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Das große Glück scheint immer nur einen Steinwurf entfernt … wäre da nicht das Gefühl, dass irgendetwas noch fehlt und uns von einem erfüllten Leben trennt. Doch was viele von uns vergeblich im Außen suchen, ist eigentlich längst da und liegt viel näher – in uns selbst. Main Huong Nguyen zeigt drei Wege der Achtsamkeit, die in ein Leben voll Verbundenheit und Sinnhaftigkeit führen. Ob beim Arbeiten, Essen oder Streiten, beim Denken, Sprechen oder Medienkonsum, überall bieten sich dabei Gelegenheiten, Achtsamkeit zu üben. Das Mitgefühl mit uns selbst, mit anderen und unserem Planeten schenkt uns die stärkende Erkenntnis: Wir sind eins mit allem. Mit vielen Übungen und Meditationen. Auch als Audiodownload, gesprochen von der Autorin.
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Seitenzahl: 298
Die diesem Buch zugrunde liegenden Forschungsergebnisse und die Empfehlungen wurden sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Gewähr kann jedoch nicht übernommen werden. Ebenso ist eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags für Personen- oder Sachschäden ausgeschlossen. Die in diesem Buch vorgestellten Übungen und Informationen ersetzen nicht eine psychotherapeutische Behandlung.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Illustrationen: Sabine Hanel, Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotiv: © calvindexter / GettyImages
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN Print: 978-3-451-60123-1
ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83120-1
Uống nước nhớ nguồn.
Wenn du Wasser trinkst, erinnere dich an die Quelle.
(Vietnamesisches Sprichwort)
Với niềm biết ơn dành cho Ba Mẹ và Sư Ông.
In Dankbarkeit für meine Eltern undZenmeister Thích Nhất Hạnh.
Einleitung
TEIL I Achtsam mit mir
Tut es mir gut? Unheilsame Gewohnheiten ablegen
Kennen wir uns? Die Sache mit der Körperwahrnehmung
Stress lass nach! Achtsamkeit bei Dauerbelastung und Druck
Du bist, wie du isst: Essen freudvoll genießen
Halb so wild? Unsere Wahrnehmung und die Wahrheit
Grübeln – wie sich das Gedankenkarussell stoppen lässt
Alles nur geblufft? Das Imposter-Erleben
Emotionen und Bedürfnisse: Was brauche ich wirklich?
Dankbarkeit: Bewusst wertschätzen, was ist
Glücklichsein ist nicht nur Glückssache
Was, wenn …? Ängste und Sorgen
Teil II Achtsam mit dir
Verstehen und verstanden werden: achtsam kommunizieren
Dicke Luft: Achtsamkeit bei Konflikten
Vertrauen ist gut
TEIL III Achtsam mit allem
Eins mit allem: Intersein und Verbundenheit
Mitgefühl: Die Welt durch die Augen anderer
Kann das gehen? Vereinbarkeit von Arbeit und Achtsamkeit
Aus der Ohnmacht erwachen: Achtsamkeit angesichts der Klimakrise
Dank
Literatur
Namensverzeichnis
Liebe Leser:innen,
ich möchte dieses Buch mit dem Zitat einer jungen Patientin von mir einleiten, die im Laufe ihrer Psychotherapie die Achtsamkeitspraxis für sich entdeckte:
»Wann hält man denn im Leben schon an? Man lebt einfach so vor sich hin. Ich habe mich früher nie auf den Moment eingelassen, habe mir nie eine freie Minute genommen und saß immer nur am Handy oder habe etwas anderes gemacht. Achtsamkeit fühlte sich anfangs unnatürlich an. Es ist so komisch, das zu sagen, weil Achtsamkeit eigentlich der natürliche Zustand ist.«
In dieser kurzen Aussage steckt sehr viel: Dass die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft es uns erschwert, aus dem Hamsterrad der Verpflichtungen auszusteigen. Dass es besonders in der Rushhour des Lebens – wenn sich wichtige Lebensereignisse überschlagen – nicht einfach ist innezuhalten. Aber auch, dass Achtsamkeit uns genau dabei helfen kann. Und dass sie eine Fähigkeit ist, die wir alle in uns tragen.
Das deutsche Wort Achtsamkeit ist eine Übersetzung des Pali-Wortes sati und des Sanskrit-Wortes smrti.1 Es bedeutet, sich an etwas zu erinnern. Genauer: sich daran zu erinnern, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. Zenmeister Thích Nhất Hạnh (2007) schreibt:
»Achtsamkeit ist das Gewahrsein dessen, was in uns und um uns herum im gegenwärtigen Moment geschieht. Sie erfordert ein Innehalten, tiefes Schauen und Erkennen sowohl der Einzigartigkeit dieses Moments als auch seiner Verbindung zu allem Vorausgegangenen und allem Zukünftigen.«
Wenn wir achtsam sind, nehmen wir uns bewusst Zeit, um innezuhalten. Denn nur dann können wir beobachten, was in uns und in unserer Umwelt geschieht. Indem wir unser Bewusstsein nach innen richten, können wir unsere Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und unser Verhalten bewusst wahrnehmen. Ebenso können wir unsere Achtsamkeit nach außen richten, um zu beobachten, was in unserer Umwelt geschieht. Wenn wir tief schauen, erfahren wir auch unsere Verbundenheit miteinander.
Achtsamkeit ist nichts Neues, im Gegenteil. Mir ist es wichtig, diesen Punkt zu unterstreichen, denn in westlichen Gesellschaften hat die Praxis noch keine lange Tradition und steht immer wieder im Verdacht, nur ein »neues Selbstoptimierungswerkzeug«2 im Dienste des Kapitalismus zu sein. Das wird der reichen Achtsamkeitstradition nicht gerecht. Ihre Ursprünge liegen im Buddhismus, der vor 2500 Jahren begründet wurde. Mit 29 Jahren verließ Prinz Siddharta Gautama seine Familie und sein luxuriöses Palastleben und machte sich auf, um zu lernen, wie er sein eigenes Leiden und das anderer Menschen beenden konnte. Nach sechs Jahren fand er schließlich Antworten auf seine Fragen. Dieser Moment wird als die Erleuchtung des Buddhas bezeichnet. Die Achtsamkeitspraxis ist im Buddhismus in ein ethisches System3 eingebettet. Rechte Achtsamkeit wird praktiziert, um so zu denken, zu sprechen und zu handeln, dass wir unser eigenes Leid und das anderer verringern können. Es geht also nie nur um einen Selbst, sondern immer um die Verbundenheit mit anderen und der Welt. In zwei Lehrreden4 beschreibt der Buddha konkret, wie Achtsamkeit während der Meditation kultiviert werden kann.
Eine Patientin erzählte mir nach dem letzten Treffen einer Achtsamkeitsgruppe:
»Ich hatte so ein oberflächliches Verständnis von Achtsamkeit. Ich dachte, es bedeutet, man schaut aus dem Fenster und achtet auf die Sinne … was man hört und sieht. Aber nach unserer Gruppentherapie weiß ich nun, dass es so viel mehr bedeutet.«
Auch das chinesische Schriftzeichen für Achtsamkeit zeigt, dass mehr als ein individuelles Aufmerksamkeitstraining gemeint ist. Es setzt sich zusammen aus den Worten »Jetzt« und »Herz/Geist« und beschreibt einen Zustand, bei dem wir »mit Herz und Geist im Hier und Jetzt« sind beziehungsweise mit Mitgefühl in den gegenwärtigen Augenblick zurückkehren und in Verbindung mit anderen und der Umwelt treten. Achtsamkeit benötigt auch immer ein Objekt. Wir sind immer achtsam auf etwas, zum Beispiel auf unseren Körper, unsere Gewohnheiten oder unsere Gefühle. Die Liste könnte endlos fortgeführt werden, denn wir können alles in unserem Leben mit Achtsamkeit berühren.
In diesem Buch werden wir gemeinsam herausfordernde Alltagssituationen im Licht der Achtsamkeit betrachten, um einen besseren Umgang mit ihnen zu finden. Wir gehen dabei drei Wege: Teil I: Achtsam mit mir handelt davon, wie wir mit uns selbst achtsamer umgehen können. In Teil II: Achtsam mit dir geht es darum, wie wir in unseren unmittelbaren Beziehungen einen achtsameren Umgang finden können. Mithilfe von Teil III: Achtsam mit allem bringen wir die Achtsamkeit in unsere Umwelt. Alle drei Teile sind verbunden und beeinflussen sich gegenseitig: eben eins mit allem. Für Ihre Achtsamkeitspraxis finden Sie zahlreiche Übungen und auch Audioübungen, die Ihnen zum Download bereitstehen.
Ich wünsche Ihnen, dass dieses Buch Ihnen dabei hilft, im Alltag immer wieder innezuhalten und nachzuspüren, wie es Ihnen und Ihrer Umwelt wirklich geht. Mein tiefster Wunsch ist, dass die Achtsamkeitspraxis Ihnen und Ihren Liebsten viel Freude, Liebe, Frieden und Trost schenkt.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und Üben!
Main Huong Nguyen
1 Pali ist eine mittelindische Sprache, Sanskrit ist eine altindische Sprache.
2https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2019/jun/14/the-mindfulness-conspiracy-capitalist-spirituality
3 Der edle achtfache Pfad
4 Das Anapanasati Sutra (Lehrrede über das Bewusstsein des Atems), Majjhima Nikaya, Sutta 118 und das Satipatthana Sutra (Lehrrede über die vier Verankerungen der Achtsamkeit), Majjhima Nikaya, Sutta 10
Wie Sie dieses Buch für Ihre Achtsamkeitspraxis nutzen können:
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TEIL I
Achtsam mit mir
Jeden Morgen ist es das Gleiche: Nach dem Aufwachen greift Emilia direkt zum Handy und checkt erst einmal alle ihre Social-Media-Feeds. Warum sehen die anderen so glücklich aus? Alles läuft bei diesen Menschen besser: Sie trainieren offenbar täglich, während Emilia sich kaum überwinden kann, überhaupt ins Fitness-Studio zu gehen. Die anderen tragen einen Kleiderstil, den Emilia trotz ihrer vielen Klamotten nicht nachstylen kann, ihre Wohnungen sind perfekt und doch individuell eingerichtet und ihre Tage scheinen gefüllt mit wichtigen, kreativen, erfüllenden Aktivitäten … Das zu sehen, gibt Emilia kein gutes Gefühl. Seit Monaten möchte sie deshalb weniger Zeit auf Social Media verbringen und bestimmten Influencern nicht mehr folgen. Auch die vielen Nachrichtenmeldungen belasten Emilia: Es ist doch irre, schon am Morgen Katastrophenbilder aus aller Welt zu sehen! Obwohl Emilia weiß, dass sie ihren Medienkonsum reduzieren sollte, fällt es ihr sehr schwer, das umzusetzen.
Wir alle haben Wünsche und Bedürfnisse, die wir uns erfüllen möchten. Für die eine ist es eine bessere Gesundheit, der andere möchte sich öfter mit Freunden treffen. Wir haben ein Idealbild, was wir erreichen möchten, und sind entsprechend enttäuscht, wenn wir sehen, dass wir uns unserem Ziel nicht nähern. »Ich weiß doch eigentlich, was ich tun muss. Doch die Umsetzung fällt mir so schwer!« – Wie oft habe ich diesen verzweifelten Ausruf schon von meinen Patient:innen gehört (und kenne ihn auch selbst zu gut). Es scheint auf den ersten Blick doch so einfach: Wir alle wissen, dass es gut ist, sich gesund zu ernähren, ausreichend zu bewegen und unser Stresslevel möglichst zu minimieren, und trotzdem klaffen Theorie und Praxis oft auseinander. Gerade weil Veränderungen auf einer theoretischen Ebene so einfach wirken, reagieren wir oft mit Selbstvorwürfen und verzeihen uns nicht. Deshalb die Frage: Was hilft wirklich dabei, unerwünschte Gewohnheiten abzulegen?
Unter Gewohnheiten versteht man wiederholte Verhaltensweisen, die gelernt und unbewusst ausgeführt werden. Durch Wiederholungen und belohnende Erfahrungen (sogenannte positive Verstärkung) kommt es zu einer Gewöhnung, sodass die Gewohnheiten zunehmend automatisch ablaufen. Neben Verhaltensgewohnheiten wie Zähneputzen, Rauchen oder die Art und Weise, einen Streit zu führen, können auch Gedanken, Einstellungen und Emotionen eine Gewohnheit darstellen. Ausgeprägter Pessimismus kann z. B. eine Denkgewohnheit sein oder das wiederkehrende Erleben von Wut eine Emotionsgewohnheit.
Gewohnheiten verfolgen das Ziel, dass wir Energie und Zeit sparen. Stellen Sie sich vor, Sie würden jeden Morgen aufs Neue die Vor- und Nachteile des Zähneputzens abwägen. Das wäre bestimmt ganz schön anstrengend! Forschende der Duke University haben herausgefunden, dass ca. 45 Prozent unserer täglichen Verhaltensweisen als Gewohnheiten ausgeführt werden (Neal, Wood & Quinn, 2006). Dieser Segen eines entlastenden Automatismus kann jedoch auch zum Fluch werden: die Chips zum Filmabend, stundenlanges Scrollen am Handy – all das sind automatisierte Gewohnheiten, die nur schwer abzulegen sind, gerade weil wir uns ihrer nicht bewusst sind. Es gibt übrigens keine genaue Angabe, wie lange es dauert, bis sich eine neue Gewohnheit etabliert. Im Durchschnitt geht man von ca. 2 Monaten aus (Lally et al., 2010; Keller et al., 2021).
Ich finde es nicht hilfreich, einzelne Verhaltensweisen direkt zu verteufeln. Mir fällt dabei meine frühere Chemielehrerin ein, die zu sagen pflegte: »Die Dosis macht das Gift.« Chips können uns sehr glücklich machen, jedoch nicht, wenn wir im Autopilotmodus eine Tüte nach der nächsten verputzen, ohne noch wahrzunehmen, wie viel wir essen. Wie bereits erwähnt, sind Gewohnheiten ein Mechanismus, um Zeit und Energie zu sparen. Deshalb greift unser Gehirn besonders dann gerne auf sie zurück, wenn wir gestresst und erschöpft sind. Damit Sie später erkennen können, welche Gewohnheiten »hilfreich« oder »weniger hilfreich« sind, ist der erste Schritt, sich Zeit zu nehmen und zu beobachten, welche Gewohnheiten in Ihrem Leben überhaupt vorhanden sind. Dabei ist es wichtig, dass sie die Verhaltensweisen zunächst nur sammeln und sie nicht direkt bewerten. Fokussieren Sie sich nacheinander auf einzelne Bereiche Ihres Lebens: von Ernährung über Medienkonsum … Vielleicht merken Sie beim bloßen Beobachten und Dokumentieren schon, dass Ihnen bestimmte Gewohnheiten negativ auffallen?
Gewohnheiten erforschen
Beobachten Sie sich eine Woche lang mit den Augen einer Forscherin oder eines Forschers: Notieren Sie möglichst alle Verhaltensweisen, die Sie an sich feststellen. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Notizen in ein Drehbuch für einen Dokumentarfilm einfließen: Sie sollten so genau sein, dass man sich bildlich vorstellen kann, was Sie gemacht haben. Verhalten ist alles, was man beobachten kann. Zum Beispiel »Ich stehe auf und mache mir einen Kaffee« oder »In der S-Bahn schaue ich auf mein Handy«.
Eine Vorlage finden Sie hier: www.herder.de/extras
Aufgabe für Streber: Neben Ihren Verhaltensweisen notieren Sie auch Denkgewohnheiten oder Emotionsgewohnheiten.
Montag
Dienstag
…
Sonntag
früher
6 Uhr
7 Uhr
Scrolle im Bett 20 Minuten durch Social Media.
Schreibe Textnachrichten im Bett.
8 Uhr
Esse im Bus stehend Schokocroissant.
Frühstücke zuhause Porridge.
9 Uhr
Gehe ins Fitness-Studio und in die Sauna.
10 Uhr
11 Uhr
Schreibe To-do-Liste für die nächste Woche.
12 Uhr
Hole Pizza und esse am Schreibtisch.
Esse vorgekochtes Essen im Kreis von Kolleginnen.
Treffe Freundin zum Brunch.
…
18 Uhr
Kaufe auf Heimweg eine Falaffel.
Besuche Yoga-Kurs.
Bestelle mir eine Pizza und esse sie während ich einen Film gucke.
19 Uhr
Esse Falaffel, während ich eine Serie schaue.
Schaue eine Serie, während ich einen Salat vorbereite.
Mach Abendspaziergang.
…
23 Uhr
Schaue vor dem Schlafen Serie weiter.
später
Wochenplan: Tragen Sie Ihre Verhaltensweisen und Gewohnheiten in einen Wochenplan ein, ohne sie zu bewerten.
Nachdem Sie fleißig Ihre Verhaltensweisen der vergangenen Woche notiert haben, schauen Sie sich den gesamten Wochenplan noch einmal in Ruhe an. Gewohnheiten sind Verhaltensweisen, die sich wiederholen. Können Sie ein Muster sehen? In unserem Bespiel sieht man z. B., dass die Person zum Yoga, ins Fitness-Studio und Spazieren geht. Bewegung ist für sie also eine Gewohnheit. Die Person verbindet Essen mehrmals mit Serienschauen – auch das ist eine Gewohnheit.
Nun stellt sich die wichtige Frage, welche Gewohnheiten heilsam oder unheilsam sind. Überlegen Sie, ob Ihnen die Gewohnheit langfristig körperlich und mental guttut. Oft ist es so, dass Dinge, die kurzfristig unangenehm sind (z. B. Muskelkater nach dem Training), langfristig dazu beitragen, dass Sie zufriedener und gesünder sind.
Neben dem individuellen Wohlbefinden führen heilsame Gewohnheiten auch dazu, dass wir in unseren Beziehungen glücklicher sind. Ich denke, sie wirken sogar positiv auf unsere Umwelt und Gesellschaft. Wenn Sie sich gut um sich selbst kümmern können (gute, gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung …), profitieren auch Ihre Partnerschaft und Familie davon, weil Sie froh und entspannt sind. Wenn Sie bei Ihren Lebensmitteln auf Nachhaltigkeit achten und mit dem Rad statt dem Auto einkaufen, dann hat auch die Umwelt gewonnen.
Es erfordert großen Mut, sich seiner unheilsamen Gewohnheiten bewusst zu werden und sich ihnen zu stellen. Wenn Sie die Übung Wochenplan der Gewohnheiten gemacht haben, seien Sie stolz und gratulieren Sie sich. Sie haben einen blinden Fleck ausgeleuchtet und damit den ersten und wichtigsten Schritt zu einer positiven Veränderung gemacht. Aber meine ursprüngliche Frage, »Was hilft wirklich dabei, unerwünschte Gewohnheiten abzulegen?« ist damit noch nicht beantwortet.
Dass es so schwierig ist, Gewohnheiten zu ändern, liegt an unserer menschlichen Informationsverarbeitung. Stellen Sie sich vor, Sie gehen im Wald spazieren. Plötzlich hören Sie ein lautes Rascheln dicht neben sich und im Augenwinkel sehen Sie ein schlauchartiges, eingerolltes Etwas. Vermutlich werden Sie zur Seite springen und wahrnehmen, dass ihr Herz schneller schlägt. Erst nach dieser Schreckreaktion schauen Sie noch einmal genauer hin. Sie sehen nun, dass es sich statt um eine drohende Natter um ein altes, mit Moos bedecktes Stück Seil handelt und daneben ein Buchfink auf Futtersuche im Laub raschelt. Sie beruhigen sich, weil es ein falscher Alarm war.
Im Gegensatz zu plötzlichen Reaktionen kennen Sie sicherlich auch Situationen, in denen Sie lange abwägen. Wenn Sie z. B. überlegen, welche Vor- und Nachteile ein neues Laptop-Modell hat, das Sie anschaffen wollen.
Im Gegensatz dazu können Informationen auch über den längeren, bewussten Top-down-Weg verarbeitet werden wie beim Kauf eines neuen Laptops. Die Reize werden dann zum präfrontalen Kortex weitergeleitet, der unter anderem für bewusste Entscheidungen und Planung verantwortlich ist, wobei die Reize auch mit Vorerfahrungen abgeglichen werden. Das alles dauert natürlich länger (folglich denken Sie wochenlang über das richtige Laptopmodell nach).
Nun, da wir gesehen haben, dass es bestimmte Situationen (Reize) gibt – z. B. Gefahr, Stress, Belohnung –, bei denen wir eher der Bottom-up-Verarbeitung und einer schnellen Reaktion verfallen, können wir uns dieses Wissen zunutze machen, indem wir zwischen dem Reiz und der Reaktion eine »magische Pause« einführen. Diese Pause kann alles verändern, was unsere Gewohnheiten angeht. Denn sie macht den Unterschied aus, ob wir automatisch und unbewusst handeln oder ob wir eine bewusste Entscheidung treffen.
Links sehen Sie, wie unmittelbar auf einen Reiz eine Reaktion folgt. Ihr Handy vibriert (Reiz) und Sie greifen direkt danach (Reaktion). Rechts sehen Sie eine »magische Pause« zwischen dem Reiz und der Reaktion. Ihr Handy vibriert (Reiz) und Sie halten erst einmal inne (Reaktion). Vielleicht atmen Sie drei tiefe Atemzüge und fragen sich: »Möchte ich jetzt aufs Handy schauen? Kann es warten?« Dann entscheiden Sie erst. Die »magische Pause« gibt Ihnen bewussten Handlungsspielraum.
Unsere Verhaltensweisen (Reaktionen) folgen also immer auf bestimmte Reize. Wir bezeichnen diese im Weiteren als Auslöser. Oft können z. B. körperliche Zustände wie Müdigkeit oder Gefühle wie Einsamkeit oder Trauer Auslöser für unheilsame (in der Psychologie sagt man dysfunktionale) Gewohnheiten sein. Auslöser sind sehr individuell. Gehen Sie deshalb auf die Suche: Erkennen Sie Ihre potenziellen Auslöser.
Auslöser für unheilsame Gewohnheiten finden
Nehmen Sie sich Ihren Wochenplan zur Hand (siehe S. 18). Notieren Sie nun rückblickend für Ihre unheilsamen Gewohnheiten, ob es Auslöser für Ihr Verhalten gab, z. B. ob das abendliche Fernsehritual ein Auslöser ist, nach Chips zu greifen?
Hier eine Liste mit Beispielen für Sie:
Auslöser
Gewohnheit
Langeweile
Auf Social Media scrollen
Unzufriedenheit
Online shoppen
Müdigkeit, Erschöpfung
Snacks (Chips, Süßigkeiten)
Stress, Druck, Angst, Überforderung
Rauchen, Alkoholkonsum
Zeitmangel
Essen bestellen, ungesunde Ernährung, wenig schlafen
Konflikte
Nägel kauen
…
…
Nachdem Sie ehrlich und mutig beobachtet haben, welche Ihrer Gewohnheiten Ihnen guttun und welche nicht, möchte ich mit Ihnen eine Übung aus der buddhistischen Psychologie5 teilen, die für mich ein »Game-Changer« im Umgang mit Gewohnheiten war.
Nahrungsentzug für unheilsame Gewohnheiten6
1. Unheilsame Gewohnheiten und ihre Nahrung
Listen Sie alle Ihre unschönen, unheilsamen Gewohnheiten auf. Thích Nhất Hạnh schreibt, dass alles, was auf der Welt existiert, Nahrung benötigt bzw. Bedingungen, damit es wachsen und fortbestehen kann. Welche Nahrung benötigt Ihre unheilsame Gewohnheit?
Beispiel
Unheilsame Gewohnheit: Zu häufige Social-Media-Nutzung und zu viel Binge-Watching von Serien.
Nahrung für diese Gewohnheit: Langeweile, Einsamkeit, schnelle Verfügbarkeit des Handys (ist immer da), FOMO (engl.: fear of missing out, Angst, etwas zu verpassen).
2. Achtsamkeit für unheilsame Gewohnheiten und Nahrungsentzug
Um etwas ändern zu können, müssen Sie es zunächst erkennen und beim Namen nennen. Wenn sich Ihre unliebsame Gewohnheit das nächste Mal zeigt, werden Sie sich Ihrer bewusst und nehmen zunächst einfach nur wahr, dass sie da ist. Das ist Achtsamkeit. Als Nächstes entziehen Sie allmählich ihrer unheilsamen Gewohnheit ihre Lieblingsnahrung.
Beispiel:
Achtsamkeit für Gewohnheit: »Ich nehme wahr, dass ich gerade den Impuls verspüre, zum Handy zu greifen. Hallo, Handy-Sucht! Dich kenne ich doch.«
Nahrungsentzug: Durch den Vergleich mit anderen entstehen unrealistische Ansprüche an mich selbst. Ich entfolge bestimmten Social-Media-Profilen für die nächsten drei Monate und minimiere meine Nutzungszeit der App auf eine Stunde pro Tag (Einstellung am Handy).
3. Heilsame Gewohnheiten und ihre Nahrung
Schreiben Sie eine Liste mit Gewohnheiten, die Sie mögen und die bei Ihnen Freude entfachen. Ergänzen Sie, welche Nahrung bzw. Bedingungen Ihre heilsamen Gewohnheiten benötigen, um existieren zu können.
Beispiel:
Heilsame Gewohnheit: Freund:innen treffen (wirkliche soziale Kontakte), in die Natur gehen.
Nahrung für diese Gewohnheit: zeitlich Freiräume schaffen, feste Verabredungen etablieren, Spaziergänge wie andere To-dos einplanen.
4. Heilsame Gewohnheiten aufrechterhalten und füttern
Nehmen Sie es im Alltag bewusst wahr, wenn eine heilsame Gewohnheit gerade in diesem Moment vorhanden ist, und versuchen Sie, diese so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.
Beispiel:
Heilsame Gewohnheit: Ich merke, dass ich gelassen in der Kassenschlange stehe und nicht wie sonst ungeduldig reagiere. Zunächst freue ich mich darüber und fasse dann den Entschluss, diese Gelassenheit bis zum Schlafengehen beizubehalten, indem ich Singletasking übe und alles etwas langsamer tue als sonst. Dabei habe ich ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen.
Als der Flughafen Schiphol Amsterdam in den 1990er-Jahren Einsparungen bei den Reinigungskosten vornehmen wollte, kam eine sehr wirksame psychologische Methode zum Einsatz: Nudging. Um die Treffsicherheit von Männern auf der Herrentoilette zu erhöhen, wurde in jedem Pissoir das Abziehbild einer Fliege angebracht. Durch den spielerischen Anreiz angespornt, die Fliege abzuschießen, konnten die Urinreste auf dem Boden um 80 Prozent gesenkt werden.
Nudging (engl.) bedeutet »stupsen« oder »schubsen« und wird vom amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler in seinem Buch Nudge (2009) als eine Möglichkeit bezeichnet, die das Verhalten von Menschen auf eine vorhersehbare Weise verändert, ohne den Einsatz von Verboten und Vorschriften. Beim Nudging werden in Entscheidungssituationen Umweltreize auf subtile Weise so verändert, dass Gewohnheiten in eine positive Richtung gelenkt werden. Weitere Beispiele für Nudges sind Aufsteller in Hotelzimmern, die daran erinnern, dass Handtücher nur auf explizite Bitte täglich ausgetauscht werden. Die meisten Gäste verwenden so nur ein Handtuch-Set während ihres Aufenthalts. Oder es wird statt Süßigkeiten frisches Obst an der Mensa-Kasse präsentiert. Schon kleine Veränderungen können gesunde, positive Verhaltensweisen auslösen und so die Ausprägung heilsamer Gewohnheiten unterstützen!
Heilsame Gewohnheiten anstupsen
Nun ist Ihre Kreativität gefragt! Wie können Sie sich in kritischen Entscheidungssituationen im Alltag daran erinnern, Ihren heilsamen Gewohnheiten nachzugehen? Je spielerischer Sie dabei vorgehen (denken Sie an die Fliege im Pissoir), desto eher wenden Sie heilsame Gewohnheiten an – und desto lustiger wird Ihr Alltag. Wollen Sie Ihren Sportkurs endlich regelmäßig besuchen? Dann packen Sie sich schon am Vorabend Ihre Sporttasche, stellen diese direkt vor die Tür und legen noch einen lustigen Spruch auf einem Zettel dazu. Oder gehen Sie mit Sportkleidung zu Bett, um am nächsten Morgen direkt mit dem Training zu starten. Nudges sollten positiv sein, und Sie an Ihre Werte erinnern (mehr dazu ab S. 121).
Anfangs sind wir meist motiviert, wenn es um Veränderungen geht. Doch schnell verblasst unser Elan. Viele Menschen nehmen sich viel vor und schaffen es dann nicht, diese großen Veränderungen im Alltag aufrechtzuerhalten. Genau deshalb ist es essenziell, dass Sie möglichst klein anfangen. Je winziger die Schritte, mit denen Sie neue Gewohnheiten einführen, desto besser. Getreu dem Sprichwort »Steter Tropfen (nicht Starkregen!) höhlt den Stein«. Am besten koppeln Sie Ihre neuen Miniverhaltensweisen mit bereits bestehenden Gewohnheiten.
Stellen Sie sich vor, Sie möchten ab morgen überhaupt keinen Zucker mehr essen. Eine große Veränderung, die auf Dauer wohl den wenigsten gelingt. Stattdessen könnten Sie sich vornehmen, in Ihrem Kaffee nur noch einen statt zwei Löffel Zucker zu nehmen. Diese Miniveränderung dürfte Ihnen leicht gelingen. Der Erfolg motiviert Sie vielleicht nun, den Zucker im Kaffee ganz wegzulassen. Und auf ein Jahr gerechnet macht der kleine tägliche Verzicht schon einen größeren Unterschied. Auch wenn Sie, statt unheilsame Gewohnheiten abzulegen, heilsame, positive hinzugewinnen möchten, ist es so: Die ungeduldige Stimme in Ihnen wird vielleicht meckern, weil Sie nach fünf Minuten Sitzmeditation noch keine wesentliche Veränderung spüren. Doch bleiben Sie dabei, jeden Tag ein kleines bisschen, und Sie werden mit Geduld (siehe S. 184 f.) an Ihrem Ziel ankommen täglich länger zu meditieren und insgesamt achtsamer mit sich zu sein.
Nachdem Sie nun wissen, wie Gewohnheiten entstehen, wie sie ausgelöst und aufrechterhalten werden, geht es in den folgenden Kapiteln um die Veränderung von konkreten Lebensbereichen. Es werden Möglichkeiten beschrieben, anhand derer Sie Ihren Alltag achtsamer gestalten können, um alte Gewohnheiten zu verändern und neue, heilsamere Gewohnheiten einzuführen.
Auf einen Blick
◆ Gewohnheiten sind Segen und Fluch zugleich. Einerseits sparen sie Zeit und Energie, wir müssen uns nicht über jede Kleinigkeit den Kopf zerbrechen. Andererseits erhält dieses automatische Handeln »schlechte« Gewohnheiten aufrecht.
◆ Menschen verarbeiten Informationen auf zwei Arten: schnell und emotional (bottom-up) oder langsamer und bewusst (top-down). Gewohnheiten sind schwer zu durchbrechen, da sie durch wiederholte Kopplung mit Belohnungen tief verwurzelt sind und über den Bottom-up-Pfad verarbeitet werden.
◆ Koppeln Sie neue Gewohnheiten mit bereits bestehenden Routinetätigkeiten und achten Sie darauf, zunächst nur minimale Veränderungen einzuführen. Wenn Sie mit regelmäßigen Minimeditationen einsteigen, werden Sie eine längere tägliche Meditation eher zur Gewohnheit machen, als wenn Sie mit einem intensiven Wochenendretreat starten.
Übungen in diesem Kapitel
◆Gewohnheiten erforschen: Sie listen alle Ihre Gewohnheiten in einem Wochenplan auf.
◆Auslöser für unheilsame Gewohnheiten finden. Sie ergänzen Ihren Wochenplan mit den Auslösern für Ihre Gewohnheiten.
◆Nahrungsentzug für unheilsame Gewohnheiten: Sie entziehen unheilsamen Gewohnheiten die Nahrung und füttern heilsamen Gewohnheiten.
◆Heilsame Gewohnheiten anstupsen: Sie führen kleine Erinnerungen für kritische Entscheidungssituationen ein.
5 Buddhismus ist nicht nur eine spirituelle Praxis oder Philosophie, sondern auch ein Geistestraining. In der buddhistischen Psychologie werden praktische Übungen für ein solches Bewusstseinstraining praktiziert.
6 Diese Übung wird im Buddhismus als »Vierfache rechte Anstrengung« bezeichnet. Die rechte Anstrengung (Pali: sammappadhāna; Sanskrit.: Samyak-Pradhāna oder samyakprahāna) ist eine Praxis aus dem edlen achtfachen Pfad (die vierte der vier edlen Wahrheiten) mit praktischen Übungen, um einen Zustand von Wohlbefinden und Glück zu erreichen.
Die Patient:innen gucken etwas betroffen auf den Boden, nicken aber zustimmend. In der Gruppentherapie geht es um das Thema »Im Körper zu Hause sein«. Ich habe gerade ein Zitat von Jon Kabat-Zinn vorgelesen, in dem das Paradox beschrieben wird, dass unsere Gesellschaft einerseits besessen von dem körperlichen Erscheinungsbild ist und andererseits das Gefühl für den eigenen Körper oft verloren gegangen ist. Eine Patientin erzählt, dass sie es sich niemals vorstellen könne, ungeschminkt und mit ungewaschenen Haaren aus dem Haus zu gehen. Es sei für sie jedoch kein Problem, für eine Hausarbeit eine Nacht durchzumachen oder aufgrund von Zeitmangel Chips statt einer ausgewogenen Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Eigentlich wissen wir alle, dass wir nur diesen einen Körper haben. Und trotzdem fällt es den meisten Menschen schwer, auf die Stimme ihres einzigartigen, wertvollen Körpers zu hören und ihm das zu geben, was er braucht – und damit, was wir brauchen. Wir sind durch unsere To-dos, Verpflichtungen und Vergnügungen stark abgelenkt und hören Warnsignale von Krankheit oder Überlastung häufig erst, wenn es längst zu spät ist: dann, wenn sich Migräne, Schlafstörungen, chronische Schmerzen oder auch psychische Erkrankungen schon bei uns eingerichtet haben.
Wie können wir auch an einem stressigen Tag oder während längerer herausfordernder Phasen diesem wundervollen Körper zuhören, den wir nur zeitlich begrenzt beheimaten dürfen, und wirklich für ihn und uns sorgen? Lassen Sie uns gemeinsam dieser Frage auf den Grund gehen.
Noch bevor wir gelernt haben zu sprechen, konnten wir als Babys unserer Umwelt signalisieren, was unser Körper benötigt: Essen, Trinken oder den liebevollen Körperkontakt unserer wichtigsten Bezugspersonen. Ein hilfloses Baby ist darauf angewiesen, dass die Umwelt seine Bedürfnisse zu lesen versteht. Je älter und selbstständiger wir aber werden, desto mehr liegt es an uns selbst, auf die Signale unseres Körpers zu hören, sie einzuordnen und zu erfüllen. In der Psychologie wird der Begriff Interozeption verwendet, um die Wahrnehmung und Verarbeitung von Signalen aus dem Körperinneren zu beschreiben (Craig, 2003). Die Interozeption ist einerseits entscheidend, um unsere körperlichen Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen, gleichzeitig bildet sie aber auch die Grundlage für unsere Emotionswahrnehmung und -regulation. Deshalb steht eine gestörte Interozeptionsfähigkeit auch im Zusammenhang mit verschiedenen psychischen Erkrankungen wie Anorexia nervosa, Angststörungen oder Depressionen (Fischer, Messner & Pollatos, 2017).
Um erneut ein Gefühl für unseren Körper zu bekommen, ist es wichtig, dass wir immer wieder zu ihm zurückkehren und ihm zuhören. Dabei kann uns die Achtsamkeit helfen. Achtsamkeit auf den Körper bedeutet, dass wir stoppen7 und unsere Aufmerksamkeit nach innen richten. Wir fühlen all unseren Empfindungen in verschiedenen Körperbereichen nach, die wir im gegenwärtigen Moment wahrnehmen können. So, wie wir einer guten Freundin zuhören, sind wir ganz präsent und für alles offen, was unser Körper uns zu erzählen hat, ohne mit kritischen Urteilen und Kommentaren zu reagieren. Wichtig ist auch, dass wir nicht über unsere Körperempfindungen nachdenken, sondern sie unmittelbar fühlen.
Neuere Studien konnten zeigen, dass eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis die Interozeptionsfähigkeit verbessern kann (Farb, Segal & Anderson, 2013). Die Achtsamkeit auf den Körper kann auch stressreduzierend wirken. In einer Untersuchung von Schultchen et al. (2019) wurden Studierende in eine Achtsamkeitsgruppe und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. In der Achtsamkeitsgruppe führten die Studierenden über acht Wochen täglich einen 20-minütigen Body-Scan durch, eine klassische Achtsamkeitsübung. Die Kontrollgruppe hörte über denselben Untersuchungszeitraum jeden Tag für 20 Minuten ein Audiobuch. Die Ergebnisse zeigten, dass sich zwar beide Gruppen subjektiv entspannter fühlten, doch nur in der Achtsamkeitsgruppe reduzierte sich das Stresshormon Cortisol signifikant.
Der Body-Scan ist eine klassische Achtsamkeitsübung, um unsere Körperwahrnehmung zu schulen. Sie nehmen dazu eine bequeme Position im Liegen oder Sitzen ein. Dann werden Sie angeleitet, mit Ihrer Aufmerksamkeit durch verschiedene Körperregionen zu gehen und alle Körperempfindungen – sowohl angenehme als auch unangenehme – von Kopf bis Fuß zu beobachten, ohne die Empfindungen zu verurteilen. Im Body-Scan üben Sie sich auch darin, Ziele loszulassen, z. B. Entspannung oder Schmerzfreiheit erlangen zu wollen. Die Dauer und die Genauigkeit, mit der die Körperregionen betrachtet werden, kann von Übung zu Übung variieren. Im Internet finden Sie zahlreiche Anleitungen für einen Body-Scan.
In Bezug auf den Body-Scan (und die Meditationspraxis) bekomme ich immer wieder Fragen von Patient:innen, die in der Ausführung Schwierigkeiten erleben. Hier einige Tipps und Erfahrungen, die ich gerne mit Ihnen teilen möchte:
Im Unterschied zur Tiefenentspannung (mehr dazu auf S. 52) sollen Übende beim Body-Scan nicht einschlafen – schließlich sollen verschiedene Körperregionen ja mit einer Wachheit beobachten werden. Sollten Sie bemerken, dass Sie beim Body-Scan häufig schläfrig werden, können Sie die Übung im Sitzen durchführen oder Ihre Augen leicht geöffnet lassen.
Diese Rückmeldung erhalte ich sehr oft. Zunächst möchte ich Sie gerne daran erinnern, dass es normal ist abzuschweifen, da unser Gehirn dazu neigt, sehr viele Gedanken zu produzieren (mehr dazu ab S. 76). Es ist kein Grund, sich zu sorgen oder zu ärgern. Wenn Sie bemerken, dass Ihre Gedanken auf Wanderschaft gehen, ist dies ein magischer, achtsamer Moment, denn Sie sind sich dessen bewusst. Und genau das ist die Achtsamkeitspraxis: Sie verlassen den Autopilotmodus und haben ein Gewahrsein für all das, was in Ihnen vorgeht. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dass Sie sich beglückwünschen, wann immer Sie bemerken, dass eine neue Fahrt im Gedankenkarussell losgeht: »Super! Fantastisch, ich habe gerade gemerkt, dass ich ins Grübeln gekommen bin. Ich mache alles richtig!« Dann kehren Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit zur Übung zurück.
Wenn wir lange Zeit unserem Körper nicht mehr zugehört haben, kann es sehr ungewohnt sein, sich für 20 bis 40 Minuten intensiv mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn Sie während des Body-Scans kaum etwas spüren, empfehle ich Ihnen, sich vor dem Body-Scan aufzuwärmen. Machen Sie ein paar Hampelmänner oder einige Liegestütze. Die Bewegungen aktivieren Ihren Körper, erhöhen den Puls und helfen Ihnen dabei, während des Body-Scans stärkere körperliche Empfindungen wahrzunehmen. Mit der Zeit brauchen Sie die Aufwärmübungen nicht mehr.
Auf dem Weg, unseren Körper besser kennenzulernen, darf die Begegnung mit unserem Atem nicht fehlen. Der Atem begleitet uns vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens. Schon im alten buddhistischen Anapanasati Sutra (Lehrrede über das Bewusstsein des Atems) wird in konkreten Übungen beschrieben, wie Meditationspraktizierende ihre Aufmerksamkeit auf die Atmung lenken können, um Achtsamkeit für ihren Körper, ihre Gefühle und ihren Geist im gegenwärtigen Moment zu kultivieren. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass schon vor 2500 Jahren Menschen die gleichen Übungen praktizierten, die auch heute noch aufgrund ihrer positiven Effekte weltweit geübt werden.
Der Atem eignet sich gut als »Objekt der Meditation«, weil er immer in der Gegenwart geschieht. Er kann nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft geschehen. Er passiert immer nur jetzt, in diesem Augenblick. Sobald Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Atmung richten, sind Sie ebenfalls in der Gegenwart angekommen und Ihr Bewusstsein ist mit Ihrem Körper wieder verbunden. Achtsames Atmen bedeutet, dass Sie sich Ihrer Atmung bewusst werden. Das hört sich einfach an, doch wann haben Sie heute wirklich darauf geachtet, wie Sie ein- und ausatmen? Vielleicht ist Ihre Atmung Ihnen das letzte Mal aufgefallen, als Sie eine Erkältung hatten. In solchen Momenten ist es nicht einfach zu atmen. Dann bemerken wir, wir kostbar eine funktionierende Lunge ist, und können leichter dankbar für so etwas Basales wie die Atmung sein.
Wenn wir in eine stressige Situation geraten, wird eine körperliche Stressreaktion ausgelöst (siehe S. 44 f.). Erhöhter Herzschlag, Schweißausbrüche und Muskelverspannungen können die Folge sein. Diese Reaktion läuft unwillkürlich ab, das bedeutet, wir können nun nicht einfach direkt »beschließen«, dass unser Herz jetzt bitte wieder langsamer schlagen soll. Es gibt allerdings einen Trick, wie wir unseren Körper trotzdem beruhigen können: Wenn wir nur langsamer atmen und unsere Ausatmung verlängern, ist es indirekt möglich, das parasympathische Nervensystem anzuregen, das für die Entspannung unseres Körpers zuständig ist. In einer Übersichtsarbeit konnten Forschende zeigen, dass langsames Atmen (weniger als zehn Atemzüge pro Minute) mit positiven körperlichen und psychischen Veränderungen im Zusammenhang stand (Zaccaro et al., 2018).8 In den aufgeführten Studien konnte gezeigt werden, dass die langsame Atmung mit einer erhöhten Herzratenvariabilität9, mehr Entspannung, Wohlbefinden und weniger Ängstlichkeit und Depressivität im Zusammenhang stand. An dem allseits beliebten Spruch zur Beruhigung »Atme tief durch!« ist also durchaus etwas dran.
Atemübungen
Atemmeditation
Lernen Sie Ihren Atem kennen und freunden Sie sich mit Ihrer Atmung an. So, wie ein Thermometer Ihnen Auskunft über die Temperatur geben kann, können Sie über den Rhythmus und die Qualität Ihrer Atmung Rückschlüsse auf Ihr Wohlbefinden ziehen. Ihre Atmung wird Sie immer wieder sanft in den gegenwärtigen Moment zurückführen.
Eine angeleitete Atemmeditation finden Sie hier:www.herder.de/extras
Box-Atmung
In stürmischen, stressigen Zeiten kann diese langsame Atmung ein wahres Wundermittel sein. Falls Sie einen Fitnesstracker haben, können Sie ein kleines Experiment machen und beobachten, wie schnell Ihr Puls vor der Übung und nach der Übung ist. Sie werden erstaunt sein!
Starten Sie, indem Sie vier Sekunden lang einatmen. Halten Sie dann für zwei Sekunden die Atmung an. Über die nächsten sieben Sekunden atmen Sie aus. Dann erneut zwei Sekunden die Luft anhalten. Nachdem Sie so einmal »um das Viereck herum« geatmet haben, wiederholen Sie die Übung circa 11-mal oder so lange, bis Sie merken, dass Sie ruhig geworden sind. Anfangs kann es ungewohnt sein, so lange auszuatmen. Tasten Sie sich an die sieben Sekunden heran.
Lippenbremse
Um die Ausatmung zu verlangsamen und Ihren Körper zu beruhigen, können Sie auch die Lippenbremse anwenden. Lassen Sie Ihre Lippen locker aufeinanderliegen (keinesfalls zusammenpressen) und atmen Sie durch den Mund aus. Da die Luft durch den verengten Mundschacht entweichen muss, atmen Sie länger aus. Ich stelle mir dabei vor, dass der Atem wie durch das offene Ventil einer Luftmatratze ausströmt.
Der Journalist James Nestor stellt in seinem Buch Breath – Atem fest, wie verbindend die Atmung ist.
»Atmen bedeutet, uns in das, was uns umgibt, zu absorbieren, kleine Teile des Lebens aufzunehmen, sie zu verstehen und Teile von uns selbst wieder abzugeben; Atmung ist in ihrem Kern eine Reziprozität.«
Diese Beobachtung fasziniert und berührt mich sehr. Wenn wir mit anderen Menschen in einem Raum sind, tauschen wir ständig Teilchen voneinander aus und sind durch unsere Atmung tief miteinander verbunden. Unsere Verbundenheit reicht aber über die mit unseren Mitmenschen hinaus und umfasst auch das Zusammenspiel mit der Natur. In Japan gibt es die achtsame Übung »Shinrin-yoku« (Waldbaden). Bei diesen heilsamen Waldbesuchen atmen die Besucher:innen die frische Waldluft bewusst ein. Studien (Li, 2010) haben gezeigt, dass intensives Waldbaden und das Einatmen der ätherischen Öle, die die Bäume zur Abwehr von Schädlingen aussondern (sogenannte Terpine), mit einer Stärkung des Immunsystems im Zusammenhang stehen.