hat diese Aufgabe der Philosophie zugewiesen: die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu sammeln und daraus ein Weltbild zu konstruieren. Es muß aber gesagt werden, daß weder auf die eine noch auf die andere Weise eine wissenschaftliche Weltanschauung zustandekommen kann. Wenn der Naturwissenschaftler über das kleine Gebiet hinausgeht, das er übersieht und wirklich beherrscht, und sich eine naturwissenschaftliche Weltanschauung bildet, so heißt das, daß er weitgehend ohne tragfähige Grundlage ein Gebäude mit seiner Phantasie konstruiert. Und selbst, wenn man aus allen Gebieten das zusammenträgt, was der jeweilige Stand der Wissenschaft an Ergebnissen liefern kann, ist alles Stückwerk, und das Ganze, wenn es nicht nach einem voraus entworfenen Grundriß zusammengefügt wird, ein Mosaik aus unzusammenhängenden Stücken.

So hat sich auch die Philosophie, je mehr sie selbst den Anspruch erhob, als Wissenschaft zu gelten, gegen diese Aufgabe gewehrt. Die säkularisierte Philosophie, die vom Glauben losgelöste, wie sie sich seit der Renaissance außerhalb der Kirche entwickelt hat, mußte, sobald sie einmal an sich selbst Kritik geübt, d.h. sich auf ihre Grenzen und ihr eigentliches Geschäft besonnen hatte – also seit Kant – ihre Aufgabe in etwas ganz anderem sehen: nicht die Ergebnisse der Wissenschaften zu sammeln, sondern die Voraussetzungen der einzelnen Wissenschaften zu prüfen, sie damit auf eine feste Grundlage zu stellen und damit erst eigentlich zu Wissenschaften zu machen. Die kritische Philosophie hat es darum entschieden abgelehnt, eine Weltanschauung zu liefern, und unter ihrer Herrschaft ist dieses Wort überhaupt in Mißkredit gekommen. Danach hätten also Philosophie und Weltanschauung nichts miteinander zu tun und es wäre auch von der Phänomenologie, wenn sie wissenschaftliche Philosophie sein soll, nichts für die Weltanschauung zu erwarten? Das wäre ein voreiliger Schluß.

Einmal wäre es ja möglich, daß die Philosophie nach eigenem Verfahren einen Grundriß entwürfe, in dem die Ergebnisse der Einzelwissenschaften einzubauen wären.

Außerdem müssen wir aber noch einen zweiten Sinn von Weltanschauung in Betracht ziehen: nicht jeder Mensch hat ein geschlossenes Weltbild, aber jeder hat eine bestimmte Art, die Welt anzuschauen: der Landmann sieht sie anders an als der Großstädter, der Praktiker anders als der Theoretiker, der Philosoph anders als der positive Wissenschaftler. Was und wie der Mensch vorwiegend geistig tätig ist, davon wird seine ganze Weltauffassung bestimmt. Darum wird auch die besondere philosophische Richtung, die jemand vertritt, nicht ohne Bedeutung für seine Weltanschauung sein. Der mittelalterliche Philosoph, für den Philosophie und Theologie nahe zusammenhingen, dessen Forschungsgebiet die Gegenstände des Glaubens mitumfaßte, sah auch auf Schritt und Tritt in der Welt die Tatsachen, die auf die Zusammenhänge von Geschöpfen und Schöpfer, Bedingtem und Unbedingtem hinweisen. Der Materialist, der überzeugt ist, daß es keine geistige Realität gibt, bleibt auch in seiner Auffassung der Welt vorwiegend an materiellen Dingen und Vorgängen hängen. Und der Kritizist, der die Frage zu lösen sucht, wie Erkenntnis möglich sei, Erkenntnis überhaupt und Erkenntnis dieses oder jenes Gebiets, wird leicht blind für die Tatsachen, für die ihm der Rechtsnachweis nicht zu erbringen zu sein scheint.

Doch nicht nur für den Philosophen selbst bedeutet die Art seines philosophischen Denkens eine Formung seiner ganzen Einstellung zur Welt: die jeweils herrschende Philosophie bestimmt den Zeitgeist, d.h. die Denk- und Auffassungsweise auch derer, die nicht selbst Philosophen sind, ja nicht einmal die Werke der schöpferischen Philosophen selbst lesen, sondern nur durch eine mehrfache Vermittlung von ihren Auswirkungen erreicht werden.

So werden wir die Frage nach der weltanschaulichen Bedeutung der Phänomenologie in dem doppelten Sinn zu stellen haben: 1. Kann sie ein geschlossenes Weltbild liefern oder uns zum Bau eines solchen verhelfen? 2. Wie kann sie auf die gesamte Weltauffassung wirken und hat sie auf den Geist unserer Zeit gewirkt?

I. WAS IST PHÄNOMENOLOGIE?

a) Historisches

Zunächst aber muß klargelegt werden, was unter Phänomenologie zu verstehen ist. Es soll dabei keineswegs auf alle Bedeutungen eingegangen werden, die dem Wort in philosophischen Systemen früherer Zeiten schon beigelegt wurden. Wer heute davon spricht, meint damit eine einflußreiche philosophische Richtung unserer Zeit, die vor rund 30 Jahren begründet wurde – vor 10-15 Jahren hätte ich unbedenklich gesagt: von Edmund Husserl begründet wurde, und zwar durch seine Logischen Untersuchungen, die in 1. Auflage 1900/1901 erschienen sind. Und ich hätte mich wohl damit begnügt, Husserls Phänomenologie zu charakterisieren. Heute hat sich aber die Sachlage verändert: für weite Kreise der philosophisch Interressierten tritt Husserls Name fast zurück hinter dem Max Schelers und Martin Heideggers, die auf diese weiten Kreise, aber auch auf viele Philosophen von Fach viel faszinierender gewirkt haben, als es die nüchtern-strenge Forscherart Husserls vermochte.

Um die rein geschichtlichen Tatsachen festzustellen: der Name Phänomenologie ist von Husserl für die philosophische Methode gewählt worden, die er sich in vieljähriger harter Gedankenarbeit errungen hat und die in seinen Logischen Untersuchungen zum ersten Mal in einer weithin wirksamen Form vor die Öffentlichkeit trat. In den Jahren, in denen er an diesem Werk arbeitete – den 12 Jahren, die er als Privatdozent in Halle lebte –, stand er in lebhaftem Verkehr mit Max Scheler, der damals in Jena war. Scheler hat immer Wert darauf gelegt, daß er nicht Husserls Schüler war, sondern selbständig die phänomenologische Methode gefunden habe und nur in dem Ergebnis mit Husserl zusammengetroffen sei. Er hat das sicher in ehrlichster Überzeugung gesagt. Aber wer die beiden Männer kennt – Husserl, der immer so tief in seine eigenen Gedankengänge hineingebohrt ist, daß er gar nicht davon loskommt, schwer von etwas anderem sprechen und noch schwerer fremde Anregungen aufnehmen kann, und Scheler, dessen ganzes Schaffen eigentlich ein impressionistisches war, der von Gehörtem und Gelesenem die stärksten Eindrücke und fruchtbarsten Anregungen empfing und so leicht auffaßte, daß er gar nicht merkte und selbst nicht wußte, woher ihm die Gedanken kamen –, der kann kaum einen Zweifel haben, wie es mit der Priorität steht.

Der Schülerkreis, der sich in Göttingen um Husserl sammelte, nachdem er dorthin berufen war, hat starke Einflüsse auch von Scheler empfangen; und auf diesen Einfluß führt es Husserl zum Teil zurück, daß die meisten seiner Göttinger Schüler ihm in seiner späteren Entwicklung nicht gefolgt sind. In Freiburg ist ihm seit 1918 Heidegger, der in anderer Schule ausgebildet war, nahegetreten, ist von ihm persönlich in die phänomenologische Methode eingeführt worden und beherrscht sie heute mit Meisterschaft; aber in entscheidenden prinzipiellen Fragen – Fragen, auf die beide den größten Wert legen – hat auch er sich von Husserl getrennt. Heidegger hat in den letzten Jahren einen ähnlich starken Einfluß nicht nur in den Kreisen der Fachphilosophen, sondern der geistig stark Bewegten und Empfänglichen überhaupt gewonnen, wie ihn Scheler in der Kriegszeit und Nachkriegszeit hatte.

Wenn man heute van Phänomenologie und von ihrer weltanschaulichen Bedeutung sprechen will, kann man an diesen beiden Männern unmöglich vorbeigehen (mag man sich schon entschließen, die andern bedeutenden Forscher phänomenologischer Richtung beiseite zu lassen). So stehe ich vor der eigentlich unmöglichen Aufgabe, die drei verschiedenen Richtungen, die mit diesem Namen bezeichnet sind, in knappem Rahmen zu kennzeichnen. Ich will es mit dem Ausweg versuchen, daß ich Husserls Phänomenologie in einigen Grundzügen skizziere und angebe, an welchen Punkten die beiden andern Philosophen sich von ihm unterscheiden.

b) Husserls Phänomenologie

Ich habe beständig von phänomenologischer Methode gesprochen. Darin kommt zum Ausdruck, daß es Husserl von Anfang an nicht darum zu tun war, ein philosophisches System aufzustellen, wie es die meisten seiner großen Vorgänger getan haben, d.h. einen geschlossenen Gedankenbau, in dem für jede philosophische Frage eine Antwort zu finden ist. Er hat seine wissenschaftliche Laufbahn gar nicht als Philosoph, sondern als Mathematiker begonnen. Weil er aber ein geborener Philosoph war, konnte er nicht wie der „normale“ Mathematiker mit den Begriffen und Methoden der Mathematik einfach arbeiten, sondern stieß darin auf Schwierigkeiten und Unklarheiten. Die innere Nötigung, sich mit diesen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, machte ihn zum Philosophen, und so begann seine philosophische Laufbahn mit einer Philosophie der Mathematik.

Bei diesen Studien machte er die Entdeckung, daß zwischen formaler Mathematik und formaler Logik sehr nahe Zusammenhänge bestehen. So wurde er zur Beschäftigung mit logischen Fragen geführt. Dabei erlebte er die Überraschung, daß dieses Gebiet, das seit den bewundernswerten Leistungen des Aristoteles für so gut wie abgeschlossen galt, in seinem ganzen Charakter noch umstritten und ungeklärt war und eine Fülle ungeklärter Einzelprobleme barg.

In dem I. Band seiner Logischen Untersuchungen hielt er Abrechnung mit der damals herrschenden psychologistischen Auffassung der Logik und charakterisierte die Logik mit überzeugender Kraft als ein Gebiet objektiv bestehender Wahrheiten, das formale Grundgerüst aller objektiven Wahrheit und Wissenschaft.

Im II. Band wandte er sich der Betrachtung einiger grundlegender Einzelprobleme zu. Die Methode zur Behandlung dieser Probleme hat er sich erst während der Untersuchung selbst ausgebildet. Dabei machte er die Entdeckung, daß diese Methode nicht nur zur Behandlung logischer, sondern aller philosophischen Fragen überhaupt geeignet sei, und mehr und mehr befestigte sich in ihm die Überzeugung, daß es die Methode sei, die allein zu einer wissenschaftlichen Behandlung der Philosophie führen könne. Dieser Überzeugung hat er zuerst Ausdruck gegeben in dem Logos-Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft (1911). Damit hatte er sich auf die freie Höhe der universellen philosophischen Problematik durchgerungen. Die zusammenhängende ausführliche Darstellung seiner Methode brachten die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913). Eine Fortführung in wichtigen Punkten bringen die Cartesianischen Meditationen.

Einen wichtigen Punkt zur Charakteristik der Phänomenologie habe ich schon hervorgehoben: sie ist nach Husserls Auffassung nicht unterschieden von Philosophie überhaupt, da sie die Möglichkeit gibt, alle philosophischen Fragen in Angriff zu nehmen, und sie ist im Gebiet streng wissenschaftlicher Forschung, in dem keine subjektive Willkür eine Stelle hat, ein unendliches Forschungsgebiet wie jede Wissenschaft, so daß ein Forscher dem andern, eine Generation der andern die Hand reichen muß, wenn die nötige Arbeit fortschreitend geleistet werden soll. Ihre Aufgabe ist es, alles wissenschaftliche Verfahren, wie es von den positiven Wissenschaften geübt wird, aber auch alle vorwissenschaftliche Erfahrung, auf die das wissenschaftliche Verfahren aufbaut, ja alle Geistestätigkeit überhaupt, die auf Vernunft Anspruch erhebt, auf eine sichere Grundlage zu stellen. Die vorwissenschaftliche Erfahrung aber und die positiven Wissenschaften arbeiten mit gewissen Grundbegriffen und Grundsätzen, die sie ungeprüft setzen. Die Philosophie muß all das, was anderwärts als selbstverständlich vorausgesetzt wird, zum Gegenstand der Untersuchung machen.

Die Logischen Untersuchungen haben diese Arbeit für gewisse logische Grundbegriffe in Angriff genommen. Die I. Untersuchung handelt von Ausdruck und Bedeutung, ein Problem, das für die Logik und Sprachphilosophie, aber auch für manche andern Gebiete von Wichtigkeit ist. In einer für die phänomenologische Methode charakteristischen Weise geht sie aus von dem Sinn der Worte, scheidet sorgfältig die verschiedenen Bedeutungen, die den Worten sprachüblich zukommen, und dringt durch die Herausstellung eines präzisen Wortsinns allmählich zu den Sachen selbst vor: das ist ein Schritt, der sich notwendig ergibt, weil wir Wortbedeutungen nur präzis abgrenzen können, indem wir uns die Sachen selbst, die mit den Worten gemeint sind, zu klarer anschaulicher Gegebenheit bringen. Die Sachen selbst aber, die durch den Sinn der Worte getroffen werden sollen, sind nicht einzelne Dinge der Erfahrung, sondern wie der Wortsinn selbst etwas Allgemeines: die Idee oder das Wesen der Dinge. Dementsprechend ist die Anschauung, die uns solche Sachen zur Gegebenheit bringt, nicht sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung, sondern ein geistiger Akt eigener Art, den Husserl als Wesensanschauung oder Intuition bezeichnet hat.

Es leuchtet ein, daß ein analoges Verfahren, wie es hier auf ein logisches Problem angewandt wurde, für die Untersuchung der Grundbegriffe aller Wissenschaften sowie für die des täglichen Lebens verwendet werden kann. Die Physik arbeitet mit Begriffen wie Materie, Kraft, Raum, Zeit, aber was der eigentliche Sinn dieser Namen ist, untersucht sie nicht. Die Geschichte handelt von Personen, Völkern, Staaten, Verträgen usw., aber was eine Person, ein Staat, ein Volk usw., ist, das setzt sie als bekannt voraus. All das aber sind Themen für große und schwierige philosophische Untersuchungen, und die phänomenologische Methode hat an ihnen schon ihre Fruchtbarkeit bewiesen und dadurch auf den Betrieb der entsprechenden Wissenschaften einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt: denn wenn das Wesen der Gegenstände, mit denen es eine Wissenschaft zu tun hat, geklärt ist, kann man das Verfahren, das darin geübt wird, nachprüfen, ob es sachentsprechend ist und wirklich darauf ausgeht, das Wesentliche des entsprechenden Gebiets herauszuarbeiten. Besonders von der Psychologie und den Geisteswissenschaften muß man sagen, daß sie unter dem Einfluß der Phänomenologie in den letzten Jahrzehnten eine gründliche Umwandlung erfahren haben.

Nun sind gerade die genannten Wissenschaften solche, die sich mit Lebenswirklichkeiten beschäftigen, mit Dingen, auf die wir im praktischen Leben beständig stoßen und die darum auch dem Nicht-Theoretiker wichtig und interessant sind. Wenn die Phänomenologie einen Weg erschlossen hat, dem Wesen dieser Dinge auf die Spur zu kommen, so mußte sie viel stärker als die vor ihr herrschenden philosophischen Richtungen weite Laienkreise anziehen. Und darum konnte sie einen starken Einfluß auf den Zeitgeist ausüben.

Von den verschiedenen Richtungen des Neukantianismus oder Kritizismus unterschied sich die Phänomenologie dadurch, daß sie sich nicht an den Methoden der Einzelwissenschaften, sondern an den Sachen selbst orientierte (um in ihnen die Methoden zu messen): darum hat man die Wandlung, die sie herbeiführte, als Wende zum Objekt bezeichnet. Gegenüber dem Empirismus, der sich auf bloße sinnliche Erfahrung stützen will, war sie als Wesenswissenschaft ausgezeichnet und durch beides erschien sie als eine Rückkehr zu den ältesten Traditionen: Plato - Aristoteles - Scholastik. Die Neuscholastik aber stieß sich an der Wesensintuition, deren Geltung sie nicht anerkennen wollte.

In den bisher genannten Punkten – Wende zum Objekt und Wesensforschung – stimmten Scheler und Husserls Göttinger Schülerkreis durchaus mit ihm überein. Wenn wir verstehen wollen, wo sich ihre Wege scheiden, müssen wir Husserls weitere Entwicklung verfolgen.

c) Gegensatz zwischen Husserl und Scheler

Ich sagte, daß ihm in der Arbeit an logischen Einzelproblemen die weit über dieses Gebiet hinausreichende Tragweite der verwandten Methode klar wurde. Das legte die Verpflichtung auf, diese Methode nun selbst auszubauen und auf eine feste Grundlage zu stellen. Die Phänomenologie sollte Grundwissenschaft werden. Wenn sie die Voraussetzungen aller anderen Wissenschaften und auch der vorwissenschaftlichen Erfahrung prüfen sollte, so durfte sie kein Ergebnis der positiven Wissenschaften als feststehend voraussetzen und auch von der Erfahrung nicht ohne weiteres Gebrauch machen.

Um einen absolut sicheren Ausgangspunkt zu finden, stellte Husserl eine ähnliche Zweifelsbetrachtung an wie vor ihm Augustin und Descartes: das, was ich denke, braucht nicht wahr zu sein, was ich wahrnehme, nicht wirklich zu existieren: alles kann sich als Irrtum, als Traum, als Täuschung herausstellen; aber an der Tatsache, daß ich denke, wahrnehme etc., kann ich nicht zweifeln, und ebensowenig daran, daß ich, der Denkende, Wahrnehmende, Zweifelnde bin. Hier habe ich unbezweifelbar, absolut gewisse Tatsachen. Das entscheidend Neue bei Husserl ist, daß er nicht bei der Tatsache eines einzelnen cogito stehenbleibt, sondern die ganze Domäne des Bewußtseins als ein Gebiet unzweifelhafter Gewißheit aufdeckt und der Phänomenologie als ihr Forschungsgebiet zuweist. Und da zu jedem Ich denke, Ich nehme wahr, Ich will usw. ein Gedachtes, Wahrgenommenes, Gewolltes als solches gehört, da das Phänomen des wahrgenommenen Baumes aber so unzweifelbar ist wie die Wahrnehmung selbst, mag auch der wahrgenommene Baum nicht existieren, gehört die ganze gegenständliche Welt, die das Ich in seinen Akten sich gegenüber hat, in das Forschungsgebiet der Phänomenologie mit hinein. Es wird gezeigt, daß das gesamte bewußte Ichleben in Wesensallgemeinheit untersucht werden kann, daß es feste Gesetze gibt, nach denen mit Notwendigkeit Akte an Akte sich reihen, und daß in solchen Aktzusammenhängen für das darin lebende Ich eine gegenständliche Welt sich aufbaut.

Diesen Aufbau der Welt für das Ich, das in seinen Akten lebt und sie reflektierend erforschen kann, nennt Husserl Konstitution. In der Untersuchung dessen, was er das transzendentale Bewußtsein nennt, d.h. jener Sphäre unbezweifelbaren Seins, das die radikale Zweifelsbetrachtung aufgedeckt hat, sieht er die Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie, in ihr selbst die philosophische Grundwissenschaft. Denn da für das reine Ich die gesamte gegenständliche Welt sich in seinen Akten aufbaut, kann nur die Analyse dieser konstituierenden Akte den Aufbau der gegenständlichen Welt letztlich klären, nur sie kann den eigentlichen Sinn von Erkenntnis, Erfahrung, Vernunft usw. herausstellen.

Die Aufdeckung der Bewußtseinssphäre und der Konstitutionsproblematik ist sicher ein großes Verdienst Husserls, das heute noch zu wenig gewürdigt wird. Was in seinem eigenen Freundes- und Schülerkreis Anstoß erregte, war eine – unseres Erachtens nicht notwendige – Folgerung, die er aus der Tatsache der Konstitution zog: wenn bestimmte geregelte Bewußtseinsverläufe notwendig dazu führen, daß dem Subjekt eine gegenständliche Welt zur Gegebenheit kommt, dann bedeutet gegenständliches Sein, z.B. die Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt, gar nichts anderes als Gegebensein für ein so und so geartetes Bewußtsein, näher: für eine Mehrheit von Subjekten, die miteinander in Wechselverständigung und Erfahrungsaustausch stehen. (Die Bedeutung intersubjektiver Verständigung für die Konstitution der Erfahrungswelt ist von Husserl erst in seiner letzten Schrift ausführlicher dargelegt worden.) Diese Deutung der Konstitution wird als sein transzendentaler Idealismus bezeichnet. Sie erschien als eine Rückkehr zum Kantianismus, als Preisgabe jener Wende zum Objekt, in der man Husserls großes Verdienst sah, und jener Ontologie, d.h. der Erforschung des Wesensbaus der gegenständlichen Welt, in der Scheler und die ihm nahestehenden Göttinger Husserlschüler ihre Aufgabe sahen und bereits fruchtbare Arbeit geleistet hatten: so haben sie sich an diesem Punkt von ihm getrennt, obwohl er ihre Forschungsart anerkennt und von seinem Standpunkt aus einzuordnen weiß.

Schelers großes Verdienst liegt auf den Gebieten der Ethik, Religionsphilosophie und philosophischen Soziologie. Hier hat er in rein objektiver Einstellung grundlegende Untersuchungen durchgeführt. Er tat es im Vertrauen auf die Kraft der Wesensintuition; diese selbst einer kritischen Analyse zu unterziehen, lag ihm fern – er hat am schärfsten von allen Phänomenologen gegen die kritische Einstellung als geistige Grundhaltung Stellung genommen. Das hing mit seiner religiösen Auffassung zusammen, die der Gotteswelt gegenüber auch für Philosophen den geraden, kindlich-offenen Blick verlangte. Es hing aber auch damit zusammen, daß er keine so strenge und nüchterne Forschernatur war wie Husserl und dessen Auffassung der Philosophie als strenge Wissenschaft auch theoretisch ablehnte. So ist es wohl begreiflich, daß er nicht nur den transzendentalen Idealismus ablehnte, sondern auch für die gesamte Konstitutionsproblematik kein Verständnis zeigte.

d) Gegensatz von Husserl und Heidegger

Um zu sehen, wo sich Heideggers Weg von dem Husserls scheidet, müssen wir die Darstellung der Husserlschen Phänomenologie noch in einem Punkt ergänzen. Bei der radikalen Zweifelsbetrachtung wird nicht nur die äußere Welt als bezweifelbar ausgeschaltet, auch das, was ich über mich selbst weiß, hält der Prüfung zum größten Teil nicht stand: was andere und was ich selbst von meinen Eigenschaften und Fähigkeiten denke, kann Irrtum sein, woran ich mich zu erinnern glaube, Täuschung. So behält Husserl als unbezweifelbar gewiß nur das übrig, was er reines Ich nennt: das pure Subjekt der Akte ohne alle menschlichen Eigenschaften. Die eigene Person mit ihren Eigenschaften, ihren Lebensschicksalen usw. gehört ebenso wie die andern Personen zu der Welt, die sich in bestimmten Akten des reinen Ich konstituiert.

Für Heidegger ist ähnlich wie für Scheler charakteristisch, daß es ihm offenbar in seinem Philosophieren darum zu tun ist, das Leben und die Stellung des Menschen im Leben zu verstehen. Er unterscheidet sich von Scheler und stimmt mit Husserl darin überein, daß er nicht in reiner Hingegebenheit an die Objekte und in Selbstvergessenheit ihr Wesen zu erforschen sucht, sondern daß er als philosophische Fundamentaldisziplindie Erforschung des Daseins ansieht, d.h. in der üblichen Sprechweise: des Ich oder Subjekts, das von allem andern, was ist, dadurch unterschieden ist, daß es für sich selbst da ist. Zum Dasein gehört es unaufhebbar, in der Welt zu sein. Nur von der Erforschung des Daseins aus ist nach dieser Auffassung der Sinn vom Sein und der Sinn von Welt zu erschließen, und von hier aus können die prinzipiellen philosophischen Fragen überhaupt erst in sachgemäßer Form gestellt werden.

Was hier Dasein genannt ist, das ist nicht Husserls reines Ich. Man könnte sagen: es ist der Mensch, wie er sich im Dasein vorfindet. Nur darf man unter Mensch nicht die Spezies verstehen, die in der empirischen Anthropologie erforscht wird, auch nicht den Menschen, wie ihn die Geschichte und die andern Geisteswissenschaften behandeln, sondern eben das ins Dasein Geworfene, das sich als ins Dasein Geworfenes vorfindet: es findet sich als ein zeitlich sich streckendes, das aus einer dunklen Vergangenheit kommt und einer Zukunft entgegenlebt, die es in gewissen Grenzen selbst entwerfen kann und muß, die aber doch letztlich auch ein Dunkles ist. Darum gehört nach Heidegger zu diesem Dasein, das aus dem Dunkel kommt und ins Dunkel hineingeht, unaufhebbar die Sorge. Das sind nur einige spärliche Andeutungen über die Seinsphilosophie Heideggers, die einer größeren Öffentlichkeit zuerst durch sein großes Werk Sein und Zeit bekannt geworden ist. Sie sollen noch ergänzt werden, wenn wir die weltanschauliche Bedeutung dieser Philosophie erwägen.

II. DIE WELTANSCHAULICHE BEDEUTUNG DER PHÄNOMENOLOGIE

I. MATERIALE BEDEUTUNG

Wir stellen nun zuerst die Frage: Gibt die Phänomenologie in dieser dreifachen Gestalt (Husserls transzendentale Phänomenologie, Schelers Realontologie, Heideggers Fundamentalontologie) ein Weltbild oder trägt sie wenigstens material zum Aufbau eines Weltbildes bei?

a) Das Weltbild der drei Philosophen

Wenn wir uns zunächst auf den Standpunkt der drei Philosophen selbst stellen, so muß man für Husserl zweifellos sagen, daß er durch seine Methode, ohne dies als Ziel zu verfolgen, tatsächlich zu einem geschlossenen Weltbild gekommen ist. Er kennt ein absolutes Sein, auf das alles andere zurückweist und von dem aus alles andere zu verstehen ist: eine Vielheit von Menschen, d.h. von Subjekten, von denen jedes in seinen Akten sich seine Welt aufbaut, die aber in Wechselverständigung stehen und im Austausch ihrer Erfahrungen eine intersubjektive Welt aufbauen. Alles, was außer diesen Monaden ist, ist durch ihre Akte konstituiert und auf sie relativ. Husserl versichert, daß er von seinem Standpunkt aus auch zu den höchsten Fragen der Ethik und Religionsphilosophie Zugang habe. Wir werden aber sagen müssen, daß vermöge der Absolutsetzung der Monaden für Gott – im Sinn unserer Gottesidee, die ihm allein absolutes Sein zuschreibt, ja ihn als das absolute Sein selbst setzt – kein Raum ist.

Schwerer ist es, bei Scheler ein einheitliches Weltbild festzustellen, weil er in seiner Entwicklung so große Schwankungen und Schwenkungen durchgemacht hat. Halten wir uns an die Werke, durch die er vor allem auf weitere Kreise gewirkt hat – seine materiale Wertethik, Das Ewige im Menschen und die gesammelten Abhandlungen und Aufsätze –, so wird man sagen dürfen, daß uns hier eine Gotteswelt gezeichnet ist, ein Weltbild, das in bewußter Anlehnung an das augustinische entworfen ist, aber auch mit dem thomistisch-scholastischen mehr Verwandtschaft hat als ihm selbst und seinen Gegnern aus den Reihen der Neuscholastik klar war. Es ist ein Stufenbau von Seinsregionen und ein Stufenbau von Werten, die zum höchsten Sein und zum höchsten Gut, zu Gott, emporführen. Unter den irdischen Werten kommt das höchste Sein und der höchste Wert der Person zu, und das Sein der Person vollendet sich in ihrem Verhältnis zu Gott. Darum steht unter den möglichen Typen endlicher Personen der am höchsten, der an der spezifisch göttlichen Wertqualität Anteil gewonnen hat: der Heilige. Es war die Tragik in Schelers Leben, daß ihm der Sinn für wissenschaftliche Strenge und Exaktheit abging. Alle seine Werke weisen Lücken, Unklarheiten, Widersprüche auf, die eine feste Begründung des Baus unmöglich machten, das Wertvolle daran für viele, mit denen er hätte zusammenarbeiten können, verdeckten und schließlich dahin führten, daß er selbst das Wesentlichste wieder preisgab.

Bei Heidegger erscheint es mir heute verfrüht, sein Weltbild zeichnen zu wollen. Die Zentralstellung des Daseins, die Betonung der Sorge als zu ihm wesenhaft gehörig, des Todes und des Nichts, sowie manche extreme Formulierungen weisen auf ein gott-loses, ja geradezu nihilistisches Weltbild hin. Aber es gibt auch Äußerungen, die es als möglich erscheinen lassen, daß einmal der Umschlag ins Gegenteil erfolgt und das in sich nichtige Dasein seinen Halt in einem absoluten Seinsgrund findet.

b) Einfluß auf das Weltbild der Zeit

Von dem Weltbild der Philosophen selbst ist zu unterscheiden, was andere durch ihren Einfluß für ihr Weltbild gewonnen haben. Und es läßt sich nicht leugnen, daß jeder von ihnen den Blick auf unbekannte oder unbeachtete Gebiete gelenkt hat. Bei Husserl ist es einmal das Gebiet des Wesentlichen und Notwendigen, das er neu erschlossen hat im Gegensatz zu dem Einmaligen und Zufälligen, an dem die gewöhnliche Erfahrung und Erfahrungswissenschaft hängen bleibt. Es ist nicht etwas absolut Neues, wenn wir an die großen Traditionen der antiken und mittelalterlichen Philosophie denken, aber etwas Neues gegenüber der modernen Weltanschauung, speziell dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden materialistischen und empiristischen Weltbild. Dazu kommt die Domäne des reinen Bewußtseins, die als ein Gebiet unendlicher, streng methodischer und fruchtbarer Forschungsarbeit wohl noch niemand vor ihm erkannt, geschweige denn herausgearbeitet hat.

Als Schelers Verdienst wird wohl dauernd der Hinweis auf die Welt der materialen Werte (des sinnlich Angenehmen, des Nützlichen, des Schönen, des Wahren, des sittlich Guten, des Heiligen) und ihre Bedeutung für den Aufbau der Persönlichkeit gelten. Insbesondere für die Werte der religiösen Sphäre und zwar in spezifisch katholischer Auffassung hat er vielen die Augen geöffnet. Ideen wie Tugend, Reue, Demut, für die in den Kreisen modernen Unglaubens jedes Verständnis entschwunden war, hat er für die Gebildeten unter ihren Verächtern wieder in ihrem ursprünglichen Sinn erschlossen. Es ist eine Dankespflicht gegenüber dem Toten, hervorzuheben, wie vielen er den Weg zu echtem katholischen Glauben geöffnet hat.

Das, wofür Heidegger den Blick geöffnet hat, ist das, was er In-der-Welt-sein des Ich nennt. Es klingt wie eine ganz banale Tatsache, aber welche zentrale Bedeutung dieser Tatsache zukommt, das ist wohl kaum je früher in dieser Schärfe herausgearbeitet worden. Der naive Realismus nimmt die Dinge so, wie sie dem Menschen vor Augen treten und setzt sie so absolut, ohne zu ahnen, wieviel von dem, was ihm vor Augen steht, durch die Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Welt bedingt ist: er vergißt sich selbst als Faktor im Aufbau seiner Welt. Der Idealist wird von der Entdeckung des Anteils, den das Subjekt im Aufbau der Welt hat, so gefesselt, daß er es absolut setzt und den Blick für die Abhängigkeiten, in denen es selbst steht, verliert. Es war eine eigene Aufgabe, auf das Dasein als In-der-Welt-sein, in dem wir uns vorfinden, hinzuweisen und es zum Gegenstand der Forschung zu machen.

So hat jeder der drei Forscher zu dem Weltbild unserer Zeit in entscheidender Weise beigetragen.

2. FORMALE BEDEUTUNG

Es gilt nun noch zu zeigen, ob und wie sie auf die Weltanschauung im formalen Sinn, d.h. auf die Art, in die Welt hineinzuschauen, gewirkt haben. Von Husserl muß man sagen, daß die Art, wie er auf die Sachen selbst hinlenkte und dazu erzog, sie in aller Schärfe geistig ins Auge zu fassen und nüchtern, treu und gewissenhaft zu beschreiben, von Willkür und Hoffart im Erkennen befreite, zu einer schlichten, sachgehorsamen und darin demütigen Erkenntnishaltung hinführte. Sie führte auch zu einer Befreiung von Vorurteilen, zu einer unbefangenen Bereitschaft, Einsichten entgegenzunehmen. Und diese Einstellung, zu der er bewußt erzog, hat viele von uns auch frei und unbefangen gemacht für die katholische Wahrheit, so daß eine ganze Reihe von seinen Schülern es ihm mitverdanken, wenn sie den Weg zur Kirche fanden, den er selbst nicht gefunden hat.

Scheler war es darum zu tun, anstelle des kritisch prüfenden Blicks (blinzelnden, wie er sagte) den geraden, offenen und vertrauensvollen Blick, besonders für die Welt der Werte, zu setzen. Bei vielen hat das gewiß befreiend und segensreich gewirkt, es ist aber früher schon erwähnt worden und soll auch an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß für ihn und für viele, die unter seinem Einfluß standen, etwas mehr Kritik gegenüber Anregungen von außen und dem eigenen Verfahren recht heilsam gewesen wäre.

Über die Art, wie Heidegger formal auf die Weltanschauung unserer Zeit wirkt, wage ich kaum heute schon ein Urteil abzugeben. Daß er seit einer Reihe von Jahren auf die studierende Jugend und auch auf reifere Menschen einen faszinierenden Einfluß ausübt, ist Tatsache. Daß sich das in der weltanschaulichen Haltung der Zeit auswirken muß, ist unzweifelhaft. Welcher Art diese Wirkung ist, kann ich tatsächlich nicht angeben. Sie kann zu tieferem Lebensernst hinführen, weil sie die entscheidenden Lebensfragen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hat. Ich könnte mir aber denken, daß durch die Art, wie das bisher geschehen ist, durch die alleinige Betonung der Hinfälligkeit des Daseins, des Dunkels vor ihm und nach ihm, der Sorge, eine pessimistische, ja nihilistische Auffassung gefördert und die Orientierung am absoluten Sein untergraben wird, mit der unser katholischer Glaube steht und fällt.

Schluß: KATHOLISCHE UND MODERNE WELTANSCHAUUNG

Darum möchte ich diesen allzu kurzen Überblick über eine tiefeinschneidende Geistesbewegung schließen mit dem Pauluswort: Prüfet alles und das Gute behaltet! Prüfen kann aber nur, wer einen Maßstab hat. Wir haben einen Maßstab an unserem Glauben und an dem reichen Erbe unserer großen katholischen Denker: unserer Kirchenväter und -lehrer. Wer sich das Weltbild und die Weltauffassung unserer Dogmatik und klassischen Philosophie ganz zu eigen gemacht hat, der wird ohne Gefahr sich mit den Forschungsergebnissen und -methoden moderner Denker auseinandersetzen und von ihnen lernen können. Ohne solche Vorbereitung könnte die Beschäftigung mit ihnen nicht als gefahrlos bezeichnet werden.

Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

Inhaltsverzeichnis

Die Goethe-Literatur dieses Jahres zeigt deutlich ein Ringen um eine klare Stellungnahme zu einem Geist, der wie wenige seine Zeit und die Nachwelt mitgeformt hat. Die Älteren fragen sich, was sie ihm von ihrer Bildung verdanken und welche Bedeutung für die Bildung der Jugend ihm heute noch zukommt. Drei Generationen unter den heute lebenden Katholiken zeigen eine deutlich unterschiedene Haltung.

Die Veteranen der Kulturkampfzeit neigen dazu, einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen. Ihre Aufgabe war es, Angriffe von außen abzuwehren, aber auch die Giftstoffe des Naturalismus und Rationalismus auszuscheiden, die sich in die eigenen Lebensadern der deutschen Katholiken eingeschlichen hatten. In ihren Aufgabenkreis gehört auch die Abwehr eines übertriebenen Goethekultes; sie fand ihren kraftvollsten Ausdruck wohl in A. Baumgartners großem Goethewerk.

Der Katholizismus der Kriegs- und Nachkriegszeit zeigte ein anderes Gesicht. Er war aus der Gefolgschaft gegenüber fremden Geistesrichtungen, aber auch aus einer rein negativen Abwehrhaltung ihnen gegenüber herausgetreten. Des unerschöpflichen Reichtums seiner Kirche froh bewußt, entdeckte er katholisches Geistesgut auch in andern Lagern und nahm es für sich in Anspruch. Diese Generation hat Goethe für sich entdeckt, sie wird nicht müde, auf immer neue katholische Werte in seinem Werk und in seiner Lebensgestaltung hinzuweisen. Sie stellt sich in den Dienst einer Goethe-Apologie nicht nur der älteren, sondern auch – und besonders – der jüngsten Generation gegenüber.

Denn die moderne Jugend, die Jugend von heute, soweit sie nicht in alte Traditionen naiv hineingewachsen ist, sondern aus einem neuen Geist lebt, weiß mit Goethe nicht mehr viel anzufangen. Was kann Menschen, die in hartem Existenzkampf stehen, ein Mann sagen, der solche Not niemals kennen gelernt hat, der sich den „Luxus“ leisten konnte, seiner Bildung zu leben und in Fragen der künstlerischen Form letzte Lebensfragen zu sehen? Das ist nun freilich eine recht oberflächliche Sicht, und man kann es wohl verstehen, wenn diese Haltung für die Älteren schmerzlich anzusehen ist und wenn sie sich mit aller Kraft dafür einsetzen, Werte zu erhalten, von denen sie wissen, daß sie für die Gegenwart und für die Zukunft noch eine Bedeutung haben. Und man kann es begreifen, wenn sie in diesem Bemühen manchmal über das Ziel hinausschiessen und Grenzlinien verwischen, die gezogen bleiben müssen. Der Jugend die Augen zu öffnen für die großen Schöpfungen des deutschen Geistes, Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür zu wecken, ist gewiß die erste Aufgabe. Dann aber zu klarer Stellungnahme zu kommen und zur Scheidung der Geister, das sind wir ihr ebenso sehr schuldig.

Im Dienste dieser Aufgabe möchte ich nun den Gedankenbau jenes Werkes, das man Goethes Summa genannt hat, in das Licht unseres Glaubens stellen.

I

Vor einigen Monaten sah ich in der Schweiz ein merkwürdiges Kirchengebäude: zwischen zwei frühgotischen Türmen eine Barockfassade, und demgemäß der Innenraum – zwei völlig verschiedene Organismen durcheinander gewachsen, sodaß man sich kaum ausdenken konnte, wie das Ganze entstanden sein mochte. An dieses Bauwerk mußte ich denken, als ich nicht lange danach wieder einmal die ganze Faustdichtung in einem Zuge durchlas. Auch hier haben wir einen doppelten Grundriß. Man kann versuchen, die beiden Bestandteile getrennt zu betrachten (nur den Grundriß, von allem Rankenwerk abgesehen), aber es wird nicht gelingen, die Trennung restlos durchzuführen, weil wir doch ein organisches Ganzes vor uns haben; und der Entstehungsprozeß ist ein geheimnisvoller. Wir wissen wohl, daß der junge Stürmer mit dem Barock- oder vielleicht richtiger Renaissancebau begann und daß der reife Meister die gotischen Türme und Mauern darum legte. Aber stand nicht der ganze gotische Dom der Volkssage, ehe das Originalgenie Hand ans Werk legte, und hat nicht der Geist, der den alten Dom baute, dem Meister bei der Vollendung seines Baus die Hand geführt?

Wie dem auch sei – wir versuchen es zuerst mit dem Mittelbau, dem Renaissance-Faust, den wir auch den Sturm- und Drang-Faust oder den neuzeitlichen Faust nennen können. Er ist es auch, der den modernen Menschen, den Menschen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bis zu der Zeitenwende, in der wir jetzt stehen, vorwiegend anzog und beschäftigte, in dem er sich selbst wiederfand: der Urfaust, der Faust der großen Monologe und der Gretchentragödie, der Mensch mit den zwei Seelen, die ihn zu zerreißen drohen. Ein „Herr Mikrokosmos“ ist dieser Mensch, eine kleine Welt für sich: so wie er sich selbst fühlt, völlig einsam, abgeschlossen, verloren, ein Solus ipse. Keine Brücke führt von ihm zu den Herdenmenschen, den in ihrem engen Bezirk Befriedigten, in denen nichts von dem verzehrenden Feuer lodert, das er in sich spürt. Und doch drängt es ihn zu ihnen hin wie zu allem, was außer ihm ist. Er möchte die Schranken durchbrechen, die ihn in seinem engen Selbst festhalten, während er sich doch als Teil des großen Ganzen fühlt, des Makrokosmos, des lebendigen All. Er möchte durchbrechen zu diesem All, sich selbst dazu erweitern. Er hat es versucht auf dem gewöhnlichen Weg der menschlichen Erkenntnis, er hat die ganze Schulweisheit durchmessen und sie hat ihm nichts gegeben. Sie tastet von außen an den Dingen herum und zerbröckelt sie. Zum geistigen Band dringt sie nicht vor. Sie kann ihm nicht sagen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sie führt ihn so wenig ins Herz der Natur wie in den Geist vergangener Zeiten.

So hat er den Weg der Magie beschritten und wird bis zur Berührung mit der Geisterwelt geführt, aber nur, um von ihr als einer ganz andern, ihm unfaßlichen, in sich selbst zurückgeschleudert zu werden. – Gibt es nicht noch einen Weg, aus sich selbst heraus- und in die große Geisterwelt hineinzugelangen? Die irdische Hülle zu zerbrechen und frei durch das dunkle Tor des Todes hindurchzuschreiten? Die süßen Töne der Ostergesänge bewegen ihn auf der Schwelle zur Umkehr. Was gibt ihnen diese Macht? Erinnerung an ein unbegreiflich holdes Sehnen, so meint er selbst, das sie einmal in ihm weckten, an ein verlorenes Jugendglück.

Es gibt noch Beglückendes für ihn auf dieser Erde, die er verlassen wollte. Er fühlt es auf dem Osterspaziergang. Die Einheit, die ihm der Verstand nicht aufdeckt, er spürt sie am Herzen der Natur, spürt sie im umfriedeten Kreis schlichten Menschendaseins. Er möchte über die Welt dahinfliegen, um all ihre Schönheit in sich zu trinken, ins Leben hinabtauchen, um alles Wohl und Weh der Menschheit durchzukosten. So tritt er seine Weltfahrt an. Gemeine Lust vermag ihn nicht zu fesseln – dazu ist der Geistestrieb zu mächtig in ihm. Aber er erfährt auch den anderen Trieb und seine zerstörende Gewalt. Seine Sehnsucht nach Durchbrechung der Einsamkeit, der Enge des eigenen Seins, findet beglückende Erfüllung, als ein Menschenwesen in seiner lieblichsten Gestalt, jung und unschuldig rein, grenzenlos liebend und vertrauend sich ihm überläßt. Das Ende ist Vernichtung – die Zerstörung dieser ganzen, kleinen, friedvollen Welt.

Hier endet die Jugenddichtung, und nicht wenige begnügen sich mit diesem Fragment, abgeschreckt durch die Schwierigkeit der späteren Teile. Sind sie nicht im Verhältnis zu diesem blut- und lebensvollen Kernstück blasse Allegorie? Doch der ernsthafte Leser geht weiter, und wenn er naturalistisch eingestellt ist, sucht er im selben Sinn wie bisher weiter zu deuten.