Einstweilen sind wir noch hier - Katrin Züger - E-Book

Einstweilen sind wir noch hier E-Book

Katrin Züger

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Beschreibung

Nach zwei Bänden mit Belletristik geht es diesmal um Sachbücher. In den letzten Jahren scheint bei der Autorin eine Verschiebung stattgefunden zu haben. Mehr Sachbücher, weniger Fiktion. Warum? Weil sie von allem anderen schon genug gelesen hat, weil diesbezüglich alles gesagt wurde, nichts Neues dazu kommt, alles eine Variation des Bisherigen ist - Liebe, Beziehungen, Alltagsprobleme, Schicksale? Vielleicht. Sachbücher jedenfalls zeigen, wie spannend die reale Welt ist, sodass man mehr darüber wissen möchte. So geht es in dem Buch um einen Strauss von weltbewegenden Themen wie Libellen in der Wüste, Regenwürmer und Springschwänze, Schafe und Trottellummen, farbensprühende Tintenfische, eierlegende Hunde, die Farben des Wassers, des Himmels und des Regenbogens, das Elend mit dem Staub, Bromrüben und Eichhörner, Büroklammern und Zündhölzer, die Bedeutung des Wanderns, Strickens und Gärtnerns, das Klima, schliesslich die Welt, wie es ihr ergeht, wenn wir nicht mehr da sind...

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Dabei waren wir unendlich arm. Wir besassen nur Wind, Sand und Sterne.

Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne

Nie wieder soll ein tropischer Wirbelsturm Katrina heissen.

Ronald D. Gerste, Wie das Wetter Geschichte macht

Kein Zweifel, wir Menschen treten den Boden in der Regel mit Füssen.

Peter Laufmann, Der Boden

Als die Dinosaurier über die Erdoberfläche trampelten, schlängelte sich der bescheidene Regenwurm schon längst unter ihren Pranken.

Sally Coulthard, Das Buch des Regenwurms

Auf der nie abschliessbaren Suche nach dem guten und richtigen Leben begegnet man irgendwann dem Schaf.

Eckhard Fuhr, Schafe

Der Geist entstand im Meer. Als die Tiere an Land gingen, nahmen sie das Meer mit.

Peter Godfrey-Smith, Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins

Die Revolution der Seesterne schreitet voran.

Ori Brafman, Rod A. Beckström, Der Seestern und die Spinne

Das Schönste am Axolotl ist sein Name.

Florian Werner, Die Weisheit der Trottellumme

Blau ist nicht da draussen und es ist auch nicht in uns. Das strahlende Blau einer Kornblume ist eine Art Gemeinschaftsarbeit zwischen uns und der Pflanze.

Kai Kupferschmidt, Blau

Der Staub ist ein Sediment der Geduld.

Joachim Kalka, Staub

Die Vielfalt der Irrtümer ist grenzenlos.

Hans-Hermann Dubben, Hans-Peter Beck-Bornholdt, Der Hund, der Eier legt

Es ist auch einfach schön, die Welt um uns herum und die alltäglichen Naturgegebenheiten etwas besser zu begreifen.

Jo Hermans, Im Dunkeln hört man besser?

Rein äusserlich unterscheidet sich das Geheuer kaum vom Ungeheuer.

Giuliano Musio, Manuel Kämpfer, Keinzigartiges Lexikon

Besen kehren lieber vor der eigenen Haustür.

Torsten Illner, Jule Claudia Mahn, Helmut Stabe, Poesien des Alltags

Wenn man nichts anderes tut, als einen Fuss vor den anderen zu setzen, scheint sich das Denken neue Bahnen zu eröffnen.

Daniel Schreiber, Allein

Millionen von Arten leben auf unserer Erde. Nur eine beherrscht sie. Wir.

Stephen Emmott, Zehn Milliarden

Warum gibt es überhaupt etwas, nach dessen Sinn man fragen kann?

Terry Eagleton, Der Sinn des Lebens

Einstweilen sind wir noch hier.

Alan Weisman, Die Welt ohne uns

Inhalt

Vorwort

Antoine de Saint-Exupéry:

Wind, Sand und Sterne

Rondald D. Gerste:

Wie das Wetter Geschichte macht

Peter Laufmann:

Der Boden

Sally Coulthard:

Das Buch des Regenwurms

Eckhard Fuhr:

Schafe

Peter Godfrey-Smith:

Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins

Ori Brafman, Rod A. Beckström:

Der Seestern und die Spinne

Florian Werner:

Die Weisheit der Trottellumme

Kai Kupferschmidt:

Blau

Joachim Kalka

: Staub

Hans-Hermann Dubben, Hans-Peter Beck-Bornholdt:

Der Hund, der Eier legt

Jo Hermans:

Im Dunkeln hört man besser?

Giuliano Musio, Manuel Kämpfer:

Keinzigartiges Lexikon

Torsten Illner, Jule Claudia Mahn, Helmut Stabe:

Poesien des Alltags

Daniel Schreiber:

Allein

Stephen Emmott:

Zehn Milliarden

Terry Eagleton:

Der Sinn des Lebens

Alan Weisman:

Die Welt ohne uns

Bibliografie

Vorwort

Wie kommt es, dass ich so viele Bücher gelesen habe und oft nicht mehr (genau) weiss, was ich gelesen habe, manchmal sogar nicht einmal, dass ich sie gelesen habe? Das Schöne daran ist, dass ich Bücher, von denen ich weiss, dass sie mir gefallen haben, immer wieder lesen kann. Doch das Unbehagen bleibt. Nun bin ich etwas beruhigt, denn ich scheine nicht die Einzige zu sein.

Es sei eine traurige Einsicht, dass wir mehr Bücher kaufen als lesen. Gemäss einer britischen Untersuchung werden bis zu siebzig Prozent der Bücher in den Regalen nie aufgeschlagen. Kommt hinzu, dass wir das meiste von dem wenigen, was wir lesen, vergessen. Lese ich in einer Kolumne. Die «Vergessenskurve» zeigt, dass wir uns nach einem Tag noch knapp an ein Drittel von dem erinnern, was wir gelesen haben. Und langfristig an praktisch nichts. Was ist zu tun? Zwei Empfehlungen.

Erstens, bei Sachbüchern:

Unterstreichen Sie beim Lesen Wichtiges.

Lesen Sie nach jedem Kapitel noch einmal die unterstrichenen Stellen und formulieren Sie die Essenz der Passagen in Ihren eigenen Worten.

Schreiben Sie am Ende des Buchs eine knappe Zusammenfassung in tausend Zeichen: Worum geht es? Was nehme ich mit?

Archivieren Sie diese Notizen in einem digitalen Format, damit die Inhalte auch nach Jahren mit einer Stichwortsuche schnell auffindbar sind.

Und legen Sie sich zweitens ein «Bob» zu. Ein Bob? Steht für «Book of Books», ein Buch-Buch, in dem festgehalten wird, welche Bücher man wann gelesen hat. In einem schönen Notizbuch oder digital. Die US-amerikanische Literaturkritikerin Pamela Paul hat vor einiger Zeit ihr Buch-Buch publiziert, «My Life with Bob». Könnte Lust machen, selber ein Buch-Buch anzulegen. Hilft gegen das Vergessen, aber auch bei der Erinnerung an die Umstände, in denen wir das Buch gelesen haben – zuhause, in den Ferien, allein, mit jemandem zusammen, tagsüber, abends vor dem Einschlafen, was wir dabei dachten, fühlten, noch tun wollten, vielleicht sogar, wer wir waren.

In etwa darum geht es mir in dem Buch: Überblicke verfassen, Eindrücke wiedergeben, persönliche Vorlieben betonen, schöne Sätze notieren. Mein dritter Versuch. Ob es etwas nützt? Mal sehen.

Nach zwei Bänden mit Belletristik geht es diesmal um Sachbücher. In den letzten Jahren scheint eine Verschiebung stattgefunden zu haben. Mehr Sachbücher, weniger Romane, Erzählungen. Suche gezielt danach, wenn ich im Buchladen schmökere, kaufe das eine oder andere. Nicht einfach so. Manchmal sind sie mir zu bombastisch, zu ausufernd, zu komplex in ihrer Wissenschaftlichkeit, da besteht nicht nur die Gefahr, dass ich es gleich wieder weglege oder schnell vergesse, sondern auch, dass ich es nicht verstehe. Warum Sachbücher? Vielleicht weil ich meine, von allem anderen schon genug gelesen zu haben – über die Liebe, Beziehungen, Schicksale. Weil diesbezüglich schon alles gesagt wurde, nichts Neues dazu kommt, alles eine Variation des Bisherigen ist? Oder weil die reale Welt so spannend ist, dass ich mehr darüber wissen will? Kann sein. Aber eben, mit dem Wissen, mit dem Erinnern ist es so eine Sache, so leicht, so flüchtig, so … Versuchen wir es.

Antoine de Saint-Exupéry: Wind, Sand und Sterne

Ich träumte von einem Buch, das ich aus einem bestimmten Grund gekauft habe, weiss nicht mehr wozu. Stellte es ins Regal, habe es beim Stöbern wiedergefunden und endlich gelesen. Ein Buch von Antoine de Saint-Exupéry. Nein, nicht «Der kleine Prinz», der Liebling von … ja von wem eigentlich? Einer der grössten Bestseller aller Zeiten, heisst es. Was macht das Werk so faszinierend? Eine bestimmte Stelle ist es vor allem, eine weltbewegende Erkenntnis: «Voici mon secret. Il est très simple: on ne voit bien qu’avec le coeur. L’essentiel est invisible pour les yeux.» Auf Deutsch: «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.» Was natürlich Unsinn ist, wenn man sich die evolutionäre Meisterleistung des Sehens und die dafür entwickelten Werkzeuge vor Augen führt:

Sehen. Ist doch einfach. Man muss nur die Augen aufmachen. So ist es dann aber doch nicht. Sehen ist eine Meisterleistung der Evolution. Manchmal genügen einzelne Sinneszellen, etwa bei Gliederwürmern, die kopfüber in einer Erdröhre stecken und nur Richtung und Stärke des einfallenden Lichts wahrnehmen. Raffinierter das Flachauge von Quallen und Seesternen, bei dem sich die Lichtsinneszellen zusammengelagert haben, um Hell und Dunkel besser zu unterscheiden. Oder das Pigmentbecherauge von Plattwürmern, bei dem die Sehzellen in einen Becher aus lichtundurchlässigen Pigmentzellen eingebettet sind, sodass das einfallende Licht durch die Öffnung des Bechers gezwängt wird und die Richtung gezielter wahrgenommen werden kann. In den Grubenaugen von Napfschnecken dagegen sind die Sinneszellen dem Licht zugewandt, zudem ist die Grube mit einem Sekret gefüllt. Lochkameraaugen (verbesserte Grubenaugen) finden sich beim Perlboot, dem altertümlichen Tintenfisch Nautilus, sie funktionieren wie eine Lochkamera und ermöglichen wegen der grösseren Zahl von Sehzellen das Bildsehen, wenn auch nur lichtschwach und schemenhaft. Das Blasenauge der Weinbergschnecke funktioniert wie ein Lochauge, bei dem aber die Öffnung von einer durchsichtigen Haut bedeckt und das Augensekret zu einer einfachen Linse verfestigt ist.

Komplexer ist das Komplex- oder Facettenauge bei Insekten und Krebsen. Sie nehmen die Welt als Mosaik wahr, zusammengesetzt aus Tausenden von Einzelbildern. Das Facettenauge besteht aus einzelnen Sehelementen oder Ommatidien, jedes mit einer Hornhaut und einer Linse, die das Licht fokussiert. Fliegen haben rund dreitausend Ommatidien, Libellen bis zu achtundzwanzigtausend. Facettenaugen sind spezialisiert auf das Erkennen von Bewegung. Das menschliche Auge kann zwanzig Bilder pro Sekunde auseinanderhalten, das Facettenauge über dreihundert. Deshalb nimmt eine Fliege die Hand, die sie fangen will, in Zeitlupe wahr, und es bleibt ihr fast immer genug Zeit für die Flucht. Am weitesten entwickelt ist das Linsenauge, besonders jenes der Wirbeltiere. Doch auch ein paar Wirbellose verfügen darüber: Spinnen, Schnecken, einige Würmer, Medusen und Insektenlarven. Es ist ein Hohlkörper, dessen Linse ein auf den Kopf gestelltes, scharfes und helles Bild der Umgebung auf die Netzhaut projiziert. Lichtempfindliche Rezeptoren und ein Netz von Nervenzellen leiten die Reize ins Gehirn, wo sie zu einem dreidimensionalen Abbild verarbeitet werden.

Und was ist mit unserem Sehen, dem der Menschen? Es ist nicht unbedingt das evolutionär höchstentwickelte. Menschen sehen schärfer als Insekten, aber nie so scharf wie Adler. Sie erkennen mehr Farben als die meisten Säugetiere, aber nicht die Wellenlängen von sechzehn Farbtönen wie manche Fangschreckenkrebse. Der Mensch kann in der Dämmerung einzelne Lichtquanten sehen, nicht aber Magnetfelder, wie man das von Vögeln vermutet.

Doch um den «kleinen Prinzen» und das Sehen geht es hier wie gesagt nicht, sondern um «Wind, Sand und Sterne». Im Original: «Terre des Hommes». Ein Erlebnisbericht des Autors, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Pilot, Berichterstatter und Kurier im spanischen Bürgerkrieg war. Kernstück sind die Kapitel, die seine nordafrikanischen Wüstenüberflüge beschreiben, bis zu dem Flug von 1935, bei dem er ein Preisgeld für die schnellste Bewältigung der Strecke von Paris nach Saigon gewinnen wollte. Zwei Tage nach dem Start verlor er die Orientierung, konnte den Zwischenstopp in Kairo nicht ansteuern. Landete in der Nacht zweihundert Kilometer westlich davon in der Sahara, blieb unverletzt, machte sich zu Fuss auf die Suche nach einer Siedlung. Kurz bevor er verdurstete, stiess er auf Beduinen, die ihn retteten. Da sind wir wieder beim «Kleinen Prinz», zu dem diese Erlebnisse Saint-Exupéry inspirierten.

Die Titelfindung sei schwierig gewesen. Zusammen mit einem Vetter habe er dreissig Varianten entwickelt, die Wahl sei dann auf «Terre des humains», gefallen, später auf «Terre des hommes». Da der französische Titel viele Bedeutungsaspekte hat und schwer zu übersetzen ist, erschien die amerikanische Ausgabe unter dem Titel «Wind, Sand and Stars». Entsprechend die deutsche Version. Zudem ist die amerikanische (und die deutsche) Fassung ausführlicher und enthält das zusätzliche Kapitel «Naturgewalten». Das hat damit zu tun, dass Saint-Exupéry Mitte Februar 1938 den Versuch eines Rekordflugs New York–Feuerland unternahm, in Guatemala beim Start nach einer Zwischenlandung abstürzte und schwer verletzt wurde. Während der Genesung in New York begann er mit der Zusammenstellung des Buchs, mit fortlaufenden Änderungen, Erweiterungen und Streichungen. Und was ist mit dem Kinderhilfswerk «Terre des Hommes»? Dieses wurde vom Schweizer Journalisten Edmond Kaiser 1960 unter dem Eindruck des Algerienkriegs gegründet und nach Saint-Exupérys Werk benannt.

Was mir an dem Buch gefällt? Nun, die Wüste natürlich. Immer wieder die Wüste. Deren Schönheit, die Stille, Weite und Erhabenheit, die Klarheit des Sternenhimmels, das Gefühl der Verbundenheit. Kann das sein? Müsste man nicht vielmehr Angst haben? Ohne Hoffnung auf Rettung nach einer Notlandung? Einem Absturz, bei dem man dem Tod nahekommt und zu verdursten droht? Doch vielleicht hatte er die ja … Kommt trotzdem immer wieder, kehrt in die Wüste zurück, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Wüste. Eine faszinierende Sache. Wie schaffte sie es, zu einem Sehnsuchtsort zu werden, selbst bei mir, die ich sie doch kaum kenne? Wohl gerade deshalb. Da fällt es mir wieder ein, der Zusammenhang, in dem ich das Buch gekauft habe – für eine Recherche über die Wüste und deren vielfältige Erscheinungsformen:

Für Nomaden sind Oasen Paradiese. Paradiese der Wüste. Sagte der Kommentator in einem Fernsehfilm. Eine Stimme aus weiter Ferne. An den Film erinnere ich mich nicht. Aber an die Wüste. Deren Faszination. Wüsten sind Gebiete der Erde ohne oder mit geringer Vegetation. Ursache für Wüsten sind extreme Hitze oder Kälte, fehlende Niederschläge, Wassermangel, Überweidung. Wüsten zählen zur Anökumene. Die grösste Wüste der Erde ist die Antarktis. Dreizehn Millionen Quadratkilometer. Endlose Weite, grenzen lose Weisse aus Eis und Schnee, ab und zu ein Stück Kon trast, ein verirrter Felsblock, eine Kolonie Pinguine, eine Forschungsstation. Gefolgt von der Sahara, Grönland, Gobi, Kalahari, Taklamakan, Sonora, Karakum, Mojave, Danakil. Schöne Namen. Landschaften wie kurz nach der Erschaffung der Welt.

Ich lese das Wort «Wüste» und sehe Bilder von gelben Sandmeeren in der Sahara. Doch der feine gelbe Sand bedeckt nur zwanzig Prozent aller Wüsten. Diese haben viel mehr an Farbe zu bieten: das Weiss der salzbedeckten bolivianischen Hochebenen, das mit vulkanischer Asche angereicherte graue Geröll der Mojave-Wüste, die spektakulären Rottöne des Colorado-Plateaus, das feine Rosa des Wadi Rum in Jordanien, die braun-schwarze Mondlandschaft in Island. Die Farbpalette ist so weit wie die Wüste selbst. Und sie kann heiss und sandig, aber auch eisig, felsig und salzig sein. Eines ist sie immer: extrem. Und obwohl sie als lebensfeindlich gilt, gibt es doch eine Vielfalt an Leben – von Käfern und Echsen über Esel, Antilopen und Elefanten bis zu Bäumen und Menschen. Woran denken wir bei dem Wort Wüste? An Sand natürlich. Aber auch an Eis, Felsen, Kies oder Salz? Wohl eher an Dürre, Ödnis, Unwirtlichkeit, Hitze, kurz: an einen Ort, an dem der Mensch nur mit grosser Mühe, Ausdauer und Kreativität Fuss fassen kann und der dennoch von ihm seit Anbeginn der Zeit bewohnt, befahren, bewandert wird. Ein Drittel des Festlands wird von Wüsten bedeckt. Dreihundert Millionen Menschen leben in diesen ungastlichen Gegenden.

Zurück zum Buch. Ich mag die Stelle mit dem Fuchs, offenbar Grundlage für den Fuchs, der später im «Kleinen Prinz» wieder auftaucht. Ein Fenek oder Sandfuchs, ein Raubtier, so gross wie ein Hase mit Riesenohren. Er folgt den Spuren, bewundert das hübsche Palmenmuster, das die drei fächerförmigen Zehen hinterlassen haben. Die Abstände werden grösser, der Fenek beginnt zu rennen. Dann sind es plötzlich zwei. Begleitet sie auf dem Morgenspaziergang. Gelangen in ein enges Sandtal, dort zu ihren Vorratsspeichern. Kaum über den Sand hinaus erheben sich alle hundert Schritte kleine, dürre Bäumchen, die Zweige mit kleinen goldgelben Schnecken besetzt. Die Feneks bleiben nicht vor jedem Baum stehen, lassen den einen oder anderen links liegen, obwohl sie von Schnecken wimmeln. An andere machen sie sich heran, ohne sie leer zu fressen. Zwei bis drei Schnecken nur, dann gehen sie zum nächsten. Warum machen sie das? Macht es ihnen Freude, ihren Hunger nicht auf einmal zu stillen, sondern sich auf ihrem Morgenbummel langwährenden Genuss zu verschaffen? Wohl eher ist es lebensnotwendige Vorsicht. Würden sie sich am ersten Baum sattfressen, wäre nach zwei, drei Mahlzeiten der Vorrat weg. Und sie tun noch mehr: Nehmen nie zwei benachbarte Schnecken vom gleichen Zweig. Als wüssten sie um die Gefahr: Frässen sie nach dem Hunger, stürben die Schnecken aus, und wenn die Schnecken verschwunden wären, hätte es auch mit den Feneks ein Ende. Ist es nicht wundersam, wie man sich jeder Lage anpasst?

Ich mag auch die Libellen. Über der Wüste liegt tiefe Stille. Die Luft ist rein. In der Unterkunft hört er ein leises Schwirren. Eine Libelle. Dann zwei Libellen und ein grüner Schmetterling. Schlagen an die Lampe. Er geht hinaus, klettert auf eine Düne, setzt sich hin. Bald wird es losgehen. Was täten sonst die Libellen hier, Hunderte von Kilometern von den Oasen im Landesinnern entfernt? Die Insekten berichten vom Taifun, der auf hoher See gewütet hat, und dem nahenden Sandsturm, ein Ostwind, der die fernen Palmenwälder heimgesucht hat, die Heimat der grünen Schmetterlinge. Der Sturm kommt so leise, dass man sein Ächzen nicht hört. Er weiss: Jetzt holt die Wüste einige Minuten lang Atem. Dann wird sie zum zweiten Mal seufzen. Dann noch zehn Minuten, und Sand wird durch die Luft fliegen. Das bringt ihn nicht aus der Ruhe, etwas erfüllt ihn vielmehr mit wilder Freude: Er hat die geflüsterten Worte einer Geheimsprache verstanden, hat aus dem Flügelschlag einer Libelle die Kunde vom nahenden Wüstensturm gelesen.

Dann der Kiesel. Zwischenlandung in der Wüste. Sand ist trügerisch, man hält ihn für fest und sinkt dann ein. Darum wird nach Möglichkeit auf Tafelbergen gelandet. Dort gibt es festeren, grobkörnigen Sand, eine Anhäufung kleiner Muschelschalen – oben noch ziemlich lose, weiter unten stärker verkittet, in der ältesten Ablagerung am Fuss der Bergmasse reiner Kalkstein. Bei der Landung freut er sich, Spuren auf einem Stück Land zu hinterlassen, das noch nie ein Wesen, Mensch oder Tier, betreten hat. Stört als Erster das Schweigen dieses Orts. Lässt als Erster den Muschelstaub wie edles Gold von einer Hand in die andere gleiten. Da durchfährt es ihn wie einen Forscher im Moment einer grossen Entdeckung: sieht kaum zwanzig Meter vor sich einen schwarzen Kiesel. Kein Meteor hat je so eindeutig seine Herkunft verraten. Denn was sonst könnte es sein? Er findet weitere Steine. Sehen aus wie versteinerte Lava, hart wie Diamanten, schwarz wie Kohle. Eine Art Zeitrafferaufnahme des Feuerregens, der aus dem Weltraum auf die Erde niederging. Das Wunderbarste aber ist, dass zwischen dem magnetischen Grund und den Gestirnen ein menschliches Bewusstsein lebt, in dem dieser Regen sich spiegeln kann.

Schliesslich Wasser. Wasser ist Gold wert. Nicht nur in der Wüste. Der kleinste Tropfen genügt, um einen Grashalm zum Wachsen zu bringen. Eine Gruppe Mauretanier besucht Frankreich. Sie werden zu einem Wasserfall geführt, der wie eine Säule herunterrauscht. Kosten das Wasser. Süsses Wasser! Von dem in der Wüste in zehn Jahren kein Tropfen fällt. Wo man viele Tagesmärsche braucht, um den nächsten Brunnen zu erreichen. Hier kommt es rauschend heruntergeschossen, als drohten die Wasservorräte der ganzen Welt aus einem lecken Speicher auszulaufen. Der Ertrag einer Sekunde hätte ganze Karawanen zum Leben erweckt, die sonst auf Nimmerwiedersehen in der Weite der Salzseen und Luftspiegelungen verloren gingen. Unmöglich, einfach weiterzugehen. Stumm betrachten sie das Schauspiel, stehen ehrfurchtsvoll und regungslos vor dem Wunder. Der Führer will weiter. Sie wollen warten. Bis es aufhört. Auf die Stunde, in der Gott seine Verschwendung bereut. Am Abend, als sie zusammensitzen, fällt kein Wort über den Wasserstrahl. Es gibt Wunder, über die man besser schweigt.

Am Ende der entscheidende Flug. Ein Langstreckenflug nach Indochina im Jahr 1935. Über dem Mittelmeer niedrige Wolken, Regenschauer brechen sich an der Windschutzscheibe, das Meer scheint zu dampfen. Der Regen lässt nach. Das schöne Wetter arbeitet sich langsam vor. Unten auf dem Meer ein langer wiesengrüner Streifen, eine Oase von einem seltsam leuchtenden, satten Grün, erzeugt von einem Riss in den Wolken. Noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Der Sand wird golden, die Welt leer, das Land verflüchtigt sich. Nichts auf der Welt ist so kostbar wie diese Stunde. Man taucht in die Nacht und zieht seine Bahn. Nur die Sterne gehören einem noch. Der Weltuntergang vollzieht sich allmählich, das Licht schwindet, Himmel und Erde verschwimmen. Die ersten Sterne zittern noch wie durch grünliches Wasser, erst später werden sie zu harten Diamanten. Die Nacht bricht herein. Noch scheint eine schmale Mondsichel. Dann stirbt auch der Mond.

Nun geht es der Wüste zu. Der Mond ist weg, alles ist schwarzer Teer bis zu den Sternen. Die Aussenwelt ist erloschen. Ohne Funk an Bord ist bis zum Nil kein Lebenszeichen mehr zu erwarten. Kräftige Böen lassen das Flugzeug schaukeln. Also hat sich der Wind nicht gelegt. Auf die eine Wolkenmasse folgt die nächste, dunkel und undurchdringlich. Kann sein, dass sie schon über dem Meer fliegen. Dann ein Krach. Sind auf dem Boden aufgesetzt. Nichts weiter. Keine Explosion. Nur die Kabine ist versehrt, die Fenster sind herausgerissen. Das Leben verdanken sie runden schwarzen Steinen, die sich auf dem Sand leicht drehen und so eine Art Rollbahn bilden. Wo aber sind sie? Vorräte haben sie nur noch wenige. Wie weiter? Sie gehen zu Fuss los, der Sonne entgegen. Nach fünfstündigem Marsch verändert sich die Landschaft. Ein Sandstrom führt sie in ein Tal. Die Hitze steigt, mit ihr beginnen die Luftspiegelungen. Grosse Seen bilden sich und verschwinden, wenn sie sich ihnen nähern. Hoffnungslose Leere breitet sich aus. Sechs Stunden sind sie unterwegs. Weitergehen ist zwecklos. Also zurück zum Flugzeug. Dort ein wärmendes Leuchtfeuer. Zu trinken gibt es nichts mehr. Am frühen Morgen ein wenig Wasser, das sich auf den Flügeln des Flugzeugs gesammelt hat. Auch an diesem Tag ist keine Rettung in Sicht. Sie sind ja nur winzige schwarze Punkte in der Wüste, haben keinen Anspruch darauf, gesehen zu werden. Er bricht allein auf. Geht zu den Fallen, die sie am Vortag gelegt haben. Alle leer. Dennoch die Neugier: Wovon leben die Tiere in der Wüste?

Die Wüste beginnt zu leben. Ein schwarzer Steinblock wird zu einem winkenden Mann. Ein Baumstamm zu einem schlafenden Beduinen. Der Baumstamm ist ein Stein. Überall schwarze Steinbäume. Ein vorsintflutlicher Wald bedeckt den Boden. Vor hunderttausend Jahren wohl von einem Orkan niedergestürzt. Noch sind die Astknoten und Jahresringe zu erkennen. Die Feindseligkeit der Landschaft durchschauert ihn. Über achtzig Kilometer ist er schon gegangen. Von daher die Schwindelgefühle. Er geht weiter. Kehrt dann doch um. Findet zurück zum Flugzeug und zum Kameraden. Sie sammeln Wasser auf den Dreiecksbahnen des Fallschirms. Es schmeckt entsetzlich. Dann wird ihnen schlecht. Die letzte Hoffnung ist dahin. Es wird Tag, und sie brechen auf. Ignorieren die Vorschrift, beim Wrack des Flugzeugs zu bleiben. Bei Sonnenuntergang beschliessen sie zu lagern. Nochmals stellen sie die Planen des Fallschirms unter die Sterne. Aber an diesem Abend ist der Himmel wolkenlos, und der Wind zeigt ein anderes Wesen, kommt aus einer anderen Richtung. Der heisse Hauch der Wüste.

Es wird kalt in der Nacht. Die Wüste bietet keine Deckung. Am Tag schenkt sie keinen Schatten, nachts liefert sie einen dem Wind aus. Er gräbt sich in den Sand ein. Schliesst die Augen. Lebt wohl, ihr Lieben, ich kann nichts dafür, dass der Mensch nicht mehr als drei Tage ohne zu trinken auskommt. Der Morgen graut. Sie gehen weiter. Gehen schnell, um die Kühle des Tages zu nutzen. Er hat keinen Hunger, nur Durst. Allmächtigen Durst. Die Landschaft verändert sich, die Steine werden seltener. Vor ihnen beginnen die Dünen mit Anzeichen von Pflanzenwuchs. Dann die Rettung, Spuren im Sand. Aber was nützen Spuren, wenn da niemand ist. Dann ist da doch einer, ein Beduine, der näherkommt und sie mit Wasser versorgt. Wasser! Das weder Geschmack noch Farbe noch Aroma hat, das man nicht beschreiben kann, das man schmeckt, ohne es zu kennen, das man nicht zum Leben braucht, das das Leben selbst ist. Der köstlichste Besitz dieser Erde.

Der erste Satz: Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand leistet.

Schöne Sätze: Wir besassen nur Wind, Sand und Sterne. Inzwischen habe ich die Einsamkeit kennen gelernt. In der Wüste fühlt man die Zeit verstreichen. Die Wüste lebt, sage ich euch. Unter den kalten Sternen freut man sich auf den sengenden Tag. Der Sand wurde golden und die Welt leer. Ganz allmählich vollzieht sich der Weltuntergang. Und nun ist auch der Mond gestorben. Die Güter der Welt gleiten uns durch die Finger wie der Sand der Dünen. Diese halbe Orange in meiner Hand ist eine der grössten Freuden meines Lebens. Warum verspüren wir in einer Zeit des Überflusses ein so grosses Glück, wenn wir in der Wüste die letzten Lebensmittel miteinander teilen?

Der letzte Satz: Nur der Geist, wenn er den Lehm behaucht, kann den Menschen erschaffen.

Rondald D. Gerste: Wie das Wetter Geschichte macht

Jetzt ist es wieder passiert. Ich habe ein Buch gelesen und weiss nicht mehr, dass ich es gelesen habe, und schon gar nicht, was ich gelesen habe. Dabei geht es um eines der wichtigsten Themen: Das Wetter. Wie banal, sagen viele. Was interessiert mich das. Ein Small-Talk-Thema, oft wegwerfend behandelt, zu banal, zu alltäglich, brauche ich nicht, es gibt Wichtigeres. Und doch interessiert es uns, in der einen oder anderen Form, wie die Zuschauerquoten von Meteo-Sendungen und die Verwendung von Wetter-Apps zeigt. Man möchte wissen, wie das Wetter wird, wenn man morgens das Haus verlässt, in die Ferien verreist, einen Ausflug unternimmt. Was soll ich anziehen? Regenjacke, Regenhut, Stiefel, Wollpullover, T-Shirt, Shorts, brauche ich Sonnenschutz, einen Schirm, den grossen oder den Knirps, eine zusätzliche Jacke, einen Mantel? Ich jedenfalls rede gern übers Wetter, bin auch immer wieder fasziniert von Wetterphänomenen, eilig dahinziehenden Wolken, prasselndem Regen, in allen Rotschattierungen beleuchteten Himmeln, wenn der Saharastaub wieder einmal seine Aufwartung macht, flirrendem Schneegestöber, eisigen Biswinden, Föhnstürmen. Ist doch alles von entscheidender Bedeutung, deshalb reden wir ja auch jeden Tag davon. Und denken dabei eher an den Moment als das grössere Ganze. Vergessen, wie viele Ereignisse der Weltgeschichte vom Wetter abhingen oder einen anderen Verlauf genommen hätten, wenn das Wetter anders gewesen wäre. Das ist gemeint mit dem Titel des Buches: Es geht nicht um die Geschichte des Wetters, sondern um den Einfluss des Wetters auf die Geschichte und das Geschehen in der Welt. Wobei das Wetter Teil von etwas Grösserem ist, dem Klima. Während das Wetter etwas Kurzfristiges, Episodenhaftes ist, umfasst Klima die Gesamtheit der meteorologischen Bedingungen in einer Region über einen längeren Zeitraum.

Die Auswahl der Ereignisse sei leicht eurozentrisch geraten, schreibt der Autor, was natürlich keine Missachtung anderer Kulturen bedeute, sondern dem eigenen Erleben und wohl jenem der meisten Leserinnen und Leser entspreche. Nicht so schön an der Sache ist, dass es oft um Schlachten und Kriege geht. Dass diese, vor allem wenn sie länger dauern, besonders wetterabhängig sind, versteht sich. Es sind bedrückende Erzählungen, die man nicht so gern liest. Unfassbar, wie viele Menschen in Kriegen und Kämpfen ihr Leben lassen mussten, wie viel Leid damit verbunden ist, wie viel Zerstörung, und leider ist es nicht zu Ende, wie wir gerade wieder sehen. Daneben gibt es natürlich auch Leid durch das Wetter unabhängig von Kriegen – durch Naturkatastrophen, die eine Gegend und die dort lebenden Menschen ins Unglück stürzen können. Oder auch einfach eine Region nachhaltig verändern, zum Guten oder Schlechten für Mensch und Tier, nicht unbedingt für die Natur, die einfach weitermacht.

Das Römische Reich. Der Aufstieg verlief entsprechend den Klimatendenzen der Zeit, aber auch zahlreiche weitere Faktoren spielten eine Rolle: die hochentwickelte Schrift- und Dokumentationskultur, die militärische Macht, das Rechtssystem, der Austausch mit anderen Kulturen. Die Blütezeit in den ersten zwei Jahrhunderten war durch ein stabiles Klima geprägt, mit regelmässigen Niederschlägen, ohne nennenswerte Dürreperioden. Ab Ende des zweiten Jahrhunderts kam es zu einer Völkerwanderung: Goten, Franken, Alemannen, Vandalen, Hunnen – aus vielfältigen Gründen, einer davon ist der Klimaumschwung. Um 250 erfolgte eine Abkühlung. Die Niederschläge liessen nach, die Zeit der ertragreichen Felder und Weingärten war vorbei. Ab 395 war das Imperium geteilt, in ein dem Untergang entgegengehendes Weströmisches Reich und ein länger bestehendes Oströmisches Reich. Wegen chaotischer Verhältnisse, Kriegen und Seuchen kam es im Westen zu einem Bevölkerungsrückgang und zur Aufgabe von Agrarflächen. Ganze Siedlungen wurden verlassen, gerieten in Vergessenheit. Erst um etwa 800 gab es in West- und Mitteleuropa wieder klimatische Verhältnisse, die jenen aus der grossen Zeit Roms entsprachen. Zufall oder nicht: In diesen Jahren erblühte ein neues Kaiserreich, das fränkische des Charle magne, Karls des Grossen, die Urform von Frankreich und Deutschland. Wieder kam es zu einer gesellschaftlichen Blüte, zeitgleich mit einer Periode warmen, überwiegend stabilen Klimas.

Die Maya. Ihre Kultur dauerte mehr als tausend Jahre, bis zu zehn Millionen Menschen sollen in ihrem Siedlungsgebiet gelebt haben. Bauten prosperierende Stadtstaaten, schufen Kunstwerke, eine hoch entwickelte Schrift, detailliert errechnete Kalender, erwarben ein immenses Wissen in Astronomie. Was führte zum Untergang? Soziale Unruhen, kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Völkern und Seuchen mögen eine Rolle gespielt haben, der wohl wichtigste Grund war ein anderer: Aufgrund ungünstiger Klimaentwicklung, Überbevölkerung und Raubbau an der Natur wurde ihnen die Lebensgrundlage entzogen. Dem Boden musste immer mehr Ertrag abgerungen werden. Immer mehr Fläche wurde gerodet, was zu fortschreitender Erosion führte. Dürre war von Anfang an ein Problem. Dem Klimaumschwung im 9. Jahrhundert hatten sie nichts mehr entgegenzusetzen. Durch Massensterben und Wegzug kam es zu einem drastischen Bevölkerungsrückgang, so dass zum Zeitpunkt der Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés und seine Truppen um 1520 auf dem früheren Maya-Gebiet nur noch rund dreissigtausend Menschen lebten.

Während die historischen Konsequenzen des Klimas quasi in Zeitlupe mitverfolgt werden können, ist der Einfluss des Wetters manchmal etwas dramatisch Augenblickliches, zum Beispiel jene vierundzwanzigstündige Ruhe in den Sommerstürmen des Jahres 1944, die die Landung der Alliierten in der Normandie ermöglichte. Oder die stürmische Nordsee im Sommer 1588 – wäre sie nur für ein paar Wochen ruhiger gewesen, wäre die wichtigste Bastion des Protestantismus leicht an die militärisch stärkste katholische Macht gefallen, mit einem Siegeszug der Inquisition und der Intoleranz, dem frühen Ende einer kulturellen Blüte, der Dominanz der spanischen Sprache bis auf den heutigen Tag, und dies in ganz Amerika, auch in den Estados Unidos. Meist ist jedoch das Wetter ein Faktor unter vielen: Es war zwar einer der kältesten Winter der russischen Geschichte, der den Vormarsch der Armeen Hitlers im Dezember 1941 stoppte, aber andere Faktoren spielten auch eine Rolle – der unerwartet heftige Widerstand der Roten Armee, die Weite des Landes mit den Konsequenzen für die Versorgung, der abrupte Wechsel der Hauptstossrichtung der Invasion.

Die spanische Armada. Am 30. Juli 1588 erreichte die Grande y Felicisima Armada den südwestlichsten Zipfel Englands. Mit hundertneunundzwanzig Seglern ein furchterregender Anblick. Dass das Unternehmen kein Erfolg wurde, lag an der englischen Marine und am Spätsommerwetter über der Nordsee und dem Atlantik. Die Schiffe mussten durch regnerische Sturmböen, grosse Teile der Flotte wurden bis zu den Hebriden abgetrieben. Als es ihnen gelang, Schottland und die Nordküste Irlands zu umsegeln, wurden sie von den nächsten Stürmen getroffen. Ausgeprägte arktische Hochdruckgebiete bestimmten das Wetter. In Schottland herrschten Nebelbänke, dann Regensturmböen, dann Orkanböen. Von den hundertneunundzwanzig Schiffen gingen mindestens fünfzig verloren. Die Zahl der durch Unwetter und Schiffbrüche umgekommenen Spanier wird auf über fünftausend geschätzt. England verlor kein Schiff und hatte bedeutend weniger Tote zu beklagen. Mit dem Sieg über Philipps Armada 1588 und den weiteren Rückschlägen für die spanische Marine war der Weg frei für Englands Aufstieg zur Weltmacht.

Napoleons Russlandfeldzug. Am 24. Juni 1812 startete Napoleon ein Unternehmen, das als eine der grossen Wendemarken in die Geschichte einging. Eine entscheidende Rolle spielte das Wetter. Hinzu kamen logistische Probleme. Zwar hatte Napoleon grosse Vorratslager anlegen lassen und sechstausend Fuhrwerke dabei, doch die Vorräte reichten nur für etwa sechs Wochen. Die Pferde sollten von dem leben, was das besetzte Land hergab. Es war zu wenig. Die Tiere verendeten schon in den ersten Wochen zu Tausenden. Dann war da auch noch ein Gegner, der erbitterten Widerstand leistete und bereit war, weite Teile des eigenen Landes zu verwüsten, um den Invasoren keine Lebensmittel, kein Brennholz, keine Zugtiere in die Hände fallen zu lassen. Schon nach vier Wochen war die Lage katastrophal. Die Soldaten hatten nicht genug zu essen und zu trinken. Seuchen breiteten sich aus, vor allem Typhus. Jeden Tag starben im Schnitt tausend Soldaten, viele desertierten oder wurden von den Russen gefangen genommen. Am 14. September zog Napoleon in Moskau ein. In verschiedenen Vierteln der Stadt brach Feuer aus. Ein kräftiger Nordostwind fachte es an, liess Moskau zu einer verkohlten Ruinenlandschaft werden, in der Napoleon nichts finden würde: keine Lebensmittel, keinen Sieg, keinen Frieden. Im Oktober der Rückzug. Es regnete fast ununterbrochen. Die Wege verwandelten sich in Schlammpisten. Anfang November fiel der erste Schnee. Es kam zu Erfrierungen. Dann die Beresina. Dank heroischem Einsatz der Truppen war der Fluss am 27. November überquert. Im weissrussischen Molodechno angekommen, liess Napoleon am 5. Dezember verlauten, die «grausame Jahreszeit» sei für das Desaster verantwortlich, ohne dies näher zu erläutern.

Hitlers Russlandfeldzug. Der Winter 1941/42 war in weiten Teilen Europas einer der kältesten in diesem Jahrhundert. Hitler wusste, wie der Russlandfeldzug Napoleons geendet hatte, was ihn nicht daran hinderte, mit der «Ope ration Barbarossa» loszuschlagen. Wie bei Napoleon sollte das Heer aus den Erträgen des besetzten Landes versorgt werden. Dass die Bevölkerung zu Millionen verhungerte, nahm man in Kauf. Anfang Oktober erfolgte der Angriff auf Moskau. Dann begann es zu regnen. In manchen Regionen schneite es, taute aber bald wieder. Russland versank im Schlamm. Der Nachschub mit Treibstoff und Munition überforderte die Logistik. Es war unerträglich kalt, bis zu minus vierzig Grad. Blut gefror auf offenen Wunden, erfrorene Extremitäten mussten amputiert werden, Panzer und Flugzeuge konnten nicht mehr starten. Die Rote Armee begann eine Grossoffensive vor Moskau. Trotz schwerer Verluste brach die deutsche Front nicht zusammen. Mit dem Ende des Winters stieg die Zuversicht, die Sowjets doch noch zu bezwingen. Doch der Winter 1942/43 endete in Stalingrad, der den Untergang der 6. Deutschen Armee bedeutete. In diesem Fall war jedoch nicht das Wetter für die Niederlage verantwortlich, sondern ein zunehmend gut gerüsteter und motivierter Gegner.

D-Day. Im Sommer 1944 standen die alliierten Truppen in Westeuropa vor einer historischen Aufgabe: der Landung der Briten, Amerikaner, Kanadier und anderer Streitkräfte in Frankreich. Es war die gewaltigste Streitmacht, die je für eine amphibische Landung zusammengezogen wurde, und wahrscheinlich der grösste Umfang an Material, das je einem einzelnen Kriegsherrn unterstand. General Dwight D. Eisenhower gebot über zwei Millionen Soldaten, fast siebentausend Kriegsschiffe, mehr als elftausend Flugzeuge. Aber nicht über das Wetter. Dabei war das Gelingen der Invasion auch davon abhängig. Über dem Zielgebiet durften keine oder nur wenige Wolken sein, um die Fallschirmjäger in den Landezonen abzusetzen. Transportflugzeuge und Bomber benötigten gute Lichtverhältnisse für den nächtlichen Einsatz, also Vollmond. An der Küste der Normandie sollte für eine erfolgreiche Landung die Flut eingesetzt haben. Der Wind sollte keine Geschwindigkeiten von mehr als zwanzig Stundenkilometer aufweisen. Die Sichtweite nicht unter drei Meilen liegen. Der Boden nicht von anhaltenden Regenfällen in Schlamm verwandelt werden. Die gigantische Maschinerie lief in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni an. Die meteorologische Vorhersage erwies sich als zutreffend. Der nächstmögliche Termin wäre der 19. Juni gewesen. In jenen Tagen zog ein Sturm über die Region, der in der Landezone zu schweren Verwüstungen führte. Hätte die Invasion dann stattgefunden, wäre sie für die Alliierten zum Desaster geworden. Wie wäre es dann weitergegangen? Die Rote Armee hätte weite Teile Deutschlands und Europas besetzt. Der Eiserne Vorhang wäre am Rhein oder an der Kanalküste gefallen. Die Sowjetunion wäre die bestimmende Kraft auf dem Nachkriegskontinent gewesen. Die vorübergehende Beruhigung des stürmischen Sommerwetters über der Normandie am 5. und 6. Juni 1944 und die Fähigkeit, diese zuverlässig vorherzusagen, waren ein Segen für Europa.

Vor tausend Jahren war vieles anders. Zum Beispiel das Klima: Im Mittel- und Nordeuropa war es ausserordentlich mild. Grönland und Island waren «grünes Land». Gute Weine kamen nicht nur aus Frankreich und Italien, sondern auch aus Mecklenburg, England und Südnorwegen. Im Süden Deutschlands wuchsen Feigen- und Olivenbäume. In weiten Teilen Europas gehörten harte Winter der Vergangenheit an. In den Alpen schmolzen die Gletscher. Missernten und Hungersnöte wurden seltener, die Menschen vermehrten sich, Energien wurden frei für andere Dinge. Im Hochmittelalter entstanden Kirchen und Kathedralen, Brücken, Aquädukte, Burgen. Man rodete die Wälder, um Raum für landwirtschaftliche Nutzflächen und neue Siedlungen zu schaffen, suchte neue Orte zur Besiedlung. Den Wikingern gelang sogar der Sprung nach Nordamerika. Stürme sollen selten gewesen sein. Die rund drei Jahrhunderte der Mittelalterlichen Warmzeit (von ca. 1000 bis 1300) begünstigten das Überleben in einem Mass, wie es früheren Generationen nicht möglich war.