Einfach nur Liebe - Marliese Arold - E-Book

Einfach nur Liebe E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

In diesem romantischen Jugendroman ab 12 Jahren geht Marliese Arold gefühlvoll auf das Thema Homosexualität ein und stellt authentisch das Coming-Out eines jungen Mädchens dar. Dabei zeigt sie, dass Liebe einfach Liebe ist, ob man nun lesbisch, schwul oder bisexuell ist.   Alle beobachten erwartungsvoll Sandras Freundschaft zu Thomas. Sandra spürt, wie sie sich fragen, wann endlich mehr daraus wird. Dabei kann sie mit Thomas einfach super reden, aber so richtig verliebt ist sie eigentlich nicht! Von Meikes wunderbaren Augen fühlt sie sich dagegen sofort wie verzaubert. Hat sie sich tatsächlich in ein Mädchen verliebt? Plötzlich stürzt Sandra in ein Durcheinander aus Vorurteilen, Angst, Ablehnung, Versteckspielerei und einem ganz neuen, wunderschönen und großen Gefühl!

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Inhalt

Kapitel 1 – Sandra war als …

Kapitel 2 – „Ich hab so …

Kapitel 3 – Das Jugendhaus stand …

Kapitel 4 – Isabell nahm die …

Kapitel 5 – Sandra lag in der …

Kapitel 6 – Am Abend entlud …

Kapitel 7 – „Meike Scheerer.“ …

Kapitel 8 – Zu Hause behauptete …

Kapitel 9 – „Du hast Fieber“, …

Kapitel 10 – Am Donnerstag ging …

Kapitel 11 – Sie gingen schweigend …

Kapitel 12 – Das rauschhafte Gefühl …

Kapitel 13 – Meike nahm Sandra …

Kapitel 14 – „Fünfhundertdreizehn“, verkündete Meike …

Kapitel 15 – Sandra war ganz aufgeregt, …

Kapitel 16 – Unruhig rutschte Sandra auf …

Kapitel 17 – „Das müssen wir …

1

Sandra war als Erste oben. Sie schob ihr Rad in den Burghof. Dabei scheuchte sie einige Rebhühner auf, die es sich im Gras gemütlich gemacht hatten.

„Verzieht euch bloß! Jetzt kommen die gefährlichen Raubritter!“

Sandra lachte. Es sah aber auch zu witzig aus, wie die Vögel hastig davontrippelten und sich dabei nach links und rechts neigten wie wackelige alte Tanten.

Sandra beschirmte die Augen und schaute sich um. Die Ruine war wirklich ein hübscher Ort für ein Picknick: grasüberwachsene Terrassen, tiefe Brunnenlöcher und schreckliche Burgverliese …

Thomas hatte sich wieder einmal als guter Organisator erwiesen.

Jetzt kam endlich auch Jan.

Er war hochgefahren, während die beiden anderen ihre Räder schoben.

„Na, du kommst ja auch schon“, empfing Sandra Jan und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich warte hier schon seit Stunden.“

„Du willst uns wohl beweisen, wie fit du bist?“ Jan grinste breit.

„Na klar. Ich bin die Jüngste und habe die beste Kondition“, gab Sandra zurück.

Mit seinem zerstrubbelten blonden Haar sah Jan richtig süß aus. Sie konnte gut verstehen, warum Isabell sich in ihn verknallt hatte. Ihr Fall war er nicht, ohne dass sie hätte sagen können, woran es lag.

Jan war blond und hatte blasse Haut. Dunkle Haare und ein brauner Teint gefielen Sandra besser, so wie Thomas vielleicht. Isabell fand ja, dass sie ein ideales Quartett abgeben würden, sie und Jan, Sandra und Thomas … Aber so weit war die Sache noch nicht.

„Habt ihr schon alle Burggespenster verscheucht?“, rief Thomas vom Torbogen her.

„Nö, wir haben noch ein paar für euch übrig gelassen“, antwortete Jan.

„Ich brauch jetzt erst mal was zu trinken“, japste Isabell. Sie wühlte in ihren Gepäcktaschen, fand eine Flasche Mineralwasser, setzte an und trank. Vor einer Woche hatte sie ihr langes Haar üppig locken lassen, und jetzt sah sie aus wie ein durstiger Rauschgoldengel.

Der Aufstieg zur Burg war steil, und obwohl der Weg die meiste Zeit durch den Wald führte, geriet man ganz schön ins Schwitzen. Es war richtiges Bilderbuchwetter für ein Picknick.

Neben dem alten Burgbrunnen wuchs ein großer Nussbaum. Sandra kletterte auf eine Mauer. Sie breitete überschwänglich die Arme aus. „Hier ist ein schöner schattiger Platz“, verkündete sie. „Und man hat ’ne klasse Aussicht.“

Thomas musste natürlich gleich seinen Fotoapparat zücken und den Panoramablick knipsen: Den Fluss, der sich sanft durchs Tal wand, die winzigen Häuser am anderen Ufer und die bewaldeten Hänge. Selbst Isabell gab zu, dass sich die Schinderei rauf zur Burg gelohnt hatte.

„Los, jetzt stürmen wir das Gemäuer“, schlug Jan vor.

„Zuerst brauch ich was zwischen die Zähne.“ Isabell tippte sich an die Stirn. Nach der Radtour hatte sie erst einmal genug. „Denkst du, ich bin so wahnsinnig und klettere gleich den Turm hoch? Ich will doch nicht bei der nächsten Olympiade mitmachen!“

„Ob man auf den Turm überhaupt noch raufkann?“, überlegte Thomas. „Das Ding sieht ziemlich baufällig aus.“

Sandra suchte schon den Eingang. Die morsche Holztür fiel fast aus den Angeln, als sie sie öffnete.

„Huch, hier drin ist es aber dunkel!“, rief Sandra aus dem Innern des Turms. „Eine Treppe ist da, glaub ich. Aber ich seh nicht viel. Hat jemand zufällig eine Taschenlampe dabei?“

„Ich“, antwortete Thomas. „Warte, ich komme.“

„Der Mann hat an alles gedacht“, neckte Jan seinen Freund.

„Im Gegensatz zu dir“, sagte Isabell, die schon die Gepäcktaschen auspackte. „Ich wette, du hast dein Taschenmesser vergessen. Ich habe nämlich ’ne ganze Menge Äpfel mitgenommen. Die aus Omas Garten, du weißt schon. Die sind immer richtig saftig, aber todsicher in der Mitte wurmig.“

„So ein kleiner Wurm bringt uns doch nicht um“, meinte Jan. Als er einen vorwurfsvollen Blick erntete, zauberte er sein Taschenmesser aus der Hosentasche. „Natürlich hab ich dran gedacht.“

Thomas war inzwischen bei Sandra im Turm und ließ den Kegel seiner Taschenlampe kreisen.

„Die Treppe sieht nicht gerade sicher aus.“

„Was wär das Leben ohne Gefahren?“, fragte Sandra theatralisch. „Ich klettere trotzdem rauf. Ich möchte nämlich wissen, wie das war – in so einem Turm eingesperrt zu sein. Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter, und so.“

Thomas lachte. „Hoffentlich brichst du dir nicht den Knöchel. Ich bin hinter dir, falls du fällst.“

„Wie tröstlich.“

Sandra ging voraus. Die Treppe war wirklich in einem sehr schlechten Zustand. Die meisten Stufen wackelten, andere fehlten ganz, und alle waren in der Mitte tief ausgetreten.

„Eigentlich müsste unten ein Verbotsschild hängen“, bemerkte Thomas, als sie an einem Absatz angelangt waren. Das nächste Stück sah noch schlimmer aus.

„Glaubst du, dass sich jemand daran halten würde?“

„Es wollen sich ja nicht alle Leute den Hals brechen so wie du!“

„So schätzt du mich also ein? Danke! Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid.“

„Na ja, du musst doch zugeben – du und Isabell, ihr seid ziemlich verschieden.“

„Wär auch langweilig auf der Welt, wenn alle Menschen gleich wären, findest du nicht?“

Sandra verstummte plötzlich. Thomas war ihr so nah, seine Augen schimmerten dunkel. Gleich würde er sie küssen, da war sie sich sicher.

Wollte sie das?

Warum eigentlich nicht?

Thomas umarmte sie. Er wusste nicht, wohin mit der Lampe, murmelte verlegen „Scheiße“ und knipste das Licht aus.

Aber Sandra fand die Dunkelheit nicht unbedingt romantischer. Sie fühlte, dass Thomas’ Herz wie wild pochte. Wie verdammt aufgeregt er ist, schoss es ihr durch den Kopf.

Dann spürte sie seine Lippen auf ihren, sie schmeckten ein bisschen nach Schweiß und nach Pfefferminz, und das war schon ziemlich alles.

Thomas ließ sie wieder los und fingerte an der Taschenlampe herum, bis das Licht anging. Sandra blinzelte. Thomas war schrecklich verlegen.

„Wollen wir noch weiter?“ Er bekam einen knallroten Kopf, als hätte er etwas Doppeldeutiges gesagt.

„Klar, ich will ganz rauf“, antwortete Sandra.

Fast war sie froh darüber, dass die Treppe jetzt noch schwieriger wurde, sodass sie sich ganz aufs Klettern konzentrieren mussten.

Obwohl der Kuss alles andere als sensationell gewesen war, wirbelte es in ihrem Kopf ganz schön durcheinander. Sie hatte Thomas gern.

Mit ihm konnte sie sich prima unterhalten, sie konnten miteinander albern, kurz, sie hatten die gleiche Wellenlänge. Es machte Sandra Spaß, mit Thomas befreundet zu sein. Und eigentlich war es ja klar, dass sie irgendwann anfingen, sich zu küssen.

Bloß – Sandra hatte es sich ganz anders vorgestellt, Thomas zu küssen. So ein Kribbeln vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, ein wahnsinniges Herzklopfen bis zum Hals, ein total wunderbares Glücksgefühl … Eben genau so, wie die Frauen in Romanen und Filmen empfanden, wenn es sie erwischt hatte.

Aber Sandra fühlte gar nichts Besonderes. Genau genommen war es nicht viel anders gewesen als die halbherzige Küsserei auf der einen oder anderen Party. Das hatte ihr nie viel bedeutet. Sie hatte gedacht, dass es anders sein würde, wenn sie sich mal verliebte.

Das war der Punkt. War sie überhaupt in Thomas verliebt? War man schon verliebt, wenn es einem gefiel, wie einem Jungen die Locken in die Stirn rutschten oder wie er lächelte? Wenn man sich einfach gut mit ihm unterhalten konnte?

Wenn das alles war, dann war es ziemlich enttäuschend!

Oder konnte Thomas bloß schlecht küssen?

Die Steintreppe war zu Ende. Das restliche Stück führte eine wenig Vertrauen erweckende Holztreppe nach oben. Sandra berührte das Geländer. Es wackelte und knarrte.

„Geh da lieber nicht rauf“, warnte Thomas.

Sandra grinste ihn über die Schulter hinweg an. „Besuchst du mich im Krankenhaus?“

„Im Krankenhaus schon, aber ich hasse Beerdigungen!“

Sie kicherte und setzte prüfend einen Fuß auf die Stufe. Die Holzbohle knirschte, aber sie hielt. Sandra kletterte weiter. Das Geländer war ein Witz.

„Was willst du dir eigentlich beweisen, wenn du dir den Hals brichst?“, fragte Thomas, aber er kraxelte tapfer hinter ihr her.

„Glaubst du, ich mache diese anstrengende Radtour, und dann steht hier so ein toller Turm, und ich geh nicht rauf? Da kennst du mich schlecht! Außerdem liebe ich Burgruinen, und ich hab mir früher oft vorgestellt, ich wär eine feine Dame und müsste auf so einer alten Burg wohnen. Und immer, wenn ich aus dem Fenster gucke, dann sehe ich, wie in der Ferne arme Kaufleute von Raubrittern überfallen werden …“

„Du hast vielleicht ’ne blutrünstige Fantasie!“

„… und dann schicke ich meinen Ritter aus, damit er den Kaufleuten zu Hilfe eilt. Oder ich reite selbst los. Ich habe einen schwarzen Hengst namens Mangolo …“

„Brrrr, das klingt wie Mangold, und mit diesem Gemüse kannst du mich jagen!“

„Mann, du nervst!“ Sandra konnte vor lauter Lachen fast nicht weitergehen. „Was hast du eigentlich davon, mir meine ganzen Jugendträume kaputt zu machen?“

„Sorry. Ich mach sie nicht kaputt. Erzähl nur weiter von Sandra, Freifrau von Rohlingen, und Thomas, dem radfahrenden Ritter.“

„Ich kann nicht mehr“, keuchte Sandra und hielt sich an der Mauer fest. „Wenn ich runterfalle, bist du schuld.“

„Im Ernst, wenn dir solche Sachen Spaß machen, warum kommst du dann nicht einfach mal mit ins Jugendhaus? Dort haben wir ’ne Theater-AG. Vielleicht hast du ja Lust mitzuspielen.“

„Na, ich weiß nicht.“ Sandra zögerte. Der Gedanke war schon verlockend. Andererseits war sie nicht der Typ, der sich stundenlang in sein Kämmerlein zurückziehen konnte, um Texte auswendig zu lernen. „Was spielt ihr denn gerade? Gibt’s da ’ne Nebenfigur, die nicht viel zu sagen hat? Vielleicht eine stumme Dienerin?“

„Wir sind uns noch nicht ganz über das nächste Stück einig. Wahrscheinlich werden wir Frühlings Erwachen spielen.“

„Sagt mir nichts.“ Sandra schüttelte den Kopf.

„Ist von Wedekind.“

„Auch so ’n toter Dichter?“

„Tot schon, aber sein Stück ist trotzdem ziemlich aktuell, sagt Rolf. Komm doch einfach mal mit.“

„Na gut. Ich werde drüber nachdenken.“

Sandra hatte die letzte Stufe erreicht und stieß die Holztür auf. Sie musste die Augen zukneifen, so sehr blendete sie die Sonne. Sie waren auf der Plattform angekommen.

„Huch, ganz schön hoch.“ Sie trat an die Brüstung und schaute hinunter. „Das muss ja mal eine riesige Anlage gewesen sein.“

Der Burggraben war überwuchert von Brombeeren und Dornengestrüpp, und von manchen Gebäuden standen nur noch Mauerreste. Thomas ging zur anderen Seite.

„Von hier aus sehe ich Jan und Isabell“, verkündete er. „Und weißt du, was sie gerade machen?“, fragte Thomas empört.

„Knutschen, was sonst?“, erwiderte Sandra trocken.

„Irrtum, die fressen unseren ganzen Proviant auf!“ Er lehnte sich über die Brüstung und brüllte: „He, ihr! Hallo! Lasst noch was übrig!“

„Da müsst ihr aber schnell runterkommen!“, rief Isabell zurück.

„Die Salamibrote sind gleich weg“, drohte Jan.

„Undankbares Pack!“, schimpfte Thomas. „Denen werde ich noch mal den Weg zeigen. Ich hätte sie an der letzten Abzweigung nach links fahren lassen sollen, dann wären sie in Lauterbrunn gelandet. Das ist das letzte Kaff. Dort gibt’s nicht mal einen Kiosk, geschweige denn einen Getränkeautomaten. He, was liest du da so interessiert?“

Sandra studierte die Inschriften an der Holztür. Mit dem Finger fuhr sie die windschiefen Herzchen nach und entzifferte die verwitterten Liebeserklärungen.

„Da sind uralte Sachen dabei“, stellte sie begeistert fest. „Burkhardt liebt Sabine. Das ist schon fast dreißig Jahre her. Ob aus den beiden was geworden ist? – Oder hier: Heike und Heiko. Die waren vor vierundzwanzig Jahren hier oben. Ich wette, Heiko hat inzwischen eine Glatze und ist in der Midlife-Crisis.“

„Und Heike hat sich einen jungen Geliebten zugelegt“, ergänzte Thomas.

„Oder die beiden sind längst geschieden.“ Sandra suchte weiter. „Mal sehen, ob ich was Neueres finde. Ah, hier. Aus dem vorigen Jahr: Andy und Martina. Oder hier, das ist auch noch ganz frisch: Brigitte und …“, sie stutzte kurz, „… Hanna.“

Thomas zückte sein Taschenmesser. „Lass mich mal ran.“

„Du Idiot!“ Sandra knuffte ihn in die Rippen. „Ich will kein Herz mit unseren Namen darin.“

Thomas sah so enttäuscht aus, dass sich Sandra beeilte, die Sache wieder zurechtzubiegen. „Bis du mit der Schnitzerei fertig bist, haben die unten bestimmt alles aufgefuttert. Lass uns lieber wieder runtergehen.“

„Na gut.“ Thomas steckte das Messer ein. Sandra entwand ihm die Taschenlampe und kletterte die Stufen wieder hinunter.

„Sei bloß vorsichtig!“

„Bin ich doch.“ Sandra senkte die Lampe und rief so laut, dass es im Turm dröhnte: „Huhu, jetzt kommen die wilden Burggespenster!“

„Du wirst dir doch noch den Hals brechen!“

„Na, und wenn schon! Dann bin ich ein Geist und spuke wirklich jede Nacht, das verspreche ich dir!“

2

„Ich hab so ein blödes Gefühl im Bauch“, stöhnte Sandra in der kleinen Pause. Sie saß mit Isabell auf dem Fensterbrett im Gang vor dem Klassenzimmer. „Wir schreiben in Erdkunde bestimmt eine Arbeit. Verdammt, Bienchen erwischt mich wieder mal blank.“

Sie fing an, im Buch herumzublättern, aber weil sie die Seite nicht auf Anhieb fand, gab sie es auf. „Wenn ich ’ne Fünf schreibe, dann kriege ich …“ Sie begann zu rechnen. „Scheibenhonig. Das letzte Mal war schon nicht so berühmt. Du musst mir helfen. He!“ Sie zog Isabell das Heft weg. „Hast du überhaupt ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?“

„Klar lass ich dich abschreiben“, versprach Isabell. „Mach ich doch immer!“

Sandra stellte mit leisem Neid fest, dass ihre Freundin in diesem Moment richtig glücklich aussah. Weder drohende Arbeiten noch Unmengen von Hausaufgaben schienen Isabells strahlende Laune zu beeinträchtigen. Seitdem sie mit Jan ging, war sie tatsächlich fast ununterbrochen fröhlich, und alle Probleme – vorausgesetzt, sie hatten nichts mit Jan zu tun – schrumpften zu winzigen Nichtigkeiten.

Sandra seufzte. „Ich wünsch mir auch so ’ne rosarote Brille, wie du sie hast.“

Isabell runzelte die Stirn. Dann fing sie an zu lachen. „Ach, Sandra, ich versteh wirklich nicht, was mit dir los ist. Ist es wegen Thomas? Der ist total in dich verknallt, das merkt doch ein Blinder. Vielleicht ist er ein bisschen schüchtern, aber … aber ich dachte, seit dem Ausflug klappt es zwischen euch.“

„Ach!“ Sandra trommelte nervös auf das Fensterbrett. „Ich weiß selbst nicht, was ich will. Ich finde Thomas nett, er gefällt mir wirklich gut und … äh … na ja, geküsst hat er mich auch schon mal, aber irgendwie …“ Sie sah Isabell direkt an. „Ehrlich, ich hab’s mir toller vorgestellt.“

„Ach, komm. Manche Küsse sind halt aufregender als andere. Das ist bei Jan und mir genauso. Und ihr seid erst am Anfang. Ich hab ja schon gesagt, dass Thomas eben recht schüchtern ist. Er muss erst aus sich rausgehen … Du bist ihm vielleicht zu forsch …“

„Zu forsch? Ich?“ Sandra schnaubte. Gleich darauf beruhigte sie sich wieder. Isabell hatte sie ja nicht kränken wollen. Aber offenbar begriff sie nicht ganz, was Sandra meinte.

„Ich hab mir schon manchmal gedacht, dass alles einfach nur eine ganz große Lüge ist“, sagte Sandra dumpf. „Liebe und Leidenschaft und so. Das Wahnsinnsgefühl, das sich angeblich abspielt. Vielleicht ist alles nur erstunken und erlogen.“

Isabell schüttelte den Kopf und legte die Hand auf Sandras Arm.

„Bestimmt nicht.“

„Woher willst du das wissen? Ein gigantischer, weltweiter Betrug! Ach, natürlich weißt du es. Du und Jan, das ist der siebte Himmel! Ihr beide fresst das Glück mit Löffeln. Mensch, sag mir doch, was geht da bei dir ab, in deinem Kopf, in deinem Bauch?“

Sandra sah, wie Isabell rot wurde. Das hatte sie nicht beabsichtigt! Sie schubste sie kumpelhaft an der Schulter.

„Mann, jetzt sei bloß nicht so schüchtern! Wen soll ich denn sonst fragen? Meine Mutter vielleicht? Und den Leserzuschriften in den Zeitschriften traue ich nicht! In der Disco traf ich meine große Liebe …“

Isabell druckste noch ein bisschen herum. „Es ist eben einfach toll“, meinte sie dann verlegen. „Weißt du, wenn du morgens aufstehst, dann fängst du schon an, dich zu freuen. Nur darüber, dass es dich gibt und ihn … Und da ist so ein warmes Gefühl hier drin“, sie deutete auf ihre Brust, „das macht dich fast verrückt. Das ist ein richtiges Feuer. Natürlich hab ich auch Herzklopfen, wenn ich Jan sehe. Ich kann ihm in die Augen gucken – und es ist unbeschreiblich. Irgendwie hab ich dann den Eindruck, ich kann so tief gucken, dass ich weiß, was er denkt – und umgekehrt natürlich auch. Wir haben keine Geheimnisse voreinander, wir können uns alles sagen … ach, was willst du denn noch wissen?“

Sandra stützte das Kinn in die Hand und brütete vor sich hin.

„Wenn das so ist, dann bin ich in Thomas kein bisschen verliebt“, murmelte sie. „Ich kann mit ihm rumalbern, und manchmal muss ich lachen, bis mir der Bauch wehtut – aber romantisch ist mir nie zumute. Und wenn ich morgens Muffellaune habe, wird es auch nicht besser, wenn ich an Thomas denke.“

„Auch alles andere ist viel schöner“, schwärmte Isabell.

„Ich weiß“, unterbrach Sandra sie. „Der Himmel ist blauer, das Gras grüner, und die Leute sind netter, wenn man verliebt ist.“

Isabell lachte. „So ungefähr.“

„Du Glückspilz“, sagte Sandra. „Ich will auch mal verliebt sein. Ich will auch all diese tollen Gefühle haben. Warum werden niemals Kurse zu diesem Thema angeboten, zum Beispiel: Verlieben, aber richtig?“

„Vielleicht, weil es nichts ist, was man mit dem Verstand steuern kann.“ Isabell konnte vor lauter Kichern fast nicht reden. Auf welche Ideen Sandra immer kam! „Das passiert einfach. Du kannst nichts dagegen tun. Peng – und schon bist du verliebt.“

„Peng“, wiederholte Sandra nachdenklich. „Meinst du den berühmten Pfeil von Amor? Hör mal, diesen unverschämten Knaben müsste man eigentlich wegen Körperverletzung anzeigen!“

Isabell fiel fast vom Fensterbrett vor Lachen. Als Herr Drohne, ihr Erdkundelehrer, an ihnen vorbeiging, hatte sie sich noch immer nicht beruhigt.

„Was gibt’s denn so Lustiges, Isabell?“, fragte Herr Drohne, der den Spitznamen Bienchen hatte.

Isabell konnte nicht sprechen. Sie gurgelte in ihr Taschentuch, aber je mehr sie versuchte, das Lachen zu unterdrücken, desto mehr gluckste sie. Auch als sie längst wieder auf ihrem Platz saß, konnte sie noch nicht aufhören zu lachen.

Herr Drohne sah eine Weile zu, dann klopfte er energisch aufs Pult.

„Ruhe! Isabell, wenn du uns den Witz schon nicht erzählen willst, dann kannst du uns vielleicht etwas über die Bodenschätze in Südamerika sagen?“

Isabell brauchte eine Weile, ehe sie begriff, dass Herr Drohne es mit der Abfrage ernst meinte. Sandra hätte passen müssen, aber zum Glück konnte Isabell fast immer antworten.

„Tut mir leid, dass Bienchen dich erwischt hat“, flüsterte Sandra, als Isabell von der Tafel zurückkam. „Meine Schuld.“

„Schon gut“, gab Isabell zurück. „Ich hab ja das meiste gewusst.“ Sie konnte Sandra immer noch nicht ansehen, weil sie Angst hatte, dann wieder so schrecklich lachen zu müssen.

Sandra war froh, dass sie in dieser Stunde offenbar doch keine Arbeit schrieben. Auf ein weiteres „Mangelhaft“ konnte sie gut verzichten. Während Herr Drohne von den Problemen der Landwirtschaft in Südamerika erzählte, kritzelte sie auf einen Zettel: Ich will heute Nachmittag mit Thomas ins Jugendhaus. Dort gibt es eine Theater-AG. Kommst du auch mit?

Als sich Herr Drohne umdrehte, schob Sandra den Zettel zu Isabell.

Vorsicht, Bienchen schaut heute dauernd her zu uns! – Ich kann leider nicht schauspielern, schrieb Isabell zurück.

„Und ich kann mir keinen Text merken“, flüsterte Sandra. „Komm doch trotzdem mit, es wird bestimmt lustig.“

„Tut mir leid, ich bin schon mit Jan verabredet“, antwortete Isabell.

Sandra zog die Schultern hoch. Dann eben nicht. Sie konnte sich vorstellen, dass Isabell keine große Lust zum Theaterspielen hatte. Schon damals, als sie in der sechsten Klasse Robin Hood aufgeführt hatten, war Isabell immer schrecklich aufgeregt gewesen. Das hatte sich mittlerweile bestimmt nicht gelegt. Sandra dagegen fand die Bühnenatmosphäre toll. Es gefiel ihr, in andere Rollen zu schlüpfen und sich eine Zeit lang vorzustellen, jemand anders zu sein. Nur der leidige Text …

Wie es heute Nachmittag wohl werden würde? Thomas und sie taten so, als hätte es den Kuss im Turm nicht gegeben. Das war auch schon eine Art Schauspielerei. Ob sich das Kribbeln im Bauch vielleicht doch noch einstellen würde? Sandra schlug ihren Atlas auf und starrte auf die Karte von Südamerika. Mit ihren Gedanken war sie jedoch ganz woanders.

3

Das Jugendhaus stand an der Baseler Straße. Obwohl die Wände des Altbaus mit leuchtenden Graffiti besprüht waren, wirkte das Haus düster und abweisend. Thomas bemerkte Sandras Reaktion.

„Ich weiß, es ist so ziemlich das hässlichste Haus hier in der Stadt“, sagte er. „Deswegen hat man es uns ja auch zur Verfügung gestellt. Innen sieht es besser aus, ehrlich.“