Einfach. Wir zwei. - Tammara Webber - E-Book

Einfach. Wir zwei. E-Book

Tammara Webber

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe ist einfach: Wir zwei bis ans Ende der Welt ...

Boyce Wynn hatte es niemals ganz leicht. Nach dem Tod seines verhassten Vaters scheint endlich ein wenig Licht in sein Leben zu kommen, doch noch ahnt er nicht, dass das Schicksal bald noch etwas viel Größeres für ihn bereithalten wird. Pearl Frank steht vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens. Soll sie wie immer das tun, was alle von ihr erwarten, oder sich für das entscheiden, für das ihr Herz wirklich schlägt? Auch sie weiß nicht, wie sehr sich bald wirklich alles verändern wird. Denn nach langer Zeit treffen Boyce und Pearl wieder aufeinander – eine Begegnung, die alles auf den Kopf stellt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 527

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Wenn Boyce Wynn sich an seine Kindheit erinnert, schwelgt er nicht in schönen Erinnerungen. Doch nach dem Tod seines verhassten Vaters, unter dem er seit er denken kann gelitten hat, scheint endlich wieder Licht in sein Leben zu kommen.

Pearl Frank, bildhübsch, intelligent und aus besten Verhältnissen, steht erstmals vor einer Entscheidung, die ihr Leben völlig verändern wird. Soll sie sich für das Medizinstudium entscheiden, wie alle es von ihr erwarten, oder auf die Stimme in ihrem Inneren hören und ein Studium wählen, für das ihr Herz wirklich schlägt – Meeresbiologie? Schon immer verbindet Pearl eine ganz besondere Beziehung zum Meer, jenem Ort, der für Pearl als Kind beinahe das Ende bedeutet hätte. Als sie fünf Jahre alt war, wäre sie beinahe ertrunken, wäre nicht Boyce zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Seit jenem Moment verbindet Pearl und Boyce ein Band, das stärker ist als jedes Tau, auch Jahre nach ihrer letzten Begegnung. Doch wird es auch einer gemeinsamen Zukunft bestehen können?

Autorin

Tammara Webber liebt Happy Ends, von denen es im wahren Leben einfach nie genug gibt. Die Publikationsgeschichte ihres Romans Einfach. Liebe. hat allerdings ein Happy End: Tammara Webber veröffentlichte ihn zunächst selbst im Internet – und prompt wurde es ein New-York-Times-Bestseller. Zehntausende begeisterter Leser machten Verlage in den USA und anderen Ländern darauf aufmerksam, die sich die Rechte sicherten. Seitdem ist Tammara Webber auch international erfolgreich. Einfach. Wir zwei. ist nach dem Spiegel-Bestseller Einfach. Für Dich. ihr dritter Roman bei Blanvalet.

Besuchen Sie Tammara Webber auch auf www.facebook.com und www.tammarawebber.comVon Tammara Webber bereits erschienen:

Einfach. Liebe.

Einfach. Für Dich.Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Tammara Webber

EINFACH.WIR ZWEI.

Roman

Deutsch von Veronika Dünninger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Sweet«.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by Tammara Webber

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sabine Thiele

Umschlaggestaltung und -illustration: www.buerosued.de

JvN · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18912-9V001

www.blanvalet.de

1

BOYCE

Bud Wynn ist heute Morgen gestorben. Dem behandelnden Arzt zufolge war die Todeszeit 5.23 Uhr. Er starb an einer Lebererkrankung, an Zirrhose, an Komplikationen eines Aszites, die zu einem Herzversagen führten – alles davon wahrscheinlich sicher zutreffend.

Ich sage, er starb am Suff, denn das ist zutreffender als alles andere.

Unter dem Neonlicht des Flurs sahen alle in diesem Krankenhaus so aus, als wären sie dem Tod einen Schritt näher, als sie es vermutlich waren. Ich selbst war da sicher keine Ausnahme – nicht dass ich in absehbarer Zeit vorhatte zu sterben. Vielleicht machte es mich ja zu einem kaltblütigen Dreckskerl, aber jetzt war ich endlich frei – da wollte ich ganz bestimmt nicht abtreten. Frei von diesem feigen, gemeinen alten Mann. Frei von dem Arschloch, das erst meine Mutter und dann meinen Bruder vertrieben hatte – die eine verschwand im Dunkeln wie ein schwereloser Schatten, und der andere lag in einem Grab auf dem Nationalfriedhof Arlington. Frei von der Verantwortung, die ich für seine letzten Tage übernommen hatte, da niemand sonst sie übernehmen wollte.

Zwei Minuten nachdem der Arzt mir etwas Zeit allein mit dem Leichnam gelassen hatte, um Abschied zu nehmen, kam ich ohne Tränen in den Augen wieder heraus und unterzeichnete die Unterlagen, die das Krematorium bevollmächtigten, ihn zu übernehmen. Sie würden ihn in ein Kühlfach in der Wand schieben, wo er die vorgeschriebenen achtundvierzig Stunden abwarten würde, bevor er wieder in Staub verwandelt werden konnte. Es war das, was er wollte.

»Keine verdammte Beerdigung«, hatte er von seinem schäbigen alten Sessel aus gekeucht, als ich eines Abends vor etwa einem halben Jahr zur Tür hereinkam, als wären wir mitten im Gespräch gewesen. Ich blieb im Türrahmen stehen, gab aber keine Antwort. »Keinen gottverdammten Sarg. Und zum Teufel, keine beschissene Trauerfeier. Wirf meine Asche einfach ins Meer.« Irgendetwas an meiner Miene musste ihm verraten haben, dass ich seine sterblichen Überreste nicht in irgendeiner geheuchelten Zeremonie bei Sonnenuntergang ans Wasser schleppen würde. »Oder ins Klo. Ist mir scheißegal.«

Das war unser einziges Gespräch über seinen bevorstehenden Tod.

Als die Sonne über dem Golf aufging, kam ich nach Hause zu einem Ort, der irgendwie anders war als der beschissene kleine Wohnwagen, den ich Stunden zuvor verlassen hatte, denn diesmal würde Bud nie mehr wiederkommen. Ich hatte diesen Ort seit Jahren nach und nach immer mehr für mich in Besitz genommen – hart erkämpftes Gebiet, jeder Zoll davon –, der Wohnwagen und der kleine Backsteinbau, gegen den er sich lehnte: Wynns Autowerkstatt. Aber keines von beidem hatte mir gehört. Nicht bis heute.

Ich ließ die Eingangstür offen und ging schnurstracks zu dem fleckigen Sessel, tiefseeblau in einem früheren Leben, jetzt verblichen und von Klebeband und losen Schrauben notdürftig zusammengehalten. Ich zerrte ihn aus der Ecke und über den schmuddeligen Teppich, wuchtete ihn durch die Eingangstür und die rissigen Betonstufen hinunter in den Hof. Ich starrte auf die Stelle, wo er harmlos und hässlich auf dem abgestorbenen Gras stand.

Dann hob ich ihn hoch und trug ihn in die Mitte der Asphaltauffahrt, die sich der Wohnwagen mit der Werkstatt teilte. Ich nahm mein Feuerzeug und meine Kippen aus der vorderen Hosentasche, während ich auf den Sessel starrte. Erinnerungen an meinen Vater stiegen in mir auf, eine nach der anderen, bis sie alle zu der einen verschmolzen, wie ich ins Zimmer trat und er von diesem Sessel aus sagte: »Hol mir ein Bier, bevor du zu dieser Tür hinaus verschwindest, du nichtsnutziger Schwachkopf.« Dann holte ich ihm jedes Mal eine Dose aus der 24er-Packung im Kühlschrank und reichte sie ihm mit ausgestrecktem Arm, damit er nicht so leicht mein Handgelenk packen und verdrehen oder mich näher zu sich heranzerren und mir eine Faust in die Schulter, die Seite, den Bauch rammen konnte.

Meistens nahm er einfach das Bier entgegen, den Blick auf den flackernden Fernseher geheftet. Ungefähr jedes fünfte Mal versuchte er mich zu fassen zu kriegen. Mein Herzschlag beschleunigte sich bei der Erinnerung. Ich wusste nie, wann er sich auf mich stürzen und wann er mir einfach die Dose aus der Hand reißen und mich ignorieren würde.

Ich steckte mir eine Camel Crush an und genoss den Rauch und die beruhigende Wirkung des Nikotins.

Einmal, als ich siebzehn war, schlug er mich so hart mit der Faust, dass ich fast eine Minute lang keine Luft mehr bekam. Ich dachte, ich würde sterben. Als ich stolperte und stürzte und dabei den Couchtisch umstieß, rastete er erst recht aus. Er holte aus und schwang wieder die Faust, aber ich duckte mich, und er verfehlte mich. Das hatte es noch nie gegeben. Es machte ihn rasend, und er ging auf mich los, als ich auf dem Boden aufschlug und meine Lunge beschloss, wieder ihren Dienst zu tun und mich am Leben zu lassen. Er trat mich einmal, bevor ich mich auf die Füße hochrollte und erkannte, dass ich in den letzten paar Monaten genauso groß geworden war wie er. Er war noch immer schwerer als ich, aber der Gedanke kam mir gar nicht in den Sinn. Ich war verzweifelt und wütend und höllisch verängstigt.

Ich rammte ihm die Faust genau ins Gesicht, und seine Nase knirschte, wie es jede andere auch getan hätte. Warum mich diese Tatsache verblüffte, weiß ich nicht. Aber in diesem Augenblick war das Ende seiner gottgleichen Herrschaft über mich gekommen. Ich sah diese Erkenntnis in seinen Augen dämmern, als er schwankend die Faust schwang und mich wieder verfehlte. Zum ersten Mal trat ich vor, anstatt nach hinten zu taumeln. Ich teilte aus, anstatt einzustecken. Ich schlug, anstatt geschlagen zu werden.

Blutverschmiert schnappte er nach Luft, während ich rückwärts zur Tür ging – er atmete schwer keuchend ein und aus, aber er war am Leben und unverletzt, abgesehen von den Folgen meiner blutigen Fäuste. Ich zeigte auf ihn wie der Sensenmann. »Wag. Es. Nie. Wieder. Mich. Zu. Schlagen.«

»Verpiss dich aus meinem Haus!«, brüllte er mit dem schwachen Krächzen eines alten Mannes.

»Du wirst nicht ewig leben«, sagte ich, aber er hörte mich gar nicht.

Ich warf die noch brennende Kippe auf die Sitzfläche des Sessels, wo sie schwelte und einsank wie eine Krabbe, die sich in den Sand gräbt, und nur ein schwarz umrandetes Loch hinterließ. Ich wollte gerade erneut mein Feuerzeug zücken, als der Sessel auf einmal mit einem befriedigenden Zischen in Flammen aufging.

Ich trat einen Schritt zurück und nahm noch eine Zigarette aus der Packung, steckte sie mir an und sah dann zu, wie sich der Sessel in eine fast quadratische Feuersäule verwandelte, die bald zu Asche zerfallen sein würde.

»Tschüs, Dad«, sagte ich.

PEARL

Meine Hände umklammerten das Lenkrad, und ich holte einmal langsam Luft, als würde ich mich seelisch darauf vorbereiten, ein schweres Gewicht zu heben oder von einer Klippe zu springen. Der Highway 181 nach Süden blieb ein vertrautes, verschwommenes Etwas aus struppigem Gras, knorrigen Mesquitebäumen und Meilen über Meilen mit verwittertem Drahtzaun. Der monotone Anblick war im Allgemeinen tröstlich für mich, denn jeder Meilenanzeiger brachte mich meinem Zuhause näher. Aber heute hatte ich, je näher ich kam, nur umso deutlicher die Konfrontation vor Augen, der ich monatelang aus dem Weg gegangen war, und die Tatsache, dass ich mich nicht länger davor drücken konnte.

Ein ganzes Leben in Tarnung brach weg, und mir blieb nichts anderes als die Wahrheit darüber, wer ich war, und die Tatsache, dass alle anderen es bald wissen würden. Ich schluckte schwer, während die Wirklichkeit ihren Würgegriff um meine Luftröhre verstärkte.

»Mama. Ich werde nicht Medizin studieren.« Ich presste die Worte heraus, testete ihre Wirkung auf meine eigenen Ohren.

Ich kannte meine Mutter gut, und auch wenn ich sie mit Sicherheit schon früher enttäuscht hatte – zum Beispiel durch meine Schüchternheit, die sich in einem zwangsläufigen Mangel an Führungsqualitäten äußerte –, war das hier eine Enttäuschung noch nie dagewesenen Ausmaßes. Das Medizinstudium war mein Leben lang ihr Ziel für mich gewesen. Unser Ziel für mich. Bis ich mit erschreckender Klarheit mitten in einem Harvard-Vorstellungsgespräch im letzten Herbst erkannte, dass die medizinische Laufbahn nicht das war, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen wollte.

In Harvard landete ich letztendlich auf der Warteliste. Mein hervorragender Notendurchschnitt auf dem College und mein überdurchschnittliches Abschneiden bei der medizinischen Aufnahmeprüfung waren nicht der Grund, weshalb ich keine bedingungslose Zulassung bekommen hatte. Die vorklinischen Vereinigungen, denen ich beigetreten war, die Praktika, die ich absolviert hatte, meine Mitgliedschaft in einer Studentinnenverbindung und meine mustergültigen Referenzen – an alledem gab es nichts auszusetzen.

Der ausschlaggebende Faktor war mein Mund, der wie bei einem Fisch immer wieder auf- und zuklappte, anstatt eine zusammenhängende Antwort auf eine absolute Standardfrage der Fakultätsangehörigen zu geben, die das Vorstellungsgespräch leitete.

»Miss Frank«, begann sie, während sie den Blick von den Unterlagen auf dem Tisch vor ihr hob und mich mit einem konzentrierten Lächeln festnagelte, »sagen Sie uns doch bitte – welche Vorbehalte könnten Sie dagegen haben, die medizinische Laufbahn einzuschlagen?«

In ihrem Tonfall lag nichts Vorwurfsvolles. Sie hatte diese Frage zweifellos schon früher gestellt und erwartete im Gegenzug eine kompetente, wohlüberlegte Antwort. Hier war die Gelegenheit, meinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, Medizin an einer Universität zu studieren, die hochqualifizierte Ärzte hervorbrachte (wie zum Beispiel Harvard). Ein nervöser Bewerber würde vielleicht kichernd einen Kommentar bezüglich der Rückzahlung beträchtlicher Studiendarlehen abgeben. Ein selbstbewusster Kandidat wie mein Freund Mitchell würde vielleicht erklären: Ich habe keine Vorbehalte; ich wollte schon immer Arzt werden.

Stattdessen war das Einzige, was ich denken konnte: Ich will nicht. Mein Mund arbeitete verzweifelt, versuchte andere, passendere Worte zu finden, aber sie wollten einfach nicht kommen.

Schließlich platzte ich mit irgendetwas Idiotischem heraus, und nach einer verlegenen Pause verlagerte sich das Frage-und-Antwort-Spiel auf andere Themen. Mir unterliefen keine weiteren Schnitzer, während wir über meine vorklinischen Vorbereitungskurse, Methoden der Bewältigung persönlicher und studienbedingter Herausforderungen und meine Vorstellungen, wie sich die medizinischen Berufe in der nahen Zukunft verändern könnten, diskutierten.

Aber im Taxi zurück zu meinem Hotel konnte ich nur noch an diese eine Frage und die unzähligen passenden Antworten, die ich nicht gegeben hatte, denken. Sobald ich wieder in meinem Zimmer war, rief ich Mitchell an und beantwortete seine Frage nach dem Interview mit einem vagen: »Es war okay. Ich bin nur irgendwie geschafft.« Ich konnte meine neu gewonnene Selbsterkenntnis am Telefon nicht in Worte fassen. Als er nicht genauer nachhakte, wie ich mich geschlagen hätte, war ich mir nicht sicher, ob er mir glaubte, dass ich zu erschöpft für weitere Erzählungen war, oder ob er in Gedanken lediglich bei seinen eigenen Interviewterminen war. Er war eben erst aus Durham zurückgekehrt und würde in zwei Wochen in Cambridge sein. Er würde jeden Aspekt des Interviewverfahrens bei Harvard genau analysieren wollen, bevor er dorthin fuhr.

Ich legte mich schlafen, in der Hoffnung, dass diese ganze Geschichte nur eine vorübergehende geistige Umnachtung war, aber als Mitchell mich am nächsten Nachmittag am Flughafen abholte, war ich mir nur noch sicherer geworden – ich wollte nicht Medizin studieren. Wir hatten unsere jeweilige Zukunft so geplant wie alles andere in unserem Leben auch: jedes Detail strategisch durchdacht, jede Möglichkeit in Betracht gezogen. Bis auf die, dass er sein Medizinstudium aufnimmt und ich … nicht.

An jenem Abend, bei Short Ribs im Péché, gestand ich ihm die Wahrheit.

Mit gefurchten Augenbrauen hörte er auf zu kauen, wischte sich die Finger ab und nippte an seinem Pisco Sour, bevor er antwortete. »Was soll das heißen, du siehst dich nicht Medizin studieren? Das klingt ja ganz so, als ob du das Interview vermasselt hast – und das auch noch bei Harvard, mein Gott –, aber du hast schließlich noch mehrere andere an Land gezogen. Irgendwo wirst du schon unterkommen. Duke. Vanderbilt. UT Southwestern, wenn’s sein muss. Wirf doch nicht gleich die Flinte ins Korn.«

Ich war seit über einem Jahr mit Mitchell zusammen, aber ich konnte mich nie an sein stures Ausweichmanöver gewöhnen, ich solle eine »positive Haltung« bewahren, sobald ich irgendwelche Bedenken äußerte oder über irgendeine Besorgnis reden wollte. Optimismus ist ja gut und schön, aber er löst keine Probleme. Man sollte meinen, dass Mitchell das als künftiger Arzt wüsste. Aber andererseits hatte ich manchmal auch den Eindruck, dass diese Notwendigkeit zwanghafter Begeisterung nur für mich galt.

»Ich werfe nicht die Flinte ins Korn, Mitchell. Ich versuche dir zu sagen, dass ich keine Ärztin werden will. Das heißt, es spielt keine Rolle, ob und wenn ja, wo ich unterkommen kann.« Ich wusste, dass er enttäuscht und vermutlich schockiert war, daher ließ ich ihm etwas Zeit, den Dämpfer zu verdauen, den ich unserer gemeinsamen Zukunft soeben verpasst hatte.

Er schwieg geschlagene zwei Minuten, und dann sagte er: »Willst du mich verarschen?«

Sein angespannter Kiefer und sein starrer Blick waren mir nur allzu vertraut. Monate zuvor hatten wir allein in seinem Wohnheimzimmer gesessen und für eine Prüfung in organischer Chemie gelernt, als ich eine SMS von einem Typen in meinem Technisches-Schreiben-Kurs bekam. »Warum schreibt dir der Kerl?«, wollte er wissen.

»Wir sind Freunde. Und er hat mir wegen einer Hausaufgabe geschrieben, Mitchell.«

»Hältst du mich für bescheuert?« Sein Gesicht lief dunkelrot an, Speichel sammelte sich in seinem Mundwinkel, und seine Finger bohrten sich tief in meine Oberarme, sodass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Er starrte wütend auf das Telefon in meiner Hand. »Warum zum Teufel willst du mir nicht sagen, was wirklich los ist?«

Mir blieb der Mund offen stehen, und ich stöhnte auf. »Gar nichts ist los.« Ich riss mich aus seiner Umklammerung, stand auf und wich ein paar Schritte zurück. Dabei stolperte ich über die Schuhe seines Mitbewohners, sodass ich nach hinten taumelte, mit einem Schreibtischstuhl zusammenstieß und zu Boden ging.

Minuten später, während er einen Eisbeutel auf die riesige Beule an meinem Hinterkopf drückte, entschuldigte sich Mitchell immer und immer wieder. »Es tut mir leid – Gott, es tut mir so leid – natürlich vertraue ich dir. Das sind nur meine Unsicherheiten, Reste von dem, was Darla mir angetan hat, weißt du?« Darla – seine Freundin im ersten Studienjahr, die ihn mit seinem besten Freund betrogen und ihm das Herz gebrochen hatte. »Bitte, Pearl. Du weißt, dass ich dich nicht verletzen wollte. Ich werde nie wieder so mit dir reden. Ich schwöre es.« Seine blauen Augen waren glasig von Tränen.

Letztendlich verzieh ich ihm und nahm ihm seine hoch und heilig gegebenen Versprechen ab.

»Willst. Du. Mich. Verarschen?«, wiederholte er jetzt von der anderen Seite des Tischs, womit er seine monatealten Schwüre brach, als hätte es sie nie gegeben.

Trotz der Musik, die durch das voll besetzte Restaurant dröhnte, und der lauten Stimmen um uns herum hörten ihn zwei Frauen an einem Nebentisch. Beide verstummten, tauschten Blicke und beobachteten die sich entwickelnde Szene an unserem Tisch. Beschämt spürte ich, wie sie überlegten, ob sie sich einschalten sollten oder nicht. Ich hasste die Tatsache, dass wir Aufsehen erregten, fast ebenso sehr wie das, was er gesagt hatte, und er wusste es.

Mein Gesicht glühte, als ich mich vorbeugte und mit leiser Stimme sagte: »Mitchell, nicht hier.«

»Nicht hier?« Er legte den Kopf auf die Seite, als wäre er beleidigt. »Du hast dich entschieden, diese Bombe hier platzen zu lassen. Vielleicht hättest du dir vorher überlegen sollen, wo du diese absurde Diskussion führen willst, anstatt mir jetzt sagen zu wollen, wie ich darauf reagieren soll, dass meine Freundin ihre Zukunft – und meine, nebenbei bemerkt – wegwirft, als wäre gar nichts dabei.«

Seine Worte schlichen sich unter meinen Argumenten hindurch, weckten in mir Schuldgefühle, dass mein Entschluss unser beider Zukunft, nicht nur meine eigene, verändern könnte.

»Ich will dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich dachte, wir könnten darüber diskutieren …«

»Na klar, na klar. Diskutieren wir darüber. Also, was willst du mit deinem Abschluss in vorklinischer Biologie stattdessen anfangen? An einer Highschool unterrichten? Für den Rest deines Lebens in irgendeinem geisttötenden Labor arbeiten? Nein, warte – ich weiß es schon.« Er lehnte sich zurück, und sein Mund verzog sich zu einem feindseligen Lächeln. »Zurück in dein behütetes Kleinstadtleben schleichen, weit weg von der großen bösen Welt, und Muscheln sammeln oder Fischallergien diagnostizieren oder was zum Teufel du im letzten Sommer gemacht hast. Ist das dein brillanter Plan?«

Empört lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich weigerte mich, ihm zu antworten. Ich hasste es, wenn er meine Heimatstadt lächerlich machte – eine Angewohnheit, die sich noch verschlimmert hatte, seit er im vergangenen Sommer eine Woche zu Besuch gewesen war. Er schien durchaus beeindruckt von dem Strandgrundstück meiner Eltern und verbrachte ebenso viel Zeit damit, mit meinem Stiefdad über seine chirurgischen Ambitionen und den Arztberuf zu diskutieren, wie mit mir, aber er erklärte dennoch beharrlich, mein Heimweh sei kindisch. Etwas, dem ich entwachsen sollte.

Er schob sein Gesicht in mein Blickfeld und beäugte mich. »Oh, Gott – im Ernst? Hast du den Verstand verloren, Pearl? Du musst wirklich übergeschnappt sein, denn kein vernünftiger Mensch würde die Chance, an einer der weltweit besten medizinischen Hochschulen zu studieren, aufgeben, um mit Fischen zu arbeiten.«

An dem Abend hätten wir uns um ein Haar getrennt, aber sobald wir wieder in meinem Zimmer waren, überzeugte er mich, er sei nur besorgt, ich würde vorschnell handeln.

Er flehte mich an, meine Entscheidung zu überdenken. »Du hast nur kalte Füße bekommen«, sagte er. »Du wirst schon sehen.«

Und so erklärte ich mich bereit, auch meine anderen Vorstellungstermine an medizinischen Hochschulen wahrzunehmen, die Studienplatzangebote in Betracht zu ziehen und eines davon sogar anzunehmen: Vanderbilt, Tennessee – eine der beiden Hochschulen, die ihn auch angenommen hatten.

In der Zwischenzeit machte ich die Aufnahmeprüfung und bewarb mich – am letzten Tag der Bewerbungsfrist – für ein Aufbaustudium in Meeresbiologie, das, wie Mitchell vorhergesagt hatte, in meiner Heimatstadt angeboten wurde. Ich sagte mir, wenn ich nicht angenommen wurde, würde ich Medizin studieren, wie alle von mir erwarteten, und niemand würde je erfahren, dass ich mich beworben hatte.

Im Dezember bekam ich die E-Mail mit der Zusage. Die Stipendien waren bereits vor Monaten vergeben worden, aber ich bekam eine kleine Studienbeihilfe angeboten – knapp genug, um die Studiengebühren und die Ausrüstung abzudecken –, wenn ich dafür im Labor arbeitete oder im Golf Meeresproben entnahm. Ich könne gern im Sommer anfangen, die Studentenapartments – verwittert, aber am Strand gelegen – seien allerdings voll. Im Gegensatz zu anderen Studenten hatte ich jedoch Eltern, die ein knapp vierhundert Quadratmeter großes Haus nur wenige Minuten vom Campus entfernt besaßen. Ich würde keine Unterkunft benötigen.

Es würde keine hoch bezahlte Stelle auf mich warten, wenn ich meinen Abschluss in der Tasche hatte, und die meisten Leute würden nie wirklich verstehen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente, oder warum. Ein Leben lang das Meer und das Leben darin zu erforschen war nichts, was Leute für Geld oder gesellschaftliches Ansehen taten. Es war etwas, wozu sie sich hingezogen fühlten, so wie sich Leute zum Meer selbst hingezogen fühlen. Ich würde meine Forschungsnische während meines Aufbaustudiums entdecken – mir schwebte irgendetwas Umweltbezogenes vor – und meine berufliche Laufbahn damit verbringen, mir darin etwas aufzubauen.

Anstatt Medizin zu studieren und Chirurgin zu werden, wie ich es immer vorgehabt hatte.

Ich starrte auf den Bildschirm, während mir vernünftige Argumente für Rückzieher abwechselnd mit der Stimme meines Freundes und der meiner Mutter in einer Schleife durch den Kopf gingen. Aber die wachsende Begeisterung tief in meiner Seele brachte sie zum Schweigen. Da ich an der Küste aufgewachsen war, hatte ich die Zerstörung – sowohl des Meeres als auch der Menschheit – mit eigenen Augen gesehen, die Öllecks und Ölkatastrophen anrichteten. Aber es ging um mehr als ölverklebte Möwen und Teerklumpen, die den Strand verunreinigten, und es waren die Meereswissenschaftler, die diese weitreichenden Folgen erforschten. Ich wollte zu ihnen gehören.

Ich hatte einen Monat gebraucht, um es Mitchell zu sagen. Am ersten Wochenende nach den Winterferien sahen wir uns in meinem Wohnheimzimmer einen Film an – genauer gesagt, er sah sich den Film an, während ich von Schuldgefühlen verzehrt wurde, weil ich ihn in dem Glauben ließ, wir würden in sechs Monaten zusammen nach Tennessee gehen.

Schließlich beugte ich mich vor und verknotete die Finger im Schoß. Sag es, sag es, sag es. »Also, das mit Vanderbilt …«, begann ich.

»Ich hatte da eine Idee«, unterbrach er mich und drückte auf die Stummtaste. »Lass uns in den Frühjahrsferien nach Nashville fahren und uns nach einer Wohnung umsehen. Wenn wir etwas finden, können wir eine Anzahlung leisten, und dann wissen wir, dass wir schon etwas haben, wenn wir im Juli kommen.«

»Mitchell, ich gehe nicht zur Vanderbilt.« Die Worte hallten in der darauf folgenden Stille nach.

Ein dunkles Gewitter braute sich in seinen Augen zusammen, aber er erwiderte nichts – er starrte mich nur an. Ich konnte es ihm nicht verdenken, dass er verblüfft war, aber sein unerbittliches Schweigen entnervte mich.

»Ich trenne mich nicht von dir«, fuhr ich fort. »Ich schlage nur bei meinem Aufbaustudium eine andere Richtung ein. Wir können das mit uns trotzdem schaffen – viele Paare führen erfolgreiche Fernbeziehungen. Wir sollten uns beide frei entscheiden können, was für ein Leben und was für eine Laufbahn wir uns aufbauen wollen, du in Vanderbilt und ich …«

»Es ist alles oder nichts.« Die Worte schienen aus dem Nichts zu kommen. Die Muskeln in seinem Gesicht hatten sich zu einer Maske der Wut verhärtet, seine Lippen hatten sich nicht bewegt. »Alles oder nichts, Pearl.«

Ich hatte Frustration erwartet – Verbitterung sogar, weil ich unsere Pläne verriet, aber kein Ultimatum. Seine Drohung ergab keinen Sinn. Ein erfolgreiches Medizinstudium erforderte echtes Engagement. Das wussten wir beide. Und ich wusste, dass ich es nicht empfand. »Dann nehme ich an, es ist nichts«, sagte ich, während sich meine Kehle mit unvergossenen Tränen zuschnürte.

»Du Miststück!«

Ich zuckte zusammen, und der Mund blieb mir offen stehen. Ich war mir sicher, dass jeder im Haus meiner Studentinnenverbindung Mitchell gehört hatte und dass – da es ein Uhr morgens war – auch die meisten zu Hause waren.

Er sprang auf. »Du egoistisches Miststück!«, brüllte er.

Ich wollte zurückschreien, wollte ihm sagen, er solle auf der Stelle verschwinden, aber ich war wie gelähmt – bis auf das Zucken, das durch meine Arme und Beine schoss. Bis jetzt hatte ich mich nie wirklich vor Mitchell gefürchtet. Doch in diesem Augenblick hatte ich schreckliche Angst.

Er schnellte herum und machte einen Satz nach hinten.

Dummerweise dachte ich, er hätte vor zu gehen, und erkannte seine Absicht zu spät. »Mitchell, nein!«, schrie ich in dem Augenblick, in dem er sich mein rund dreißig Zentimeter langes Gehäuse einer Blitzschnecke schnappte und es gegen meine Zimmerwand schleuderte, sodass es an der Basis des Gewindes zerbrach.

Er bückte sich eben nach den Teilen, als die Präsidentin meiner Studentinnenverbindung und ihr Freund ins Zimmer platzten. D. J., nur mit Boxershorts bekleidet, riss Mitchell die Arme auf den Rücken und führte ihn mit Gewalt aus dem Verbindungshaus, während er immer wieder sagte: »Beruhige dich, verdammt noch mal, Upstone, sonst sorge ich dafür, dass du es tust.«

Während meine Verbindungsschwestern im Flur zusammenkamen und mit weit aufgerissenen Augen miteinander flüsterten, reichte Katie mir die beiden Hälften des Schneckengehäuses. »Alles okay mit dir?«

Ich nickte, während ich die beiden Hälften wie Puzzleteile zusammensetzte. Ich hatte diese Blitzschnecke in der zehnten Klasse mit in die Schule gebracht, als wir im Biologieunterricht Meereskunde durchnahmen. Meine Klassenkameraden bewunderten den Schatz in meinen Händen und streckten die Finger aus, um die blassen Streifen auf der Oberfläche des Gehäuses zu berühren, während ich damit durch den Raum ging. Mr. Quinn erklärte uns, die Meeresschnecke, die es einst bewohnt hatte, müsse mindestens zwanzig Jahre alt geworden sein, um ein Gehäuse dieser Größe zu entwickeln. Länger, als ich am Leben war.

»Pearl, er hat dich doch nicht etwa – geschlagen oder so?«

Ich schüttelte den Kopf, während mir eine Träne über die Wange rollte. Dass Mitchell ausgerechnet den einen Gegenstand in meinem Zimmer ausgewählt hatte, der für mich am meisten für meine Heimat stand, war kein Zufall. Meinem sinnlosen Ausruf zum Trotz wusste ich in dem Augenblick, in dem er sich nach dem obersten Regal meines Bücherschranks ausstreckte, dass es zu spät war, seine Rache zu verhindern, zu spät, mir zu wünschen, ich hätte dieses Gespräch irgendwo anders angestoßen. Sein Wutanfall verscheuchte jegliche Gewissensbisse, weil ich unsere Pläne aufgegeben hatte.

Als er eine SMS mit einer Entschuldigung schickte, schrieb ich nicht zurück. Seine Anrufe wurden auf meine Mailbox umgeleitet, und ich löschte sie, ohne sie abzuhören. Meine Verbindungsschwestern ließen ihn nicht mehr hinein, und Gerüchten zufolge drohte ihm der Präsident seiner Verbindung mit dem Entzug seiner Mitgliedschaft, sollte er mich nicht in Ruhe lassen. Im Herbst zuvor hatte es einen Vorfall mit einem ihrer Verbindungsstudenten gegeben. Er hatte ein Mädchen gestalkt und ein anderes vergewaltigt – eine Studentin im ersten Studienjahr aus meiner Verbindung, die nach dem Ende des Semesters das College wechselte. Nach einem Treffen zur Schadensbegrenzung mit dem Berater ihres Ortsverbandes und einem Alumni-Mentor gingen die führenden Köpfe der Verbindung kein Risiko mehr ein.

»D.J. sagt, er und Dean werden null Toleranz üben, zumindest bis sie im Mai ihren Abschluss machen.« Katie drückte meine Schulter. »Vier Monate, und wir sind weg von hier. Ich kann weiß Gott kein weiteres Drama mehr gebrauchen, aber ich schwöre auf einen ganzen Stapel Bibeln, die von Jesus selbst signiert wurden – ich werde Mitchells Arsch die ganze Straße hinuntertreten, wenn er auch nur einen Fuß auf unseren gottverdammten Rasen setzt.«

Mitchell und ich gingen uns für den Rest unseres letzten Semesters aus dem Weg – darunter neunzigminütige Vorlesungen in Tiervirologie jeden Dienstag und Donnerstag und acht unangenehme Stunden im Labor für experimentelle Physiologie jeden Mittwoch. Der College-Abschluss vor drei Tagen war eine Erleichterung – auch wenn ich zwei Tage lang von Schuldgefühlen geplagt wurde, weil ich Mamas Glückseligkeit über meinen bevorstehenden Aufstieg zum Medizinstudium erfolglos zu ignorieren versuchte. Ich konnte mein Abschlusswochenende keiner von uns beiden verderben, indem ich ihr die Wahrheit hinknallte, aber meine Zeit war abgelaufen.

Das College war erledigt. Mitchell und ich gingen getrennte Wege. Ich hatte Vanderbilt davon in Kenntnis gesetzt, dass ich mein Studium nicht aufnehmen würde, womit ich hoffentlich den Traum irgendeines Wartelisten-Bewerbers wahr machte. Jetzt musste ich nur noch eines tun.

Es meiner Mutter sagen.

2

BOYCE

Ich bin kein Held.

Diese Beschreibung passte auf meinen Bruder Brent, sein Leben lang, aber nicht auf mich. Als Kind wollte ich so sein wie er – ich dachte sogar, das könnte ich, wenn ich ihn in allem nachäffte. Mit vierzehn war er kurz davor, sich sein Eagle-Scout-Pfadfinderabzeichen zu verdienen, daher trat ich den Wölflingen bei. Dad war nicht gewillt, die Gebühren und die Pfadfinderkluft zu bezahlen, daher ließ mich Brent in den Gärten, in denen er den Rasen mähte, das Gras einsammeln, damit ich mir das Geld dafür selbst verdienen konnte. Jahre später fand ich heraus, dass er den Grasfangkorb von seinem Rasenmäher abgenommen hatte, damit er mich von seinem eigenen Lohn dafür bezahlen konnte, dass ich das Gras zusammenrechte und in Säcke füllte.

In der zweiten Klasse war ich mit Feuereifer dabei, mir Verdienstabzeichen zu erwerben, aber Mom war es leid, sie aufzunähen. Als ich mein erstes nach Hause brachte, nahm sie ihre vom Seifenwasser runzeligen Hände aus dem Spülbecken mit schmutzigem Geschirr und erklärte mir: »Ich habe euch Jungs jede Menge Dehnungsstreifen und einen dicken Arsch zu verdanken. Ich werde mir nicht auch noch die Finger mit Narben verunstalten, nur um diese ganzen verdammten Dinger aufzunähen. Mach es selbst, so wie dein Bruder.«

»Sieh mal.« Brent führte eine große Nadel durch den Rand eines Abzeichens, über die Kante und durch den Stoff wieder nach unten. Er befestigte den zweieinhalb Zentimeter breiten Kreis mit einem durchsichtigen Faden, der wie eine Angelschnur aussah, auf meinem blauen Hemd und ließ mich dann die anderen aufnähen.

Mit der Nadel stach ich mir ein paar Dutzend Löcher in die Finger, und ich bin sicher, auf dem Hemd war eine ganze Menge Blut, bis ich fertig war. Die ersten paar Abzeichen saßen ein bisschen schief und locker, aber sie hielten.

In jenem Frühjahr nahm meine Meute an der alljährlichen Strandsäuberung der Stadt teil. Ich war der Erste, der sich anmeldete, da ich dieses Naturschutz-Abzeichen unbedingt haben wollte – selbst wenn ich es selbst aufnähen musste. Mein Interesse schwand nach ein paar Stunden in der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze und der für die Golfregion typischen Luftfeuchtigkeit. Die Plastikhandschuhe, die man uns gab, schützten uns vor allem außer Spritzen – auch wenn man mir nicht zweimal sagen musste, dass ich sie besser nicht anfasste. Nadeln und mich verband gegenseitiger Hass. Aber die Handschuhe klebten an meinen verschwitzten Händen, und Sandkörner fanden an meinen Handgelenken vorbei hinein und setzten sich körnig und kratzend zwischen meinen Fingern fest.

Voller Ungeduld, aufzuhören und die Capri-Sonne und die Hotdogs einzufordern, die man uns versprochen hatte, überreichte ich meinem Gruppenleiter einen Müllsack mit Flaschendeckeln, Essensverpackungen und einem verwesenden Fisch.

»Gute Arbeit«, sagte er, und ich konnte den Hotdog, triefend von gelbem Senf und Würzsauce, fast schon schmecken. »Jede Menge Zeit, um vor dem Mittagessen noch ein, zwei Säcke zu füllen. Wirf den hier in die große Mülltonne und schnapp dir den nächsten. Keine Sorge, Mrs. Thompson wird euch alle zu sich pfeifen, wenn die Wiener Würstchen fertig sind.«

Ich wandte mich ab, um meine mürrische Miene zu verbergen, und murmelte einen Fluch, entschlossen, den Sack in Rekordzeit zu füllen und mich dann hinter irgendeinen Sonnenschirm zu verziehen, bis ich das Signal meiner Gruppenleiterin hörte – denselben durchdringenden Pfiff, mit dem sie ihre Söhne zur Abendessenszeit immer nach Hause rief. Auf einmal tauchte ein Schwarm kleiner Mädchen in identischen rosa T-Shirts und blauen Westen, die mit mädchenhaften Abzeichen übersät waren, zwischen mir und dem Wasser auf. Es musste mein Glückstag sein – Kleinmädchen-Pfadfinderinnen. Sie rannten kreischend herum und taten, als wären ihre Müllsäcke Fallschirme.

»Scheiße«, sagte ich, während ich noch ärgerlicher wurde. Jetzt würde ich mich rasch auf die Jagd machen müssen, um meinen Sack zu füllen, denn die Mädchen würden den ganzen Müll an diesem Strandabschnitt einsammeln, und ich wollte mich nicht allzu weit von den Hotdogs oder Mrs. Thompsons Pfeife entfernen müssen.

Als ihre Gruppenleiterin sie zu einem Kreis zusammenrief, um Handschuhe zu verteilen, und sie anwies beisammenzubleiben, stapfte ich genau zwischen ihnen hindurch, auf einen Plastik-Sixpackträger zu, der aus dem Sand hervorschaute.

»Hey!«, rief eines der Mädchen. »Er schnappt sich unseren Müll!«

Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört, und stopfte den Träger in meinen Sack.

Die Gruppenleiterin lachte und sagte, es gebe genügend Abfall für jeden, und sie fingen alle an, sich wahllos irgendwelches Zeug in Sichtweite zu schnappen. »Mädchen«, ergänzte sie, »denkt dran, die Natur so zurückzulassen, wie ihr sie vorfindet! Wir sind hier, um Abfälle zu sammeln, nicht Seetang, Stöcke oder Muscheln.«

»Auch nicht die zerbrochenen?«, fragte ein anderes Mädchen, während es auf eine Handvoll Muschelscherben starrte. »Darin können doch keine Schnecken oder Krabben mehr leben. Sie sind für nichts gut, das heißt, sie sind auch Abfall, oder?«

Ich verdrehte die Augen, während ich zwischen ihnen hindurchging. Sie sah mich und runzelte die Stirn.

»Nein, Pearl – die zerbrochenen sind immer noch Natur. Lass sie auch liegen, Liebes.«

»Dummes Mädchen«, sagte ich, und sie biss sich auf die Lippe und sah aus, als würde sie vielleicht gleich in Tränen ausbrechen, was irgendetwas in mir rührte und mir das Gefühl gab, gemein zu sein. Sie war schließlich nur ein kleines Mädchen. Aber ich stapfte an ihr vorbei, schnappte mir ein Stück Zeitung und stopfte es in meinen Sack. Ich hatte schließlich zu tun.

Eine Stunde später war mein Sack gefüllt, und ich war weiter weggelaufen, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Ich sah niemanden von meiner Meute. Vielleicht war ich zu weit weg gewesen, um den Pfiff zu hören. Vielleicht waren die Hotdogs schon aus. Mein Magen knurrte, wütend bei diesem Gedanken, und ich lief über den Strand zurück. In diesem Augenblick bemerkte ich irgendetwas im Wasser – einKlumpen Abfälle? Nein. Es waren dunkle Haare. Kleine Arme schlugen auf beiden Seiten davon wild um sich, bevor der Kopf und die Arme unter einer Welle verschwanden. Ich verlangsamte mein Tempo und starrte auf die Stelle. Ich sagte mir, dass es nur irgendein Kind war, das im Wasser spielte, anstatt bei der Strandsäuberung zu helfen.

Die Haare und Arme tauchten für ein oder zwei Sekunden an die Oberfläche und gingen dann wieder unter. Wenn jemand um Hilfe rufen sollte, war er zu weit draußen, um gehört zu werden. Niemand außer mir schien die Szene zu beobachten. An unseren Stränden gab es keine Rettungsschwimmer, und kein Elternteil war in der Nähe, der den Blick über die Brandung schweifen ließ. Wenn man nicht wollte, dass das eigene Kind ertrank, dann behielt man es im Auge. Jeder, der ein bisschen Verstand hatte, wusste das.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, als die Sekunden verstrichen und nichts geschah. Ich ließ meinen Müllsack fallen, rannte zum Rand des Wassers und suchte die Oberfläche ab. Nichts. Nichts. Hatte ich eben dort gestanden und zugesehen, wie jemand ertrank? Ohne zu überlegen, stürzte ich mich ins Meer, mit Schuhen und allem.

»Hey, du!«, brüllte ich, während mein Blick über die kabbelige Wasseroberfläche glitt. Sobald ich brusttief im Wasser stand, schlugen mir kleine, sich kräuselnde Wellen ins Gesicht, die verhinderten, dass ich weiter als ein paar Meter vor mir sehen konnte. Ich war ein solcher Idiot. Ich hatte keinen Erwachsenen gerufen. Ich war einfach allein ins Wasser gerannt, wie der bescheuerte Schwachkopf, der ich nach den Worten meines Dads war.

Irgendetwas stieß gegen mich, und als ich den Mund öffnete, um zu schreien, schluckte ich Golfwasser. Ich hustete und spuckte und streckte die Hände aus, um abzuwehren, was immer dort war, als ich auf einmal irgendetwas blau und rosa aufblitzen sah. Das ertrinkende Kind. Ich packte es mit beiden Händen, zog den schlaffen Körper an meine Brust und bewegte mich, so schnell ich konnte, zurück zum Strand. Eine gewaltige Welle warf mich um, und wir gingen beide unter, aber ich hielt durch und stemmte die Füße gegen den Golfboden, bis wir beide wieder auftauchten. Der Kopf sackte mit geschlossenen Augen auf mich zu.

Es war das Mädchen, das ich dumm genannt hatte.

»Nein!«, schrie ich hustend, während ich meine Arme unter ihren Hals und ihre Knie schob. Taumelnd schrie ich ihr ins Gesicht: »Wach auf! Wach auf!« Ich ließ mich auf die Knie fallen und legte sie auf den Sand, aber sie rührte sich nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte – im Fernsehen atmeten sie den Leuten in den Mund und drückten auf ihre Brust, aber im Fernsehen taten sie vieles, was nicht echt war, wie zum Beispiel an Gebäuden hochzuklettern oder sich in Vampire zu verwandeln.

Die Gruppenleiterin der Pfadfinderinnen tauchte auf. »Pearl! Oh Gott!« Ihre Hände zitterten, als sie die Finger an den Hals des Mädchens presste. Sie legte den Kopf auf ihre Brust. »Kein Puls, kein Puls, o Gott«, rief sie. Sie hielt ihrem Schützling die Nase zu und beatmete ihn, aber das Mädchen schlug die Augen nicht auf.

Mir war glühend heiß, aber ich zitterte, als säße ich in einem Kübel mit Eis. Leute umringten uns, sahen uns murmelnd zu, aber ich konnte sie nicht klar sehen oder hören, und ich konnte mich nicht bewegen. Ich sah nur die Frau, die immer wieder auf die reglose Brust des Mädchens drückte und in seinen Mund atmete; ich hörte nur meinen eigenen Puls, der wie eine Trommel in meinen Ohren hämmerte. Ich war am Leben, und sie war tot, und es war meine Schuld, weil ich keinen Erwachsenen gerufen hatte, anstatt allein ins Wasser zu laufen. Und vor einer Stunde hatte ich sie zum Weinen gebracht – ihre Augen waren zwei dunkle, traurige Tümpel gewesen, so wie Mamas immer aussahen, nachdem Daddy sie geschlagen hatte.

Dann, wie ein Springbrunnen, spuckte das Mädchen Wasser – viel Wasser. Es strömte ihr übers Gesicht, während sie sich mit einem Ruck aufsetzte. Sie schnappte nach Luft, und ihre Augen öffneten sich schlagartig. Sie sah mich genau an, und erst als ich spürte, wie ihre Hand den Griff um meine verstärkte, wusste ich, dass ich sie gehalten hatte.

Die Menge um uns herum jubelte. Ich spürte, wie mir Hände auf die Schultern und den Hinterkopf klopften, während die Frau in Tränen ausbrach und immer wieder den Namen des Mädchens sagte – Pearl, Pearl, Pearl – und Jesus und Gott und schließlich auch mir dankte. »Du hast ihr das Leben gerettet. Danke. Danke.«

Die vergangenen Augenblicke stürzten auf mich ein wie Tage anstatt Minuten. Meine Augen brannten. Meine Zähne klapperten, und meine Gliedmaßen zitterten. Ich hielt Pearls Hand, die klein und bronzefarben in meiner eigenen lag, fest umklammert, während ich auf die dunklen Haare hinunterstarrte, die ihr wirr ums Gesicht lagen, an ihrer Wange klebten und sich um eine der Pfadfinderinnen-Nadeln an ihrer Brust schlängelten – die sich jetzt hob und senkte, wie sie es sollte. Ich starrte in dunkle Augen, die weit aufgerissen und lebendig waren. Ich hatte das Gefühl, soeben etwas gelernt zu haben, aber ich wusste noch nicht, was es war.

Als die Rettungssanitäter eintrafen, wickelte mein Gruppenleiter mich in ein Strandtuch und zog mich fort, riss meine Hand aus Pearls Umklammerung und ihre aus meiner. »Gut gemacht, Boyce. Du bist ein Held, weißt du?«

Es gab einen Bericht in der Zeitung und zwei Bilder: eines von meinem lächelnden Meutenführer, wie er mir eine glänzende Ehrenmedaille über der linken Brusttasche ansteckte, genau über meinem Herzen, und ein anderes von Pearls Mutter, meinen Eltern und Brent, die hinter uns beiden standen – beide in unseren Pfadfinderkluften. Ihr Kopf, ein wilder, dunkler Lockenschopf, der von einer rosa Schleife zusammengehalten wurde, reichte mir nicht einmal bis zur Schulter.

Das war mein einziger Moment von Heldenmut – mehr, als manche Leute von sich behaupten können, nehme ich an. Zu dumm, dass ich erst sieben war. Es ist irgendwie beschissen, zur Höchstform aufzulaufen, bevor man die Pubertät erreicht.

Ich mache nicht immer Feierabend, wenn ich die Werkstatt zusperre. An den meisten Nachmittagen bin ich mitten in meiner Arbeit und will nicht aufhören, bis ich sie erledigt habe, aber manchmal gibt es einfach noch zu viel zu tun, egal, ob ich fertig werden will oder nicht. Ich spielte seit einer Weile mit dem Gedanken, eine Aushilfe einzustellen, wenigstens in Teilzeit.

Normalerweise denke ich daran, um sechs Uhr den Riegel vorzuschieben und das GESCHLOSSEN-Schild an der Tür umzudrehen, selbst wenn ich noch arbeite, aber ich steckte mitten im Einbau eines Zylinderblocks, als es Zeit dafür war. Als eine halbe Stunde später die Glocke über der Tür läutete, fluchte ich leise und rief »Geschlossen«, mit einem kurzen Blick zu dem Türrahmen zwischen dem beengten Büro und der Werkstatt.

Dort stand Dads alter Anwalt (und gescheiterter AA-Sponsor), Barney Amos, dessen Gesicht seit einem Unfall zu einer permanenten schiefen Grimasse verzerrt war. Der Unfall hatte sein Gesicht und seinen linken Arm verstümmelt, ihn um ein Haar seine Anwaltszulassung gekostet, seinen sechsjährigen Sohn getötet und dafür gesorgt, dass er mit dem Trinken aufhörte – einen Tag zu spät. Austin Amos hatte mit mir zusammen bei den Wölflingen angefangen. Er wäre jetzt zweiundzwanzig oder so.

»Hey, Boyce«, rief Mr. Amos, eine Hand erhoben, als würde er schwören, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.

»Hey, Mr. Amos.« Ich wischte mir die Hände an einem Lappen ab und richtete mich auf. Als ich die Schultern rollte, spürte ich das Brennen unter meinen Schulterblättern. »Was kann ich für Sie tun?«

Barney Amos war seit Jahren nicht mehr in der Werkstatt gewesen, aber ich sah ihn oft genug in der Stadt. Dads Versuch, mit dem Trinken aufzuhören, bestand aus zwei oder drei Treffen, gefolgt von einem Saufgelage, das für den Rest seines Lebens anhielt. Ich wusste, wem ich die Schuld daran geben musste, auch wenn Mr. Amos versuchte, einen Teil davon auf sich zu nehmen. Es war allein die Entscheidung meines Dads. Jede einzelne Flasche. Jeder einzelne Schluck.

»Boyce, war dein Dad je bei einem anderen Anwalt? Nachdem er und ich getrennte Wege gingen?«

Ich zuckte mit den Schultern, die schmerzhaft protestierten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Verlockung des eiskalten Biers, das auf mich wartete, sobald ich geduscht hatte und mich in der Stadt mit ein paar Kumpeln traf. Im Gegensatz zu meinem Vater würde ich meinen Alkoholkonsum beschränken. Im Gegensatz zu Mr. Amos würde ich mich nicht hinter ein Lenkrad setzen, bevor ich wieder nüchtern war.

»Nicht dass ich wüsste, aber er war nicht unbedingt redselig in solchen Dingen.« Oder irgendwelchen anderen Dingen, abgesehen von seiner Meinung, was für ein Versager ich war. »Warum?«

Mr. Amos verlagerte seine Haltung, blieb aber im Türrahmen stehen. Er sah zu Boden, blickte noch unbehaglicher drein, als es sein natürlicher Zustand war. »Hast du seine Unterlagen durchgesehen? Gründlich?«

Wenn Leute eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten, ist das nie ein gutes Zeichen. »Juristische Unterlagen, meinen Sie? Eigentlich nicht. Warum?«, fragte ich noch einmal.

Sein schiefer Mund hob sich an einer Seite, sichtlich erleichtert über meine Antwort. »Ah, na dann, ich würde vorschlagen, du siehst dich mal danach um – je früher, desto besser. Du wirst entsprechende Unterlagen benötigen, um seine Vermögenswerte – das Eigentum an dem Wohnwagen, der Werkstatt und am Inhalt derselben – gesetzlich auf dich überschreiben zu lassen. Wie auch das Geschäft selbst.«

Ich runzelte die Stirn. Das klang einleuchtend, aber irgendetwas nagte an mir und schob seinen vernünftigen Rat beiseite. »Ich bin sein einziger verbliebener Erbe, daher ist das doch nur eine Formsache, oder?«

»Na ja, sicher, sicher. Aber das Gesetz ist etwas eigen bezüglich der Formalitäten, nach denen Besitz vererbt wird, wenn jemand verstorben ist.«

»Okay. Na schön. Was genau suche ich also? Ein Testament, nehme ich an?«

Er nickte. »Ein Testament und jegliche Unterlagen im Zusammenhang mit der Werkstatt – Geschäftsgründung, Steuerformulare, et cetera. Wenn wir davon ausgehen, dass sie noch immer ein Einzelunternehmen war, könntest du ein paar Probleme bekommen. Wenn Bud sie nicht im letzten Jahrzehnt oder so formal in eine Gesellschaft umgewandelt hat, müsste ein neuer Eigentümer sie unter seinem eigenen Namen neu eintragen lassen.«

Formal in eine Gesellschaft umgewandelt? Ja, na klar. Das klang nicht nach etwas, womit Dad sich herumgeschlagen hätte. Seit ich achtzehn geworden war, hatte er mich jede Woche bezahlt, als wäre ich ein Angestellter, mit Steuerformularen und allem – nachdem er ein Schreiben vom Staat oder dem Finanzamt bekommen hatte, das ihn drei Tage lang in Rage versetzte.

»Und äh, könntest du vielleicht auch nach einer Scheidungsurkunde suchen? Vielleicht aus einem anderen Bundesstaat?«

»Scheidungsurkunde … noch eine Formsache?«

Er nickte, während er den Blick über die Hebebühne, die Diagnosegeräte und die Werkzeuge, die die Wände säumten, schweifen ließ. »Sobald du alles beisammenhast, komm damit in meinem Büro vorbei, dann bringen wir das alles auf den Weg. Unentgeltlich natürlich – das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

»Ja, Sir.« Ich machte ihn vielleicht nicht dafür verantwortlich, dass der Alkoholentzug meines Dads kläglich gescheitert war, aber zu einem kostenlosen Angebot würde ich nicht Nein sagen. »Ich komme in ein paar Tagen vorbei.« Irgendetwas verschwieg er mir, das würde ich wahrscheinlich noch früh genug herausfinden.

PEARL

Mein Handy piepste, und auf dem Display erschien ein vor ein paar Tagen entstandenes Foto von Mom bei meiner Abschlussfeier. Mein Herz setzte einen Takt aus, bevor ich abnahm. Sie rief nie an, wenn sie wusste, dass ich Auto fuhr.

»Fährst du im Moment nicht Auto?«, fragte sie, sobald ich mich meldete. »Ich wollte dir auf die Mailbox sprechen. Du solltest nicht an dein Handy gehen, wenn du Auto fährst.«

Ich seufzte auf, erleichtert über ihren Ton, der mir verriet, dass nichts Schlimmes passiert war, aber auch gleichzeitig verärgert, da sie mich immer noch wie eine Sechsjährige behandelte. »Mama, du kannst mich nicht anrufen, wenn ich mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Auto fahre, und mir dann sagen, dass ich nicht an mein Handy gehen soll, wenn ich Auto fahre.«

»Du hättest die Mailbox übernehmen lassen können.«

»Ich hasse die Mailbox. Und du rufst ja offenbar an, um mir irgendetwas zu sagen, was nicht warten kann, bis ich in …« – ich warf einen Blick auf die Uhr – »… etwas über einer Stunde nach Hause komme. Du hast mich dazu erzogen, mich zuerst aufzuregen und später Fragen zu stellen. Komm damit klar.«

Sie seufzte resigniert in den Hörer. »Na schön. Dein Vater hat eine Veranstaltung des Amerikanischen Ärzteverbandes in Houston vergessen – heute Abend. Und er spricht dort.« Dr. Thomas Frank, Doktor der Medizin, Facharzt für Neurochirurgie, Facharzt für Chirurgie, war nicht mein richtiger Vater, der vor meiner Geburt starb. Thomas heiratete Mom, als ich dreizehn war, und adoptierte mich wenig später. Dadurch wurde ich zu Pearl Frank, was, wie Melody Dover, meine beste Highschoolfreundin, später sagen würde, wie ein typischer Name für ein weißes Mädchen klang – etwas, worüber Mama überglücklich zu sein schien. Ich fragte sie nicht nach ihrer Meinung, bevor ich beantragte, dass auf mein offizielles Diplom Pearl Torres Frank gedruckt wurde. Ich liebte meinen Stiefvater, aber ich wollte eine urkundliche Anerkennung meiner Herkunft haben – woher ich kam und wer ich hätte sein können.

Ich hörte Thomas’ gutmütiges Gemurmel im Hintergrund, gefolgt von Mamas fassungslosem Ausbruch. »Einführungen erfordern auch Vorbereitung, Thomas! Und nein, du kannst es nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Madre de Dios!« Ihr Akzent war stärker, wenn sie sich aufregte – etwas, was mein Stiefvater gern provozierte, nur um es zu hören. Aber reines Spanisch? Jackpot.

»Das heißt, ihr werdet heute Abend nicht zu Hause sein«, unterbrach ich sie. Meine Erleichterung über die eine Nacht Aufschub von meinem bevorstehenden Geständnis war zu groß, um deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. »Kein Problem. Ich habe meinen Schlüssel. Wir sehen uns morgen.«

Ich steckte im Türrahmen der Hintertür fest, während Tux in einer Reihe von Achterschleifen um meine Beine strich und sich miauend darüber beklagte, dass meine Eltern ihn allein gelassen hatten. Sie waren erst seit ein paar Stunden fort, und davor war er zweifellos gestreichelt und gehätschelt und mit frischem, von Hand gehacktem Schwarzem Trommler – oder was immer Thomas gefangen hatte, als er das letzte Mal mit dem Boot draußen war – gefüttert worden.

Ich tätschelte Tux’ pummelige Flanke und zerrte meine Reisetasche durch die Tür. »Du machst niemandem etwas vor mit dieser typischen Ich-bin-völlig-vernachlässigt-Nummer, Kater. Du bist das verwöhnteste Katzengeschöpf auf der ganzen Insel.«

Und er war auch das süßeste, was der Grund war, weshalb er so verhätschelt wurde. Er und Thomas führten ein absolutes Junggesellenleben, bevor Mama und ich vor sieben Jahren in ihr Leben traten, aber Tux hieß uns ebenso herzlich willkommen wie Thomas – als hätte er nur darauf gewartet, dass irgendeine Frau und ihr dreizehnjähriges Kind bei ihnen einzogen und ein Revier für sich beanspruchten, das jahrelang seines gewesen war. Er schlug mit einer Pfote nach dem Reißverschlussgriff an meiner Tasche, während ich Melody anrief. Sie hatte eben ihren Abschluss an der Southern Methodist University gemacht und war für zwei Wochen zu Hause, bevor sie zurück nach Dallas ziehen würde, um ihren neuen Public-Relations-Job anzufangen.

»Hey!«, rief sie, als sie abnahm. »Schon zu Hause?«

»Bin eben zur Tür herein. Meine Eltern sind heute Abend nicht da. Bist du beschäftigt?«

»Nein. Bin seit zwei Tagen zu Hause, und ich habe schon jetzt die Schnauze gestrichen voll von Moms ständigem Gemecker über die eine Million Dinge, die ich in meinem Leben falsch mache – von meinen Kleidern über meine Karriere bis hin zu der Tatsache, dass ich niemals einen Ehemann an Land ziehen werde, weil es mir in vier Jahren College auch nicht gelungen ist, einen zu finden. Es würde ihrem knochigen Arsch recht geschehen, wenn ich einfach lesbisch werden würde.«

Ja, na klar. Denn Frauen werden ständig Lesben, nur um ihre Mütter zu ärgern.

»Ich glaube nicht, dass das für dich eine machbare Alternative ist, Mel.«

»Ja.« Sie seufzte. »Ich mag Männer zu sehr.« Vier Jahre College hatten Melodys Sinn für Sarkasmus nicht verbessert. »Apropos Männer – lass uns ausgehen!«

Sie und ihr letzter Freund hatten sich vor einem Monat getrennt, und sie kannte meine ganze hässliche Geschichte mit Mitchell, aber Ausgehen klang für mich eher anstrengend als verlockend. Ich hatte gehofft, sie würde mir alle Neuigkeiten über ihr Privatleben und den Klatsch und Tratsch in der Stadt berichten, während wir es uns bei einer Flasche Wein und in Yogahosen zu Hause gemütlich machten, wie die erwachsenen Frauen, die wir waren. Aber ich wollte gern etwas Zeit mit ihr verbringen, bevor sie die Stadt verließ.

Auf der Highschool waren wir so unterschiedlich wie Tag und Nacht und doch so eng verbunden, dass irgendjemand uns zum Spaß die Yin-Yang-Zwillinge nannte. Dieser Spitzname beruhte vermutlich auf unserem gegensätzlichen Äußeren – selbst mit ihrer Sommerbräune sah sie neben meiner olivfarbenen Haut und meinen dunklen Haaren und Augen blasser und blonder aus. Aber für mich war unsere Verbundenheit, unser Yin-Yang, innerlich. In den vier Collegejahren, die wir getrennt waren, hatten wir uns voneinander entfernt. Ich vermisste sie.

»Melody. Ich bin eigentlich nicht in der Stimmung, um …«

»Keine Sorge – ich werde fahren!«

»Mel.«

»Ich springe nur schnell unter die Dusche. Komm in einer Stunde vorbei. Wir sehen uns gegen neun. Bis dann!« Sie schnaubte und legte auf, bevor ich ein zweites Mal »Mel« sagen konnte.

Ich musste lachen. Es geht doch nichts über eine alte Highschoolfreundin, die dich wieder ins Highschoolverhalten zurückzerrt. Melody, beliebter, kontaktfreudiger, von allem ein bisschen mehr, hatte bei unserem Sozialleben immer die Führung übernommen, und ich war ihr immer gefolgt. Nur in einem Punkt, der niemanden überraschte, entfalteten wir unterschiedliche Aktivitäten. Während sie im vorletzten Schuljahr der Cheerleader-Truppe beitrat und im letzten Schuljahr Cheerleader-Captain wurde, schloss ich mich Studiengruppen an, arbeitete ehrenamtlich im Meeresforschungszentrum und hielt die Abschiedsrede unserer Klasse.

Wenn schon nichts sonst, könnte ich wenigstens mein Geständnis vor Melody üben, bevor ich Mama damit konfrontierte. Melody würde verstehen, warum ich solche Angst davor hatte, meine Mutter zu enttäuschen.

»Mi-AU«, beklagte sich Tux schnurrend, ganz der verwöhnte Balg, der er war.

Um ihn zum Schweigen zu bringen, schaufelte ich ihm einen Löffel voll kalte Käsemakkaroni in seinen Fressnapf – sein Lieblingsfutter gleich nach Fisch. »Du bist verrückt«, sagte ich zu ihm. »Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich muss mich für einen Ausgehabend in der Stadt fertig machen. Wenigstens ist es unter der Woche. Hoffentlich ist in den Bars nichts los.«

3

BOYCE

Der Tourismus war schon immer die Haupteinnahmequelle der Stadt gewesen – selbst die Fischerei kam erst an zweiter Stelle. Aber der Geldzufluss hielt die Einheimischen nicht davon ab zu schimpfen, sobald Scharen von auswärtigen Besuchern kamen und in die Restaurants einfielen, die Straßen und den einzigen Lebensmittelladen verstopften und die Strände mit ihren verschwitzten Körpern, Styropor-Kühlboxen und nutzlosen Sonnenschirmen belagerten, die bei der ersten steifen Brise vom Golf in Fetzen gerissen wurden.

Wenn man um diese Jahreszeit ausgehen und die Touristen meiden wollte – viel Glück dabei. Die beste Chance hatte man noch, wenn man in irgendeine schmuddelige, heruntergekommene Kneipe abseits der Hauptstraße ging. Keine helle, tropische Fassade, keine Palmenlandschaft, keine Aussicht. Die Art Bar, die Ortsfremde entweder völlig übersahen oder auf die sie nur einen kurzen Blick warfen, bevor sie dachten: nein, danke. Wie zum Beispiel der Saloon.

Nach einem Körbchen Zwiebelchips, einem Halbpfund-Burger und ein, zwei Gläsern Bier forderte ich Mateo Vega zu einer Runde Darts an der pockennarbigen Scheibe heraus, die so dicht neben der Tür hing, dass Dartpfeile sogar in der Tür hier und da ein paar Löcher hinterlassen hatten. Als ich gerade zu meinem Wurf ansetzte, schwang die Tür auf, und herein kamen Melody Dover – ein Mädchen, das ich seit meiner höllischen Wiederholung der dritten Klasse kannte – und Pearl Frank, die mich besser kannte als irgendjemand sonst in dieser Stadt. Ich hatte keine der beiden gesehen, seit sie vor über vier Monaten die Winterferien vom College zu Hause verbrachten.

»Na toll«, murmelte Melody mit einem kurzen Blick auf mich, bevor sie die fast menschenleere Bar abcheckte. »Kannst du mich bitte erinnern, warum wir hier sind?«

Die anderen beiden Typen in meiner Gruppe – Randy Thompson und Vegas Cousin, Bart – lümmelten an einem Tisch ein paar Meter weiter, und ein paar alte Männer hockten nebeneinander an der Bar. Vor einer Weile waren noch ein paar andere Stammgäste da gewesen, aber sie hatten sich inzwischen verzogen.

Melody beachtete ich gar nicht – eine Fähigkeit, die ich im Laufe der Jahre perfektioniert hatte, bis sie ein reiner Reflex war –, aber Pearl konnte ich nicht ignorieren. Sie sah einfach verdammt gut aus, selbst in dieser braven kleinen Dreiviertelhose und den flachen Schuhen. Ihre Haare waren nicht mehr ganz so wild wie früher, aber sie fielen ihr noch immer wie ein dunkler Wasserfall über Schultern und Rücken. Ich hob das Kinn, sobald ihr Blick meinem begegnete, und das Lächeln, mit dem sie mir antwortete, war gedämpft, aber aufrichtig.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Freundin zu, und ihr Lächeln wurde breiter. »Wir wollen doch einen ruhigen Ort zum Reden, Mel. Das hier ist perfekt.«

Melody, so heiß wie immer und sich dessen so bewusst wie immer, sah kurz über die Schulter auf mich. »Das bleibt abzuwarten – ein Großmaul reicht, um die friedliche Atmosphäre zu ruinieren.«

»Du musst es ja wissen, Dover.« Ich versenkte einen Dartpfeil genau links neben dem Bullauge.

Sie stöhnte auf, aber es klang eher nach einem Rassehund in Rage als nach einer erwachsenen Frau. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Bevor sie die oberschlaue Retourkutsche geben konnte, die ihr zweifellos schon auf der Zunge lag, stellte Pearl ihr eine Frage, und Melody wandte sich ab und marschierte zu einem langen Tisch an der hinteren Wand, während sie von irgendeinem neuen Job schwafelte und vergaß, gegen mich zurückzufeuern.

Mateos Cousin Bart, neunzehn und auf bestem Weg, ein Idiot zu werden, schielte lüstern die blanken Holzdielen hinunter, die mit weggeworfenen Erdnussschalen übersät waren – die Vorstellung des Saloons von einer bodenständigen Einrichtung. »Ich dachte, du hättest gesagt, in dieser Stadt gibt’s keine heißen Ärsche, Téo«, bemerkte er. Er sabberte fast beim Anblick von Melodys Gesäß in Shorts und hohen Absätzen.

Der Junge hatte keine Ahnung, wie kurz davor er gewesen war, einen Dartpfeil in die Stirn zu bekommen. Dovers Beine konnte er anstarren, soviel er wollte, aber ein Wort über Pearl, und er hätte einen schönen Schädelschmuck davongetragen.

»Halt die Klappe, Schwachkopf.« Mateo gab seinem Cousin einen Klaps auf den Hinterkopf. »Die zwei sind so weit außerhalb deiner Liga, dass sie genauso gut auf dem Mond sein könnten.«

Bart rieb sich den Hinterkopf, während sein Blick Pearls bester Freundin auf dem Weg zur Bar folgte. »Kann schon sein. Aber es sieht doch ganz so aus, als ob die beiden heute Abend einen draufmachen wollen, primo.« Er war aufgestanden und schwankte in ihre Richtung, bevor einer von uns es sich versah.

»Das dürfte interessant werden.« Randy lehnte sich auf seinem Platz zurück, um die Szene zu beobachten. Er verschränkte kichernd die dünnen Arme vor seiner skelettartigen Brust, und ich freute mich, ihn lächeln zu sehen. Er war vor ein paar Monaten aus dem Gefängnis freigekommen, nachdem er ein Meth-Labor in einem Wohnwagen betrieben hatte, der vor ein paar Jahren krachend in die Luft flog. Er wäre weitaus länger eingesessen, wenn zu dem Zeitpunkt irgendjemand dort gewesen wäre. Entweder das – oder tot. Er hatte die Bewährungskommission überzeugt, er wolle wirklich sauber bleiben, und bis jetzt hielt er sich daran. Dasselbe ließ sich von seinem kleinen Bruder Rick leider nicht behaupten.

»Oh, verdammt.« Mateo hielt sich eine Hand vors Gesicht und wandte sich ab, als könne er den Anblick nicht ertragen. Zwei seiner ersten drei Würfe hatten kaum die Dartscheibe getroffen.

»Es ist nur Melody Dover, Vega – nicht die Queen Mum«, bemerkte Randy. »Außerdem, deinem Cousin könnte eine Ohrfeige nicht schaden. Zwanzig Dollar, dass er kurz davor ist, sich eine zu fangen.« Während wir zusahen, stützte Bart neben Melody einen Ellenbogen auf den Tresen. Sie lehnte sich von ihm weg, während er sich zu ihr beugte.

Ich schüttelte den Kopf und warf noch einen Dartpfeil.

»Ja. Nur dass ihr Vater der Boss von dem Boss von meinem Boss ist.« Mateo war Assistant Manager in einem der halben Dutzend Minimärkte in der Stadt, von denen fünf demselben Unternehmen gehörten. Melody Dovers Daddy war Regionalmanager für den halben Bundesstaat.

»Reg dich ab, Mann«, sagte ich. »Rover Dover hat nichts über dich zu melden. Wir können weiß Gott nichts für die Vollidioten, mit denen wir verwandt sind.« Ich zog meine Dartpfeile aus der Scheibe, während ich an meinen Dad und meinen Bruder dachte und wie verschieden sie gewesen waren. Ich fragte mich, wo ich zwischen ihnen hineinpasste.

»›Rover Dover‹«, kicherte Mateo leise. »Das habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Gott, Wynn, lass sie das bloß nicht hören. Bei dem Spruch, und dann noch meinem bescheuerten Cousin, wird sie in null Komma nichts dafür sorgen, dass ich gefeuert werde, und mich dann an der Stoßstange dieses Infiniti, den ihr Daddy ihr eben erst gekauft hat, durch die Stadt schleifen.«

PEARL

Natürlich musste ich an meinem ersten Abend zu Hause Boyce Wynn über den Weg laufen – meinem Schutzengel, meinem, wie ich mir einbildete, besten Kindheitsfreund, meinem heimlichen Jugendschwarm, meinem dreckigen kleinen Geheimnis. Oder war das Letzte davon ich selbst?

Als ich fünf war, rettete Boyce mir das Leben.

Es war mein erster Strandsäuberungstag. Ich war Pfadfinderin in der Grundstufe, entschlossen, den Preis meiner Gruppe für die meisten gefüllten Müllsäcke nach Hause zu tragen. Komisch, ich kann mich gar nicht mehr an die Belohnung erinnern, die ich so unbedingt haben wollte – eines dieser Plüschtiere, die mit kleinen Plastikkugeln gefüllt sind. Ein Delfin? Ein Wal? Ich weiß es nicht mehr. Das Einzige, was ich noch wusste, war meine zielstrebige Entschlossenheit, es zu gewinnen, was immer es war.