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"Eine wahnsinnige und wundervolle Welt" ist eine bittersüße Liebesgeschichte, die in den 80er und 90er Jahren im Norden Irlands spielt, und zugleich die tiefgründige, abenteuerliche Suche nach einer universellen Wahrheit. Was ist stärker – die Liebe oder der Kampf um Gerechtigkeit? Irland – satte grüne Wiesen und wuchernder Weißdorn entlang der Gräben und Steinwälle. Hier wächst John Donnelly auf. Was kaum einer weiß, Johnny ist im Verborgenen als Scharfschütze für die IRA im Einsatz. Den Regeln des seit Generationen vererbten Konflikts in Nordirland folgend, ist er hierzu von seinem Lehrer Ignatius Delaney ausgebildet worden. Johnny ist überzeugt, das Richtige für sein Land zu tun, bis die bezaubernde Cora Flannery in sein Leben tritt. Ihre leuchtend grünen Augen spiegeln Irland wider – sein Irland. Die beiden verbindet eine innige Liebe, und Cora teilt Johnnys Leidenschaft für Musik und vor allem für ihr Heimatland Irland, seine Mythen, Legenden und seine Poesie. Dass Johnny für seine Überzeugung Menschen tötet, davon weiß Cora nichts. Unmerklich schafft Mulholland ein Hinübergleiten von Zärtlichkeit zu Brutalität und lässt uns am Ende mit einem unerwarteten, hochspannenden Finale zurück.
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Seitenzahl: 454
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Mark Mulholland
Eine wahnsinnige undwundervolle Welt
Mark Mulholland
Roman
Aus dem Englischen vonIlka Schlüchtermann
Titel der englischen Originalausgabe:A mad and wonderful thingScribe Publications LondonCopyright © Mark Mulholland, 2014
Erste Auflage 2017© der deutschsprachigen AusgabeOsburg Verlag Hamburg 2017www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Bernd Henninger, HeidelbergUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: Hans-Jürgen Paasch, OesteDruck und Bindung: CPI books GmbH, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-95510-127-5
Man hat sich gefragt, wo der Krieg sei,was er Niederträchtiges an sich habe.Und man entdeckt, dass man weiß, wo er ist,dass man ihn in sich trägt …Albert Camus, Tagebuch 1935–1942
Denke niemals, dass der Krieg,gleich wie erforderlich oder wie begründet er ist,kein Verbrechen ist.Ernest Hemingway, Treasury for the Free World
Prinzipien
Die Messe
Das Mittagessen
Delaneys Kohlköpfe
Das rote Fahrrad
Die schwarze Fahne weht
Bob
Cuchulainns Burg
Himmel und Hölle
Der Sinn des Lebens
Geschichten für Rosie
Pommes im Roma – und Milch
El Cant dels Ocells
Meine Trickkiste
Soldier’s Point
Licht im grauen Nebel
Die Hochzeit
Wahnsinnig und wundervoll
Slime Sloane
Aufstieg zum Ochaíne
Große Hoffnungen
Herbstende
Station Road
Wunderkind
Sichtverbindung
Mila
Samhain
Nora
Eine Weihnachtsgeschichte
Seitenregen
Der Preis fürs Empire
Frage an Anna
Eine Nonne im Park
Zerrissener Himmel
Sumpfiges Gelände
Warum?
Oisín und Niamh
Der Weg der Kugel
Ein dreifaches Hoch auf Johnny Donnelly
Die reines Herzens sind
Aisling
Pilgerreise
Zu wem wir gehören
Sirenen
Ein Tag, der so einfach begann
Cuchulainns Tod
Tír na nÓg
Anmerkungen
Ich war sechs, als ich sah, wie das Gewehr in Dads Mund verschwand.
Der eine denkt, das war der Anfang von allem – es muss ja einen haben. Der andere denkt, deswegen bin ich so, wie ich bin. Ich bin mir da nicht so sicher. Es gab auch noch andere Momente; jemand anderes würde Schlüsselmomente dazu sagen. Jemand anderes; ich nicht. Ich glaube einfach, einige von uns sind eben so. Für mich war alles klar. Okay, vielleicht nicht alles, aber ich wusste, welche Rolle ich zu spielen hatte, welche Opfer ich bringen musste, was getan werden musste, was ich tun musste. Jemand anderes würde sich über meine Rolle wundern, und über das Wie und das Warum. Meinetwegen – der Mensch ist ein neugieriges Tier. Ich weiß nicht, ob ich eine Antwort geben könnte, so eine Da-haben-wir’s-doch-Kurzfassung. So ist der Krieg nicht – nicht, wenn du selbst mittendrin bist –, aber es gibt sie und es gibt uns und es gibt das homeland, und das ist der Grund für den Konflikt. Für mich war eigentlich alles klar. Und dann kam sie, und nichts ist mehr, wie es war.
Acht Tage. So lange kenne ich sie. Wahnsinn, aber so ist das mit den Mädchen, sie machen einen wahnsinnig. Sie kam einfach so aus dem Nichts – also, nicht wirklich aus dem Nichts, aber sie gehörte nicht dazu, und jetzt gehört sie dazu, es ist, als ob sie schon immer da gewesen wäre. Egal, an was ich denke, sie ist da, und das ist nicht gut für einen, der das tut, was ich tue, der nur das Gewehr im Kopf haben sollte und die Kugel und das Töten. Aber sie ist in meinem Kopf, so wie jetzt, und auch als ich mein Zimmer eben verließ und den ganzen Morgen und auch davor, als ich früh aufwachte und mir nichts anderes übrig blieb, als einfach neben ihr zu liegen – also, nicht real, nicht physisch –, die ersten Gespräche mit ihr noch einmal nachzuspielen, die Wirklichkeit einfach etwas auszuspinnen, zu verändern, neu zu erfinden. Ich kann an nichts anderes denken. Das Mädchen genügt. Und weißt du was? Ich bin glücklich damit.
Ich höre ihre Stimme – als ob ihr Gesicht und ihr Körper nicht schon Folter genug wären – und ich denke an sie, als ich aus dem Haus in den hellen Morgen trete. Ich ziehe meinen Mantel und meinen blauen Schal zurecht. Der Hund schiebt sich an mir vorbei ins Haus, und ich streiche ihm über den Kopf, gehe die Zufahrt hinunter zum Tor, das mit einem alten Schnürsenkel zugebunden ist. Das Tor ist niedrig, ich stütze mich oben ab und steige hinüber, als ich plötzlich die Verandatür hinter mir höre.
»Deine Mutter fragt, ob du ihr auf dem Rückweg die Sunday World kaufen kannst.«
Ich drehe mich um. Es ist mein Vater. Er steht in der halb geöffneten Schiebetür.
Über das Gartentor hinweg protestiere ich: »Solche Schundzeitungen kaufe ich nicht.« Ich schüttle den Kopf und schaue den Hund an, der bellend zustimmt.
Mein Blick wandert zu Dad, der sich aus der frischen Morgenluft zurückzieht und meinen Protest durch den Flur an meine Mutter weiterleitet und dann nickend mit seinem typisch breiten Grinsen die elendig lange Antwort aus der Küche über sich ergehen lässt. Ehrlich, diese ganze Show ist theaterreif.
Vater streckt seinen Kopf wieder in die Sonne. »Sie sagt, dann möchtest du auch kein Mittagessen«, fasst er Mutters Predigt zusammen. So ist er, mein Dad – Vermittler zwischen den Fronten, kümmert sich um jede Kleinigkeit.
Ich schaue in sein erwartungsvolles Gesicht. Er weiß, dass er mich hat. »Also gut«, höre ich mich sagen. »Natürlich die Sunday World.« So ist es eben, manchmal zieht man den Kürzeren, ehe man sich’s versieht.
»Na siehst du«, antwortet er. »Ich mag Menschen mit Prinzipien.«
Er lacht dabei.
»Soll ich dir auch was mitbringen?«
»Was kaufst du dir denn selber?«
»Die Times und den Tribune.«
»Bring uns noch den Indo mit, ja? Und die People, falls noch eine da ist?«
»Klar Dad. Kein Problem.«
»Gut so, mein Sohn. Gut so«, höre ich von der Verandatür, als ich mich auf den kurzen Weg zur Morgenmesse mache. Es ist Sonntag. Es ist April. Es ist 1990.
Mit dem ersten Angelusläuten von Saint Joseph betrete ich den Kirchhof.
»Hey, Johnny.«
Ich schaue auf. Ein paar Mädchen aus dem Dorf sitzen in einer Reihe auf den Kirchenstufen. Schwatzend und kichernd, so wie die jungen Stare auf der Hochspannungsleitung. Mädchen – sie machen dich wahnsinnig …
»Hey, liebe Schwestern. Seid ihr alle wegen Jesus hier?«
»Wegen Jesus, Johnny?«, antwortet ein Mädchen, das ich kenne. »Sicher nicht. Ich bin nur wegen meiner besonderen Begabung hier. Und du?«
»Schamloses Flittchen, Siobhán McCourt«, antworte ich. »Doch fürchte dich nicht, der Heilige Geist kommt vielleicht auch über dich.«
»Der Heilige Geist, Johnny«, lacht sie, »von dem merken wir hier in Dundalk nicht viel.« Sie schaut mich an, ein Grinsen umspielt ihr hübsches Gesicht. »Und es soll auch niemand über mich kommen – außer du hast vielleicht eine halbe Stunde Zeit für mich?«
»Du bist so verrückt, kein schlechtes Angebot. Aber ich habe da drinnen ein Date mit ihm persönlich.«
Die Mädchen lachen, während ich die Granitstufen hoch zur Kirchentür springe. Das machen die Mädchen mit mir: sie geben mir das Gefühl, dass ich von hier bis nach China rennen kann.
»Ein andermal, McCourt«, rufe ich noch. Besser auf Nummer sicher gehen und die hier warmhalten. Man kann nie wissen.
»Ein andermal, Donnelly«, höre ich, als ich die Kirchentür aufstoße.
Ich gehe das linke Seitenschiff entlang und finde einen Platz hinten in der Ecke, und da stehe ich nun, ganz still, teilnahmslos erwarte ich das Gemurmel, Geraschel, die Prozession und die Predigt. Ich schaue über die Köpfe der andächtig kauernden Gläubigen hinweg und beobachte die Spätankömmlinge, die sich leise entschuldigend an die Randplätze der Kirchenbänke drücken. Ist schon ein merkwürdiges Ereignis – diese Irische Katholische Messe. Huldigung im Verborgenen: ein wenig begeisterndes Ritual, in dem Freude ein Fremdwort ist und Emotionen so willkommen sind wie ein Protestant. Ich sehe Tante Hannah inmitten der Gemeinde und sie sieht mich. Sie hebt ihre Hand und bewegt die Lippen, und ich lese daraus, dass sie mein ›alter Mantel‹ stört: Warum hat er in der Messe diesen alten Mantel an? Darauf hatte sie gewartet, mir das mitzugeben – jedes Mal gibt sie mir einen mit wegen meines alten Dunn & Co-Mantels. So sind sie, die alten Tantchen. Schlimmer als die Mütter. Jetzt ist sie glücklich, hat ihrem Unmut Luft gemacht. Sie dreht sich wieder zum Altar um, während die Messe so langsam ins Rollen kommt – und ich bin wieder bei dem Mädchen. Meine Gedanken gleiten weg von der Kirche, ein Stück nur, nach Westen, hin zum Städtchen – dahin, wo alles begann, dahin, wo ich Cora Flannery zum ersten Mal traf.
Wir waren in einer Bar – wir, die Jungs. Wir hatten uns an der Theke niedergelassen, und eine Gruppe Mädchen kam herein. Sie stellten sich ganz in unsere Nähe und redeten, so wie ein Haufen Mädchen eben redet, ziemlich schnell und laut und alle durcheinander, immer mal kurze Zwischenrufe und Gelächter – typische Mädchengespräche eben. Cora war mittendrin, aber sie schaute direkt zu mir. Zugegeben, ihr Blick überraschte mich. Ich schaute herum, aber niemand anderes war in ihrer Blickrichtung. Ich sah kurz zu Boden, um meine Gedanken zu sortieren, die mir kreuz und quer durch den Kopf schossen, wie sie es bei Kindern tun, die sich etwas bei McDonald’s aussuchen sollen. Ich blinzelte hoch und konnte sehen, dass sie immer noch in meine Richtung schaute. Mädchen rufen merkwürdige Dinge in mir hervor, und ganz plötzlich war der Dichter in mir geweckt, und ich sah ihre Augen leuchten, so grün wie eine Sommerwiese im August. Oh, sweet hallelujah. Ehrlich, ich konnte nicht geradeaus denken – nur wahnsinniges, poetisches Zeug. Langsam hob ich meinen unbrauchbaren Kopf. Sie trug Doc Martens-Stiefel, rot und in extravaganten Schleifen gebunden, mit grünen Schnürbändern. (Grün für Irland, sagt sie. Grün für Irland – wie wundervoll!) Ein langer, beigefarbener Rock an ihrem schlanken Körper und eine weiße Strickjacke, aufgeknöpft, über einem schmalen weißen Top. Sie hatte Haar wie Gold, und einige lange, goldene Strähnen fielen in sanften Wellen über eine Seite ihres Gesichts, zart ihre blasse Haut umschmeichelnd. Ich wusste sehr wohl, wer sie war. Unser Städtchen ist zu klein dafür, als dass ein wunderschönes Mädchen wie Cora Flannery unbemerkt bliebe.
Ich schaute sie an. Warum auch nicht? Ich hatte schließlich nichts zu verlieren. Oder doch? Sie ging nah an uns vorbei, als die Mädchengruppe ihren Platz wechselte.
»Schöne Stiefel«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung und erstickte fast beim Sprechen. Wo kamen diese Worte her? Ich hatte gar nicht vor, irgendetwas zu sagen. Sie antwortete nicht, also nicht wirklich, aber ich sah sie lächeln.
Die Messe erreicht einen ihrer Höhepunkte: die Lesung des Evangeliums. Alle erheben sich. Ich fühle eine Hand an meinem Rücken.
»Wie geht’s, Junge?«, flüstert mein guter alter Freund Éamon hinter mir.
»Könnte nicht besser sein.«
Éamon nickt kurz, und wir sind beide wieder ruhig.
Donnerstags sah ich Cora wieder. Ich war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit und wollte noch kurz in die Bank. Cora kam aus der Post heraus. Heute weiß ich, dass sie dort auf mich gewartet hatte – ein Wahnsinn!
»Hey, Johnny.«
Sie überraschte mich. Sie kannte meinen Namen. »Oh, Cora. Wie geht’s?«
»Sorry wegen neulich abends. Ich war einfach, … einfach etwas unsicher, weißt du, vor all den Typen. Na egal …«, und sie redete und redete.
Ich stand schweigend daneben. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Mädchen zu mir sagte. Zwei Mal in einer Woche hatte ich einen echten Schock erlitten, und zwar beim Blick in Cora Flannerys grüne Augen. Mein Herz raste, ich spürte es und – was richtig unheimlich war – ich hörte es. Ich merkte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Ich rang nach Luft. Wieder einmal war der Kopf nicht zu gebrauchen und jetzt streikten auch noch die Ohren und die Lunge. Dieses Mädchen war mein Tod.
»Gehst du noch mal hin diese Woche?«, fragte sie.
»Ja. Ja, könnte sein.« Ich versuchte, ruhig zu bleiben.
»Okay«, sagte sie. »Dann sind wir jetzt verabredet.« Und weg war sie.
Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte es einfach nicht glauben, und als ich auf halbem Weg nach Hause war, fiel mir auf, dass ich die Bank vergessen hatte.
Der Samstagabend kam, und wir Jungs trafen uns in der Stadt, um unserem Drang nach Alkohol, Zigaretten, Geschichten und Lügen nachzugeben. Wir treffen uns regelmäßig in der Dubchoire Bar. Dieser Ort ist von einer geheimen Magie umgeben, in einen mysteriösen Schleier gehüllt – ich kann nicht genau sagen, was es ist, denn auf Fremde wirkt die Bar einfach nur schäbig. Leute aus der Stadt sagen, dass zwischen den dicken Wänden und von der Musik überdeckt Intrige und Verschwörung in schwarzen Taschen schmoren. Darüber weiß ich nichts – noch nie was davon gehört –, ich weiß aber, dass die Einheimischen der Bar den Spitznamen ›The Cooking Pot‹ gegeben haben. Wie auch immer, zurück zu Samstag. Als Erster kam, wie gewöhnlich, Big Robbie. Robbie ist mein guter Arbeitskollege und, um es klar und deutlich zu sagen, er ist so ein Alphatier. Dann Johnny – also ich – und Éamon Gaughran. Es folgten Rafferty und Frank Boyle. Das ist unsere Stamm-Clique, allerdings stößt immer mal der eine oder andere noch dazu. Neben den üblichen Gesprächen über Fußball, Job und College, unterhalten wir uns fast immer über Mädchen und spielen dabei ›Wie viel von 10‹. Wir haben uns darauf geeinigt, dass Achteinhalb die höchste in unserer Stadt mögliche Bewertung ist; wir sind der Meinung, dass die Damen in anderen Gefilden sicher noch hübscher sind. Ich hatte niemandem etwas von Cora erzählt, schließlich wusste ich ja gar nicht, wie es weitergehen würde. War das ein Date? Oder nicht? Aber sie hat doch gesagt … Okay, dachte ich, falls nichts passiert und ich auf den Arsch falle, wissen wenigstens die Jungs nichts davon.
»Na, tolles Date heute Abend, Johnny, was?«
Ich schaute hoch und sah Frank Boyle über ein Glas Bier zu mir herüberlächeln.
Echt, solche Sachen kotzen mich an – gerade, als ich mir meinen Plan zurechtgelegt hatte. »Wo … woher willst’n das wissen?«, fragte ich.
»Also Johnny-boy, Cora Flannery scheint davon auszugehen, dass sie heute ein Date mit dir hat.«
»Cora Flannery!«, ein Aufschrei ging um den Tisch.
»Cora Flannery«, wiederholte Conor Rafferty butterweich, und sah mich, während er sich kopfschüttelnd setzte, mit seinen großen braunen Augen an.
Oh, sweet halleluja, also doch ein Date.
»Und wie kommst du darauf?«, ich versuchte Zeit zu schinden, um ein paar vernünftige Gedanken zusammenzubringen.
»Neuigkeiten von Clodagh Breen.«
»Ah ja, Clodagh Breen, wie sie leibt und lebt«, konterte ich, sah Frank an und wusste, dass ich jetzt den Notfallkoffer auspacken musste. »Die erzählt doch nur Geschichten, die Clodagh Breen. War es nicht auch Clodagh, die erzählt hat, dass du diese schnelle Nummer mit Tootsie Roddy in der Friary Lane hattest? So ein Wahnsinn. Kein einziges Wort kann man der glauben.« Das war fies. Eine Liaison mit Tootsie, da war wohl eher der Wunsch Vater des Gedankens – konnte jedem männlichen Wesen passieren. Ich bin ganz und gar nicht stolz darauf, diese Geschichte noch einmal zu erwähnen. Aber ich war total durch den Wind.
Die Panik stand Frank Boyle ins Gesicht geschrieben, ich konnte förmlich seine Gedanken lesen. Weiß Johnny wirklich was? Woher weiß Johnny das? Scheißkerl! Einen Moment Totenstille.
»Der Herr, wie mich dünkt, gelobt zu viel«, meinte Big Robbie lachend. »Ihr wisst ja, was ich immer sage und ich sage es noch einmal: Johnny D könnte sogar auf einer Beerdigung eine abschleppen.«
Ich setzte mein allerbestes, unschuldiges Grinsen auf. Was sollte ich sonst tun?
Big Robbie nahm sein Glas ›Porter‹ hoch und trank das halbe Glas in einem einzigen, langsamen Zug leer. »Wie Muttermilch«, war sein Kommentar, als er sich den Mund mit seinem Handrücken abwischte. »Du bist vielleicht ein Schnösel, Donnelly. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Du kleiner Schnösel. Aber du hast viel von mir gelernt.«
Big Robbie wird Elektriker und ist ein Lehrjahr weiter als ich, und das lässt er eben manchmal raushängen. Ich hob ebenfalls mein Glas, prostete ihm zu und ließ ihm das schöne Gefühl der Überlegenheit.
»Mensch Junge, Cora Flannery?« Conor rutschte näher zu mir heran, noch immer den Kopf schüttelnd. »Unglaublich. Mein Gott, Johnny, du hast so einen verdammten Dusel. Wie machst du das?«
»Schleimer«, hörte ich Éamon gegenüber vom Tisch sagen. Typisch Éamon – kein Takt, kein Stil. Bemüht sich einfach zu sehr.
»Nur kein Neid«, verteidigte ich mich.
»Um Gottes willen, Johnny. Ich und neidisch? Darauf kannst du lange warten, Freundchen.« Armer Éamon. Niemand glaubte ihm, nicht mal er sich selbst.
Das Geplänkel und Trinken ging so seinen Weg, bis ein ›noch unbewertetes‹ Mädchen hereinkam und Big Robbies Ausruf: »Klasse Frau – auf jeden Fall eine Siebeneinhalb«, eine hitzige Diskussion hervorrief.
›Was soll man dazu noch sagen …‹ Die Messe reißt mich wieder aus meinen Gedanken: Der Pfarrer predigt über Helden und besiegte Königreiche und aufgezwungene Gerechtigkeit und Versprechungen und wie man Kraft aus Niederlagen zieht und wie man im Krieg Macht erlangt und wie man feindliche Truppen in die Flucht schlägt. Die können reden, diese Pfaffen. Aber jetzt hat er sich verheddert, ist in eine Zwickmühle geraten: fremde Armeen in die Flucht schlagen? Klar, diese Kampfsprache ist hier in St. Joseph’s schon angebracht, aber was ist mit den kalten, nassen Gräben an der Grenze? Darüber reden nur wenige so laut und mutig. Großes Getöse für Jesus. Aber für Irland? Fremde Armeen in die Flucht schlagen? Glaube ich nicht. Nur wenige kümmern sich um diese fremden Truppen. Unsere fremden Truppen. Als ich so darüber nachdenke, sehe ich ihre Gesichter, sehe ihre Gesichter durch mein Zielfernrohr, diese fremden Gesichter, diese fremden Soldaten in Irland. Ist nicht gut, dass sie hier sind, diese fremden Soldaten. Die Rechnung wird nicht aufgehen. Ich weiß, dass nicht alle so denken. Manche finden es nicht schlimm, dass sie hier sind. Manche finden es gut, dass sie hier sind. Manchen ist es egal. Aber das funktioniert nicht, dass es einem einfach egal ist. Wenn es einem egal ist, wer man ist, dann wird jeden Tag ein Stückchen von einem sterben – ein ganz kleines Stückchen nur, merkt man kaum, aber es geht weiter, Stückchen für Stückchen jeden Tag, und bevor man sich’s versieht, ist man auf einmal ganz tot. Also, eigentlich lebt man noch, aber man verbringt den Rest seines Lebens leblos. Das ist der Preis, den man zahlt, wenn es einem egal ist, wer man ist, und wenn man nicht kämpft. Mir ist es nicht egal: Ich kenne die Gefahr. Ich weiß, wer ich bin: Johnny Donnelly, Ire. Mir ist es nicht egal und ich kämpfe.
Der Pfarrer verteilt weiter gute Ratschläge an die versammelten Häupter, doch meine Gedanken wandern wieder zu Cora.
Wir waren noch nie zu so früher Stunde in der Bar. Normalerweise verlassen wir den Pub sehr spät durch eine Seitentür, raus in eine dunkle Gasse, rennen dann die kurze Strecke quer über einen Parkplatz in der Seitenstraße und rein ins Hotel durch den Seiteneingang. So leer, ohne den üblichen Trubel, kam einem die Hotelbar seltsam vor. Zum ersten Mal hatten wir Ruhe und Zeit, die Deko und die Beleuchtung an der Bar zu bestaunen.
»Hab’ gehört, es hat ein Vermögen gekostet, das hier aufzubauen.« Big Robbie führte uns zu den Barhockern, von wo aus man die gesamte Tanzfläche überblicken konnte.
»Der Kerl kann sich’s halt leisten«, antwortete Éamon und holte eine 20er-Packung Carroll’s No. 1 aus seiner Hemdtasche. Er schnipste die Packung mit einer Hand auf, nahm zwei Zigaretten heraus und warf eine davon auf meinen Schoß.
»Hoffentlich stört es Cora nicht, dass du rauchst, Johnnyboy.« Éamon hob kurz den Kopf.
Wir machten es uns auf den Hockern bequem und sahen einen kleinen Mann hereinschlüpfen. Er trug einen engen, cremefarbenen Anzug, der im Barlicht hell schimmerte. Sein Gang rund um die Bar hatte etwas Feminines. Alle schwarz-gekleideten Türsteher und Bedienstete, an denen er vorbeikam, sprach er kurz an.
Das war der Kerl, von dem Éamon gesprochen hatte – der Hotelbesitzer –, der vor unseren Augen seine Truppe inspizierte. Als er an uns vorbeikam, blieb er stehen, und ich konnte fast sein stillvergnügtes Lachen hören.
»Guten Abend, Mr. Fitzgerald«, sprach ich ihn an, »ein schöner Anzug.«
Langsam trudelten weitere Gäste ein. Die Zeit verging, die Bar füllte sich mit Menschen, und ich verspürte die ersten Stiche der Enttäuschung, als …
Plötzlich, eine Menge Unruhe und alle gehen zu Boden. Jetzt ist der Moment gekommen, in dem wir uns alle hinknien, um die Schuhe unseres Vordermannes zu begutachten. Ich bin kein Spielverderber und gehe wenigstens runter auf ein Knie. Vor mir ein Paar schwarze ausgeschnittene Slipper, darin stecken strahlend weiße Socken, die in einer blauen Jeans verschwinden. Ein bisschen traurig eigentlich. Nachdem genügend Zeit zur Besinnung vergangen ist, zeigt der Pfarrer an, dass wir wieder unsere Plätze einnehmen oder uns hinstellen dürfen. In der allgemeinen Unruhe werfe ich schnell einen Blick auf die Leute um mich herum. Es ist die typische Sonntagsgesellschaft, die meisten sind verkaterte Hallodris. Erinnert an das Überleben in einem besetzten Land: Anwesenheit gewährt, Mitarbeit vorenthalten. Links, an der Seitenwand der Kirche, befindet sich der reich verzierte Schrein ›Herz Jesu‹. Die Figur darin hat mich schon immer fasziniert; keine Ahnung, warum. Über den elektrischen Zehn-Pence-Kerzen schaut ein hellleuchtend gekleideter Mann mit freundlichem Gesicht hinunter auf die Gemeinde. Ein auffälliges, pink leuchtendes Herz schimmert mitten auf seiner Brust, es sieht aus, als trüge er ein Medaillon ohne Kette. Ein kleines Mädchen steht vor dem Schrein. Unter dem wachsamen Auge und in Reichweite ihres Vaters streicht sie über die Schalter, mit denen man, wie sie weiß, die Kerzen zum Leuchten bringen kann. Sie dreht sich zu mir um, als sie mich bemerkt. Dann wieder zu ihrem Vater, schaut ihn an und wartet. Die Messe kommt in Fahrt, und die Gläubigen im dunklen Kirchengestühl rutschen in Erwartung des nächsten Gebets wieder auf die Knie. In dieser Unruhe drückt das kleine Mädchen auf zwei Schalter und im Schrein beginnen zwei rote Lampen des Kandelabers zu leuchten. Das Mädchen sieht mich erwartungsvoll an, ist auf meine Reaktion gespannt. Mein kurzes Kopfnicken signalisiert Zustimmung. Das kleine Mädchen ist verzückt.
Sie stand mit ihren Freunden auf der anderen Seite der Bar. Unsicher, was ich tun sollte, hielt ich erst einmal die Stellung. Ehrlich, ich wäre in Regen und Kälte nackt über die Cooley Mountains gewandert, um zu Cora Flannery zu gelangen. Aber über die Tanzfläche hinüber zu diesem Kreis neugieriger Mädchen? Vollkommen unmöglich! Meine Hände schwitzten, und ich starrte vor mich auf den Boden. Sollte ich rübergehen? Konnte ich rübergehen? Doch als ich aufblickte, stand sie da. Sie stand vor mir, sah mich an und nahm langsam meine Hand. Mit dieser ersten Berührung spürte ich die Kraft der Götter, meine Angst schwand und machte einem Hochgefühl von Glückseligkeit Platz.
»Los«, lachte sie und hüpfte auf die Tanzfläche.
Spät in der Nacht wollten die Freundinnen Cora mitnehmen, aber sie lehnte ab.
»Johnny bringt mich nach Hause«, erklärte sie. »Stimmt’s?« Sie drückte meine Hand. Natürlich würde ich sie nach Hause bringen. Man hätte die alten Ulster-Truppen benötigt, um mich von Cora wegzuziehen an jenem Abend, und sie hätten hart kämpfen müssen.
»Okay, bleib brav«, antworteten die Freundinnen und drehten sich um. Unvermittelt kam eine von ihnen – ein großes, gutaussehendes Mädchen – noch zu uns herüber.
»Jetzt hat sie dich also endlich, Johnny Donnelly«, sagte sie, »die hier wird dich nie mehr gehen lassen.« Sie gab Cora einen Kuss auf die Stirn, bevor sie sich zu mir wandte.
»Bis bald, Süßer«, und weg war sie.
»Wer ist denn das?«, fragte ich verwirrt.
»Das ist unsere Aisling, meine große Schwester, und mein bester Freund. Meine beste Freundin natürlich. Ist sie nicht wunderschön?«
»Oh ja, Cora, das ist sie allerdings.«
»Sie studiert Medizin an der Uni, in Dublin«, erklärte Cora so hastig, dass ihr der Atem stockte.
»Schön und klug«, sagte ich, bevor ich nach einer kurzen Pause fortfuhr, »und wer ist jetzt dein bester Freund?«
Cora schaute mich an, als ob ich sie gerade nach der Hauptstadt Irlands gefragt hätte. »Na, du.« Und diese Antwort war von solcher Ernsthaftigkeit, dass es keinen Zweifel gab.
Ich fühlte mich, als ob ich in ein anderes Leben versetzt oder mit jemand anderem verwechselt worden wäre. Als wir in der Schlange an der Garderobe auf unsere Mäntel warteten, fielen mir die Jungs wieder ein. Ich suchte sie und sah, dass sie immer noch an derselben Stelle saßen, wo ich sie Stunden zuvor verlassen hatte. Sie bemerkten, dass ich nach ihnen schaute und winkten übertrieben, Éamon rief etwas, konnte aber nur selbst darüber lachen.
Als wir am Ausgang waren, warf ich einen Blick zurück in den Club und konnte gerade noch sehen, dass Conor den Kopf schüttelte.
Auf dem Nachhauseweg ließen wir uns Zeit und hielten auf dem Marktplatz an einem noch geöffneten Imbissstand, um uns einen Snack zu kaufen.
»Nach der Disco verhungere ich immer fast«, meinte Cora. »Wie wär’s mit Pommes, Johnny?«
»Tatsache Cora, ich habe solch einen Hunger, dass ich einen kleinen Protestanten essen könnte«, witzelte ich, als wir uns lachend zum Stand durchkämpften.
»Eine Tüte Pommes, Mademoiselle, und eine große Currywurst mit Pommes, wenn’s geht.«
Zum Essen setzten wir uns auf eine Bank vor dem Amtsgericht – Essen im Gehen wäre meiner Meinung nach diesem Nachtmahl nicht gerecht geworden.
Als wir fertig waren, knüllte ich die Verpackung als Ball zusammen, warf ihn in die Luft und kickte ihn in den Mülleimer. Ich rückte nah an Coras Seite.
»Und was hat es eigentlich mit deinem Mantel und Schal auf sich, Johnny? Ziehst du den überhaupt mal aus?«
Dieser Mantel ist eine ewige Kümmernis – die Leute müssen ihn einfach immer kommentieren. Aber so sieht’s aus: was gestern noch in war, ist heute out. Mein Mantel ist ein dunkler, wollener Tweed-Mantel – ein Londoner Dunn & Co von 1960, second-hand –, der je nach Licht grün oder grau oder braun schimmert, also so wie Ravensdale Forest an einem Regentag. Der Schal ist blau. Ich liebe den Mantel und ich liebe den Schal. Das ist alles. Die Welt kann denken, was sie will.
»Nichts hat’s damit auf sich.«
Ich nahm den Schal ab, legte ihn Cora um den Hals und zog sie näher zu mir heran.
»Weißt du was, Cora Flannery?«
»Was denn, Johnny Donnelly?«
»Zeit, nach Hause zu gehen.«
An Coras Haus angekommen, setzten wir uns auf eine kleine Mauer, die den Vorgarten vom Rasen hinter dem Haus trennt. Wir beobachteten ein paar Nachtschwärmer auf dem Nachhauseweg, einige etwas unsicher auf den Beinen. Wir beobachteten die vorbeifahrenden Autos – einige mit viel zu hoher Geschwindigkeit für die schmalen Straßen –, junge Leute, die von Dundalk hinaus aufs Land nach North Louth und South Armagh fuhren. Ich zog den Dunn & Co aus und hängte ihn Cora über die Schultern, ich knöpfte ihn fest zu und schlug den Kragen hoch. Sie lehnte sich an mich und ich hielt sie einfach im Arm. Es war pures Glück, sie festzuhalten. Sie rückte noch näher an mich heran. Ich konnte ihren Atem an meinem Hals spüren. Ich hob meine Hand und berührte ihre Wange, und ich konnte mein eigenes Herz schlagen hören, als ich sie küsste. Unter dem blauen Schal fühlte ich ihre Finger auf meiner Brust.
»Du bist unglaublich wundervoll, Cora«, flüsterte ich ihr zu. »Du bist wahnsinnig und wundervoll, beides gleichzeitig.«
»Wahnsinnig und wundervoll«, flüsterte sie zurück. »Vielen Dank. Aber Sie sind auch nicht gerade schlecht, Mister Donnelly.«
Wir kommen zur Eucharistiefeier, dem Höhepunkt der katholischen Messe. Die Leute, die hinten in der Kirche um mich herumstehen, setzen sich in Bewegung – ein oder zwei Richtung Altar, um den Leib Christi zu empfangen, alle anderen raus und weg. Ich halte die Stellung. Um mir die Wartezeit zu vertreiben, nehme ich mir eine Parish Monthly aus dem Zeitschriftenständer an der hinteren Kirchenwand. Ich erfahre etwas über die täglichen Messen, wöchentlichen Beichtzeiten, Novenen, Andachten und die Osterfeierlichkeiten; dazu Informationen über Taufen, Eheschließungen, neue Chormitglieder, den Kuchenverkauf im Gemeindehaus und eine geplante Bustour in den Süden des Landes zur Besichtigung der ›moving statue‹. »Ich habe gesehen, wie sie sich etwas bewegte«, hatte Dad nach seinem letzten Trip gesagt. »Sie hat sich ganz sicher bewegt, stimmt’s Kathleen?«
»Gehet hin in Frieden, zu lieben und zu dienen dem Herrn.« Der Pfarrer beendet die Messe, und ich springe die Stufen vor der Kirche hinunter, wo Éamon auf mich wartet. Am Kirchentor kaufen wir die Sonntagszeitungen und laufen zusammen die kurze Strecke bis zur Ramparts Road. Beide überfliegen wir die Schlagzeilen.
»Oh Gott«, Éamon ist entsetzt. »Hör mal Johnny. IRA HECKENSCHÜTZE MIT NEUER TODESWAFFE IN SÜD-ARMAGH UNTERWEGS.« Éamon hat dieselbe Angewohnheit wie mein Vater, laut aus der Zeitung vorzulesen. »Bist du nicht auch froh, dass wir nicht im Norden leben, Johnny? Nur fünf Meilen entfernt – könnten genauso gut fünfhundert sein, eine vollkommen andere Welt. Gott sei Dank leben wir in der Republik.«
»Es lebe die Republik«, sage ich und wir lachen.
»Und, wie steht’s mit Cora?«
»Fantastisch. Sie ist ein wundervolles Mädchen.« Da ist es heraus, noch bevor ich über meine Worte nachdenken kann.
Éamon hebt den Kopf und schaut mich an, sein Blick ist gleichermaßen überrascht wie fragend. Er sagt aber nichts. Stattdessen holt er ein paar Zigaretten hervor, und wir stehen einfach da und rauchen und reden. Dann trennen wir uns wieder und verabreden uns für später, und als ich meinen Freund verlasse, denke ich wieder über das Mädchen nach. Das machen sie mit dir, die Mädchen – sie sind eine unergründliche Spezies, schwer in den Griff zu kriegen. Und wenn sie einmal in deinen Gedanken sind, kannst du an nichts anderes mehr denken.
»John«, höre ich und drehe mich um. Hinter mir steht ein großer älterer Mann in einem hochgeschlossenen, doppelreihigen, dunkelgrauen langen Mantel. Der Mann heißt Ignatius Delaney, und Delaney ist – in der Öffentlichkeit – ganz John le Carré. Denkt er jedenfalls. Mich erinnert die Situation hier eher an Starsky & Hutch. Obwohl es warm ist, trägt er Handschuhe und rückt beim Näherkommen seinen feinen Filzhut zurecht. Zwei dunkle Augen spähen unter dem Hut hervor, sein verschmitztes Grinsen ist hinter einem leicht grauen, gepflegten Schnäuzer versteckt. Der vorbildlich geknotete Burberry-Schal lugt aus dem Mantelrevers hervor. Delaney könnte direkt aus Hollywood kommen.
»John! Habe ich mir doch gedacht, dass Sie es sind.«
»Guten Tag, Mister Delaney«, spiele ich mit.
Er streckt mir seine lederne Hand entgegen. Mit der anderen macht er mir hinter seinem Rücken Zeichen. »John, habe ich Sie schon mit meiner Tochter Loreto bekannt gemacht? Sie kommt gerade aus Kalifornien zurück.«
Ich bin überrascht – und das sieht mir gar nicht ähnlich. Eine große Frau steht mir gegenüber. Sie hat ein weiß gepudertes Gesicht und dunkle Augen. Ihre rot geschminkten Lippen bilden einen scharfen Kontrast zu dem hellen Hintergrund. Sie trägt einen langen, schwarzen Mantel und hat einen dunkelroten Schal wie ein Tuch um ihre Schultern geschlagen, dazu einen ebenfalls dunkelroten Glockenhut aus Samt. Eine Puppe, im wahrsten Sinne des Wortes.
»Vierzig Jahre lang bin ich Lehrer, Loreto«, sagt Ignatius Delaney zu ihr. »Vierzig Jahre. So viele Schüler, so wenig Talente. Aber einen gab’s, der höher flog. Ein Licht in der Dunkelheit.«
Ich tue so, als ob ich nicht zuhörte. Ich kenne die Geschichte schon.
»Und weißt du was, Loreto? Weißt du, was dieser Junge mit seinem Talent gemacht hat? Welchen Bildungsweg hat er wohl eingeschlagen? Welche Uni hat er besucht, was denkst du?«
Ich schaue wieder in die dunklen Augen der Frau. Sie mustert mich.
»Schreiner ist er geworden, Loreto, Schreiner. Stimmt’s John?«
»Ich habe es schon häufig erklärt, Mister Delaney, am besten lernt man so ein Handwerk mit jungen Händen.«
»Ja, ist schon okay, John. Sie haben sich nie belehren lassen. Schön, Sie zu sehen. Gott segne Sie.«
Wir trennen uns am Feuerwehrhaus, da, wo die Straße sich gabelt. Was war das denn? Warum war sie dort? Warum diese Förmlichkeit? Aber ich habe die Nachricht verstanden – ich werde ihm einen Besuch abstatten. Ich schaue den beiden nach. Ich denke über die Frau unter dem Samthut nach. Ich weiß, dass da irgendetwas ist, aber auf dem Heimweg verdränge ich die Gedanken. Um mich herum ist es hell und warm, die Sonnenstrahlen reflektieren vom Boden, und ich denke wieder an meine Treffen mit Cora, in der Post, in der Bar, auf dem Nachhauseweg und auf der kleinen Mauer in ihrem Garten. Ich hüpfe den Weg entlang; unbemerkt tanze ich vor Glückseligkeit. Ich brodle wie Milch auf dem Ofen kurz vor dem Kochen. Ich bin kurz davor, eine Michael-Jackson-Nummer hinzulegen.
Mein alter Freund Bob erscheint neben mir, er hält mit mir Schritt. Wir sind beide großartig in Form, sagt er. Niemand und nichts kann uns jetzt stoppen.
Ich komme an einer älteren Nachbarin vorbei, die ich kaum kenne. Sie betrachtet mich neugierig, als ich sie grüße.
Hallo, meine liebe Miss Byrne«, ich bin nicht zu bremsen, »na, wie steht’s mit dem Sexleben zur Zeit?«
»Nicht so aktiv wie deines, wie mir scheint«, pariert sie.
Verdammt, war die schnell. Ich habe keine Antwort parat, sodass ich mich lachend und winkend davonmache. Es geht bergauf mit mir. Tatsächlich, das tut es. Es sieht gut aus für Johnny Donnelly.
»Soll ich dir Tee einschenken?«
»Gehst du zum Spiel, mein Sohn?«
»Hast du gestern Abend geknutscht, Johnny?«
Es ist Sonntag, und ich sitze mit Mom, Dad und Anna am Küchentisch beim Mittagessen.
»Ja, gerne.«
»Ich geh vielleicht zur zweiten Halbzeit hin.«
»Natürlich nicht«, antworte ich und schiebe meine Tasse über den Tisch in Moms Reichweite.
»Danke. Wo ist denn mein Bruderherz?«
»Declan ist schon seit heute Morgen weg«, erklärt Mom und gießt mir Tee ein. »Peter hat ihn abgeholt. Sind bei den Mourne Mountains, wenn du nichts dagegen hast. Er war schon in aller Herrgottsfrühe auf und hat Sandwiches gemacht. Ich musste glatt den guten Schinken verstecken.«
Ich sage nichts. Meine beiden Brüder verschwinden oft am Wochenende in die Berge. Nichts Besonderes eigentlich. Aber sie tun sich manchmal so wichtig damit, und man muss ihnen endlos zuhören, wenn sie davon erzählen. Sie geben einem das Gefühl, man käme in die Hölle, wenn man es nicht tut. Manche brauchen das wohl, um sich selbst besser zu fühlen. Verstehe ich.
»Sie kommen später mit ihr hierher«, fährt Mom fort – ›ihr‹ ist Tanta Hannah. »Ich mache einen großen Topf Suppe.« Ein alter Suppentopf scheppert auf dem Ofen hinter ihr.
»Los Johnny, spuck’s aus«, drängt Anna. »Hast du?«
»Und gutes Brot ist im Ofen«, erklärt Mom ihre weiteren Vorbereitungen für den High Tea.
»Wird sicher spannend«, insistiert Dad. »Derry bringt eine große Fangemeinde mit.«
»Ich denke, du hast. Wer war sie, Johnny-boy? Kenne ich sie?« Anna versucht es erneut.
»Hey, sei nicht so neugierig und iss lieber«, mahnt Mom. »Und vergiss den Rosenkohl nicht, ist gut für dich. Ich mag ihn auch nicht und esse ihn.«
Ich schaue rüber zu meiner Schwester. »Los, Anna, rein damit. Braves Mädchen.«
Anna Donnelly ist 20 Jahre alt. Sie ist eine hübsche junge Frau; klar, ist ja auch meine Schwester. Sie hat langes, dunkles Haar, eine Farbe wie altes Eichenholz und grüne Augen – Waldgrün, das in Himmelblau übergeht. Sie hat die gleichen Augen wie ihr Bruder gegenüber am Tisch. Nur ein paar Monate trennen uns, sodass wir unsere gesamte Kindheit zusammen verbrachten, und als wir kleiner waren, hielten uns viele für Zwillinge. Durch ihre langen Haarsträhnen hindurch wirft sie mir einen warnenden Blick zu.
»Ich geh vielleicht auch zur zweiten Hälfte hin«, meint Dad jetzt entschlossen und steht auf. Mit seinem Messer schiebt er die Krümel von seinem Teller in eine Schüssel, die für den Hund bereitsteht und trägt den Teller zur Spüle.
»Ich wasch nachher für dich ab, Kathleen«, verkündet er. »Nach der Zeitung.«
Ich stehe auch auf.
»Ich koch ein paar Eier«, sagt Mom eher zu sich selbst, »könnte noch einen Salat machen.« Auch sie steht auf und beginnt, den Tisch abzuräumen.
Ich folge Dad ins Wohnzimmer und setze mich mit meiner Zeitung aufs Sofa. Ich höre die ersten Zeilen einer bekannten Melodie, die Mom während der Hausarbeit singt. Sie singt ›Lizzie Lindsay‹.
»Wenn die einmal Danny Doyle zu fassen gekriegt hätte, wäre ich sofort rausgeflogen«, hört man Dad hinter seiner Zeitung.
»Ich glaube, wir wären alle rausgeflogen«, sage ich lachend. »Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem Mom nicht irgendetwas von Danny Doyle gesungen hat.«
Kathleen Reynolds hatte schon vier Jahre lang in einer Schuhfabrik gearbeitet, als sie im September 1959 Oliver Donnelly in der Stadtkirche ›St. Nicholas‹ heiratete. Sie war damals gerade siebzehn Jahre alt. Neun Mal war dann ihr Bauch fest und rund geworden und eine anfängliche Übelkeit hatte ihr jedes Mal zu schaffen gemacht. Diese neun Schwangerschaften führten aber lediglich zu vier Geburten. Ich bin der Vierte. Mom war eine sehr gute Schülerin: clever, tüchtig, Klassenbeste in Lesen und Mathematik und fit im Katechismus. Sie hatte eine freundliche, wohlklingende Stimme, sodass die Nonnen sie immer in die erste Reihe setzten, wenn Prüfer, Pfarrer oder Bischöfe zu Besuch kamen. In einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wäre sicher etwas aus ihr geworden. Damals jedoch war das Ende ihrer Grundschulzeit auch das Ende ihrer Ausbildung und das Ende ihrer Kindheit.
Mom wuchs in einem Haushalt mit zwölf Kindern auf, als jüngstes von acht Mädchen. Großvater war Geschäftsmann im Brauereigewerbe – zu allen Zeiten ein guter Job – doch er litt an der typisch irischen Schizophrenie: großzügig und großherzig im Pub, knauserig und boshaft zu Hause. Mom erzählt immer, wie ihre Mutter einen endlosen Kampf ausfechten musste, um für alle Kinder genügend Kleidung und Essen zu bekommen. Und so wie alle ihre Schwestern auch, musste Mom trotz ihres noch kleinen und zarten Körpers vom Schulhof direkt in die Werkhalle einer Schuhfabrik. Nur fünf der zwölf Kinder sollten in Irland bleiben, zwei von ihnen sind schon tot und begraben. Die anderen sieben gingen zum Arbeiten nach England. Mom hat ihre beiden ältesten Brüder nie gesehen – die waren schon weg, noch bevor sie geboren wurde. Und sie kamen auch nie mehr zurück.
Als ich es mir auf dem Sofa bequem mache, kommt ein kleines Mädchen zur Hintertür, öffnet sie selbständig, spaziert geradewegs ins Wohnzimmer und springt neben mir aufs Sofa.
»Caitríona Begley ruft mir wieder Schimpfwörter hinterher«, seufzt sie.
»Hallo Clara«, begrüßt Dad sie, ohne seine Zeitung herunterzunehmen.
»Hallo Oliver.« Sie zupft mich am Ärmel.
Ich höre auf zu lesen und schaue sie an. Clara Mulligan ist sieben Jahre alt und das jüngste Kind unserer Nachbarsfamilie. Die Mulligans haben eine Bar im Stadtzentrum, und da die Eltern so viel in der Bar arbeiten, bleibt keine Zeit mehr für das Kind zu Hause. Mom hat deswegen bei Mulligans die Kinderbetreuung nach der Schule, in den Schulferien und an den Wochenenden übernommen. Clara wurde eigentlich mehr von ihr betreut als von ihren eigenen Eltern, sodass unser Haus auch ihr Haus ist und ich ihr großer Bruder bin. Ist okay für mich.
»Keine Angst, Kleine. Die ist doch nur total eifersüchtig.« Ich nehme sie in den Arm.
»Weil sie so fett ist?«
»Nein«, lache ich. »Eher weil du solch einen großen, tollen Bruder hast, und sie hat nur diesen Paddy Begley, den sie immer ansehen muss. Der hat doch ein Gesicht, das jeden verschreckt, der ihm begegnet. Wenn der an einer Molkerei vorbeigeht, dieser Typ, dann wird doch die Milch sauer.«
»Ja, genau. Und deswegen ärgert sie mich, stimmt’s?«
»Richtig. Wenn ich jeden Tag in dieses hässliche, deformierte Gesicht schauen müsste, hätte ich auch schlechte Laune.«
»Okay.« Clara springt von der Couch. »Das sage ich ihr.«
»Und weg ist sie«, murmelt Dad.
Ich sehe ihr hinterher, als sie aus der Tür hinausspringt und schaue hinüber zu meinem Vater. Dad kann jeden Tag viele Stunden hinter seiner Zeitung verbringen, wobei ich mir nie ganz sicher bin, ob er die Seiten wirklich liest oder sich nur dahinter versteckt, um in eine andere – seine eigene – Welt abzutauchen. Ich denke ein Weilchen über ihn nach, beobachte ihn, wie er dasitzt und liest. Und manchmal ist es unmöglich für mich, an Dad zu denken, ohne das Gewehr vor Augen zu haben.
Ich habe ein schlechtes Gedächtnis und kann mir die meisten Sachen, vor allem die, die man in der Schule lernt, nicht merken. Ich lerne etwas, das spukt eine Zeit lang in meinem Kopf herum, aber bleibt nicht lange dort. Es scheint so, als ob ich mich nur an die ungewöhnlichen Dinge erinnern könnte. Ich hätte nie ein guter Student sein können, nicht so, wie Delaney sich das erhofft hatte. Und ich erinnere mich auch nicht an sehr viel aus meiner frühen Kindheit, aus den ersten fünf oder sechs Jahren. Doch an das Gewehr, an das erinnere ich mich sehr gut.
Es muss Winter gewesen sein, denn es war dunkel und nass und kalt. Wir fuhren spätnachmittags von einer Einkaufstour in Newry nach Hause. Mom kauft leidenschaftlich gern in Newry, direkt hinter der Grenze ein – die Ware ist ihr Geld wert, dort im Norden, sagt sie. Die Straße aus Newry heraus nach Dundalk schlängelt sich einen steilen Berg hinauf. Am Anfang dieses Berges gibt es eine Abzweigung, von wo die Hauptstraße gerade weiter nach Süden führt und eine Nebenstraße nach Osten an der Küste von Carlingford Lough entlang und dann südlich rund um die Halbinsel in die Dundalk Bay hinein. Diese Küstenstraße ist an einem schönen Tag herrlich zu fahren. Dad hatte die Angewohnheit – wenn wir uns dieser Abzweigung näherten –, nach hinten ins Auto zu rufen: »Links oder geradeaus?« Wir antworteten dann immer »links«, versprach doch die längere Küstenstraße ein größeres Abenteuer. Meistens fuhr Dad geradeaus weiter, egal was wir gesagt hatten, doch ab und zu bog er auch ab – um den Reiz des Spiels zu bewahren.
An jenem Tag waren nur Anna und ich mit unseren Eltern im Auto – wahrscheinlich waren meine beiden älteren Brüder mit Tante Hannah zu Hause geblieben – und wir riefen: »Links, links, links.« Ich weiß nicht, warum Dad dieses Mal abbog. Es war eigentlich schon zu dunkel, um irgendetwas draußen zu sehen, aber vielleicht hatte er Lust auf die schnellen Kurven oder er war gerade in einem seiner schönen Tagträume gefangen, den er noch ein paar Meilen weiterträumen wollte. Was immer auch der Grund dafür war – es war eine schlechte Wahl.
Diese Straße verläuft direkt neben dem Newry Canal, auf einem schmalen Stück Land zwischen dem Meer und der dunklen Anhöhe der Cooley Mountains. Vier Meilen von Newry entfernt überquert man die Grenze zur Republik Irland. Es gibt dort eine Zollstelle auf der südlichen Seite und manchmal eine Polizei- oder Sicherheitskontrolle auf der nördlichen. Irgendwo zwischen Newry und der Grenze drosselte Dad unvermittelt das Tempo. Ich versuchte, durch die beiden Vordersitze draußen etwas zu erkennen, aber das war wegen der Dunkelheit und des Regens fast unmöglich. Dann plötzlich sah ich den Schein einer Lampe, die langsam hin und her geschwenkt wurde. Meine Eltern unterbrachen sofort ihre Unterhaltung, und in der plötzlichen Stille konnte ich Dads Atem hören, als er das Auto stoppte und sein Seitenfenster herunterkurbelte – dabei rutschte ihm die Hand vom Griff.
Es war nicht das erste Mal, dass wir auf einer Fahrt zwischen Dundalk und Newry angehalten wurden, und Anna und ich saßen deshalb ganz ruhig auf dem Rücksitz, während Dad dem Soldaten seinen Führerschein zeigte und Fragen beantwortete, wer wir waren und was wir im Norden gemacht hätten. Der Soldat forderte Dad auf, auszusteigen und den Kofferraum zu öffnen. Ich hörte, wie der Kofferraum geöffnet wurde und dumpfes Stimmengemurmel. Dann nichts als Stille und Warten. Ein anderer Soldat bückte sich durch die Fahrertür zu uns und richtete sein Gewehr auf Mom und brüllte, wir sollten aussteigen, und dann befahl er uns, am Straßenrand stehen zu bleiben – die Waffe noch immer auf Mom gerichtet –, und im kalten Regen beobachteten wir, wie zwei andere Soldaten unser Auto durchsuchten. Der erste Soldat befragte noch immer Dad hinter dem Auto, und als die Durchsuchung irgendwann zu Ende war, kauerten wir weiter in der kaltnassen Dunkelheit und Dad sammelte Moms verstreute Einkäufe von der Straße auf, um sie in den Wagen zurückzuräumen. Dad klappte den Kofferraumdeckel zu und versuchte, ihn abzuschließen, aber er konnte den Schlüssel nicht in das Schlüsselloch bekommen, und der erste Soldat schubste ihn Richtung Fahrertür, während der zweite uns zurück ins Auto trieb und uns anbrüllte, wir sollten »einsteigen und uns verpissen«. Und obwohl ich erst sechs war, erkannte ich doch, dass dies ein seltsamer, unpassender Befehl war.
Dad bemühte sich nach Leibeskräften, das Auto irgendwie zum Laufen zu bringen, aber schon nach ein paar Metern kam es wieder zum Stillstand. Dad atmete heftig und rüttelte verbissen am Lenkrad, so als ob er dem Motor mit panischer Kraft seinen Willen aufzwingen könnte. Und genau da geschah es. Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass der Soldat aus dem Graben neben uns gekommen sein musste, aber damals schien es mir, als ob das Gewehr einfach so aus der Dunkelheit auftauchte. Dads Fenster war noch immer offen und das erste, was ich sah, war dieses große schwarze Gewehr, das Dad seitlich am Kopf traf. Ich hörte Mom schreien, und neben mir auf der Rückbank packte Anna meinen linken Arm und erstarrte. Ich sah, wie Dad nach dem Schlag wieder zu sich kam, doch als er sich zum Fenster drehte, gab es nur noch diesen Gewehrlauf, der direkt in seinem Mund verschwand. Das einzige Geräusch im Auto war Dads Japsen nach Luft. Die nächsten Worte waren eindeutig: »Ich werde dich töten.« Dann lange Stille, bevor das Gewehr wieder aus dem Fenster verschwand. Dad bewegte sich nicht, Mom blickte noch immer starr geradeaus und Anna war noch immer wie gelähmt.
Die Stille schien kein Ende zu nehmen. Dann erschien ein Kopf am Fenster und beugte sich herein und zog sich wieder zurück, und ich hörte Stimmen und Gelächter. »Hat sich in die Scheiß-Hosen gepisst«, hörte ich den Soldaten grölen, »hat sich in die Scheiß-Hosen gepisst.« Dad saß einfach nur da, sein Kopf fiel vornüber und sein Körper sackte in sich zusammen, weg vom Fenster, in dem jetzt andere Köpfe erschienen, die riefen, »Gib Gas«, »Abhauen«, »Fahr los Paddy Piss-Pants.« Das Gebrüll und Gelächter wollte einfach nicht aufhören, doch Dad hing zusammengesunken in seinem Sitz. Mom lehnte sich zu ihm rüber und nahm sein Gesicht in ihre Hände, seine Schultern zitterten. »Oh Oliver, oh Oliver«, doch er antwortete nicht, und er machte auch keine Anstalten, den Wagen erneut zu starten. Mom ging hinaus in das Gebrüll und Gelächter und nahm Dad hoch und führte ihn vorne ums Auto herum, hin zum Beifahrersitz, ging dann zurück zur Fahrerseite und wischte den Sitz mit dem Tuch ab, das Dad immer zum Scheibensäubern benutzte. Mom würdigte die Soldaten keines Blickes. Dann setzte sie sich ans Steuer, und wir brausten Richtung Süden davon.
»Die Kinder«, war alles, was Dad herausbrachte, doch Mom brachte ihn mit einer kurzen Berührung zum Schweigen, und wir fuhren in aller Stille nach Hause. An jenem Tag wusste ich, dass ich diese Soldaten eines Tages wiedertreffen würde – mit einem großen schwarzen Gewehr im Arm.
Ich besuche Delaney mitten in der Woche nach jener Sonntagsmesse. Ich lehne mein Fahrrad gegen die Backsteinmauer seines Hauses und suche ihn zuerst hinten im Garten.
»Hallo, Chef«, grüße ich ihn. Er taucht zwischen den Kohlreihen auf, grüßt zurück und kommt auf mich zu. Der Garten ist eine Komposition aus quadratischen Flächen, die durch akkurat geschnittene Buchsbaumhecken voneinander abgetrennt sind, in jedem Quadrat sind gerade Reihen aufgeschüttet und bepflanzt. Die ganze Anlage ist so adrett und rein wie ein Zeuge Jehovas.
»Was macht das Radfahren?«, begrüßt er mich.
»Was macht der Garten?«, frage ich zurück.
»Viel zu tun im Moment. Kann mich nicht mal umdrehen.« Er schaut mich an, zieht seine Gartenhandschuhe aus und legt seine Hand auf meine Schulter. »Wie geht’s dir mein Junge?«
»So gut wie nie, Chef«, antworte ich. »Und wie geht’s Miss California?«
Er wirft mir diesen Blick zu, seinen typischen Blick zwischen freundlichem Lächeln und höhnischem Grinsen. »Einkaufen mit Delores, Gott sei Dank, so habe ich meine Ruhe hier.« Er zeigt mit dem Kopf Richtung Haus. »Lass uns einen Tee trinken.«
Wir gehen hinein, in eine Küche, die aus einer Good Housekeeping Zeitschrift aus den 1960er Jahren stammen könnte und wahrscheinlich auch stammt.
»Es gibt eine undichte Stelle«, sagt er, während der Wasserkessel auf dem Gasherd anfängt zu kochen. Er steht am Fenster und blickt über den Garten. »Musst dir aber keine Sorgen machen.« Er dreht sich zu mir um. »Wollte nur, dass du es weißt.«
»Wie? Wer?«
»Ist egal, John.« Er dreht sich wieder zum Fenster. »Kümmert sich schon jemand drum. Ist ja auch nichts Neues. Haben sie schon früher versucht. Und versuchen’s jetzt. Und werden es wieder versuchen. Immer mal wieder finden sie einen, der auspackt. Irgendjemand lässt sich immer kaufen oder schmieren; liegt in der Natur des Menschen. Dieser jetzt weiß aber nichts über dich – niemand weiß etwas über dich – nehmen wir es also einfach so hin, als Hinweis, als Warnung.«
Mir läuft’s kalt über den Rücken, als mir die Bedeutung seiner Worte, die Bedrohung, bewusst wird. »Spitzel«, spucke ich aus.
Er sagt nichts, gießt heißes Wasser in eine weiße Porzellan-Teekanne, schüttet es im Spülbecken aus, füllt ein paar Löffel losen Tee in die Kanne und gießt das kochende Wasser aus dem pfeifenden Kessel dazu. Er rührt den Tee um, legt den Deckel wieder auf die Kanne und stellt sie auf den Tisch. »Also dann«, sagt er, »lass uns dichthalten, ganz dicht. Nur wir zwei, keine offenen Fragen, kein Gequatsche und keine Spitzel, über die wir uns Sorgen machen müssen.«
Ich nicke und wir trinken Tee und er redet über Kohl, Möhrenfliegen und Obstnetze.
Seit sieben Jahren besuche ich Delaney schon. Er hat mir nie genau gesagt, wie hoch er in der IRA steht – das spielt für unsere Beziehung auch keine Rolle –, aber ich glaube, er steht ziemlich weit oben. Ich habe ihm schon öfter bei anderen Einsätzen geholfen, aber er hat mich immer abseits gehalten, im Verborgenen. Niemand in der Bewegung weiß, wer ich bin; niemand in der Bewegung weiß, dass es mich überhaupt gibt.
Es hat einige Zeit gedauert, bis ich wusste, was ich brauche und wie ich es gebrauche. Ich lerne immer noch. »Ich helfe dir bei allem, was du tust«, habe ich ihm mal gesagt. »Ich helfe dir bei allem, was du tust, wenn du mir dafür einmal ein großes schwarzes Gewehr besorgst.«
»Lass mich das machen«, sagt er jetzt beim Abschied, »und mach du dir keine Gedanken.«
Aber ich mach mir Gedanken, und als ich nach Hause radle, überdenke ich jeden Schritt unseres Plans, überlege, ob alles niet- und nagelfest ist. Ich komme nach Hause, binde das Gartentor wieder mit dem alten Schnürband zu, Che – unser Schäferhund – springt mit zur Begrüßung entgegen, und wir kabbeln miteinander auf dem Gartenweg.
Bob steht am Schuppen, wo ich immer mein Fahrrad unterstelle. Müssen wir uns Sorgen machen?, fragt er, als ich mein Fahrrad abstelle und die Schuppentür zuschlage. Haben Delaney und Donnelly einen Denkfehler in ihrem großartigen Plan zur Befreiung Irlands?
Ich ignoriere ihn. Es sollte klappen – wir haben den Plan Schritt für Schritt und sehr sorgfältig ausgearbeitet. Er ist hundert Prozent dicht und todsicher.
Das haben sie bei der Titanic auch gesagt, bemerkt Bob, während ich mit Che um das Haus herumtolle.
Ich sehe Clara draußen auf der Straße. Sie radelt hochkonzentriert den Gehweg entlang. Sie weiß, dass ich da bin, und sie möchte, dass ich sie sehe. Ich traue mich nicht, sie zu rufen, denn dann würde sie zum Winken eine Hand loslassen. Deswegen gehe ich zum Gartentor und lehne mich einfach darüber.
»Toll machst du das«, ermutige ich sie. »Du bist ein Naturtalent. Wir werden dich bei der Tour de France anmelden.«
Sie stoppt und schaut mich an, »Was ist das, die Tour de France?«
»Ein Rennen für Verrückte«, erkläre ich ihr. »Also wie für dich gemacht.«
»Du bist lustig«, sagt sie und radelt davon, und ich schaue dem roten Fahrrad nach, das ich ihr zum Geburtstag geschenkt habe.
Ich war sieben, als ich mein rotes Fahrrad zu Weihnachten bekam. Ich hatte es mir so sehr gewünscht, und ich konnte gar nicht glauben, dass es am Weihnachtsmorgen wirklich vor mir stand. Ich konnte nicht glauben, dass es für mich war.
Ich hatte schon auf Annas kleinem Rad fahren gelernt und dann später auf Peters, und wenn er weg war zum Fußballspielen oder bei den Pfadfindern oder sonst irgendwo, dann holte ich mir sein Raleigh-Rad aus dem Schuppen und fuhr damit rund um den Vorgarten. Peters Raleigh war viel zu groß für mich – meine Füße reichten gar nicht bis zu den Pedalen, wenn ich auf dem Sattel saß –, und so musste ich im Stehen fahren, wobei mein kleiner Körper immer hoch- und runterging, was sehr mühsam war und wodurch das ganze Abenteuer noch einen Kirmes-Kick bekam. Es war großartig, und ich wartete immer bis zur letzten Minute, bevor ich das Rad in den Schuppen zurückbrachte und versuchte schnell alles wieder so herzurichten, dass er nichts merkte. »Irgendwann kriegt er dich«, prophezeite mir meine Mutter, »und dann kommst du zu mir gerannt, damit ich dich beschütze.« Declan hat nie ein eigenes Fahrrad besessen; ich glaube, dass er nicht gerne Fahrrad fuhr. Ist das nicht sonderbar?
Und dann, endlich, hatte ich mein eigenes Rad – ein wunderschönes rotes Fahrrad –, und ich fuhr jeden Tag rund um den Garten. Zu jener Zeit lebten wir in einer städtischen Wohnsiedlung mit rund hundert Häusern. Die Siedlung bestand an einem Ende aus rechteckig angeordneten Wohnblocks und am anderen Ende aus einer offenen U-förmigen Anordnung. Es sah aus, als ob die Architekten sich nicht auf eine Form hatten einigen können und deswegen einfach beide berücksichtigt haben. Wir wohnten an der Ecke eines dieser rechteckigen Blocks.