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In 'Zum Problem der Einfühlung' diskutiert Edith Stein die Komplexität des Phänomens der Einfühlung und ihre Relevanz für die Philosophie und Psychologie. Ihr Buch ist geprägt von einer klaren und präzisen Sprache, die es Lesern ermöglicht, komplexe Konzepte zu verstehen. Stein schafft es, die gegenseitige Beziehung zwischen Einfühlung und empathischen Fähigkeiten auf eine bedeutungsvolle Weise darzustellen, die sowohl Wissenschaftler als auch Laien ansprechen wird. Dieses Werk stellt einen wichtigen Beitrag zur phänomenologischen Psychologie dar und bietet wertvolle Einsichten in das Wesen der menschlichen Interaktion.
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Die vollständige Arbeit, der die folgenden Ausführungen entnommen sind, begann mit einer rein historischen Darlegung der Probleme, die in der vorliegenden Einfühlungsliteratur nacheinander aufgetaucht sind: der ästhetischen Einfühlung, der Einfühlung als Erkenntnisquelle für fremdes Erleben, der ethischen Einfühlung usw. Ich fand diese Probleme, die ich in meiner Darstellung schied, in der Behandlung miteinander vermengt und außerdem ungetrennt voneinander die erkenntnistheoretische, die rein deskriptive und die genetisch-psychologische Seite der genannten Probleme. In dieser Vermengung sah ich den Grund, der einer befriedigenden Lösung bisher im Wege gestanden hat. Es schien mir notwendig, zunächst das Grundproblem herauszulösen, von dem aus sich alle andern verstehen lassen, und es einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen. Diese positive Arbeit schien mir zugleich erforderlich als Fundament einer kritischen Stellungnahme zu den bisherigen Ergebnissen. Als dieses Grundproblem erkannte ich die Frage der Einfühlung als Erfahrung von fremden Subjekten und ihrem Erleben. Diese Frage wird in den nachstehenden Ausführungen behandelt. Ich bin mir dabei sehr wohl bewußt, daß die positiven Resultate, die ich bringe, nur einen kleinen Beitrag zu dem darstellen, was hier zu leisten ist. Zudem haben besondere Umstände mich verhindert, die Arbeit vor der Veröffentlichung noch einmal gründlich zu überarbeiten. Seit ich sie der Fakultät einreichte, habe ich nämlich, in meinen Funktionen als Privatassistentin meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Husserl, Einblick in die Manuskripte zum II. Teil seiner »Ideen« erhalten, die zum Teil dieselben Fragen behandeln, und würde natürlich bei einer neuen Beschäftigung mit meinem Thema nicht umhin können, die empfangenen neuen Anregungen zu verwerten. Freilich sind Problemstellung und Methode meiner Arbeit ganz aus Anregungen hervorgewachsen, die ich von Herrn Professor Husserl empfing, so daß es ohnehin höchst fraglich ist, was ich von den folgenden Ausführungen als mein »geistiges Eigentum« in Anspruch nehmen darf. Indessen kann ich sagen, daß die Ergebnisse, die ich jetzt vorlege, in eigener Arbeit gewonnen sind, und das könnte ich nicht mehr behaupten, wenn ich jetzt Änderungen vornähme.
Allem Streit über die Einfühlung liegt die stillschweigende Voraussetzung zugrunde: es sind uns fremde Subjekte und ihr Erleben gegeben. Über den Hergang des Zustandekommens, über die Wirkungen, über das Recht dieser Gegebenheit wird gehandelt. Die nächste Aufgabe aber ist, sie selbst in sich zu betrachten und ihr Wesen zu erforschen. Die Einstellung, in der wir dies tun, ist die der »phänomenologischen Reduktion«. Ziel der Phänomenologie ist Klärung und damit letzte Begründung aller Erkenntnis. Um zu diesem Ziel zu gelangen, schaltet sie aus ihren Betrachtungen alles aus, was irgendwie »bezweifelbar« ist, was sich irgend beseitigen läßt. Sie macht zunächst keinen Gebrauch von irgendwelchen Resultaten irgendeiner Wissenschaft: Das ist selbstverständlich, da eine Wissenschaft, die letzte Klärung aller wissenschaftlichen Erkenntnis sein will, sich nicht wiederum auf eine schon bestehende Wissenschaft stützen darf, sondern sich in sich selbst begründen muß. Stützt sie sich dann auf die natürliche Erfahrung? Keineswegs, denn diese selbst ebenso wie ihre Fortsetzung, die naturwissenschaftliche Forschung, unterliegt mannigfacher Interpretation (in der materialistischen oder idealistischen Philosophie z. B.) und erweist sich dadurch als klärungsbedürftig. So verfällt denn der Ausschaltung oder Reduktion die gesamte uns umgebende Welt, die physische wie die psychophysische, die Körper wie die Menschen- und Tierseelen (einschließlich der psychophysischen Person des Forschers selbst). Was kann noch übrig bleiben, wenn alles gestrichen ist, die ganze Welt und das sie erlebende Subjekt selbst? In Wahrheit bleibt noch ein unendliches Feld reiner Forschung übrig; denn überlegen wir wohl, was jene Ausschaltung besagt: ich kann bezweifeln, ob das Ding, das ich vor mir sehe, existiert, es besteht die Möglichkeit einer Täuschung, darum muß ich die Existenzsetzung ausschalten, darf von ihr keinen Gebrauch machen; aber was ich nicht ausschalten kann, was keinem Zweifel unterliegt, ist mein Erleben des Dinges (das wahrnehmende, erinnernde oder sonstwie geartete Erfassen) samt seinem Korrelat, dem vollen »Dingphänomen« (dem in mannigfachen Wahrnehmungs- oder Erinnerungsreihen sich als dasselbe gebenden Objekt), das in seinem ganzen Charakter erhalten bleibt und zum Objekt der Betrachtung gemacht werden kann.
(Es bereitet Schwierigkeiten einzusehen, wie es möglich ist, daß die Existenzsetzung aufgehoben sein und doch der volle Wahrnehmungscharakter erhalten bleiben soll. Man veranschauliche sich diese Möglichkeit am Fall der Halluzination: es leide jemand an Halluzinationen und habe Einsicht in sein Leiden; er befindet sich z. B. mit einem Gesunden in einem Zimmer, glaubt in der Wand eine Tür zu bemerken und will durch sie hindurchgehen; von dem anderen aufmerksam gemacht, erkennt er, daß er wieder halluziniert, er glaubt jetzt nicht mehr, daß die Tür vorhanden ist, vermag sich aber weiter in die »durchgestrichene« Wahrnehmung zu versetzen und könnte gut daran das Wesen der Wahrnehmung studieren, einschließlich der Existenzsetzung, obgleich er diese nun nicht mehr mitmacht.) So bleibt das ganze »Weltphänomen« nach Aufhebung der Weltsetzung.
Und diese »Phänomene« sind das Objekt der Phänomenologie. Es gilt nun aber nicht nur sie als einzelne zu erfassen und alles in ihnen Implizierte, den in dem einfachen Haben des Phänomens beschlossenen Tendenzen nachgehend, zu explizieren, sondern zu ihrem Wesen vorzudringen. Jedes Phänomen ist exemplarische Unterlage einer Wesensbetrachtung. Die Phänomenologie der Wahrnehmung begnügt sich nicht, die einzelne Wahrnehmung zu beschreiben, sondern sie will ergründen, was »Wahrnehmung überhaupt«, ihrem Wesen nach ist, und sie gewinnt diese Erkenntnis am Einzelfall in ideierender Abstraktion.
Es ist noch zu zeigen, was es heißt: mein Erleben ist nicht auszuschalten. Daß Ich, dieses empirische Ich, des Namens und Standes, ausgestattet mit den und den Eigenschaften, existiere, ist nicht unbezweifelbar. Meine ganze Vergangenheit könnte geträumt, könnte Erinnerungstäuschung sein, unterliegt somit der Ausschaltung und bleibt nur als Phänomen Gegenstand der Betrachtung, aber »ich«, das erlebende Subjekt, das die Welt und die eigene Person als Phänomen betrachtet, »ich« bin im Erleben und nur in ihm und ebenso unbezweifelbar und unstreichbar wie es selbst. Es gilt nun diese Betrachtungsweise auf unseren Fall anzuwenden.
Die Welt, in der ich lebe, ist nicht nur eine Welt physischer Körper, es gibt darin auch außer mir erlebende Subjekte, und ich weiß von diesem Erleben. Dieses Wissen ist kein unbezweifelbares, wir unterliegen gerade hier so mannigfachen Täuschungen, daß wir mitunter geneigt sind, an der Möglichkeit einer Erkenntnis auf diesem Gebiet überhaupt zu verzweifeln – aber das Phänomen des fremden Seelenlebens ist da und unbezweifelbar, und dieses wollen wir uns nun etwas näher betrachten. Die Untersuchungsrichtung ist uns hiermit noch nicht eindeutig vorgeschrieben.
Wir könnten ausgehen von dem vollen konkreten Phänomen, das wir in unserer Erfahrungswelt vor uns haben, dem Phänomen eines psychophysischen Individuums, das deutlich unterschieden ist von einem physischen Ding: es gibt sich nicht als physischer Körper, sondern als empfindender Leib, dem ein Ich zugehört, ein Ich, das empfindet, denkt, fühlt, will, dessen Leib nicht nur eingereiht ist in meine phänomenale Welt, sondern das selbst Orientierungszentrum einer solchen phänomenalen Welt ist, ihr gegenübersteht und mit mir in Wechselverkehr tritt.
Und wir könnten untersuchen, wie sich all das bewußtseinsmäßig konstituiert, was uns über den bloßen in äußerer Wahrnehmung gegebenen physischen Körper hinaus erscheint.
Wir könnten ferner die einzelnen konkreten Erlebnisse dieser Individuen betrachten, wir würden dann sehen, daß hier verschiedene Gegebenheitsweisen auftreten und könnten diesen weiter nachgehen: es würde sich zeigen, daß es andere als die von Lipps herausgearbeitete Gegebenheit »in symbolischer Relation« gibt: ich weiß nicht nur, was in Mienen und Gebärden ausgedrückt, sondern auch von dem, was dahinter verborgen ist; ich sehe etwa, daß jemand eine traurige Miene macht, aber nicht in Wahrheit trauert.
Ferner: ich höre, daß jemand eine unbedachte Bemerkung macht und sehe, daß er darauf errötet, dann verstehe ich nicht nur die Bemerkung und sehe im Erröten die Scham, sondern ich erkenne, daß er die Bemerkung als unbedacht erkennt und daß er sich schämt, weil er sie gemacht hat.
Weder diese Motivation noch das Urteil über seine Bemerkung sind durch irgendeine »sinnliche Erscheinung« ausgedrückt. Es wären diese verschiedenen Gegebenheitsweisen zu untersuchen und eventuell vorliegende Fundierungsbeziehungen herauszustellen.
Es ist aber noch eine andere, radikalere Betrachtung möglich. Alle diese Gegebenheiten von fremdem Erleben weisen zurück auf eine Grundart von Akten, in denen fremdes Erleben erfaßt wird und die wir nun unter Absehung von allen historischen Traditionen, die an dem Worte hängen, als Einfühlung bezeichnen wollen. Diese Akte in größter Wesensallgemeinheit zu erfassen und zu beschreiben, soll unsere erste Aufgabe sein.
Sie werden sich uns am besten in ihrer Eigenart herausstellen, wenn wir sie mit anderen Akten des reinen Bewußtseins (des Feldes unserer Betrachtungen nach dem beschriebenen Vollzug der Reduktion) konfrontieren.
Wir nehmen ein Exempel, um uns das Wesen des Einfühlungsaktes zu veranschaulichen.
Ein Freund tritt zu mir herein und erzählt mir, daß er seinen Bruder verloren hat, und ich gewahre seinen Schmerz. Was ist das für ein Gewahren? Worauf es sich gründet, woraus ich den Schmerz entnehme, darauf möchte ich hier nicht eingehen. Vielleicht ist sein Gesicht blaß und verstört, seine Stimme klanglos und gepreßt, vielleicht gibt er auch in Worten seinem Schmerz Ausdruck: all das sind natürlich Themata für Untersuchungen, aber darauf kommt es mir hier nicht an.
Nicht auf welchen Wegen ich dazu gelange, sondern was es selbst, das Gewahren, ist, das möchte ich wissen.
Daß ich keine äußere Wahrnehmung von dem Schmerz habe, braucht kaum gesagt zu werden, äußere Wahrnehmung ist ein Titel für die Akte, in denen raum-zeitliches, dingliches Sein und Geschehen mir zu leibhafter Gegebenheit kommt, vor mir steht als hier und jetzt selbst daseiend, mir diese oder jene Seite zukehrend, wobei diese mir zugekehrte Seite im spezifischen Sinne leibhaft oder originär da ist, im Vergleich zu den mitwahrgenommenen abgewandten Seiten.
Der Schmerz ist kein Ding und mir nicht in dieser Weise gegeben, auch dann nicht, wenn ich ihn »in« der schmerzlichen Miene gewahre, die ich äußerlich wahrnehme und mit der er »ineins« gegeben ist. Der Vergleich mit den abgewandten Seiten des gesehenen Dinges liegt nahe. Aber er ist doch nur sehr vag, denn in fortschreitender Wahrnehmung kann ich mir immer neue Seiten des Dinges zu originärer Gegebenheit bringen, prinzipiell kann jede diese bevorzugte Gegebenheitsweise annehmen; die schmerzlich bewegte Miene – richtiger gesagt: die Veränderung des Gesichts, die ich einfühlend als schmerzlich bewegte Miene auffasse – kann ich betrachten von soviel Seiten ich will, prinzipiell kann ich niemals zu einer »Orientierung« kommen, in der statt ihrer der Schmerz selbst originär gegeben ist.
Die Einfühlung als Erfassung des Erlebnisses selbst hat also nicht den Charakter äusserer Wahrnehmung. Dagegen wird man den komplexen Akt, der mit dem leiblichen Ausdruck das ausgedrückte Seelische miterfasst, wohl als äussere Wahrnehmung bezeichnen müssen. Der originär gegebene Ausdruck »appräsentiert« – wie Husserl zu sagen pflegt – das Seelische, das als »Mitgegebenes« selbst als jetzt seiende Wirklichkeit dasteht. (Zur Frage, ob anderes als der Leib appräsentierend fungieren kann, vgl. die Notizen über Notwendigkeit eines Leibes für die Einfühlung). Ist die Einfühlung nicht äußere Wahrnehmung, so ist damit noch nicht gesagt, daß ihr dieser Charakter des »Originären« abgeht.
Noch anderes als die Außenwelt ist uns originär gegeben. Originär gebend ist auch die Ideation, in der wir Wesensverhalte intuitiv erfassen, originär gebend z. B. die Einsicht in ein geometrisches Axiom, originär gebend das Wertnehmen, schließlich und vor allem haben den Charakter der Originarität unsere eigenen Erlebnisse, wie sie ursprünglich erlebt werden und in der Reflexion zur Gegebenheit kommen. Daß die Einfühlung keine Ideation ist, ist trivial – handelt es sich doch um Erfassen von hic et nunc Seiendem. (Ob sie Unterlage für die Ideation, die Gewinnung einer Wesenserkenntnis von Erlebnissen sein kann, ist eine andere Frage.)
Bleibt noch die Frage: besitzt die Einfühlung die Originarität eigenen Erlebens? Bevor wir an die Beantwortung dieser Frage gehen können, ist es nötig, den Sinn von Originarität noch weiter zu differenzieren.
Originär sind alle eigenen gegenwärtigen Erlebnisse als solche – was könnte originärer sein als das Erleben selbst? Aber nicht alle Erlebnisse sind originär gebend, sind ihrem Gehalt nach originär: die Erinnerung, die Erwartung, die Phantasie haben ihr Objekt nicht als leibhaft gegenwärtig vor sich, sondern vergegenwärtigen es nur; und der Vergegenwärtigungscharakter ist ein immanentes Wesensmoment dieser Akte, keine von den Objekten her gewonnene Bestimmung. Als jetzt sich erzeugende Welten im Erlebnisstrom sind diese Erlebnisse originär; aber das, was sie konstituieren, ist nicht ursprünglich Erzeugtes, sondern Wiedererzeugtes, Vergegenwärtigtes, also nicht-originär.
Schließlich kommt noch die Gegebenheit der eigenen Erlebnisse selbst in Frage: für jedes Erlebnis besteht die Möglichkeit der originären Gegebenheit, d. h. die Möglichkeit für den reflektierenden Blick des in ihm lebenden Ich leibhaft und selbst da zu sein. Es besteht außerdem die Möglichkeit einer nichtoriginären Gegebenheitsweise eigener Erlebnisse: in Erinnerung, Erwartung, Phantasie. Jetzt können wir die Frage wieder aufnehmen: kommt der Einfühlung Originarität zu und in welchem Sinne?
Wir erkennen eine weitgehende Analogie der Einfühlungsakte mit den Akten, in denen Selbsterlebtes nicht-originär gegeben ist. Die Erinnerung an eine Freude ist originär als jetzt sich vollziehender Akt des Vergegenwärtigens, aber ihr Gehalt – die Freude – ist nicht-originär; sie hat ganz den Charakter der Freude, so daß ich ihn an ihr studieren könnte, aber sie ist nicht originär und leibhaft da, sondern als einmal lebendig gewesen (wobei dieses »einmal«, der Zeitpunkt des vergangenen Erlebnisses, bestimmt oder nicht bestimmt sein kann). Die Nichtoriginarität von jetzt weist zurück auf die Originarität von damals, das Damals hat den Charakter eines einstigen »jetzt«, die Erinnerung hat somit Setzungscharakter, das Erinnerte Seinscharakter. Es besteht ferner eine doppelte Möglichkeit: das Ich, das Subjekt des Erinnerungsaktes, kann in diesem Akt der Vergegenwärtigung zurückblicken auf die vergangene Freude, es hat sie dann als intentionales Objekt und mit und in ihr ihr Subjekt, das Ich der Vergangenheit; das Ich von jetzt und das Ich von damals stehen sich dann als Subjekt und Objekt gegenüber, es tritt keine Deckung beider ein, obwohl das Bewußtsein der Selbigkeit vorhanden ist. Aber dies Bewußtsein der Selbigkeit ist keine ausdrückliche Identifikation, und es besteht außerdem der Unterschied zwischen dem originären erinnernden und dem nichtoriginären erinnerten Ich.
Die Erinnerung kann dann andere Vollzugsmodalitäten annehmen. Der einheitliche Akt der Vergegenwärtigung, in dem das Erinnerte als Ganzes vor mir auftaucht, impliziert Tendenzen, die – zur Entfaltung gebracht – die in ihm beschlossenen »Züge« enthüllen, in ihrem zeitlichen Verlauf, so wie sich das erinnerte Erlebnisganze einst originär konstituierte. Dieser Entfaltungsprozeß, kann passiv »in mir« vor sich gehen oder ich kann ihn aktiv Schritt für Schritt vollziehen.
Und es ist ferner möglich, daß ich den passiven wie den aktiven Erinnerungsablauf ganz unreflektiert vollziehe, ohne das Gegenwarts-Ich, das Subjekt des Erinnerungsaktes irgendwie im Blick zu haben; oder aber daß ich mich ausdrücklich zurückversetze an jenen Zeitpunkt im kontinuierlichen Erlebnisstrom und die Erlebnisabfolge von damals wieder wach werden lasse, in dem erinnerten Erlebnis lebend statt ihm als Objekt zugewendet: immer bleibt doch die Erinnerung Vergegenwärtigung, ihr Subjekt nicht-originär, im Gegensatz zu dem die Erinnerung vollziehenden. Der re- produzierende Vollzug des einstigen Erlebnisses ist die erfüllende Klärung des zunächst vag Intendierten.
Am Ende des Prozesses steht eine neue Objektivation: das vergangene Erleben, das erst als Ganzes vor mir auftauchte, das ich dann, mich hineinversetzend, auseinanderlegte, fasse ich am Schlusse wiederum in einem »apperzeptiven Griff« zusammen.
Die Erinnerung (in den verschiedenen Vollzugsformen) kann mannigfache Lücken aufweisen. So ist es möglich, daß ich mir eine vergangene Situation erinnernd vergegenwärtige, ohne mich meines inneren Verhaltens dieser Situation gegenüber erinnern zu können; indem ich mich nun in jene Situation zurückversetze, stellt sich ein Surrogat für die mangelnde Erinnerung ein, ein Bild des vergangenen Verhaltens, das aber nicht als Vergegenwärtigung von Vergangenem auftritt, sondern als durch den Sinn des Ganzen geforderte Vervollständigung des Erinnerungsbildes; sie kann Zweifels-, Vermutungs-, Wahrscheinlichkeitscharakter, niemals aber Seinscharakter haben.
Der Fall der Erwartung ist so parallel, daß es kaum nötig ist, besonders darauf einzugehen.
Dagegen wäre über die freie Phantasie noch einiges zu sagen. Auch hier finden sich die verschiedenen Vollzugsmöglichkeiten:
Das Auftauchen eines Phantasieerlebnisses als Ganzes und die schrittweise Erfüllung der darin implizierten Tendenzen.
Im Phantasieerlebnis lebend, finde ich keine durch eine Erlebniskontinuität ausgefüllte zeitliche Distanz zwischen dem phantasierenden und dem phantasierten Ich (wenn es sich nicht gerade um phantasierte Erinnerung oder Erwartung handelt). Doch auch hier ist eine Scheidung zu machen: Das Ich, das die Phantasiewelt schafft, ist originär, das Ich, das in ihr lebt, nicht-originär.
Und die phantasierten Erlebnisse sind gegenüber den erinnerten charakterisiert dadurch, daß sie sich nicht als Vergegenwärtigung wirklicher Erlebnisse geben, sondern als nicht-originäre Form gegenwärtiger Erlebnisse, wobei »gegenwärtig« nicht auf ein Jetzt der objektiven Zeit hindeutet, sondern auf das erlebte Jetzt, das sich in diesem Fall nur in einem »neutralen« Jetzt der Phantasiezeit objektivieren kann. Dieser neutralisierten (d. h. nicht-setzenden) Form der Gegenwartserinnerung (der Vergegenwärtigung eines jetzt Wirklichen, aber nicht leibhaft Gegebenen) steht gegenüber eine neutralisierte Rück- und Vorerinnerung, d. h. eine Vergangenheits- und Zukunftsphantasie, eine Vergegenwärtigung nichtwirklicher vergangener und künftiger Erlebnisse.
Es ist auch möglich, daß ich in das Phantasiereich hineinblickend (wie auch in Erinnerung und Erwartung) mich selbst darin vorfinde, d. h. ein Ich, das ich als mich anerkenne, obgleich keine verbindende Erlebniskontinuität die Einheit konstituiert, gleichsam mein Spiegelbild (man denke z. B. an das Erlebnis, das Goethe in Dichtung und Wahrheit erzählt; wie er nach dem Abschied von Friederike von Sesenheim kommend sich selbst unterwegs begegnet in seiner zukünftigen Gestalt). Dieser Fall erscheint mir aber nicht als echte Phantasie eigener Erlebnisse, sondern als ein Analogon der Einfühlung und nur von dieser aus zu verstehen.