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Was ist Umweltethik? Nicht einfach dasselbe wie Umweltschutz: Umweltethik fragt nach den Gründen für Umweltschutz und was genau mit guten Gründen geschützt werden kann und soll. Diese Einführung bietet einen Überblick über dieses relativ neue Gebiet der Philosophie, erläutert ihre wichtigsten Grundströmungen und Positionen, ist also eine gute Grundlage, um über den angemessenen Umgang mit der natürlichen Umwelt des Menschen und den Umwelten anderer Lebewesen nachzudenken. Der Band ist für Studierende und Lehrende, für Oberstufenschüler*innen sowie als methodische Hilfestellung für reflektierte gesellschaftliche Diskussionen und Entscheidungsprozesse besonders gut geeignet. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 153
Christoph Sebastian Widdau
Reclam
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961884-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019662-5
www.reclam.de
Einleitung
1 Was die Umweltethik ist
2 Der Gegenstand
3 Zur Geschichte
4 Die Grundströmungen
5 Zur Praxis
Literaturhinweise
Glossar
Danksagung
Zum Autor
Die Frage nach dem angemessenen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und der Natur insgesamt steht seit einiger Zeit im Zentrum des öffentlichen Interesses. Sie wird inzwischen nicht nur von Spezialisten in Naturschutzverbänden und Umweltbehörden oder von Philosophinnen und Romanschriftstellern, sondern von sehr vielen Menschen gestellt. Schwere Umweltkatastrophen, mess- und spürbare Effekte der Umweltverschmutzung und eine wissenschaftlich belegte globale Umweltkrise zeigen die Dringlichkeit des Problems auf. Diese Krise wird mehrheitlich, wie es der Philosoph Lothar Schäfer (1934–2020) formuliert, nicht »als ein Ereignis der Naturgeschichte, sondern als ein Effekt der modernen Zivilisation«1 angesehen. Wir haben ein zum Teil menschengemachtes Umweltproblem, ein Problem, das politische Entscheidungen, technische Entwicklungen, ökonomische Prozesse und Lebensweisen infrage stellt. Es verunsichert. Seien wir aber optimistisch: Es ist ein Problem. Und wir tun gut daran, ein Problem erst einmal für etwas zu halten, das wir lösen können.
Das Umweltproblem ist nicht schicksalhaft über die Menschheit hereingebrochen. Es muss nicht tatenlos hingenommen werden. Wir wissen, dass wir die Umwelt beeinflussen können. Diese Einsicht führte unter anderem zur Entstehung der Umweltethik. Die Umweltkrise rief somit auch die Philosophie auf den Plan. Die Frage nach dem angemessenen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und der Natur ist nämlich eine philosophische Frage.
[8]Diese Feststellung könnte den einen oder die andere überraschen: Handelt es sich nicht um eine naturwissenschaftliche Frage? Warum sollte es sich um eine philosophische handeln? Weil es eine Frage ist, die nicht ausschließlich mit naturwissenschaftlichem Fachwissen beantwortet werden kann. Die Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit etwas erfordert die Berücksichtigung und Begründung von Normen, Zwecksetzungen und moralischen Werten. Wir versuchen, Antworten auf die Fragen zu finden, wie man mit Blick auf die Natur handeln soll und warum man so handeln soll. Jedes Mal, wenn man solche Fragen stellt, begibt man sich, ob beabsichtigt oder nicht, ob gewünscht oder nicht, auf philosophisches Terrain.
Ein Beispiel: Eine Ökologin kann aufgrund ihrer Fachkenntnis einschätzen, dass eine bestimmte Entscheidung E1 das Aussterben der Spezies S zur Folge haben wird und dass mit der entgegengesetzten Entscheidung E2 das Aussterben verhindert werden kann. Sind wir der Meinung, dass die Spezies S aussterben soll, dann sollten wir E1 wählen. Denken wir, dass sie erhalten werden soll, dann sollten wir E2 wählen. Die Frage, ob wir die Entscheidung E1 oder E2 treffen sollen, kann uns die Ökologin in ihrer Funktion als Naturwissenschaftlerin aber nicht beantworten. Sie muss hierfür die Ethik heranziehen.
Ohne Berücksichtigung normativer Annahmen und Urteilskriterien, die dem philosophischen Denken entspringen, kann keine reflektierte Antwort auf die Frage gegeben werden. Das Aussterben einer Spezies ist ein Prozess. Die Existenz oder Nichtexistenz von Angehörigen einer Spezies ist eine empirisch überprüfbare Tatsache. Ob wir uns so [9]entscheiden sollen, dass wir zum Aussterben der Spezies beitragen, ist nicht die Frage nach einem Prozess und nicht die nach einer empirisch überprüfbaren Tatsache. Hierbei handelt es sich um eine praktisch-philosophische Frage. Sie lautet: Was sollen wir tun?
Versucht uns jemand dazu zu bringen, dieses und nicht jenes zu tun, dann fragen wir ihn, weswegen wir dies tun, seine Ansicht teilen und entsprechend handeln sollen. Wir fragen nach Gründen, die uns überzeugen könnten, eine bestimmte Entscheidung zu fällen und ihr entsprechend zu handeln. Für uns könnte es etwa erstrebenswert sein, eine möglichst große Artenvielfalt zu bewahren.
Doch warum sollten wir dies für erstrebenswert halten? Der Wert der Artenvielfalt lässt sich nicht in der Natur finden, nicht mit dem Mikroskop, nicht mit dem Fernglas. Er lässt sich auch nicht mit ökologischen Modellen ermitteln. Aus der Tatsache, dass es in der Natur Artenvielfalt gibt, ergibt sich nicht ohne zusätzliche Wertzuschreibung der Wert von Artenvielfalt. Man kann behaupten, dass Artenvielfalt allein für sich genommen wertlos ist. Oder man kann behaupten, dass genau die Artenvielfalt wertvoll ist, die benötigt wird, damit ein bestimmtes Ökosystem funktioniert. Oder man kann behaupten, dass jede Art an sich wertvoll ist und deswegen geschützt werden soll. Welcher Behauptung sollen wir zustimmen?
Dies gilt es, umweltethisch zu prüfen. Und das Ergebnis der Prüfung hat praktische Konsequenzen. Je nachdem, welcher dieser Behauptungen zum Wert der Artenvielfalt man zustimmt, wird die Praxis, also der konkrete Umgang mit der Artenvielfalt, eine bestimmte sein. Ist man der Meinung, dass die Artenvielfalt wertlos ist, ist der [10]Artenschutz obsolet. Kommt man zu dem Schluss, dass nur bestimmte Arten erhalten werden sollen, wird man sich für deren Erhalt einsetzen, während man andere aussterben lässt oder gar vernichtet. Argumentiert man dafür, dass jede Art an sich wertvoll ist, muss man einen umfänglichen Artenschutz anstreben. Die Umweltethik ist also praktisch relevant.
Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Umweltethik. Mit ihr verfolge ich dieses Hauptziel: Sie soll denen, die an der Frage nach dem angemessenen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und der Natur interessiert sind, sich aber noch nicht mit ihr auseinandergesetzt haben, eine erste Orientierung geben. Sie soll leicht verständlich sein. Sie soll zum Nachdenken anregen. Und hoffentlich hilft sie dabei, sich im Anschluss intensiver mit der Umweltethik beschäftigen zu können.
In den beiden ersten Kapiteln werde ich zeigen, was die Umweltethik ist und welchen Gegenstand sie hat. Worüber genau spricht jemand, der über die Umweltethik spricht? Um die Bedeutung des Kompositums ›Umweltethik‹ zu erfassen, müssen sowohl der Begriff ›Umwelt‹ als auch der Begriff ›Ethik‹ einzeln analysiert und definiert werden. Das Ziel der beiden ersten Kapitel ist es, die für uns wichtigen Grundbegriffe zu klären und den Gegenstandsbereich zu bestimmen. Denn täten wir dies nicht, würden wir uns schnell im Ungefähren verlieren. Wir sollten aber nicht unbestimmt und vage über die Umweltethik und ihren Gegenstand sprechen, sondern genau verstehen, worum es geht.
Das dritte Kapitel führt in die Geschichte der Umweltethik ein, identifiziert ihren Ursprung, weist auf [11]Meilensteine dieser speziellen Ethik hin und leitet dann zu einer Darstellung ihrer beiden Grundströmungen, nämlich des Anthropozentrismus und des Physiozentrismus, über, auf die im vierten Kapitel ausführlich eingegangen wird. Dabei wird schnell deutlich, dass in der Umweltethik kontrovers diskutiert wird, und zwar nicht nur über Details, sondern auch über Grundsätzliches. Es ist nicht so, dass sich Umweltethiker einig sind, wie die Frage nach dem angemessenen Umgang des Menschen mit seiner Umwelt und der Natur zu beantworten ist. Es bestehen grundsätzliche Differenzen und es gibt unterschiedliche Ansichten, und zwar je nachdem, welchen Ausgangspunkt man wählt, um über das Umweltproblem nachzudenken. Einige Umweltethikerinnen denken, dass die Umweltethik allein den Menschen, seine Ansprüche, Bedürfnisse und Interessen im Blick haben sollte. Nur der Mensch sei moralisch relevant. Andere Umweltethikerinnen gehen davon aus, dass nicht nur der Mensch, sondern auch andere Tiere2, vielleicht sogar Ökosysteme oder die gesamte Natur moralisch relevant sind. Warum gibt es diese unterschiedlichen Ausgangspunkte? Und was bedeutet es für die Praxis, die eine oder die andere Antwort auf die Frage nach dem angemessenen Umgang zu geben?
Im fünften Kapitel werde ich darauf eingehen, ob einzelne Individuen oder Kollektivsubjekte wie politische Gemeinschaften in die umweltethische Pflicht zu nehmen sind und ob einzelne Individuen oder Gemeinschaften gut [12]daran tun, zu reflektieren und Verhaltensweisen, die einen Umwelteinfluss haben, beizubehalten oder zu ändern. Soll die Einzelne, wenn sie der Meinung ist, dass dies an sich richtig ist, auf Inlandsflüge verzichten, auch wenn das allein wenig zur Eindämmung des Klimawandels beiträgt? Soll der Einzelne, der die Umwelt schonen möchte, nicht mehr mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren, auch wenn ihm dies gesetzlich nicht verboten ist? Soll der einzelne Mensch aufhören, gekochtes, gebratenes oder gegrilltes Fleisch zu verzehren, das aus der Massentierhaltung stammt? Oder ist es eine gemeinschaftliche Aufgabe, Inlandsflüge, die Nutzung privater Autos und die Massentierhaltung zu verbieten? Ist es, solange es kein gesetzliches Verbot gibt, kein moralischer Fehler der Einzelnen, wenn sie Inlandsflüge buchen, das eigene Auto steuern und das Fleisch verzehren? Kurz: Wer oder was ist der Adressat umweltethischer Forderungen?
Mit dieser Einführung werden also mehrere Ziele verfolgt:
Die Leserinnen und Leser des Buches werden nach seiner Lektüre erstens wissen, was die Umweltethik ist und wovon sie zu unterscheiden ist.
Sie werden zweitens besser verstehen, was der Begriff ›Umwelt‹ bedeutet und von welchen anderen Begriffen er abgegrenzt werden sollte.
Sie werden drittens näher kennenlernen, welche Geschichte die Umweltethik hat und warum es sie gibt.
Sie werden viertens erfahren, welche Grundströmungen und unterschiedlichen Positionen in der Umweltethik vertreten und warum sie vertreten werden.
Und sie werden fünftens hoffentlich dazu angeregt [13]worden sein, über ihre eigene, individuelle Rolle und diejenige von politischen Gemeinschaften in der Umweltkrise nachzudenken. Um sich über die Bedeutung von Begriffen, die in der Umweltethik wichtig sind, einen schnellen Überblick verschaffen zu können, enthält der Anhang ein Glossar.
Was ist die Umweltethik, die in der deutschsprachigen Fachliteratur auch als ›Naturethik‹, ›Ökologie-Ethik‹, ›Ökoethik‹ oder ›Ökologische Ethik‹ bezeichnet wird? Welchen Begriff sollten wir uns von ihr machen? Mein Definitionsversuch, den ich erläutern werde, ist dieser: Die Umweltethik ist eine Bereichsethik, in der man erstens herausfinden möchte, wie Menschen angesichts moralischer Ansprüche von Menschen mit ihrer Umwelt und der Natur insgesamt umgehen sollen; in der man zweitens untersucht, ob anderes in der Natur neben dem Menschen als moralisches Objekt anzuerkennen ist, also als etwas, das moralisch geachtet werden soll; und in der man drittens diskutiert, wie sich moralische Subjekte, die moralisch entscheiden und handeln können, nichtmenschlichen moralischen Objekten gegenüber verhalten sollen.
Diese Definition ist lang und scheint kompliziert zu sein. Schauen wir uns daher ihre Elemente genauer an. Das in der Definition unter erstens Genannte ist noch eingängig und kann leicht in Beispiele übersetzt werden: Dürfen Menschen in einer bestimmten Region der Welt, wie etwa in Nordeuropa, Weltmeere mit ihrem Müll verschmutzen, wenn sie wissen, dass die Verschmutzung Menschen in anderen Regionen, wie etwa in Südostasien, negativ, vielleicht sogar existenzbedrohend betreffen wird? Sind wir Menschen es uns einander schuldig, die gesamte Natur zu bewahren? Sind wir, mit Blick auf uns selbst und andere Menschen, für die Natur verantwortlich und moralisch verpflichtet, sie zu schützen? Und sind wir das auch gegenüber jenen Menschen, die erst in Jahrhunderten leben werden? [16]Sind wir zu ihrem Schutz verpflichtet, weil sich Menschen an der Natur erfreuen und sie intakt sein muss, damit Menschen ein gutes Leben haben können? Ihre Umwelt ist für Menschen wichtig, ja lebenswichtig. Weil dies so ist: Wie dürfen und sollen Menschen dann, wenn sie an sich selbst und andere Menschen denken, mit ihr umgehen?
Das in der Definition unter zweitens und drittens Genannte ist nicht so eingängig. Laut unserer Definition wird in der Umweltethik (s. zweitens) untersucht, was in der Natur abseits des Menschen moralisch zu achten, also moralisches Objekt ist. Zudem wird in ihr (s. drittens) diskutiert, welche normativen Schlussfolgerungen aus dem Ergebnis der zuvor genannten Untersuchung zu ziehen sind. Um dies mit Beispielen zu veranschaulichen: Es wird untersucht, ob ein Bach oder Weiher, ein Zebrafink oder Smaragdsittich, ein Stiefmütterchen oder eine Orchidee moralisch geachtet werden sollen. Wenn sie zu achten wären, dann dürften Menschen nicht achtlos oder nur eigene Bedürfnisse berücksichtigend mit ihnen umgehen. Anschließend wird diskutiert, was genau es für die moralische Praxis bedeuten würde, wenn etwa ein Weiher als moralisches Objekt anzuerkennen wäre. Wie dürften oder sollten wir uns dann ihm gegenüber verhalten?
Bevor wir uns dem Gegenstand der Umweltethik zuwenden, sollten wir uns vergewissern, ob wir jedes Element des Definitionsversuchs verstanden haben. Denn wenn wir nicht jedes Element verstehen, dann verstehen wir auch die Definition und den Gegenstand dieses Buches nicht. Was müssen wir noch aufklären?
Die Umweltethik ist eine besondere Ethik. Doch was bedeutet seinerseits der Begriff ›Ethik‹? Zudem soll geklärt [17]werden, was es mit dem für die Ethik wichtigen Begriff des ›moralischen Subjekts‹ und dem des ›moralischen Objekts‹ auf sich hat. Schließlich muss geklärt werden, was unter dem Begriff ›Bereichsethik‹ zu verstehen ist, weil die Umweltethik als eine solche bezeichnet wird. Die Umweltethik ist eine Bereichsethik, weil sie einen bestimmten Bereich im Blick hat, nämlich den der Umwelt. Anschließend werden wir uns dann ausführlich mit dem Begriff ›Umwelt‹ und dem Gegenstand dieser besonderen Ethik auseinandersetzen.
Die Ethik ist ein Teilgebiet der Praktischen Philosophie. In ihr stellt man sich die Frage nach dem angemessenen Handeln von Individuen und Kollektiven. Ethiker fragen, welche Handlungen moralisch richtig und falsch sind und warum sie dies sind. Es geht in der Ethik also um die Moral. Wenn es so ist, dass es in der Ethik um die Moral geht, dann können Ethik und Moral nicht dasselbe sein. Darum sollten die Begriffe ›Ethik‹ und ›Moral‹ voneinander unterschieden werden, auch wenn sie im Alltag oft so verwendet werden, als wären sie austauschbar. Wie sind die beiden Begriffe voneinander zu unterscheiden?
Man sollte den Gegenstand, nämlich die Moral, von der Philosophie oder Wissenschaft über diesen Gegenstand, nämlich der Ethik, unterscheiden. Eine an einer Universität lehrende Ethikerin unterrichtet nicht in dem Fach ›Moral‹. Einen universitären Studiengang mit dem Namen ›Moral‹ gibt es nicht. Die Ethikerin unterrichtet in dem Fach ›Ethik‹. [18]In ihm werden Probleme der Moral thematisiert und diskutiert. Ethikerinnen und Ethiker versuchen, diese Probleme so genau wie möglich zu verstehen, zu analysieren und allgemeingültige oder wenigstens plausible Lösungen für sie zu finden. Unter ›Moral‹ ist die Gesamtheit der Normen und Werte, Konventionen und Verhaltensprinzipien, die moralische Subjekte haben, zu verstehen. Jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens mit der Moral zu tun. Es geht gar nicht anders. Schon als Säugling, also in dem Lebensstadium, in dem man selbst noch gar nicht über Moral nachdenken und bewusst handeln kann, wird man mit den Normen und Werten der eigenen Eltern konfrontiert, auch wenn man dies noch nicht wahrnimmt und versteht. Aber nicht jeder Mensch hat im Laufe seines Lebens mit der Ethik zu tun.
Beispielsweise kann Peter den Grundsatz haben, andere Menschen unter keinen Umständen zu belügen. Dieser Grundsatz ist Teil seiner Moral. Er kann ihn vertreten, ohne zuvor analysiert zu haben, ob es vernünftig ist, diesen Grundsatz zu vertreten. Er kann ihn vertreten, ohne geprüft zu haben, ob es gute Gründe dafür gibt, ihn zu vertreten. Er kann ihn vertreten, ohne seine Bedingungen und Probleme bis ins Letzte ausgeleuchtet zu haben. Die genaue Analyse und die ausführliche, systematische Diskussion des Grundsatzes in diesem Fall, nämlich, andere nie zu belügen, sind Aufgaben der Ethik. Die Ethikerin Helga fragt: Ist der Grundsatz gerechtfertigt? Wie kann er gerechtfertigt werden? Auf welchen Annahmen basiert er? Welche Gründe sprechen für ihn? Welche Gründe sprechen gegen ihn?
Ein anderes Beispiel: Eine Gemeinschaft von Menschen – nennen wir sie ›die Schöpfungsgläubigen‹ – kann eine bestimmte Umweltmoral haben und diese [19]untereinander teilen. Vielleicht denken alle Mitglieder dieser Gemeinschaft, dass es unangemessen ist, ein Tier, das als Schädling erachtet wird, auszurotten, koste es, was es wolle. Deshalb einigen sie sich darauf, einen Schädling niemals auszurotten. Darauf einigen sie sich, weil sie davon überzeugt sind, dass jedes Lebewesen Gottes Schöpfung ist, und Menschen nicht das Recht haben, in die Schöpfung einzugreifen. Nur Gott dürfe nehmen, was er gegeben hat. Ob dies eine vernünftige, wohlfundierte Begründung ihrer Umweltmoral ist und was für und was gegen diese Moral spricht, sind Aspekte, die Ethikerinnen sachlich und kritisch in Augenschein nehmen.
Nachdem wir umrissen haben, womit sich die Ethik beschäftigt, kommen wir nun zu ihrem ›Protagonisten‹, dem moralischen Subjekt, und dem moralischen Objekt. Beginnen wir mit Letzterem: Ein moralisches Objekt ist jemand oder etwas, der oder das um seiner selbst willen zu respektieren ist und moralisch geachtet werden soll. Es ist jemand oder etwas, dem nicht unachtsam begegnet werden darf. Man darf ein solches Objekt nicht bloß nach eigenem Belieben instrumentalisieren, um eigene Ziele zu erreichen, sondern soll es selbst als moralisch relevant behandeln.
Nicht jedes Objekt ist ein moralisches. Es gibt Sachen, beispielsweise Kaffeetassen, Bleistifte oder Steine, die normalerweise aufgrund ihrer Eigenschaften nicht als etwas gelten, das moralisch zu achten ist.
Warum ist das so? Eine geläufige Antwort lautet: Sie [20]sind aus dem Grund nicht moralisch zu achten, weil sie nun mal Sachen sind, denen es nichts ausmacht, wie mit ihnen umgegangen wird. Sachen erleiden unter keinen Umständen ein Übel, das sie selbst bemerken könnten. Einer Kaffeetasse tut es nicht weh, wenn sie zerbrochen wird. Ein Bleistift hat keinen Lebenstraum, den man zerstören könnte. Ein Stein spürt nichts, wenn man ihn streichelt.
Stellen wir uns die folgende Situation vor: Ich sitze am Schreibtisch und versuche, ein Gedicht zu verfassen. Altmodisch benutze ich hierfür keine Computertastatur und keinen Kugelschreiber, sondern einen Federkiel, also einen Teil einer Vogelfeder. Poetisch begabt bin ich nicht. So kommt es, wie es kommen muss: Der Versuch scheitert. In meiner Enttäuschung pflücke ich den Federkiel, mit dem ich die Verse niedergeschrieben habe, auseinander. Der Federkiel ist das Objekt meiner Handlung. Nun stellt sich die Frage, ob es moralisch relevant ist, dass ich ihn auseinanderpflücke. Und wenn es moralisch relevant wäre: Warum sollte das so sein? Man wird mir nicht zum Vorwurf machen, dass ich es versäume, dem Federkiel selbst moralische Aufmerksamkeit zu schenken. Er ist eine Sache. Er kann kein Übel erleiden. Es macht ihm nichts aus, dass ich ihn auseinanderpflücke.
Vielleicht macht man mir aber den Vorwurf, unbeherrscht zu reagieren, obwohl man sich stets im Griff haben sollte. Auch dann, wenn sonst niemand im Raum ist. Selbstbeherrschung sei unter allen Umständen eine zu achtende Tugend. »Du handelst nicht tugendhaft!«, könnte eine Tugendethikerin sagen.
Vielleicht macht man mir den Vorwurf, dass ein anderer Mensch den Federkiel noch brauchen könnte und ich ihn [21]verschenken statt auseinanderpflücken sollte. Ich würde mich der Verschwendung von wertvollen Ressourcen schuldig machen. »Ohne Not verschwendest du etwas, das jemand anderem von Nutzen wäre!«, könnte ein anderer Ethiker sagen.
Doch wird wohl niemand auf den Gedanken kommen, mir den Vorwurf zu machen, dass ich dem Federkiel ein Übel, das er bemerkt oder verspürt, zufüge, indem ich ihn auseinanderpflücke. »Tu dem Federkiel nicht weh!« oder »Schädige den Federkiel nicht!«, wird niemand sagen, der weiß, was ein Federkiel ist.