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Zehn Jahre nach dem Mord an einem jungen Mädchen wird der Täter aus dem Gefängnis entlassen. Als mehrere Mädchen in seiner Nähe überfallen werden, gerät er sofort in Verdacht und wird von Polizei und Bevölkerung gleichermaßen gejagt. Ist der Mann mit den eisblauen Augen eine tickende Zeitbombe - oder unschuldig, wie er behauptet? Als Reporter Jonas Mondrian die Wahrheit herausfinden will, stößt er auf ein altes Verbrechen, das immer noch ungesühnt ist …
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Seitenzahl: 411
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Wolfgang Metzner, geboren 1947, war nach seinem Jurastudium viele Jahre Reporter beim »stern«. Für das Hamburger Magazin schrieb er über Kriminalfälle und Gerichtsverfahren, aber auch über Umweltsünden und Atomskandale. Im Milieu von Anti-Atom-Aktivisten spielte sein erster Thriller »Grüne Armee Fraktion«, der ebenfalls im Emons Verlag erschien. »Eisblaue Schatten« ist der zweite Fall für seinen Ermittler Jonas Mondrian.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/Westend61, iStockphoto.com/POMACHKA Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-780-2 Originalausgabe
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Für Hanne
»Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen,
dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.«
Friedrich Wilhelm Nietzsche
1
schwarz.
alles dunkel. mein atem keucht unter der maske.
ich starre durch zwei schmale schlitze,
sehe ein messer in meiner hand.
rot die klinge, von der tropfen fallen,
rot das laken, in der mitte ein see von blut.
ich sehe, wie ich wieder und wieder…
neiiiiin!
nein, ich will das nicht sehen, nie mehr, aber wenn ich die augen zumache, dann kommt dieser film immer wieder. wie ein video, das ich einfach nicht löschen kann. ich versuche, die stopptaste zu finden, aber die bilder laufen weiter, überscharf, eingebrannt in mein hirn.
zu furchtbar, was ich getan habe.
ich, der mann im schwarzen umhang.
neununddreißig stiche.
ich war nicht ich, als ich das gemacht hab.
dabei hatte der abend eigentlich ganz cool angefangen. halloween, dieser schwachsinn. bin mit ein paar jungs aus othmarschen los an den elbstrand, zum vorglühen. kumpels von früher, aus der schule, vom ego-shooter-spielen oder vom saufen am osterfeuer oder so. kann nicht sagen, dass wir wirklich freunde waren. echte freunde? nein, so was hab ich nie gehabt. das ging eher so, wenn man sich dort, wo ich damals wohnte, mal über den weg lief: hey, was ist los? hast du was zu rauchen? zum schlucken? so sind wir uns auch an diesem abend begegnet, drei oder vier leute, eher zufällig. aber dann ging das ab.
jemand hatte einen sixpack mit, irgendwer anderes red bull und wodka, damit haben wir losgelegt. eigentlich wollten wir mit der s-bahn später noch auf den kiez fahren, aber dann haben wir am strand eine tüte durchgezogen. guter stoff, richtig heftig. vielleicht von dem albaner, der öfter am bahnhof stand und wirklich super ware vertickt hat. ich war jedenfalls so breit, dass ich diese blöde idee hatte: schnell ab nach hause, die totenkopfmaske holen und den schwarzen mantel, diesen sensenmann-umhang, den ich mir früher mal gekauft hatte, als ich noch fan von »scream« und solchen streifen war. schon eine ganze weile her damals, aber ich hatte das zeug noch und dachte, hallo, damit kannst du heute spaß haben, jemanden richtig erschrecken. bloß waren die anderen schon weitergezogen, als ich damit zum elbstrand zurückkam. fuck, dachte ich, ihr arschlöcher, was soll das denn jetzt?
ich war plötzlich allein und ziemlich sauer. inzwischen war es dunkel geworden, und ich hab mich einfach treiben lassen. wollte mal sehen, was ich mit dem abend noch anstellen kann. überall waren typen unterwegs, die feierten, flaschen mit alk kreisen ließen, mädchen mit bemalten gesichtern. narben und geschwüre und so ein zeug draufgepinselt. sollte wohl gruselig wirken. da dachte ich, wartet mal, wenn ich gleich mit der maske und dem knochenkostüm aus dem off komm…
okay, ich hab also die arme hochgerissen und bin auf zwei mädchen losgestürzt, die ein stück abseits von den anderen standen. die haben aber bloß gekichert. und solche sprüche gemacht wie: mensch, guck mal, sieht der nicht niedlich aus? auch die nächste, die ich erschrecken wollte, hat bloß gelacht. zieh leine, du komiker, hat sie gesagt und ihren freund abgeknutscht. ein anderer typ hat gerufen: hau bloß ab, du wichser, sonst kriegst du was auf den sack! da war ich noch angepisster, ich hab eine pille eingeworfen, eine von diesen dingern, die einen ruhig und konzentriert machen sollen. scheiße, dachte ich, so kannst du nicht abtreten. ich wollte noch irgendwas machen, was unternehmen, ich wusste bloß nicht, was. da bin ich einfach durch die straßen getigert, ohne plan, keine ahnung. bis dieser moment kam.
annika.
natürlich, damals wusste ich ihren namen noch nicht. aber ich erinnere mich ganz genau an den augenblick, als ich an einem großen fenster vorbeilief und das gesicht dahinter sah. helles kindergesicht, lange blonde haare, beleuchtet von einem blauen lichtschein. echt überirdisch, dachte ich damals, auch wenn das kitschig klingt. automatisch bin ich stehen geblieben und hab beobachtet, wie sie auf einer couch saß und auf einen tv-schirm schaute. kerzengrade, fast bewegungslos, bis sie manchmal in lachen ausbrach. im fernsehen, das konnte ich erkennen, lief noch was mit comicfiguren, obwohl es schon spät gewesen sein muss.
was macht die kleine denn noch vor der glotze? ganz allein? so was ging mir gleich durch den kopf, weil keiner sonst zu sehen war. das restliche haus, so ein frei stehendes einfamilienhaus, war dunkel. sie kann doch höchstens dreizehn oder vierzehn sein, hab ich geschätzt. und weil ich sie näher sehen wollte, unbedingt, bin ich durch ein loch in der hecke in den garten gestiegen und ans fenster rangeschlichen. hab gerade noch gesehen, wie sie aufgestanden ist und eine lange strickjacke ausgezogen hat, vielleicht von ihrer mutter. dabei ist auch das nachthemd hochgerutscht, das sie schon darunter hatte. in dem blauen licht war ihre weiße haut zu sehen, ihre beine, ihr bauchnabel, alles, fast zum berühren nah…
dann wurde der raum plötzlich dunkel, sie hatte den fernseher ausgeschaltet. aber ich war wie unter strom.
noch heute erinnere ich mich, wie mein puls hochfuhr, ich kann noch genau hören, wie der atem unter meiner maske anfing, schneller zu gehen. es war irgendwie, als hätte ich mich mit einem ruck in einen anderen verwandelt. als wäre ich plötzlich wie so eine figur, die in einem computerspiel unterwegs ist. ein klick, und du bist nicht mehr du, sondern jemand anderes: der sensenmann.
der sensenmann wartet. lauert. beobachtet, wie das licht im treppenhaus für einen moment hell wird. sieht, wie sich ein schatten hinter dem badezimmerfenster oben hin und her bewegt. danach einen warmen schein aus dem fenster daneben und die silhouette eines kindes hinter dem vorhang. das muss ihr schlafzimmer sein, denkt er. und wartet weiter, bis es auch dort fast ganz dunkel wird, vielleicht brennt noch eine kleine bettlampe. noch ein paar minuten, und die zeit ist da.
der mann im umhang drückt die klinke zur kellertür. verschlossen. probiert den nebeneingang. verriegelt. aber das tor zur garage geht auf. kein auto drin. sind die eltern weggefahren? es gibt kein zeichen, dass sich außer dem mädchen noch wer im haus aufhält. und die tür zum flur steht offen. in der küche blitzt im restlicht einer straßenlaterne eine klinge: das messer für den ultimativen kick. nur noch wenige stufen nach oben. nur noch wenige schritte, lautlos, und die zimmertür geht auf. vorsichtig, zentimeter für zentimeter. der sensenmann peilt durch seine sehschlitze: da liegt sie, annika, im schein eines gedimmten nachtlichts, auf ihrem bett. die decke ist halb zurückgeschoben, sie atmet gleichmäßig, rollt sich nach einer weile unruhig zur seite. und reißt plötzlich die augen auf…
was war das letzte, was sie in ihrem kleinen leben gesehen hat? die totenkopfmaske und das messer über ihr? das hab ich mich immer wieder seit dieser nacht gefragt. hatte sie doch etwas gehört? gespürt, wie ich mich über sie gebeugt und ihren duft tief eingeatmet habe? das frage ich mich heute noch, wenn ich an diese sekunden denke. die endlosen sekunden, in denen ich ihren süßen körper von unten bis oben gescannt hab, mit den augen abgetastet, verrückt danach, ihr das nachthemd vom leib zu reißen. ich weiß es nicht, werde es nie wissen. ich weiß bloß, dass sie sich plötzlich halb aufrichtete und den mund aufriss, als wollte sie noch etwas… und dass ich blitzschnell eine hand daraufhielt… und mit der anderen zustieß… einmal… noch mal… es ging so furchtbar leicht, die klinge drang in sie ein, als wäre da überhaupt nichts… immer wieder… ich konnte einfach nicht aufhören, ich war nicht mehr bei mir…
heißt so was nicht blackout? manchmal denke ich jetzt, ich hätte es mir im prozess leichter machen können. hätte ja dem richter erzählen können, dass ich von den entscheidenden sekunden gar nichts mehr wüsste. schwarzes loch. keine kontrolle mehr. oder einfach panik, die kleine könnte mich später identifizieren, wenn ich sie leben lasse. aber das wäre eine lüge gewesen, muss ich zugeben, weil da noch was anderes war.
ich wollte annika nicht nur erschrecken. ich wollte sie… haben.
als ich später im knast war, hab ich mir mal vorgestellt: ich war der leibhaftige tod, der sich einen runterholt.
ja, ich weiß, ich bin ein monster. schon gleich nach dieser nacht bin ich entsetzt über mich gewesen, ehrlich.
aber als ich zugestochen hab, fühlte sich das für mich an wie…
… glück.
2
Wie das kalte Nass auf der Haut prickelte.
Wie die Tropfen von der heißen Stirn perlten.
Wie die Strömung am ganzen Körper entlangstrich.
Was gab es Schöneres an einem Tag wie diesem: Hechtsprung in den Pool, Atem und Zeit anhalten, endlos lange Züge über den Boden gleiten und dann auftauchen, hoch an die frische Luft. Immer wieder machte er das, und es kam ihm vor, als würde er in einer Palette von blauen Farben baden. Unten das tiefe Türkis des Beckengrundes, um ihn die schillernden Töne des Wassers, in dem die gebrochenen Sonnenstrahlen spielten, und oben der toskanische Himmel, eigentlich pures Azur. Nur war das heute nicht ganz so strahlend wie sonst, fand er, sondern etwas trüb. Nicht wegen der weißen Wolkentupfer, die in der Ferne über den mittelalterlichen Türmen von San Gimignano aufzogen, sondern wegen der Reste von Rotwein, die noch in seinem Kopf kreisten. Wie viele Flaschen Chianti Classico, bester Jahrgang, hatte er gestern eigentlich mit Ricarda geteilt?
Stundenlang hatten sie auf der Terrasse des alten Klosters in der samtigen Abendluft gesessen und beobachtet, wie die Sonne hinter den Bergen mit ihren Olivenbäumen und Zypressen wegtauchte und glitzernde Punkte am Nachthimmel aufzogen. Irgendwann waren sie albernd, Arm in Arm, zu dem restaurierten Herrenhaus zurückgekehrt, wo sie seit zwei Wochen in einem Gewölbe aus Backsteinen wohnten. Aber warum hatte er auch dort noch schwankende Sterne gesehen, bei geschlossenen Augen? Und weshalb hörte jetzt eigentlich dieses nervige Geräusch nicht endlich auf?
Es dauerte eine ganze Weile, bis er realisierte, dass es sein Handy war, das schrillte.
Verflucht. Warum hatte er dieses Ding überhaupt an den Pool mitgebracht?
Er stemmte sich am Beckenrand hoch, entdeckte es unter einem Handtuch neben einem Glas mit Orangensaft, in dem Eiswürfel vergeblich um ihr Überleben kämpften, und warf einen Blick auf die Nummer im Display.
Auch das noch.
Hamburg. Seine Redaktion. Der Leiter seines Ressorts.
Der Alkoholnebel mischte sich mit einem vagen Gefühl von Pflichtbewusstsein. Er nahm das Gerät ans Ohr und prustete, wobei er seine pelzige Zunge spürte: »Pronto!«
Nicht dass er wirklich Italienisch konnte. Aber für seinen Ressortleiter sollte das reichen.
»Hallo, wer ist dort?«, fragte Marc Rolfes zögernd. Seine sonst so schneidige Stimme wirkte irritiert. »Mondrian?«
»Che cosa, per favore?«
»Bist du das, Jonas?«
»Si, signore, certo!«
Die Stimme klang fast so theatralisch wie bei waschechten Tifosi. Und während er tropfend am Poolrand stand, brummte Jonas Mondrian mürrisch hinterher: »Mitten in der einjährigen Auszeit, die er sich von seinem Job genommen hat. Schon vergessen, mein Herr?«
»Denkste. Wir genießen hier im Büro jeden Tag ohne dich«, konterte Rolfes. Er hatte sich so schnell wieder gefangen wie ein Boxer nach einem Treffer, aber das war ja auch sein Freizeitsport. »Es gibt hier etwas, das dich interessieren könnte.«
»Mehr als das hier?« Mondrian ließ seinen Blick über die Silhouette der Frau wandern, die sich auf der Liege neben ihm ausgestreckt hatte. Als sie den Kopf hob, glitten ihre nassen Locken bis zu den Hüften hinunter.
»Mehr als was?«, hakte Rolfes nach, leicht ungeduldig.
»Ach, ich schaue gerade über die Hügel der Toskana«, sagte Mondrian vage.
»Im Lügen warst du nie besonders gut, Jonas.«
»Kommt drauf an. Jedenfalls hast du alle meine erfundenen Geschichten gedruckt. Und waren sie noch so verrückt.«
»Gib nicht so an. Als hättest du je bessere Storys erfunden als das Leben. Das schreibt doch immer noch die irrsten Geschichten.«
»Wow, warst du auf’ner Fortbildung?«, fragte Mondrian gespielt ehrfürchtig.
Ohne auf die Ironie einzugehen, antwortete Rolfes: »Ich muss dir was erzählen, was du nicht glauben wirst.«
»Du kannst es ja versuchen«, erwiderte Mondrian spöttisch.
»ThomasK.kommt frei. Der Kinderkiller. Wahrscheinlich schon bald.«
»Okay, Punkt für dich«, räumte Mondrian ein. »Die Geschichte kauf ich dir wirklich nicht ab. Der hat doch zehn Jahre gekriegt. Und anschließend soll er in Sicherungsverwahrung, ohne Ende, bis er…«
»…hinter Gittern verschimmelt?«, unterbrach Rolfes und hüstelte trocken. »Ja, dachten wir alle. Aber die zehn Jahre sind demnächst um. Und ich hab einen vertraulichen Hinweis erhalten, dass er danach vielleicht gleich draußen ist.«
»Obwohl Sicherungshaft beantragt wurde? Das hatte mir jedenfalls der Staatsanwalt versichert. Und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie auch verhängt werden wird.«
»Nur sagen meine Quellen, dass es da ein Problem gibt.«
»Was für ein Problem?«
»Ich weiß noch nichts Näheres«, antwortete Rolfes mit gedämpfter Stimme, »aber ein hoher Bulle hat mir gesteckt, dass sich die Polizei auf den Fall der Fälle vorbereiten soll.«
Mondrian spürte die Kopfschmerzen von seinem Kater nicht mehr. Mit einem Schlag war er nüchtern geworden. Und erst mal stumm.
»Und wenn diese Bestie tatsächlich wieder in die freie Wildbahn entlassen wird«, fuhr Rolfes fort und holte hörbar Luft, »dann müssen wir natürlich dabei sein. Die ganze Medienmeute wird sich auf diese Story stürzen. Also müssen auch wir was dazu machen. Und das wäre dann, sorry, dein Job.«
»Verstehe«, sagte Mondrian nach einer kurzen Pause langsam. »Ich rufe zurück.«
Wie mit einem Klick kamen die Erinnerungen wieder. Vor zehn Jahren hatte er über ThomasK.und Annika geschrieben. Es war damals seine Geschichte gewesen, denn beim Hamburger »magazine« berichtete er immer wieder über Verbrechen, über die Jagd nach den Tätern und die Abgründe, die sich vor Gericht auftaten, wenn die Ursprünge des Bösen erforscht werden sollten. Er war auch an Schauplätzen grausiger Terroranschläge gewesen, hatte Hintergründe von Geheimdienstaktionen und kriminelle Machenschaften der Atomindustrie untersucht. Aber seitdem er Reporter war, hatte ihn noch nie ein Fall so berührt wie dieser brutale Mädchenmord.
»Kopfkino?« Eine warme Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken. Ricarda hatte sich auf ihrer Liege aufgerichtet und schüttelte ihre schwarze Löwenmähne. Tropfen kullerten an ihr hinunter, während sie neugierig zu Mondrian hinüberschaute. »Was steht auf dem Programm?«
Er wandte sich ab. »Das möchtest du gar nicht wissen.«
»Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, sagte die Frau mit den großen jadegrünen Augen. »Als hätte sich eine dunkle Wolke davorgeschoben.«
Mondrian strich sich ein paar feuchte Strähnen aus der Stirn. »Die Redaktion hat angerufen. Wegen einer alten Sache…«
»Was für eine Sache?«
»Ein grausiger Mord. An einem dreizehnjährigen Mädchen.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und merkte gar nicht, dass der Orangensaft inzwischen zur Hälfte aus Wasser bestand. »Die Details erspar ich dir lieber. Aber möchtest du wissen, wie es hinterher bei den Eltern war? Noch nie hat mich ein Job so fertiggemacht.«
Mit einem Handtuch im Nacken ließ sich Mondrian in einen Liegestuhl sinken und erzählte, wie er den Eltern drei Tage nach Annikas Tod gegenübergesessen hatte. In ihrem Haus, auf demselben Sofa, wo ihr Kind ferngesehen hatte, wenige Schritte vom Tatort entfernt. Der Vater, ein schüchterner Bibliothekar, hatte mit tonloser Stimme berichtet, dass er mit seiner Frau gegen ein Uhr nachts von einer Geburtstagsfeier bei Freunden zurückgekehrt sei, eigentlich zu beschwipst, um noch Auto zu fahren. Schon im Flur hätten sie gestutzt, beim Anblick der roten Flecken auf den Fliesen. Dann Blutspuren auf der Treppe. Mein Gott, hatte sich Annika etwa geschnitten?, habe er sich sofort gefragt, sei nach oben gelaufen und in ihr Zimmer gestürzt. Was er dort gesehen habe, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Herr Mondrian, wie sie dort lag, zusammengekrümmt auf dem verwüsteten Bett, das Nachthemd bis oben aufgeschlitzt, darunter eine dunkle Lache auf ihrem Laken, riesig und tropfnass.
»Hat sie noch gelebt, als der Vater sie fand?«, fragte Ricarda vorsichtig.
»Ich hab noch genau im Ohr, wie er erzählt hat, dass er sie hochriss und Mund-zu-Mund-Beatmung versuchte. Er glaubt, dass sie die Augen noch mal aufgemacht und ihn angesehen hat… aber vielleicht wollte er das auch nur glauben…«
Bei der Erinnerung bekam Mondrian auch jetzt, zehn Jahre später, wieder einen Kloß im Hals.
»Er hat sich dann weggedreht und konnte nicht weitersprechen. Und hat geweint.«
Mondrian musste innehalten und schlucken.
»Ich auch.«
»Und die Mutter?«, fragte Ricarda nach einer Weile.
»Hat dabeigesessen, ihre Knie umklammert und kein Wort über die Lippen bekommen. Erst bei einem Treffen ein paar Monate später hat sie mir mal erzählt, dass Annika eine Pferdenärrin und ein Comicfan war. Übrigens ein Wunschkind, mit ärztlicher Hilfe gezeugt.«
Mondrian wischte sich mit dem Tuch das Gesicht ab und warf es dann in einen Korb.
»Die Frau war übrigens Musikerin in einem Orchester. Nach Annikas Tod hat sie ihr Cello nicht mehr angefasst. Sie hat gesagt, dass sie einfach nicht mehr spielen kann. Und in der Stille nur noch ihr Hirn zermartern würde, warum sie ihr Kind allein gelassen hat in jener Nacht.«
»Furchtbare Geschichte.« Ricarda richtete sich langsam auf und band sich die langen Haare zu einem Zopf zusammen, ehe sie nach einer Zigarette griff.
»…die vielleicht eine Fortsetzung haben wird«, sagte Mondrian nachdenklich. »Falls der Täter demnächst tatsächlich aus dem Knast kommt.«
»Wieso? Ich dachte immer, für Mord kriegt man lebenslänglich.«
»Nicht unbedingt. Der Kerl war damals neunzehn. Also Heranwachsender. Und wurde nicht wie ein Erwachsener bestraft, sondern nach Jugendrecht verurteilt. Wegen mangelnder Reife und…«
»Schwere Jugend, dieses Blabla?«, unterbrach ihn Ricarda mit einer Falte zwischen den Augenbrauen.
»Jedenfalls kam er mit der Höchststrafe für Jugendliche davon«, fuhr Mondrian fort, »und diese zehn Jahre sind bald rum. Könnte also sein, dass er demnächst wieder die Gegend unsicher macht. Und wenn es nach der Redaktion geht, soll ich…«
»Ausgerechnet du? Mitten in deiner Auszeit?« Ihre Stimme war lauter geworden, sie pustete eine Tabakwolke in die Luft. »Habt ihr niemanden sonst in eurem Saftladen, der sich um diese Sache kümmern kann?«
Mondrian wollte etwas sagen, aber er ließ es. Natürlich hatte sie recht. Allein in seinem Ressort gab es fünf oder sechs Reporterinnen und Reporter, die sich um Straftäter und Affären im kriminellen Untergrund kümmerten. Mit einer Mischung aus Spott und heimlicher Hochachtung wurde seine Abteilung deshalb auch »Rotlicht und Blaulicht« genannt. Sie musste möglichst für jede Ausgabe des »magazine« den »Mord der Woche« liefern, denn Leserumfragen hatten eindrucksvoll untermauert, dass nichts mehr verschlungen wurde als Storys über brutale Tötungen. Mondrian konnte sich lebhaft ausmalen, dass sich die Kollegen sogar darum reißen würden, den »Fall ThomasK.« zu übernehmen.
Wäre er nicht ein kompletter Idiot, wenn er jetzt nach Hamburg zurückkehren würde? Wenn er diese Frau hier sitzen ließ?
Ricarda Walde.
Sporttaucherin mit chilenischem Vater und indianischen Zügen.
Meeresbiologin und Ökoaktivistin.
Sie war doch so etwas wie sein letzter Coup gewesen.
Mondrian hatte sie bei einem spektakulären Fall um Anschläge auf die Atomindustrie kennengelernt. Hatte sie aus den Fängen des Verfassungsschutzes geholt, der sie zur »Terroristin« stempeln wollte. Hatte sie rumgekriegt, mit ihm durch die Welt zu tingeln, nachdem das Komplott im »magazine« enthüllt worden war. Und jetzt, drei Monate später, sollte er das alles aufgeben? Die toskanischen Morgen mit dem Duft von Espresso und Kräutern, die im Garten vor dem Schlafzimmer wuchsen? Den Blick über die verfallene Kapelle auf die Stoppelfelder in der Mittagshitze? Die lauen Abende in der Trattoria und die Nächte mit einem Violinkonzert von Bach im Ohr und einer Halbgöttin, deren athletische Figur in Carrara-Marmor gehauen gehörte?
»Ich fahre«, sagte Mondrian.
»Was…?« Ricarda brauchte einen Moment, um das zu begreifen, was sie gehört hatte. »Sag das noch mal!«
Aber er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Weil sie es sowieso nicht verstanden hätte. Weil niemand begreifen würde, warum er bereit war, aus dem Paradies auszuziehen, um an einen grauen Schreibtisch in einer grauen Stadt zurückzukehren.
Sicher, ein Spezialist für die Leichtigkeit des Seins war er nie gewesen. Eher ein Grübler, der vieles hin und her wendete, während er sich an den wild wuchernden Augenbrauen oder den Bartstoppeln in den eingefallenen Wangen kratzte. Er hasste die Dauergrinser, die immer gut drauf waren. Er selbst, das musste er sich eingestehen, musste sich manchmal regelrecht Mühe geben, locker zu sein. Nicht etwa, dass er nicht abhängen konnte. Faule Tage verdösen. In der Hitze chillen, dem Sirren der Zikaden lauschen und das Gehirn auf Nulllinie schalten. Aber dann meldete sich diese Unruhe wieder.
Neugier.
Was für ein komisches Wort. Aber war das nicht wirklich eine Gier, die ihn trieb, die Sucht, immer vorn zu sein, am Puls der Zeit, zu wissen, was gerade vor sich ging, um den Lauf der Dinge zu verstehen?
»Du bist ja verrückt geworden«, stieß Ricarda wütend hervor, während ihre Augenlider zu zittern begannen. »Weißt du was? Deine Frau hatte recht, als sie von dir abgehauen ist und gesagt hat, dass du mehr an deinem Job hängst als ein Junkie an seiner verfluchten Spritze!«
»Nur ist mein Stoff besser«, erwiderte Mondrian, während er sich langsam über sie beugte, um ihr einen Kuss auf den Bauch zu geben. Auf eine Stelle tief unten, wo eine große Narbe nach einer Geschichte zurückgeblieben war, über die sie nie sprach. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm davon erzählt.
Mit einem Ruck wandte sie sich ab und drehte ihm ihren Rücken zu.
»Merda, leck mich am Arsch«, murmelte sie leise, während sie sich auf der Liege ausstreckte und die Augen schloss.
3
Nein, so einen Himmel, so bleigrau und tief, hatte er eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Schon als die Maschine zum Landeanflug in die Wolkenbänke tauchte, zogen sich Tropfen schräg über die Kabinenfenster. Und kaum dass der Jet aufsetzte, flogen Gischtfetzen. Über die nasse Piste rollte er zu einem Gate am Terminal2.
»Moin, moin, willkommen in Hamburch«, nuschelte der Taxifahrer, schätzungsweise ein Afghane, als Mondrian das Flughafengebäude verließ und im Nieselregen in den Wagen stieg.
Weil er keine Lust auf Small Talk über »Schietwetter« hatte, schob er sich die Earplugs in die Ohren, sobald sie in Richtung Hafen starteten.
»Goin’ home« von den Stones. Bill Wymans pulsierender Bass, Keith Richards geschrubbte Riffs, Mick Jaggers dreckige Stimme.
»I’m goin’ home, bome, bome, bome-bome-bome
home, bome, bome, bome, back home
Yes, I will…«
Kein schlechter Song, um zu einer alten Liebe zurückzukehren, dachte er, während sie durch die Straßen von Eppendorf glitten. Auch wenn es jetzt nicht um eine Frau ging, sondern um diesen Kasten aus Stahl, Glas und Hochmut, der schon von Weitem zu sehen war. Mit Leichtigkeit überragte der Media Tower die Speicherstadt mit ihren rotbraunen Backsteinkontoren, als sie sich der Elbe näherten und in die HafenCity einbogen. Dort schoss der glitzernde Gigant, in dem das »magazine« residierte, zwischen anderen Neubauten siebzehn Stockwerke in die Höhe.
Mondrian spürte, wie sein Puls schneller ging. Da war sie wieder, diese hektische, nervöse Medienmaschine, die rund um die Uhr lief, in der Menschen und Informationen aus allen Ecken der Welt zusammenströmten. Nur zu gern kultivierten die Journalisten dort das Selbstbild, cool zu sein und cool zu bleiben, was immer auch geschah. Für Mondrian eine Fassade, mit der er nichts anfangen konnte. Sein Adrenalin schoss jedes Mal nach oben, wenn er sich diesem Kraftwerk am Elbufer näherte und das Verlagsgebäude betrat, um mit dem Lift in schwindelerregende Höhe über die Stadt zu fahren.
»Zurück in der Airport-Absteige?«, spottete ein Auslandsreporter, der ihm gleich im Foyer über den Weg lief.
Nicht nur dieser Kollege lästerte gern über den Neubau, der vor drei Jahren unweit des Kreuzfahrtterminals errichtet worden war. Auch andere fühlten sich darin wie in einem seelenlosen Hotel am Flughafen irgendeines arabischen Emirats, weil man in der hohen Innenhalle schmucklosen Beton und frei schwebende Lifte an nackten Kabeln sah. Für Mondrian war das die Arroganz von Vielfliegern mit zu vielen Bonusmeilen. Er mochte diesen Kasten mit seinen mächtigen metallischen Streben, der ihn an einen riesigen Stapel von Containern erinnerte, und er kam gern hierher zurück, auch wenn ihm bewusst war, dass Journalisten für viele Menschen draußen nicht mehr die Helden, sondern die Arschlöcher der Nation waren. Aber er wusste, dass er hier zu Hause war, und es fühlte sich gut an, als er im obersten Stockwerk aus dem Fahrstuhl stieg und mit schnellen Schritten zum Konferenzsaal ging.
Der Raum war halb abgedunkelt, das Elf-Uhr-Meeting hatte schon begonnen. Alle Augen waren auf das Foto eines brennenden Hochhauses gerichtet, das ein Beamer auf eine Bildwand über den Köpfen warf. Wie jeden Tag waren über hundert Reporter und Redakteure um einen mächtigen ovalen Tisch zusammengekommen, um über große Geschichten für das nächste Heft des »magazine« und schnelle Storys für die Onlineausgabe zu diskutieren. Den Auftakt dazu machten seit Kurzem die »Top Ten«: Ein Team von Bildspezialisten suchte regelmäßig die zehn aufregendsten Aufnahmen aus den letzten vierundzwanzig Stunden aus, um Impulse für das Brainstorming zu geben. Jetzt stieg auf der Projektionswand eine riesige Qualmwolke aus einem Wolkenkratzer, der in Flammen stand.
»Schöne Grüße von Ground Zero«, kommentierte der Mann am Beamer die Aufnahme, die gerade aus Shanghai eingetroffen war, »jetzt ist der Terror auch in China angekommen. Bisher über vierhundert Tote, sagen die Nachrichtenagenturen.«
»Und die Attentäter?«, fragte die Chefredakteurin, Vanessa von der Heyde, von der Stirnseite des ovalen Mahagonitisches, um den die Abteilungsleiter saßen.
»Wahrscheinlich Islamisten«, antwortete der Leiter des Auslandsressorts mit seiner jungenhaften Stimme, »werden immer gefährlicher für Peking. Ihr Vormarsch in Asien könnte auch für uns ein heißes Thema sein.«
»Genau wie der Krieg im Süden der Sahara«, sagte jemand von den Bildbeschaffern, als das nächste Foto an die Wand projiziert wurde. Es zeigte ein Autowrack in einem Sandkrater, aus dem ein zerfetzter Körper in einem Umhang herausragte. Neben dem verkohlten Wagen lagen offenbar Leichenteile.
»Drohneneinsatz mit Volltreffer«, erklärte ein Mitglied des Ressorts Spezielle Recherchen aus dem Halbdunkel, als würde er eine Gewinnzahl ansagen. »Bingo!«
»Und wie viele Zivilisten wurden dabei getroffen?«, meldete sich jemand empört aus der zweiten Reihe. »Wie viele Unbeteiligte?«
»Über Kollateralschäden«, kam die trockene Antwort, »existieren keine Erkenntnisse. Jedenfalls nicht offiziell.«
»Umso dringender, dass wir das recherchieren«, sagte die Chefredakteurin und gab ein Handzeichen für den nächsten Schuss.
Eisbärenbabys, ölverschmiert. Auf einer treibenden Scholle.
»So was ist das Ergebnis der sogenannten Probebohrungen in der Arktis«, sagte eine Stimme, die zu einer jungen Geologin aus dem Bereich Wissen und Forschung gehörte.
»Immer langsam«, warnte ein Bildredakteur, »das könnte auch ein Fake von einer Greenpeace-Aktion sein, die gegen Ölgewinnung am Pol protestiert.«
Weitere Klicks, und missgebildete Fische im Meer vor Fukushima waren zu sehen, die Hinrichtung einer angeblichen Ehebrecherin in Arabien, Kinderarbeit in einer Textilfabrik in Bangladesch und die Leiche eines New Yorker Brokers, der sich nach dem letzten Kurssturz an der Wall Street von der Brooklyn Bridge in den Tod gestürzt hatte.
»Puh, alles Elend dieser Welt zusammen«, stöhnte Vanessa von der Heyde, als auch noch die zukünftige Alterspyramide Deutschlands gezeigt wurde: fette Balken bei Frauen und Männern über siebzig, achtzig, neunzig. »Gibt es denn gar nichts Positives? Etwas, das Lust aufs Leben macht?«
»Joho«, meldete der Leiter des Ressorts »Life and Style«, triumphierend, »wir haben drei holländische Girls aufgetan, die wirklich zum Anbeißen sind.« Auf einen Wink von ihm erschien eine Aufnahme von drei Mädchen mit runden Backen. »Die haben auf Facebook zu einer Massensause eingeladen. Motto: fuck for free.«
»Nee, bloß nicht«, rief eine nicht mehr ganz junge Autorin, die in Kolleginnenkreisen als Fan von Swingerpartys galt, »so’n alter Käse! Sollen wir diesen Kids wirklich eine Bühne für ihre Spielchen geben?«
»Dann vielleicht dieser Hundertjährige, der sein Haus verließ.« Jemand aus der Abteilung »Sports and Adventure« gab dem Mann am Beamer ein Zeichen. Das Porträt eines faltigen Greises in Outdoorklamotten tauchte über den Köpfen auf. Auf dem nächsten Bild war sein Gesicht bedeckt von einer Sauerstoffmaske. »Der erste Mann dieses Alters, der den Everest bestiegen hat. Jedenfalls behauptet das seine Agentur.«
»Weil er ein Buch darüber machen will, hab ich recht? In Wirklichkeit haben ihn wahrscheinlich Sherpas in einem Sessel hochgetragen«, spöttelte die Chefredakteurin. Mit einem Knopfdruck ließ sie die Rollos an den riesigen Fensterscheiben hochfahren, und ihr fein geschnittenes Gesicht schälte sich aus dem Dunkel. Es erinnerte so verblüffend an die jüngere Catherine Deneuve, dass man meinen konnte, ein Double der französischen Schauspielerin aus früheren Jahren säße vorn im Raum.
Die ehemalige Leiterin des Moderessorts, wie immer extravagant und stilvoll gekleidet, hatte erst kürzlich den Chefposten von einem wuchtigen Alphatier männlichen Geschlechts übernommen. Nicht etwa wegen ihres blendenden Aussehens oder auf Druck der »Female First«-Gruppe im Verlag, die unbedingt Frauen in Top-Positionen hieven wollte. Vanessa besaß eine natürliche Autorität, die sie ständig ebenso umgab wie der Duft eines edlen Parfüms. Deshalb hatte man ihr eher zugetraut, die Hahnenkämpfe und Zickenkriege unter Kontrolle zu halten, die in der Redaktion ständig aufflammten. Jetzt blickte sie lächelnd in die Runde und sagte: »Bevor wir gleich über die neuesten Turbulenzen an den Finanzmärkten und die Politik in Berlin reden, die mal wieder gähnend langweilig ist…«
»Moment mal, da bin ich ganz anderer Meinung!«, unterbrach sie Cornelius Riesling, der Leiter des Politikressorts, in beleidigtem Tonfall.
»…bevor wir also über die megaspannende Politik in unserer Hauptstadt streiten«, fuhr sie mit einem Blick auf das blasse Gesicht des überdimensional bebrillten Politikchefs fort, »möchte ich erst mal eines wissen.« Sie wandte sich Marc Rolfes zu, dem Leiter der Task-Force, die für Polizei und Justiz zuständig war. »Haben wir auch ein Foto von dem Mann, von dem du mir vorhin erzählt hast? Von diesem Mörder, der vielleicht bald entlassen wird?«
»Negativ«, antwortete Rolfes, der in der Redaktion den Spitznamen »Cop« trug, weil er intime Beziehungen zur Polizei pflegte. In seiner Freizeit war er dort häufig am Schießstand, wenn er nicht gerade im Gym des Media Tower seinen Sixpack trimmte. Und mit sarkastischem Unterton schob er hinterher: »Persönlichkeitsschutz. Als der Kerl vor Gericht stand, war er neunzehn. Schon damals durften wir nur ein gepixeltes Bild von ihm zeigen, auf dem er nicht wirklich zu erkennen war. Jetzt ist er neunundzwanzig, und soweit wir wissen, wurde seit Jahren kein Foto mehr von ihm gemacht.«
»Und wie ist der Stand jetzt?«
»Noch ist er im Knast«, sagte Rolfes und wandte sich an die große Runde, als er fragende Blicke bemerkte, »ThomasK., der Halloween-Killer, wie er von der Presse genannt wurde. Hat die dreizehnjährige AnnikaB.in ihrem Elternhaus zu Tode gemetzelt, während Vater und Mutter bei Freunden feierten. Könnte gut sein, dass er demnächst aus Santa Fu rauskommt, weil die zehn Jahre rum sind, die er damals bekommen hat.«
»Nur zehn Jahre?«, rief jemand von hinten dazwischen.
»Ist es nicht ein Skandal«, fragte Hubert Birk, der Artdirector vorn am Tisch, »dass so einer überhaupt wieder auf die Menschheit losgelassen wird?« Seine blond getönten Haarsträhnen rutschten zur Seite, als er missbilligend den Kopf schüttelte.
»Wieso?«, wandte ein junger Grafiker in einem gestreiften Polohemd ein. »Wenn er seine Strafe abgesessen hat?«
»In wenigen Tagen«, bestätigte Rolfes und nickte grimmig.
»Das kann doch nicht wahr sein, dass so einer einfach freikommt«, empörte sich die Assistentin des Artdirectors mit einer schrillen Stimme, die fast überkippte, »in einer Zeit, in der immer mehr Verbrechen an Kindern passieren!«
»Täglich elf misshandelte und neununddreißig sexuell missbrauchte Mädchen und Jungen, laut Bundeskriminalamt«, verkündete Rolfes mit einem Blick auf ein Papier, das er aus einer Tasche hervorgekramt hatte, »jede Woche drei Fälle, bei denen ein Kind zu Tode kommt.«
»Aber gibt es nicht den altmodischen Grundsatz«, hielt ein ergrauter Kulturredakteur mit Strickjacke und pinkfarbener Fliege dagegen, »dass jeder eine zweite Chance verdient?«
»Stopp«, unterbrach Vanessa von der Heyde das einsetzende Gemurmel, »eines ist jedenfalls klar. Das kann der Aufreger der Woche werden. Bei Politik und Bevölkerung herrscht Alarmstufe Rot, wenn die Justiz so einen Mann laufen lässt.«
»Aber sollte der Halloween-Mörder nicht nach seiner Strafe in Sicherungsverwahrung genommen werden?«, fragte der Politikchef spitz und strich sich einen imaginären Fussel vom Anzug. »Ich meine, das hätte ich irgendwo gelesen.« Jeder im Raum wusste, dass der »Dozent«, wie Riesling wegen seiner altklugen und belehrenden Art genannt wurde, Rolfes nicht ausstehen konnte.
Und umgekehrt.
»Nun«, antwortete der »Cop« betont vage und fuhr sich über sein imposantes glatt geschorenes Haupt, »wir haben gewisse Hinweise, dass sich da bei der Justiz ein Problem anbahnt…«
»Hinweise? Welcher Art? Woher?«, insistierte Riesling und kaute auf seiner etwas altertümlichen Hornbrille.
»Das werde ich in dieser großen Runde kaum erläutern, Herr Kollege«, gab Rolfes zurück und grinste den Leiter des Politikressorts böse an. »Darum wird sich der Mann kümmern, der schon damals für uns eine Titelgeschichte über den Fall geschrieben hat.«
Er drehte sich um zu den Reihen hinten an der Tür, wo Mondrian gerade noch Platz gefunden hatte.
»Jemand, der ein bisschen eigenwillig ist, um es vorsichtig zu sagen…«
Erste Lacher.
»…unser Lone Wolf…«
Noch mehr Lacher.
»…eben eingeflogen aus dem Land der Mafia, weil ich ihm ein Angebot gemacht habe, das er nicht ablehnen konnte.«
Der »Cop« streckte seinen rechten Arm samt Zeigefinger aus und tat so, als würde er mit einer Pistole auf Mondrian zielen.
»Willkommen zurück, Jonas, freut mich, dass du wieder an Bord bist.«
Irgendwo begann jemand leise zu klatschen, und andere folgten.
Mondrian spürte, wie sich die Blicke auf ihn richteten. Bei seinem Eintreffen hatten ihm ein paar Freunde im Halbdunkel zugewinkt. Jetzt, im hellen Licht, kam es ihm vor, als würden alle auf seinen sommerlichen Leinenanzug starren, der wie üblich ziemlich zerknittert wirkte.
»Mensch, ist dir nicht peinlich, wie du aussiehst?«, fragte Vanessa von der Heyde. Und verzog dann ihren dezent geschminkten Mund zu einem breiten Grinsen. »Du bist ja brauner geworden, als die Polizei erlaubt.«
»Halb so schlimm«, antwortete Mondrian, »wird schon wieder nach ein paar Tagen in der norddeutschen Tiefebene.«
»Bloß nicht«, feixte Bruno Wunder, sein engster Vertrauter im Ressort, »ist doch’ne prima Tarnfarbe. Damit können wir dich ab sofort besser für Recherchen unter albanischen Killern einsetzen.«
»Jetzt ist erst mal die Drecksau vor unserer Tür dran, der HerrK.«, unterbrach ihn Rolfes und gab Mondrian ein Zeichen. »Komm mal eben mit raus.«
Er trat mit ihm auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. »Ich hab dir eine vertrauliche Mail weitergeleitet, die heute Morgen von meiner Quelle gekommen ist. Schau dir das doch gleich mal an«, sagte er leise, bevor er wieder im Konferenzraum verschwand.
Mondrian stieg die Treppe zu seinem Büro hinunter, das im fünfzehnten Stock lag, schloss die Tür auf, warf einen Blick in den hellgrau gestrichenen Raum, in dem ihn zwei Cracksüchtige, ein Rocker und der Boss einer Jugendgang begrüßten: Porträts von seinen Reportagen, die mit Magneten an die Wand geklemmt waren. Auf dem Schreibtisch lag eine neue Ausgabe der »Kriminalistik«, der Fachzeitschrift für Kripobeamte, mit Artikeln über Spurensuche und Profiling, die jemand vor Kurzem für ihn dort hingelegt haben musste, daneben eine frische Einladung zu einer Tagung mit Staatsanwälten und Richtern. Sonst sah alles unverändert aus. Tabula rasa, wie er das liebte. Keine Papierstapel, die den Kopf zumüllten.
Als hätten sie auf dich gewartet, dachte er.
Er trat für einen Moment an das bodentiefe Fenster, aus dem man wie ein Adler auf das silbern schimmernde Band der Elbe und den Hafen hinunterschauen konnte. Dann setzte er sich an seinen Computer, atmete tief durch und drückte die Starttaste.
Er fühlte ein leichtes Kribbeln, als der vertraute Akkord erklang.
Home, Jonas, back home.
Der Jäger ist zurück in seinem Revier.
Er hatte genau tausendvierhundertsiebenunddreißig Eingänge auf seiner magazine.de-Adresse, aber jetzt interessierte ihn nur ein einziger. Die weitergeleitete Mail von Rolfes, die er mit einem Klick öffnete.
»Betreff: halloween-killer, hintergrund
thomas k. hat einen neuen rechtsverdreher: eine frau, auch noch eine blondine. laut kontakt bei der justiz plant sie eine überraschung vor gericht. soll abgezockt sein, viel glück.
name:KIRSCHNER. vorname:ZOE.
PS: burn after reading«
4
Sie war keine Frau, die etwas dem Zufall überließ. Schon gar nicht, was ihr Äußeres anging. Gleich morgens war sie bei der Kosmetikerin gewesen, um ihrem ebenmäßigen Gesicht den perfekten Teint zu geben und eine winzige Narbe an der Wange zu überschminken. Der ungewöhnlich helle Ton, »Sand« mit einem Hauch von Weiß, sollte auffällig mit dem Rubinrot kontrastieren, das sie später mit Gloss auf ihre Lippen auftragen wollte. Nachher würde die Friseurin auch noch den dicht gewachsenen aschblonden Haaren neuen Glanz verleihen und sie so legen, dass sie in einem kühnen Schwung über die linke Schulter fielen. Das passte gut zu ihrem Typ, fand sie: »Mit deiner Länge und Figur hättest du für Helmut Newton Modell stehen können«, hatte ein angesäuselter Modefotograf ihr mal auf einem Empfang geschmeichelt, während er offensichtlich dabei gewesen war, sie mit seinen lüsternen Blicken auszuziehen.
Natürlich wusste Zoe Kirschner, dass viele Männer sie nur auf das eine reduzierten, diesen in jeder Hinsicht großzügigen Körper, mit dem sie gesegnet war. So what? Ihr machte das nichts aus, im Gegenteil. Sie hatte längst beschlossen, ihr Äußeres als Waffe einzusetzen, wenn ihr das nutzen konnte. Schon als Studentin der Rechtswissenschaft in Marburg hatte sie in Seminaren und Prüfungen gelernt, welche Wirkung sie auf nervöse männliche Dozenten ausübte. Und jetzt amüsierte sie sich innerlich immer wieder über Geschlechtsgenossinnen, die über lästige Männerblicke klagten– noch mehr allerdings über Männer, die sich politisch korrekt diesem Lamento anschlossen. Solche hilflosen Annäherungsversuche empfand sie eher als Komplimente, über die sie heimlich schmunzeln konnte. Warum sollte sie nicht stolz darauf sein?
Gerade in den staubtrockenen Fluren der Gerichte, das hatte sie als junge Anwältin gleich erfahren, drehten sich die Köpfe schnell nach einer Frau um, die auch auf dem Laufsteg hätte arbeiten können. Dabei galt in den heiligen Hallen der Justiz ja eigentlich das Gesetz der Zurückhaltung. Etikette. Distanz. Deswegen hatte sie für ihre ersten Termine beim Amtsgericht vor sechs Wochen extra ein zurückhaltendes Kostüm zu einer hochgeschlossenen weißen Bluse gewählt. Und auch heute trug sie die anthrazitfarbene Jacke und den Bleistiftrock, als sie soeben von zwei Verhandlungen zurückkehrte, einem Mietstreit und einem Verkehrsvergehen, Kleinkram, der zum neuen Job dazugehörte und rasch erledigt war.
Aber jetzt wollte sie sich noch einmal auf ihren ersten großen Fall vorbereiten, zu dem sie morgen ins Kriminalgericht geladen war. Das kann der Durchbruch für deine Karriere werden, dachte sie, während sie in ihrer neuen Kanzlei saß, die sie erst vor wenigen Tagen nahe der Binnenalster bezogen hatte. Colonnaden, eine der besten Adressen Hamburgs, weißes Gebäude mit Säulenelementen und reichlich Stuck. Fast ihre ganze Erbschaft hatte sie in das kleine Büro im dritten Stock gesteckt, nur eine Hilfskraft für den Empfang konnte sie sich noch nicht leisten. Deswegen hob sie seufzend den Blick von den Akten auf ihrem Arbeitstisch und stand selbst auf, als es zum dritten Mal klingelte. Offenbar jemand, der so lange nerven würde, bis sie aufgab. Sie schlängelte sich durch Umzugskartons, die noch ungeöffnet neben den provisorischen Regalen herumstanden, und öffnete die Tür.
Ein mittelgroßer Mann, der ihr direkt in die Augen blickte. In dem schmalen Gesicht mit kantigen Zügen einer dieser Vier- oder Fünftagebärte, die sie ziemlich furchtbar und längst unmodisch fand. Dunkelblonde, zu lange Haare mit ersten silbergrauen Strähnen, die hinter die Ohren gestrichen waren, um sie halbwegs zu bändigen. Könnte ein nicht mehr ganz taufrischer Typ aus der Kunstszene sein, der nicht gerade vom Erfolg verwöhnt wurde, irgendwo um die fünfzig vielleicht, schätzte sie, während ihr Blick das leicht ausgebleichte Sakko und die natürlich gealterten Jeans taxierte. Trotz allem, musste sie zugeben, sah der Kerl gut aus.
»…’n Tag«, sagte er mit einer etwas zerkratzten Stimme und räusperte sich, »ich würde gern mit Frau Kirschner sprechen.«
»Das tun Sie bereits.«
»Ach, ich dachte…«
»…dass Sie mit der Sekretärin reden? Tut mir leid, so etwas gibt es hier noch nicht. Ich bin Zoe Kirschner. Haben Sie auch einen Namen, den ich erfahren darf?«
»Jonas Mondrian«, sagte der Mann leicht perplex. Die senkrechten Falten an seinen Mundwinkeln verschwanden, als er ein gewinnendes Lächeln versuchte. »Ich bin vom ›magazine‹…«
»…und Sie meinen, dass die Weltpresse natürlich keine Voranmeldung für einen Termin braucht?«
»Sorry, aber ich habe Sie telefonisch einfach nicht erreicht.«
Zoe Kirschner lächelte spöttisch zurück. War das die Lüge, die alle Journalisten benutzten? So etwas hatte sie mal gelesen. Sie fielen lieber gleich ins Haus, um bei Anrufen nicht abgewimmelt zu werden. »Wenn Sie schon hier sind, kommen Sie eben herein.«
Sie führte ihn durch den frisch gestrichenen Flur in ihr Arbeitszimmer, das gleichfalls noch nach Farbe roch. Mit einer eleganten Handbewegung deutete sie auf einen hellgrauen Designersessel, der ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Auf der Glasplatte, makellos poliert, lagen nicht nur aufgeschlagene juristische Fachzeitschriften, sondern auch ein Fitnessmagazin, unter dem Karten für den nächsten Boxkampf mit einem Schwergewicht aus der Ukraine hervorlugten.
Betont aufrecht setzte sie sich dahinter. »Und was ist nun der Grund für diesen Überfall?«
»Das haben Sie bestimmt längst erraten«, sagte der Mann, während er sich schräg in das Polster sinken ließ. »Ich möchte mit Ihnen über einen bestimmten Mandanten reden. Vertraulich.«
»Ist Ihnen klar, dass ich das gar nicht darf? Anwaltsgeheimnis.«
»Ach, kommen Sie. Soll ich Ihnen erst mein Journalistengeheimnis verraten? Ich weiß, dass Sie Thomas Kern vertreten. Ich weiß, dass Sie ihn aus dem Knast rausholen und die Sicherungsverwahrung für ihn abwenden möchten…«
Er wartete einen Moment, aber sie widersprach nicht.
»…und ich würde gern eine Ahnung davon kriegen, wie Sie das anstellen wollen.«
Zoe Kirschner hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen. »Warum sollte ich Ihnen das sagen?«
»Weil ich dann einen Vorbericht darüber auf magazine.de publizieren könnte«, antwortete der Mann und blickte sie vielsagend an. »In dem natürlich auch Ihr Name vorkäme. Hat noch nie einer jungen Anwältin geschadet, wenn sie in den Medien erwähnt wird.«
So also möchtest du mich ködern, schoss es Zoe Kirschner durch den Kopf. Hinter vorgehaltener Hand hatte sie von älteren Kollegen davon schon gehört: Informationen gegen Publicity, das war der Deal, den viele Verteidiger mit Journalisten abschlossen. Glaubt dieser Kerl wirklich, dass ich so leicht käuflich bin?
»Besten Dank für das Angebot«, antwortete sie und verzog keine Miene. »Aber weshalb sollte ich gerade mit einem Reporter kooperieren, der bisher ganz einseitig über den Fall berichtet hat?«
»Dann haben Sie also gelesen, was ich vor zehn Jahren darüber im ›magazine‹ geschrieben habe?«
»Davon können Sie ausgehen.« Sie stützte ihre Ellbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände. »So wie ich alles nachgelesen habe, was bis heute über meinen Mandanten erschienen ist. In Ihrem Bericht sind damals nur Annikas Eltern zu Wort gekommen– leider. Thomas Kern fand darin überhaupt nicht statt.«
»Das lag daran, dass sein damaliger Verteidiger alle Anfragen abgeblockt hat«, versuchte Mondrian zu erklären.
Aber Zoe Kirschner ließ sich nicht beirren. »Trotzdem war es fahrlässig, den Fall nur von einer Seite zu sehen. Sie sollten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass mein Mandant keineswegs bloß das Monster ist, zu dem ihn alle Medien gemacht haben…«
»…sondern ein fast normaler junger Mann, der leider im Suff mal die Realität mit einem Killerspiel am Computer verwechselt hat?«
Zoe Kirschner stand ruckartig auf. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Haare schwangen. »Warten Sie es ab! Kommen Sie morgen früh ins Kriminalgericht, Saal243.«
Ihr Handy klingelte. Sie griff danach, schaute kurz auf das Display und stand auf.
»Sind wir dann fertig?«, fragte sie spitz und ging in den Nebenraum.
Jonas Mondrian holte tief Luft. Missmutig beobachtete er, wie hundertzweiundachtzig Zentimeter Hochglanz-Beauty aus dem Zimmer stöckelten, um hinter der angelehnten Tür zu telefonieren.
Verflucht, bisher nicht gut gelaufen.
Wie ein blutiger Anfänger hast du dich aufgeführt, musste er sich eingestehen. Du hättest wenigstens mal im Internet recherchieren können, wie diese Dame aussieht. Dann hättest du dir die peinliche Szene bei der Begrüßung erspart. Und auch sonst hast du mit deinem Recherche-Lächeln bei ihr bisher nichts erreicht.
Wütend auf sich selbst ließ Mondrian so schnell wie möglich seine Augen über ihren Schreibtisch wandern, während er ihre gesenkte Stimme von nebenan hörte. Ein Stoß Akten. Die oberste aufgeschlagen. Über Kopf las er: »Forensisch-psychiatrische Begutachtung«. An vielen Seiten hafteten gelbe Klebezettel, voll mit Fragezeichen und Notizen. Aber noch bevor er Einzelheiten erkennen konnte, bekam er mit, wie Zoe Kirschner leise im Nebenraum sagte: »…bis gleich also.«
Mit entschlossenen Schritten kam sie zurück in ihr Büro.
»Ich muss leider fort.«
»Nur eines noch«, sagte Mondrian, während er sich langsam erhob. Er schaute sie direkt an und fragte: »Warum vertreten Sie überhaupt jemanden wie Kern?«
Sie hielt seinem Blick mühelos stand. »Weshalb nicht?«
»Ich kenne Rechtsanwältinnen, die Männer unter keinen Umständen verteidigen würden, wenn sie ein Kind getötet oder eine Frau vergewaltigt haben«, sagte Mondrian, »aus Prinzip nicht. Weil sie Frauen sind.«
»Ich finde, dass jeder ein Recht auf anwaltliche Hilfe hat«, erwiderte Zoe Kirschner scharf. Und lächelte dann leicht. »Selbst Sie, wenn Sie mal wieder jemanden hingerichtet haben. Journalistisch, meine ich natürlich.«
Sie hielt die Tür auf und streckte zum Abschied ihre perfekt gepflegte Hand aus.
Ein Rausschmiss erster Klasse, dachte Mondrian, während er die Treppen hinunterstieg.
Sobald er auf der Straße angekommen war, drückte er sich in den schräg gegenüberliegenden Ladeneingang und starrte in das Schaufenster, als würde er die überteuerten Herrenanzüge in der Auslage studieren. Er brauchte nicht lange zu warten. Die blank geputzte Scheibe spiegelte, wie Zoe Kirschner aus dem Haus mit ihrer Kanzlei trat. Ihm fiel sofort auf, dass sie jetzt die Lippen geschminkt hatte. Im Gedränge der Passanten eilte sie zur Esplanade. Dort wartete ein JaguarXJ6 mit laufendem Motor am Straßenrand.
Mondrian sah, wie sie einstieg und den Arm um den Fahrer legte. Dann gab sie dem Mann mit auffallend weißem Schnäuzer einen Kuss.
5
Der Wagen fiel ihm sofort auf, als er von Planten un Blomen herübergelaufen kam und sich dem Strafjustizgebäude näherte.
Jaguar XJ6, Hamburger Kennzeichen, Aufkleber von Sylt.
Und voll im Halteverbot.
Die Luxuskarosse parkte fast direkt vor dem protzigen Gerichtspalast am Sievekingplatz, wo die Besucher am Eingang Schlange standen. Auf der Treppe zur turmgekrönten Pforte warteten sie ungeduldig auf ihre Kontrolle, während Mondrian mit seinem Presseausweis einen Seiteneinlass passieren durfte. Er musste sein Handy abgeben, bevor Justizbeamte ihn durch einen Metallscanner schickten und auf Waffen untersuchten. Über die wuchtigen Steintreppen stieg er nach oben, bis er den Saal243 erreichte, vor dem bereits eine Menschentraube stand. Er zwängte sich durch und erwischte drinnen noch gerade einen freien Platz auf der Reporterbank. Als er seine Augen durch den holzgetäfelten Saal wandern ließ, wusste er sofort, wem der Sportwagen gehörte. Der Mann mit dem weißen Schnäuzer saß an dem Tisch, der für die Gutachter bestimmt war, die Krawatte gelockert, das Sakko blau-weiß gestreift. »Dr.Vincent Urban« stand auf seinem Namensschild.
Während immer mehr Zuschauer in den Saal drängten und tuschelnd auf den Beginn der Verhandlung warteten, registrierte Mondrian, dass der Schnäuzer nicht mal hochschaute, als Zoe Kirschner auf High Heels hereinstolziert kam und sich die schwarze Robe überwarf. Keine Begrüßung, kein Lächeln, nicht mal ein Nicken mit dem Kopf. Stattdessen starrte er weiter konzentriert in seine Unterlagen und gönnte auch seinem Tischnachbarn keinen Blick. Der schmächtige Mittfünfziger, der hinter dem Schild »Klaus-Michael Ahldorff« saß, trug eine leuchtend rote Fliege. Sie passte so schlecht zu seinem karierten Anzug, dass Mondrian sich unwillkürlich fragte, ob er damit von seinem auffällig blassen Gesicht ablenken wollte. Er folgte seinen unruhigen Augen und sah, wie eine Seitentür aufging und zwei Justizbeamte erschienen. Sie führten einen mit Handschellen gefesselten Mann herein.
Einen Mann? Nein, noch längst nicht, dachte Mondrian sofort, als er Thomas Kern in seiner Häftlingskluft erblickte. Immer wieder hatte er sich auszumalen versucht, wie Annikas Mörder heute wohl aussehen mochte. Beim Prozess vor zehn Jahren hatte er ihn nur kurz zu Gesicht bekommen. Der Neunzehnjährige hatte auf Anraten seines Verteidigers eisern geschwiegen und versucht, hinter Aktenordnern in Deckung zu gehen. Aber schon damals waren Mondrian seine eisblauen Augen aufgefallen, Augen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie stachen fast unnatürlich hervor aus einem Gesicht, das sonst blass und unauffällig wirkte. Mondrian hatte vermutet, dass es durch die lange Zeit hinter Gittern gealtert sein müsste, dass es Kanten und Falten bekommen haben müsste. Doch von solchen Jahresringen keine Spur.