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«In Übereinstimmung mit dem Gesetz wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt.» Ein Mann sitzt im Gefängnis, auf die Hinrichtung wartend; er träumt, phantasiert, erinnert sich, schreibt und hat Angst. Das Verbrechen, das er auf dem Schafott büßen soll, ist seine Existenz als Einzelgänger. Der große Erzähler Vladimir Nabokov hat mit diesem frühen Roman eine der bittersten Satiren der Weltliteratur geschrieben.
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Seitenzahl: 289
Vladimir Nabokov
Einladung zur Enthauptung
Roman
Deutsch von Dieter E. Zimmer
Ihr Verlagsname
«In Übereinstimmung mit dem Gesetz wurde Cincinnatus C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt.» Ein Mann sitzt im Gefängnis, auf die Hinrichtung wartend; er träumt, phantasiert, erinnert sich, schreibt und hat Angst. Das Verbrechen, das er auf dem Schafott büßen soll, ist seine Existenz als Einzelgänger.
Der große Erzähler Vladimir Nabokov hat mit diesem frühen Roman eine der bittersten Satiren der Weltliteratur geschrieben.
Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.
In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.
Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.
Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 5. Juli 1977 starb.
Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).
Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.
Comme un fou se croit Dieu, nous nous croyons mortels.
Delalande: Discours sur les ombres[1]
Wie das Gesetz es vorschrieb, wurde Cincinnatus[1] C. das Todesurteil im Flüsterton mitgeteilt. Alle erhoben sich und lächelten einander zu.[2] Der weißhaarige Richter hielt den Mund dicht an sein Ohr, schnaufte einen Augenblick lang, verkündete das Urteil und machte sich langsam los, als wäre er festgeklebt gewesen. Dann wurde Cincinnatus in die Festung zurückgebracht. Die Straße ringelte sich um ihren Felsensockel und verschwand unter dem Tor wie eine Schlange in einem Spalt. Er war ruhig; während der Wanderung durch die langen Gänge jedoch musste er gestützt werden, da er die Füße unsicher setzte wie ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, oder als würde er gleich versinken wie jemand, der geträumt hat, er wandele über das Wasser, und dem plötzlich Zweifel kommen: Ist das denn überhaupt möglich? Rodion, der Wärter, brauchte lange, die Tür zu Cincinnatus’ Zelle aufzuschließen – es war der falsche Schlüssel –, und es fand das übliche Hin und Her statt. Schließlich gab die Tür nach. Drinnen wartete schon der Anwalt. Bis zur Schulter in Gedanken und ohne sein Frackjackett (das er auf einem Stuhl im Gerichtssaal vergessen hatte – es war ein heißer Tag, ein durch und durch blauer Tag) saß er auf der Pritsche; als der Häftling hereingeführt wurde, sprang er ungeduldig auf. Doch Cincinnatus war es nicht nach Gesprächen zumute. Selbst wenn die Alternative die Einsamkeit dieser Zelle mit ihrem Guckloch wie ein Bootsleck war – ihm war es gleich, und er bat darum, allein gelassen zu werden; alle verneigten sie sich zu ihm hin und gingen.
So nähern wir uns also dem Ende. Der rechte, noch ungekostete Teil des Romans, den wir während unserer ergötzlichen Lektüre leicht betasteten, um mechanisch festzustellen, ob noch genug da war (und immer freuten sich die Finger an der gleichmütigen treuen Dicke), ist plötzlich ohne Grund mager geworden: ein paar Minuten schnellen Lesens, bergab bereits, und – O grässlich! Der Haufen Kirschen, eben für uns noch eine Masse von rötlichem und glänzendem Schwarz, ist plötzlich zu ein paar vereinzelten Steinfrüchten geschrumpft: Die Narbige dort ist ein wenig faulig, und jene ist verschrumpelt und um ihren Kern herum vertrocknet (und die allerletzte ist unweigerlich hart und unreif) – O grässlich! Cincinnatus legte sein Seidenwams ab, zog den Schlafrock über, begann fest auftretend in der Zelle herumzulaufen, um dem Zittern ein Ende zu machen. Auf dem Tisch leuchtete ein sauberes Blatt Papier, und von dieser Weiße hob sich deutlich ein wundervoll spitzer Bleistift ab, lang wie das Leben jedes Menschen mit Ausnahme von Cincinnatus und mit einem ebenholzschwarzen Schimmer auf jeder seiner sechs Facetten. Ein aufgeklärter Nachkomme des Zeigefingers. Cincinnatus schrieb: «Trotz allem bin ich verhältnismäßig. Schließlich habe ich es geahnt, habe ich dieses Finale geahnt.» Rodion stand auf der anderen Seite der Tür und spähte mit der unnachgiebigen Aufmerksamkeit eines Kapitäns durch das Guckloch. Cincinnatus spürte eine Kälte auf seinem Hinterkopf. Er strich aus, was er geschrieben hatte, und begann, behutsam zu schattieren; ein embryonaler Schnörkel erschien langsam und bog sich zu einem Widderhorn. O grässlich! Rodion starrte durch das blaue Bullauge auf den Horizont, der sich bald hob, bald senkte. Wer wurde seekrank? Cincinnatus. Der Schweiß brach ihm aus, alles wurde dunkel, und er konnte die Wurzel jedes Haares fühlen. Eine Uhr schlug – vier- oder fünfmal – mit dem einem Gefängnis eigentümlichen Hall und Widerhall und Nachhall. Mit strampelnden Beinen ließ sich eine Spinne – offizieller Freund des Gefangenen – an einem Faden von der Decke herab. Niemand indessen klopfte an die Wand, da Cincinnatus bisher der einzige Häftling (in einer so riesigen Festung!) war.
Etwas später kam Rodion der Wärter herein und erbot sich, einen Walzer mit ihm zu tanzen. Cincinnatus willigte ein. Sie begannen, sich zu drehen. Die Schlüssel an Rodions Ledergürtel klirrten; er roch nach Schweiß, Tabak und Knoblauch; summte schnaufend in seinen roten Bart; und seine rostigen Gelenke knackten (er war nicht mehr so in Form wie früher, leider – jetzt, da er fett war und kurzatmig). Der Tanz trug sie auf den Gang. Cincinnatus war viel kleiner als sein Partner. Cincinnatus war leicht wie ein Blatt. Der Walzerwind ließ die Spitzen seines langen, aber schütteren Schnurrbarts flattern, und seine großen, klaren Augen blickten schräg zur Seite, wie es die Augen ängstlicher Tänzer immer tun. Er war in der Tat sehr klein für einen erwachsenen Mann. Marthe[3] hatte immer gesagt, dass ihr seine Schuhe zu eng seien. An der Biegung des Ganges stand ein anderer – namenloser – Wärter mit einem Gewehr, der eine hundeartige Maske mit einem Stück Gaze über dem Mund trug. Sie beschrieben in seiner Nähe einen Kreis und glitten in die Zelle zurück, und jetzt bedauerte Cincinnatus, dass die freundliche Umarmung der Ohnmacht nur so kurz gewährt hatte.
Mit banaler Trostlosigkeit schlug die Uhr von neuem. Die Zeit rückte in arithmetischer Progression[4] vor: Jetzt war es acht. Das hässliche kleine Fenster erwies sich als dem Sonnenuntergang zugänglich; ein feuriges Parallelogramm erschien auf der Seitenwand. Die Zelle war bis an die Decke mit den Ölfarben des Zwielichts gefüllt, die ungewöhnliche Pigmente enthielten. So fragte man sich, ob das da rechts von der Tür das Gemälde eines verwegenen Malers war oder ein zweites Fenster, ein verziertes, wie es sie nicht mehr gibt. (In Wirklichkeit war das, was da an der Wand hing, ein Pergamentblatt mit zwei Spalten detaillierter «Häftlingsregeln»; die geknickte Ecke, die roten Lettern der Überschrift, die Vignetten, das alte Stadtsiegel – nämlich ein Hochofen mit Flügeln – lieferten der Abendbeleuchtung das notwendige Material.) Das Möbelkontingent der Zelle bestand aus einem Tisch, einem Stuhl und der Pritsche. Das Abendessen (die zum Tode Verurteilten hatten Anrecht auf die gleichen Mahlzeiten wie die Wärter) stand schon lange da und wurde auf seinem Zinktablett kalt. Es wurde völlig dunkel. Plötzlich war der Raum voll von goldenem, hochkonzentriertem elektrischem Licht. Cincinnatus ließ die Füße von der Pritsche herab. Eine Kegelkugel rollte diagonal vom Nacken zur Schläfe durch seinen Kopf; sie kam zum Stillstand und rollte dann zurück. Inzwischen war die Tür aufgegangen, und der Gefängnisdirektor trat ein.
Wie immer trug er einen Gehrock und hielt sich tadellos gerade, die Brust heraus, die eine Hand in seinem Busen, die andere hinter dem Rücken. Ein hervorragendes Toupet, pechschwarz und mit einem wächsernen Scheitel, bedeckte glatt seinen Kopf. Seinem lieblos gewählten Gesicht mit den dicken, fahlen Wangen und einem leicht veralteten Faltensystem liehen in gewisser Weise zwei, und nur zwei, hervortretende Augen Leben. In seinen Hosenschäften ging er gleichmäßigen Schritts von der Wand zum Tisch, fast bis zur Pritsche – doch trotz seiner majestätischen Festigkeit verschwand er lautlos, löste er sich auf in Luft. Eine Minute später jedoch ging die Tür noch einmal auf, diesmal mit dem vertrauten Knarren, und wie immer in einem Gehrock trat, die Brust heraus, die gleiche Person ein.
«Aus vertrauenswürdiger Quelle dahingehend unterrichtet, dass Ihr Schicksal sozusagen besiegelt ist», begann er in salbungsvollem Bass, «erachte ich es als meine Pflicht, werter Herr …»
Cincinnatus sagte: «Liebenswürdig. Sie. Sehr.» (Dies musste noch geordnet werden.)
«Sie sind sehr liebenswürdig», sagte ein zusätzlicher Cincinnatus, nachdem er sich geräuspert hatte.
«Vergebung!», rief der Direktor, ohne die Taktlosigkeit dieses Wortes zu bemerken. «Vergebung! Machen Sie sich nichts draus. Die Pflicht. Ich immer. Aber warum, wenn ich mich erkühnen darf, das zu fragen, warum haben Sie Ihr Essen nicht angerührt?»
Der Direktor nahm den Deckel ab und hob eine Schüssel geronnenen Eintopfs an seine sensible Nase. Mit zwei Fingern griff er sich eine Kartoffel und begann sie kraftvoll zu zerkauen, während er mit seiner Augenbraue schon auf einem anderen Teller etwas aussuchte.
«Ein besseres Essen können Sie sich doch wohl kaum wünschen», sagte er mit Missfallen, ließ seine Manschetten herausschießen und setzte sich an den Tisch, um es beim Essen des Reispuddings bequemer zu haben.
Cincinnatus sagte: «Ich wüsste gern, ob es noch lange sein wird bis dahin!»
«Ein vorzüglicher Zabaione! Wüsste doch gern, ob es noch lange sein wird bis dahin. Unglücklicherweise weiß ich das selber nicht. Ich werde immer erst im letzten Augenblick unterrichtet; ich habe mich viele Male beschwert und kann Ihnen die ganze Korrespondenz über dieses Thema zeigen, wenn es Sie interessiert.»
«Es kann also morgen früh sein?», fragte Cincinnatus.
«Wenn es Sie interessiert», sagte der Direktor. «… Ja, einfach köstlich und sehr sättigend, sage ich Ihnen. Und jetzt erlauben Sie mir, Ihnen pour la digestion[5] eine Zigarette anzubieten. Keine Angst, das ist höchstens die vorletzte», fügte er witzig hinzu.
«Ich frage nicht aus Neugier», sagte Cincinnatus. «Es stimmt, Feiglinge sind immer wissbegierig. Aber ich versichere Ihnen … Selbst wenn ich mein Zittern nicht beherrschen kann und so weiter – das hat nichts zu sagen. Ein Reiter ist nicht verantwortlich für das Zittern seines Pferdes. Ich möchte aus folgendem Grund erfahren, wann: Die Kompensation für ein Todesurteil ist, dass man genau weiß, wann man sterben muss. Ein großer Luxus, aber ein wohlverdienter. Mich dagegen lässt man in dieser Unwissenheit, welche nur für die erträglich ist, die in Freiheit leben. Und außerdem trage ich mich mit vielen Projekten, die verschiedene Male angefangen und unterbrochen wurden … Ich verfolge sie einfach nicht weiter, wenn die Zeit, die bis zu meiner Hinrichtung bleibt, nicht reicht, sie ordentlich zu erledigen. Darum …»
«Ach, würden Sie bitte mit diesem Gebrummel aufhören», sagte der Direktor gereizt. «Erstens ist es gegen die Regeln, und zweitens – ich sage es Ihnen in klarem Russisch und schon das zweite Mal – weiß ich es selber nicht. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass die Ankunft Ihres Schicksalsgenossen jetzt jeden Tag erwartet wird; und wenn er tatsächlich eintrifft und sich ausgeruht und an seine neue Umgebung gewöhnt hat, muss er immer noch erst das Gerät ausprobieren, natürlich nur, sofern er nicht sein eigenes mitbringt, was sehr wahrscheinlich ist. Wie ist der Tabak? Nicht zu stark?»
«Nein», antwortete Cincinnatus, nachdem er einen geistesabwesenden Blick auf seine Zigarette geworfen hatte. «Es scheint mir nur, dass nach dem Gesetz … Nicht Sie vielleicht, aber der Stadtverweser … ist verpflichtet …»
«Unser Plauderstündchen ist um, und das reicht», sagte der Direktor. «Eigentlich bin ich nicht hergekommen, um mir Beschwerden anzuhören, sondern um …» Blinzelnd wühlte er erst in einer, dann in einer anderen Tasche; schließlich zog er aus einer Innentasche ein Blatt liniiertes Papier, das offenbar aus einem Schulheft gerissen war.
«Hier ist kein Aschenbecher», bemerkte er und gestikulierte mit seiner Zigarette. «Na ja, ersäufen wir sie im Saucenrest … So. Ich würde sagen, das Licht ist ein bisschen grell. Vielleicht wenn wir … Ach egal; es muss auch so gehen.»
Er faltete das Papier auseinander, hielt die Brille mit dem Hornrand vor die Augen, ohne sie jedoch aufzusetzen, und begann klar vernehmlich zu lesen:
«‹Gefangener! In dieser feierlichen Stunde, da aller Augen …› Ich glaube, wir stehen besser auf», unterbrach er sich besorgt und erhob sich von seinem Stuhl. Cincinnatus erhob sich ebenfalls.
«‹Gefangener, in dieser feierlichen Stunde, da aller Augen auf Euch ruhen, Eure Richter frohlocken und Ihr Euch für jene unwillkürlichen Zuckungen bereitet, die dem Abtrennen des Kopfes unmittelbar folgen, richte ich an Euch ein Abschiedswort. Es fällt mir zu – und niemals werde ich es aus dem Sinn verlieren –, Euren Aufenthalt im Kerker mit jener Fülle von Annehmlichkeiten zu versehen, die das Gesetz gestattet. Ich werde mich folglich glücklich schätzen, jeglichem Ausdruck Eurer Dankbarkeit jede mögliche Aufmerksamkeit zu widmen; vorzugsweise sollte sie jedoch schriftlich und nur auf einseitig beschriebenen Bogen geäußert werden.›
So», sagte der Direktor und klappte seine Brille zusammen, «das ist alles. Ich will Sie nicht länger aufhalten. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie was brauchen.»
Er setzte sich an den Tisch und begann schnell zu schreiben, um anzuzeigen, dass die Audienz zu Ende sei. Cincinnatus ging hinaus.
An der Wand im Gang döste Rodions Schatten, über den Schatten eines Hockers gekrümmt, nur der Saum des Bartes war fuchsrot umrissen. Weiter weg, wo die Wand eine Biegung machte, hatte der andere Wärter seine Uniformmaske abgenommen und wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel. Cincinnatus ging die Treppe hinab. Die Steinstufen waren schmal und schlüpfrig, die Spirale ihres geisterhaften Geländers war ungreifbar. Unten angekommen, lief er wieder durch Gänge. Eine Tür mit der Aufschrift «Büro» in Spiegelschrift stand weit offen; Mondschein schimmerte auf einem Tintenfass, und unter dem Tisch raschelte und rüttelte wütend ein Papierkorb: Eine Maus musste hineingefallen sein. Nachdem Cincinnatus an vielen anderen Tischen vorbeigegangen war, stolperte er, machte einen Satz und fand sich auf einem kleinen Hof, der voll war von den verschiedenen Teilen des demontierten Mondes. Die Losung an diesem Abend lautete Schweigen, und der Soldat am Tor antwortete mit Schweigen auf Cincinnatus’ Schweigen und ließ ihn passieren; genauso an allen anderen Toren. Das nebelige Massiv der Festung hinter sich lassend, begann er eine steile, taufeuchte Rasenböschung hinabzugleiten, erreichte einen bleichen Pfad zwischen den Felsen, überquerte zwei- oder dreimal die Windungen der Hauptstraße – die endlich den letzten Schatten der Festung abschüttelte und gerader und freier verlief –, und eine filigrane Brücke über einen ausgetrockneten kleinen Flusslauf brachte Cincinnatus in die Stadt. Er erklomm einen steilen Hang, wandte sich in der Gartenstraße nach links und eilte an einem in grauer Blüte stehenden Gesträuch vorbei. Irgendwo blitzte ein erleuchtetes Fenster auf; hinter einem Zaun schüttelte ein Hund seine Kette, bellte jedoch nicht. Die Brise tat ihr Mögliches, den bloßen Hals des Flüchtlings zu kühlen. Hin und wieder kam eine Woge von Duft aus den Tamara-Gärten. Wie gut er diesen Park kannte! Dort, wo Marthe als Braut sich vor Fröschen und Maikäfern gefürchtet hatte … Dort, wo man immer, wenn das Leben unerträglich schien, umherstreifen konnte, im Mund einen Brei aus zerkauten Fliederblüten und Leuchtkäfertränen in den Augen … Dieser grüne, grasige Park mit amerikanischen Lärchen, die Stille seiner Teiche, das Tam-tam-tam einer fernen Kapelle …[6] Er bog in die Faktstraße, kam an den Ruinen einer alten Fabrik vorbei, dem Stolz der Stadt, vorbei an wispernden Linden, vorbei an den festlich aussehenden weißen Bungalows der Telegraphenangestellten, die unablässig jemandes Geburtstag feierten, und gelangte auf die Telegraphstraße. Von dort ging eine enge Gasse bergauf, und wieder setzte das diskrete Gemurmel der Linden ein. In der Dunkelheit einer Parkanlage unterhielten sich leise zwei Männer, vermutlich auf einer Bank. «Ich sage, er irrt sich», sagte einer. Die Antwort des anderen war unverständlich, und beide seufzten auf eine Art, die sich auf natürliche Weise mit dem Stöhnen des Laubes vermischte. Cincinnatus lief auf einen runden Platz, wo der Mond über der wohlvertrauten Statue eines Dichters Wache stand, der wie ein Schneemann aussah – ein Würfel als Kopf, die Beine zusammen –, und nach ein paar hallenden Schritten war er in seiner Straße. Rechterhand warf der Mond ungleiche Zweigmuster auf die Mauern gleicher Häuser, sodass Cincinnatus sein eigenes Haus nur dank dem Ausdruck der Schatten, dank dem glabellaren Streifen zwischen zwei Fenstern wiedererkannte. Marthes Fenster im Obergeschoss war dunkel, aber offen. Die Kinder mussten auf der Hakennase des Balkons schlafen – etwas Weißes schimmerte dort. Cincinnatus lief die Treppe zur Tür hinauf, stieß diese auf und trat in seine erleuchtete Zelle. Er wandte sich um, aber schon war er eingeschlossen. O grässlich! Der Bleistift glänzte auf dem Tisch. Die Spinne saß auf der gelben Wand.
«Macht das Licht aus!», rief Cincinnatus.
Sein Beobachter hinter dem Guckloch machte es aus. Dunkelheit und Stille begannen miteinander zu verschmelzen, doch störend griff die Uhr ein; sie schlug elfmal, bedachte sich einen Augenblick und schlug noch einmal, und Cincinnatus lag rücklings und starrte in die Dunkelheit, wo sich helle Flecken zerstreuten und allmählich verschwanden. Dunkelheit und Stille verschmolzen vollständig. Dann und erst dann (das heißt, als er nach Mitternacht am Ende eines grässlichen, grässlichen, ich kann einfach nicht sagen wie grässlichen Tages rücklings auf einer Gefängnispritsche lag) schätzte Cincinnatus C. seine Situation klar ab.
Zunächst erschien auf dem Hintergrund jenes schwarzen Samtes, mit dem nachts die Innenseite der Augenlider gefüttert ist, Marthes Gesicht wie auf einem Medaillon; ihre puppenhafte Rosigkeit; ihre glänzende Stirn, mit der kindlichen Auswölbung; ihre dünnen Augenbrauen, die schräg nach oben verliefen, hoch über ihre runden haselnussbraunen Augen. Sie begann zu blinzeln, wandte den Kopf, an ihrem sanften, sahneweißen Hals befand sich ein schwarzes Samtband, und die samtene Ruhe ihres Kleides bauschte sich unten aus und verschmolz mit der Dunkelheit. So sah er sie im Publikum, als sie ihn zu der frisch gestrichenen Anklagebank führten, auf die er sich nicht zu setzen wagte, sodass er daneben stehen blieb (und dennoch beschmierte er seine Hände ganz mit smaragdgrüner Farbe, und gierig photographierten die Zeitungsleute die Fingerabdrücke, die er auf der Rückenlehne zurückgelassen hatte). Er konnte ihre angespannten Stirnen sehen, die protzigen Pantalons der Stutzer und die Handspiegel und schillernden Schals der eleganten Damen; doch die Gesichter waren undeutlich – von allen Zuschauern war ihm nur die rundäugige Marthe erinnerlich. Verteidiger und Ankläger – beide waren geschminkt und sahen sich sehr ähnlich (das Gesetz schrieb vor, dass sie Halbbrüder mütterlicherseits sein mussten, aber solche waren nicht immer verfügbar, und so wurde mit Schminke nachgeholfen) – sprachen die jedem zugebilligten fünftausend Wörter mit virtuoser Geschwindigkeit. Sie sprachen abwechselnd, und der Richter folgte dem schnellen Wortwechsel mit dem Kopf, bewegte ihn nach links und nach rechts, und all die anderen Köpfe taten es ihm nach; nur Marthe saß halb ihm zugewandt reglos wie ein erstauntes Kind, den Blick auf Cincinnatus geheftet, der neben der leuchtend grünen Parkbank stand. Der Verteidiger, ein Anwalt klassischer Enthauptung, siegte mit Leichtigkeit über den erfindungsreichen Ankläger, und der Richter fasste den Fall zusammen.
Bruchstücke dieser Reden, in denen die Wörter «Transparenz» und «Opazität»[7] wie Blasen aufstiegen und platzten, klangen Cincinnatus jetzt in den Ohren, das Sausen des Blutes wurde zu Beifall, und Marthes Medaillongesicht blieb in seinem Blickfeld und schwand erst, als der Richter – der so nahe gekommen war, dass er auf seiner großen, dunklen Nase die vergrößerten Poren erkennen konnte, aus deren einer ganz auf der Spitze ein einsames, aber langes Haar spross – mit feuchtem Unterton sagte: «Mit freundlichem Einverständnis des Publikums werden Sie den roten Zylinder aufzusetzen haben» – eine Floskel, die die Gerichte entwickelt hatten und deren wahren Sinn jeder Schuljunge kannte.
«Und doch bin ich so sorgsam geformt», dachte Cincinnatus und weinte in der Dunkelheit. «Die Biegung meines Rückgrats ist so genau, so geheimnisvoll berechnet. In meinen Waden spüre ich eng aufgerollt noch so viele Meilen, die meine Füße in meinem Leben zurücklegen könnten. Mein Kopf sitzt so bequem …»
Die Uhr schlug halb einer unbekannten Stunde.
Die Morgenzeitungen, die Rodion ihm zusammen mit einer Tasse lauwarmer Schokolade brachte, das Lokalblatt Guten Morgen Leute und die ernstere Stimme der Öffentlichkeit, waren wie immer voll von Farbphotos. In der ersten fand er die Fassade seines Hauses: Die Kinder blickten vom Balkon, sein Schwiegervater blickte aus dem Küchenfenster, ein Photograph blickte aus Marthes Zimmer; auf dem zweiten war die ihm vertraute Aussicht von diesem Fenster in den Garten mitsamt dem Apfelbaum, dem offenen Tor und der Gestalt des Photographen, der die Fassade aufnahm. Darüber hinaus fand er zwei Bilder von sich selbst, die ihn in seiner demütigen Jugend zeigten.
Cincinnatus war der Sohn eines unbekannten Vaganten und verbrachte seine Kindheit in einem großen Heim jenseits der Strop (erst in seinen Zwanzigern lernte er beiläufig die zwitschernde, winzige, immer noch so jung wirkende Cecilia C. kennen, die ihn, als sie noch ein Schulmädchen war, eines Nachts an den Teichen empfangen hatte). Von seiner frühesten Jugend an gelang es Cincinnatus, der durch einen seltsamen und glücklichen Umstand seine Gefährdung begriff, eine gewisse Eigenheit zu verbergen. Er war undurchdringlich für die Strahlen der anderen und wirkte darum, wenn er nicht aufpasste, bizarr, wie ein einsames dunkles Hindernis in dieser Welt der füreinander durchsichtigen Seelen; jedoch lernte er, Transparenz vorzugaukeln, sozusagen mithilfe eines komplexen Systems optischer Täuschungen – aber er brauchte sich nur einmal zu vergessen, einen Augenblick lang die Herrschaft über sich zu verlieren und über die klüglich beleuchteten Facetten und Winkel, die er seine Seele einnehmen ließ, und sofort gab es Alarm. Mitten in der Aufregung eines Spiels ließen ihn seine Altersgenossen plötzlich im Stich, als hätten sie gespürt, dass sein klarer Blick und das Himmelblau seiner Schläfen nur eine listige Täuschung darstellten und dass Cincinnatus in Wahrheit opak war. Manchmal raffte der Lehrer inmitten einer plötzlichen Stille in bekümmerter Bestürzung alle seine Hautreserven um den Augen zusammen, blickte ihn lange an und sagte schließlich: «Was ist nur mit dir los, Cincinnatus?» Dann nahm sich Cincinnatus zusammen, presste sein eigenes Ich an die Brust und brachte es an einen sicheren Ort.
Im Laufe der Zeit wurden die sicheren Orte immer weniger: Der besorgte Sonnenschein öffentlichen Interesses drang überallhin, und das Guckloch in der Tür war so angebracht, dass es keine einzige Stelle in der Zelle gab, die der Beobachter auf der anderen Seite nicht mit seinem Blick durchbohren konnte. Darum zerknüllte Cincinnatus die buntscheckigen Zeitungen nicht, schleuderte sie nicht von sich wie sein Doppelgänger (der Doppelgänger, der Vagant, der jeden von uns – dich und mich und ihn dort drüben – begleitet und tut, was wir in diesem Augenblick gerne täten, aber nicht tun können …). Cincinnatus legte sehr ruhig die Zeitungen beiseite und trank seine Schokolade aus. Die braune Haut, die die Schokolade überzogen hatte, wurde auf seinen Lippen zu verrunzeltem Schaum. Dann zog Cincinnatus den schwarzen Schlafrock (der ihm zu lang war) an, die schwarzen Pantoffeln mit den Pompons, setzte sein schwarzes Käppchen auf und begann in der Zelle umherzugehen, wie er es seit dem ersten Tage seiner Haft jeden Morgen getan hatte.
Die Kindheit auf dem Vorstadtrasen. Sie spielten Ball, Schweinchen, Schnake, Bockspringen, Knuffen, Piken. Er war leicht und flink, aber sie spielten nicht gerne mit ihm. Im Winter lag eine glatte Schneedecke auf den Hängen der Stadt, und welchen Spaß machte es, auf den sogenannten «glasigen» Saburow-Schlitten hinabzusausen. Wie schnell wurde es Nacht, wenn man nach dem Schlittenfahren nach Hause ging … Was für Sterne, welche Verständigkeit und Trauer oben und welche Unwissenheit unten. In dem frostigen, metallischen Dunkel glühte in den essbar wirkenden Fenstern bernsteingelbes und karminrotes Licht; Frauen in Fuchspelzen über Seidenkleidern liefen von Haus zu Haus über die Straße; die elektrische «Wagonnette» wirbelte einen kurzen, lumineszenten Blizzard auf, als sie auf ihrem schneebepuderten Gleis vorüberbrauste.
Eine Kinderstimme: «Arkadij Iljitsch, sehen Sie sich einmal Cincinnatus an…»
Er nahm es den Denunzianten nicht übel, aber diese vermehrten sich und wurden ein Schrecken, als sie heranwuchsen. Cincinnatus, der ihnen pechschwarz vorkam, als wäre er aus einem klaftergroßen Nachtblock geschnitzt, der opake Cincinnatus drehte sich so und so, um die Lichtstrahlen aufzufangen, versuchte mit verzweifelter Eile in einer Weise zu stehen, die ihn transparent wirken ließe. Die um ihn herum verstanden sich bereits nach dem ersten Wort, denn sie besaßen keine Worte, die unerwartet endeten, vielleicht mit einem archaischen Buchstaben, einem Ypsilamba, das mit erstaunlichen Folgen zu einem Vogel oder einem Katapult wurde. Im staubigen kleinen Museum auf dem Zweiten Boulevard, wo sie ihn als Kind hinführten und wo er selber später die ihm anvertrauten Kinder hinbrachte, gab es eine Sammlung seltener, wunderbarer Dinge, aber bis auf Cincinnatus fanden die Einwohner der Stadt sie alle so beschränkt und transparent wie einander. Was unbenannt ist, existiert nicht. Leider war alles benannt.
«Namenlose Existenz, ungreifbare Substanz», las Cincinnatus auf der Wand, dort, wo die Tür, wenn sie offen war, die Aufschrift verdeckte.
«Ständige Namenstagfeierer, ihr könnt einfach…», stand an einer anderen Stelle.
Weiter links, in einer kräftigen und säuberlichen Handschrift ohne einen einzigen überflüssigen Strich: «Wenn sie dich anreden, pass auf …» Die Fortsetzung war weggewischt worden.
Daneben, in unbeholfenen Kinderlettern: «Schreiber haben mir Geldbußen zu entrichten», unterschrieben «Gefängnisdirektor».
Man konnte noch eine weitere Zeile entziffern, eine alte und rätselhafte: «Miss mich, während ich lebe – danach ist es zu spät.»
«Jedenfalls bin ich gemessen», sagte Cincinnatus, nahm seine Wanderung von neuem auf und schlug mit den Fingergelenken leicht an die Wände. «Doch wie ich das Sterben fürchte! Meine Seele hat sich unter dem Kissen vergraben. Nein, ich will nicht! Es wird kalt sein, meinen warmen Körper zu verlassen. Ich will nicht … wartet eine Weile … lasst mich noch ein wenig im Wachen träumen.»
Zwölf, dreizehn, vierzehn. Mit fünfzehn begann er in der Spielzeugwerkstatt zu arbeiten, der man ihn aufgrund seines kleinen Wuchses zugewiesen hatte. Abends, zum trägen, bezaubernden Platschen der kleinen Wellen, weidete er sich an alten Büchern in der Schwimmenden Bibliothek, in memoriam Dr. Sineokow, der an ebenjener Stelle im Fluss ertrunken war. Das Scharren der Ketten, die kleine Galerie mit ihren orangefarbenen Lampenschirmen, das Plätschern, die vom Mond geölte glatte Wasserfläche und in der Ferne, im schwarzen Spinngewebe einer aufragenden Brücke, vorüberflackernde Lichter. Später jedoch begannen die kostbaren Bände unter der Feuchtigkeit zu leiden, sodass es schließlich notwendig wurde, den Fluss trockenzulegen und das Wasser mittels eines eigens dafür gegrabenen Kanals zur Strop hinüberzuleiten.
In der Werkstatt quälte er sich lange mit komplizierten Lappalien und arbeitete an Stoffpuppen für Schulmädchen; hier war der kleine, behaarte Puschkin im Kamtschatkaotterpelz, der rattenhafte Gogol mit einer protzig bunten Weste, der alte kleine Tolstoj mit seiner dicken Nase im Bauernkittel sowie viele andere, zum Beispiel Dobroljubow mit einer Brille ohne Gläser und bis oben zugeknöpft. Bei seiner künstlich entwickelten Vorliebe für dieses mystische 19. Jahrhundert war Cincinnatus bereit, sich völlig in die Nebel jenes Altertums zu versenken und darin eine trügerische Zuflucht zu suchen, doch etwas anderes lenkte ihn ab.
In jener kleinen Fabrik arbeitete Marthe; die Lippen angefeuchtet, den Mund halb geöffnet, mit einem Faden auf ein Nadelöhr zielend. «Tag, Cincinnatilein.» Und so begannen jene verzückten Wanderungen in den sehr, sehr weitläufigen Tamara-Gärten (so weitläufig, dass selbst die weiten Hügel dunstig waren von dem Taumel ihrer Ferne), wo die Weiden grundlos in drei Bäche weinen und die Bäche in drei Kaskaden, von denen jede ihren eigenen Regenbogen besitzt, in den See stürzen, wo ein Schwan Arm in Arm mit seinem Spiegelbild schwimmt. Die ebenen Rasenflächen, die Rhododendren, die Eichenhaine, die fröhlichen Gärtner in ihren grünen Stiefeln, die den ganzen Tag über Versteck spielen; eine Grotte, eine idyllische Bank, auf der drei Spaßvögel drei kleine Haufen hinterlassen hatten (ein Trick – es handelte sich um Nachahmungen aus braun bemaltem Blech), ein Rehkitz, das in die Allee springt und sich vor den Augen in zitternde Flecken von Sonnenschein verwandelt – so waren jene Gärten beschaffen! Dort, dort ist Marthes lispelndes Geplapper, sind ihre weißen Strümpfe und Samtpantoffeln, ihre kühle Brust und ihre rosigen Küsse, die nach wilden Erdbeeren schmecken. Wenn man nur von hieraus etwas sehen könnte – wenigstens die Baumkronen, wenigstens die ferne Hügelkette … Cincinnatus band den Schlafrock etwas fester. Cincinnatus rückte den vor Zorn aufquietschenden Tisch und begann ihn zurückzuzerren: Wie widerwillig, mit welchen Schaudern bewegte er sich über den Steinfußboden! Die Schauder übertrugen sich auf Cincinnatus’ Finger und Gaumen, während er sich zum Fenster zurückzog (das heißt zu der Wand, wo sich hoch, hoch oben die schräge Höhlung des Fensters befand). Ein lauter Löffel fiel, die Tasse begann zu tanzen, der Bleistift zu rollen, ein Buch auf das andere zu rutschen. Cincinnatus hob den bockenden Stuhl auf den Tisch. Dann kletterte er selber hinauf. Doch natürlich konnte er nichts sehen, nur den weißen Himmel mit ein paar dünn zurückgekämmten weißen Haaren – die Überreste von Wolken, welche die Bläue nicht dulden konnten. Cincinnatus konnte sich kaum zu den Gitterstäben emporrecken, hinter denen der Fenstertunnel mit noch einem Gitter am Ende und seiner Schattenwiederholung auf den abbröckelnden Wänden des Steinschachts aufstieg. An der Seite dort stand in der gleichen säuberlichen, verachtungsvollen Handschrift wie bei einem der halb ausgelöschten Sätze, die er vorher gelesen hatte, die Aufschrift: «Man kann nichts sehen. Ich habe es auch versucht.»
Cincinnatus stand auf Zehenspitzen und hielt die Eisenstäbe mit seinen kleinen Händen, die von der Anspannung ganz weiß waren, seine eine Gesichtshälfte war von sonnigem Gitterwerk bedeckt, links leuchtete das Gold seines Schnurrbarts, und in jeder seiner spiegelhaften Pupillen war ein winziger goldener Käfig, während unten seine Fersen aus den zu großen Pantoffeln ragten.
«Ein bisschen weiter, und Sie fallen», sagte Rodion, der nicht weniger als eine halbe Minute in der Nähe gestanden hatte und nun das Bein des zitternden Stuhls fest gepackt hielt. «Schon gut, schon gut. Sie können jetzt herunterklettern.»
Rodion hatte kornblumenblaue Augen und wie immer seinen prachtvollen roten Bart. Dieses einnehmende russische Gesicht war nach oben und Cincinnatus zugewandt, der mit der nackten Fußsohle hineintrat – das heißt, sein Doppelgänger trat hinein, als Cincinnatus selber schon von dem Stuhl auf den Tisch herabgestiegen war. Rodion umfasste ihn wie ein kleines Kind und hob ihn behutsam herunter; dann schob er den Tisch mit einem Geigenton an seine frühere Stelle und setzte sich auf die Kante, einen Fuß baumelnd in der Luft, den anderen auf den Fußboden gestemmt, in der pseudoforschen Pose von Opernwüstlingen in der Gasthausszene, während Cincinnatus an der Schärpe seines Schlafrocks zupfte und sein Bestes tat, nicht zu weinen.
Rodion sang in seinem Bassbariton, rollte die Augen und schwang den leeren Krug. Einst sang Marthe das gleiche kecke Lied. Tränen strömten Cincinnatus aus den Augen. Beim kulminierenden Ton schmetterte Rodion den Krug auf den Boden und glitt vom Tisch. Ein Chor setzte seinen Gesang fort, obwohl er alleine war. Plötzlich hob er beide Arme und trat ab.
Auf dem Boden sitzend, blickte Cincinnatus durch seine Tränen nach oben; der Schatten der Stäbe hatte sich bereits weiterbewegt. Er versuchte – zum hundertsten Male – den Tisch zu bewegen, aber ach, die Beine waren seit Ewigkeiten mit Bolzen am Boden befestigt. Er aß eine getrocknete Feige und begann von neuem in der Zelle umherzugehen.
Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. Mit zweiundzwanzig wurde er als Lehrer in die Abteilung F eines Kindergartens versetzt, und zu dieser Zeit heiratete er Marthe. Fast unmittelbar nachdem er seine neuen Pflichten übernommen hatte (sie bestanden darin, lahme, bucklige oder schielende Kinder zu beschäftigen), reichte eine hochstehende Persönlichkeit eine Beschwerde zweiter Klasse gegen ihn ein. Vorsichtig wurde in Form einer Vermutung Cincinnatus’ fundamentale Gesetzwidrigkeit angedeutet. Zusammen mit diesem Memorandum prüften die Stadtväter auch die alten Beschwerden, die die scharfsichtigeren seiner Kollegen in der Werkstatt von Zeit zu Zeit erhoben hatten. Der Vorsitzende des Erziehungsausschusses und andere Amtspersonen schlossen sich abwechselnd mit ihm ein und unterzogen ihn den gesetzlich vorgeschriebenen Tests. Mehrere Tage hintereinander durfte er nicht schlafen und wurde gezwungen, schnell und sinnlos Belanglosigkeiten herunterzuplappern, bis er nahezu delirierte, Briefe an verschiedene Gegenstände und Naturphänomene zu schreiben, Alltagsszenen zu spielen und verschiedene Tiere, Handwerke und Krankheiten nachzuahmen. All dies tat er, all dies schaffte er, denn er war jung, erfinderisch, frisch und sehnte sich zu leben, eine Zeitlang mit Marthe zu leben. Zögernd ließen sie ihn frei, erlaubten ihm, weiter mit den Kindern der untersten Kategorie zu arbeiten, die entbehrlich waren, um zu sehen, was daraus würde. Er ging mit ihnen jeweils paarweise spazieren, während er die Kurbel einer kleinen Spieluhr drehte, die wie eine Kaffeemühle aussah; an Feiertagen schaukelte er mit ihnen auf dem Spielplatz – der ganze Haufen war still und atemlos, wenn er aufwärtssauste, und kreischte beim Abwärtssturz. Einigen brachte er das Lesen bei.
Inzwischen begann Marthe, ihn schon in ihrem ersten Ehejahr zu betrügen; überall und mit jedem. Wenn Cincinnatus nach Hause kam, hatte sie gewöhnlich ein gewisses übersättigtes halbes Lächeln auf dem Gesicht, während sie das rundliche Kinn an den Hals drückte, als mache sie sich Vorwürfe, und mit ihren haselnussbraunen Augen ohne Falsch aufblickend, sagte sie mit sanfter, girrender Stimme: «Die kleine Marthe hat es heute wieder gemacht.» Er sah sie ein paar Sekunden lang an, drückte wie eine Frau die Handfläche an die Wange, ging lautlos jammernd durch alle Zimmer, die voll waren von ihren Verwandten, und schloss sich im Badezimmer ein, wo er mit den Füßen aufstampfte, das Wasser laufen ließ und hustete, um das Geräusch seines Weinens zu übertönen. Um sich zu rechtfertigen, erklärte sie ihm manchmal: «Du weißt doch, was für ein mitleidiges Wesen ich bin; es ist eine solche Kleinigkeit, und für einen Mann ist es solch eine Erleichterung.»
Bald wurde sie schwanger, aber nicht von ihm. Sie brachte einen Sohn zur Welt, wurde gleich darauf wieder schwanger – und wieder nicht von ihm – und gebar ein Mädchen. Der Junge war lahm und bösartig, das Mädchen schwer von Begriff, fett und fast blind. Ihrer Gebrechen wegen landeten beide in seinem Kindergarten, und es war seltsam mit anzusehen, wie die flinke, geschmeidige, rosige Marthe den Krüppel und das pummelige Gör nach Hause brachte. Allmählich hörte Cincinnatus ganz auf, sich zusammenzunehmen, und eines Tages entstand bei einer öffentlichen Versammlung im Stadtpark eine jähe Unruhewoge, und jemand sagte laut: «Bürger, unter uns ist ein…» Es folgte ein seltsames, fast vergessenes Wort, der Wind rauschte durch die Karobbäume, und Cincinnatus wusste nichts Besseres, als aufzustehen und fortzugehen und geistesabwesend Blätter von den Büschen am Wegrand zu pflücken. Und zehn Tage später wurde er verhaftet.
«Wahrscheinlich morgen», sagte Cincinnatus, während er langsam in der Zelle umherging. «Wahrscheinlich morgen», sagte Cincinnatus, setzte sich auf die Pritsche und massierte die Stirn mit der Handfläche. Ein Sonnenuntergangsstrahl wiederholte bereits bekannte Lichteffekte. «Wahrscheinlich morgen», sagte Cincinnatus seufzend. «Es war zu ruhig heute, also morgen, hell und früh …»
Eine Zeitlang waren sie alle still – der irdene Krug mit einem Wasserrest, der allen Gefangenen der Welt zu trinken angeboten hatte; die Wände, die Arme um die Schultern gelegt wie ein Quartett, das unhörbar flüsternd ein quadratisches Geheimnis bespricht; die samtene Spinne, die irgendwie Marthe ähnelte; die großen schwarzen Bücher auf dem Tisch …
«Was für ein Missverständnis», sagte Cincinnatus und brach plötzlich in Lachen aus. Er stand auf und legte den Schlafrock, das Käppchen, die Pantoffeln ab. Er legte Leinenhose und Hemd ab. Er legte den Kopf