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Wie geht es weiter in Eisenhagel? Endlich gibt es den neuen Steiermark-Krimi von Martin G. Wanko. Gewitzt erzählt, noch bissiger und noch knackiger. Ein echter Wanko eben. Worum es geht? Nun, der Herbst läutet in Eisenhagel die Krampuszeit ein. Da genügt der erste Nebel, der sich aus den Wäldern nach Eisenhagel in die Gemächer einschleicht, oder das erste Kaminfeuer, das angemacht wird. Eisenhagel versinkt in winterlicher Stille. Aber nur fast, denn man bereitet bereits den nächsten Krampuslauf vor. Doch Jenny, Kevin und Annika haben noch Mühe, den Krampuslauf vom letzten Jahr zu verdauen, besonders Jenny, die ehemalige Krampusprinzessin, hat mit dem Krampuslauf diesmal nichts am Hut. Doch aus dem Nichts erscheint Edi, verteilt Krähen aus Schokolade und mietet sich in die sagenumwobene Krah ein. Aber wer kommt schon ohne Absichten nach Eisenhagel? Dazu taucht aus einem Nachlass ein Bild mit einem Mädchen auf, das auf bestürzende Weise mehr als nur ein Bild ist. Ja, am 5. Dezember wird Eisenhagel wohl erbeben, denn dann kommt der Krampus zurück! It's Krampus-Time! Wer den schrägen Autor näher kennenlernen möchte – http://www.m-wanko.at/
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www.editionkeiper.at
© edition keiper, Graz 2022
1. Auflage November 2022
Cover, Layout und Satz: textzentrum graz
Coverfoto: Adobe Stock 305079845
Autorenfoto: Florian Lierzer
eISBN 9783903322905
Die Krah
Ein Steiermark-Krimivon Martin G. Wanko
Geh’n wie ein Ägypter!Die Ärzte
Prolog
1. Teil
2. Teil
Langsam und mit Bedacht geht er die Treppe zum Restaurant hinab. Dabei reflektieren die edlen Steinböden die vertäfelten Wände. Die großen Panoramascheiben an der Front versorgen das Restaurant mit natürlichem Licht. Er berührt voller Respekt die Tische, das ist massives Dickholz, aus einer Zeit, wo dies zur feinen Gesellschaft gehörte. Er wird nichts daran ändern. Den großzügigen Raum zwischen den Tischen wird er mit südafrikanischen Gräsern und Deko-Bäumen mit Monkey Apples ausschmücken lassen, dazu die schweren Kronleuchter aus früheren Zeiten, die seine Berberteppiche verführerisch in samtigem Violett schimmern lassen werden.
Am zentralen vorderen Tisch liegen Papiere. Sein Vertrag. Er unterzeichnet, bläst die Tusche trocken, macht einen Scan mit dem Mobiltelefon und schickt den Vertrag zum Makler. Nun ist DIE KRAH sein. Intuitiv breitet er seine Arme wie Flügel aus und macht den krächzenden Laut einer Krähe nach. Nun lächelt er wieder und schiebt den Vertrag in eine Hülle. Ein Schnäppchen. Ein Filou, der hier nicht das brachliegende Gold sehen würde, denkt er sich und schaut hinauf zum Spital, wo sich in dem Moment die Tür öffnet und tatsächlich sie heraustritt. Sie geht nach vor zur Brüstung und ihr Blick schweift über Eisenhagel. Eine Kollegin im weißen Kittel kommt ihr nachgeeilt. Sie dreht sich um und antwortet lächelnd auf die Fragen der offensichtlich nervösen Kollegin. Diese nickt und macht Notizen, während sie selbst ihre braunen Haare zurückstreicht und weiter zuhört. Ihr Blick zieht schon wieder über Eisenhagel. Als ob sie auf der Suche wäre. Nach ihm?
Die Krah ist nun mein, denkt er, schwenkt das Glas und hält es gegen das Licht. Violette Reflexe an der Glaswand, dazu in der Glasmitte das tiefe, schwarze Rot eines Sonnenuntergangs. Das dunkelwürzige Bouquet zieht in seine Nase. Der Geruch von Leder, Vanille, Speck und frischem Koriander mischt sich mit der Assoziation der weiten Welt. Auf der Zunge ist er mit herben und zugleich tiefenwirksamen Geschmackselementen ausgestattet, die an ein Beet reifer Brombeeren, Waldschwämme, Moos und Tropenhölzer erinnern. Daneben begehrt eine gutstrukturierte Säure auf, die im Geschmack an grüne Limonen und unreife Bananen erinnert. Im Abgang ist der Wein durch eine feine Mineralik glitzernd verspielt. Schwarze Asche, dunkle Erde. Zurück bleibt der Geschmack der großen weiten Welt.
Genau so muss ein Wein beschaffen sein.
Er geht durch die Tischreihen, noch hallt der Schritt nach, weil keine Menschen hier sind. Das Lokal hat noch nicht geöffnet, das wird sich jedoch bald ändern. In zwei Wochen kommt der große Showdown. Da wird Eisenhagel erzittern. In eine neue Geschmackswelt eintreten. Unbemerkt von den Einwohnern hat er bereits die ganze Küche auswechseln lassen, das Haus revitalisiert, die Seele jedoch erhalten. Die alten Tische, die Luster, die Zimmer, die Architektur.
Zum besten Wein gehört das perfekte Stück Fleisch, ein Entrecôte aus der Hochrippe geschnitten, so weich wie Butter, verfeinert mit würzigem Thai-Basilikum, Dark Opal, oder Purple Delight, milder Ingwer, vielleicht euphorisierender Galgant aus Laos, hauchdünn über das Fleisch gehobelt, eine Prise Kreuzkümmel sorgt für Magie und Eleganz, gelber Kurkuma für Versöhnlichkeit und Einklang. Für Aphrodite ist Origanum majorana verantwortlich, Zitronengras für die Verspieltheit, Limettenblätter für die Frische und Kokosmilch zur Abrundung. Ein besonderes Stück Fleisch aus einem besonderen Tier. Er schaut in die Berge. Der Steinbock, ein junger, wetzt sich gerade an seinem ersten Horn. Dazu eine Kitzleber, etwas Unverbrauchtes, denkt er sich, als er durch die Reihen geht, aber sich im Grunde nur ihr nähert.
Sie schwingt sich auf den Sattel und fährt die Serpentinen hinab vom Spital in die Stadt. Was kommen muss, wird kommen.
Als Dessert sein größter Stolz. Die Krah, eine Krähe aus Schokolade! Verfeinert mit Zimtaromen des mexikanischen Basilikums, die tanzen jegliche Schwermut weg. Hinzu kommen noch die Weihnachtsbeeren des brasilianischen Pfefferbaums, der ihr den Rausch in den Schädel treibt, denkt er jetzt, während er sie betrachtet. Und einen Tupfen ungesüßten Schlag. Warum auch nicht? Er notiert das schnell, macht einige Schritte vor und schaut wieder durch die Scheibe.
Das Glas ist verspiegelt. Kein Mensch kann ihn von hieraus sehen. Kein Mensch kann die Gäste von hier aus wahrnehmen.
Das Schauspiel will er sich nicht entgehen lassen. Jetzt muss sie gleich um die Kurve kommen. Er sieht bereits ihre Räder. Sie fährt auf der Serpentine in Richtung Krah. Es tut sich etwas. Sie bremst im Kies ab. Eine kleine Staubwolke entsteht. Im Laufschritt stellt sie ihr Rad ab. Er war sich ihrer Erscheinung gewiss. Ihn wundert hier nichts mehr. In Eisenhagel soll man sich das Wundern abgewöhnen, wurde ihm gleich im ersten Gespräch geraten.
Ihr Blick brennt sich durch die Scheiben wie glühendes Eisen durch Butter. Ob sie ihn sehen kann? Ihn spürt? Ihn riecht? Jenny!
Ich koche dir die Welt auf Erden. In einem Gericht. Damit verführe ich dich. Dann hast du gelebt. Tatsächlich gelebt. Sodann gehörst du mir. Mir, allein. Jenny!
Where is my mind?
Jenny verbindet den Unterarm des Patienten. Sie sucht seinen Blick, doch er schaut schuldbewusst aus dem Fenster. In einer schüchternen Art, wie es Jugendliche machen, die unterwegs waren und nicht ganz nüchtern einen Scheiß drehen. Lange Nacht halt. »Im Bamm-Bamm gewesen?«, fragt Jenny nach. Sie kann es sich nicht verkneifen nachzufragen. Die Großraumdisco saugt am Wochenende die Jugendlichen auf. Zuerst Eishockey und dann ab ins Bamm-Bamm. Vorher vielleicht noch eine Pizza im Café. Seit das Technofett zu hat, der einzige Ort wo in der Nacht wirklich was los ist. Der Junge nickt. Jetzt ist er angekommen. Er weiß, dass sie ihn versteht, schaut in den Raum, chillt und die Muskeln entspannen sich. Jenny spürt, wie von einer Sekunde auf die andere der Blutdruck ihres Patienten auf unter 100 absackt. Eine Krankenschwester, die Verständnis für die Jugend hat, und vielleicht noch selbst unterwegs ist, ist nicht das Schlechteste. »Ich bin ausgerutscht«, sagt er so nebenbei und Jenny weiß ganz gut, was das bedeutet. »Das sagen sie alle«, antwortet sie und zieht kurz am Verband. Der Junge zuckt zusammen und schaut sie eingeschüchtert an. Hat sie ihn etwa reingelegt? Wird es jetzt ganz schlimm, weil er sich aufgeführt hat? Jenny zwinkert ihm zu und macht den Verband fertig. Sie schickt die Jugend gerne mit dem Gefühl nach Hause, dass es gut war, dass sie zum Spital raufgekommen sind, aber eben nicht ohne nachzudenken wieder runtergehen sollten. Sie kennt den Typen vom Sehen, er ist einer, der immer hinten an den Nostalgie-Flippern abhängt, sich betrinkt und dann halt »ausrutscht«. Es ist der Bereich hinter der ersten Bar, während sie sich mit ihren Leuten an der Bar vorne bei der Tanzfläche aufhält. Es gibt mehrere Bereiche im Lokal, denn in Eisenhagel gehen alle coolen Menschen von 10 bis 100 Jahren in dieselben Lokale. Jenny schaut kurz auf den Arztbrief und nickt. »Eine anständige Prellung, aber nichts weiter. Also nicht so oft ausrutschen, im Bamm-Bamm«, mahnt sie ihn und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Der Junge grinst. Jenny deutet ihm, das Spital zu verlassen, und das macht er auch. Er dreht sich noch einmal um, Jenny hat aber keine Zeit mehr für ihn. Vom Sehen her kennen sich in Eisenhagel irgendwie alle. Aber das Neonlicht zur nächtlichen Stunde in der Klinik hat viel Gutes, denkt sie sich. Es zeigt dir jede Pore, die Leute stehen absolut ungeschminkt vor dir und geben eine Ruhe. Und du bist Krankenschwester. Keiner vermutet zum Beispiel, dass die Krankenschwester Jenny sich letzte Woche um 4 Uhr morgens auf allen vieren aus dem Bamm-Bamm entfernt hat. Das hängt sie jetzt aber auch nicht an die große Glocke. Die Oberschwester Theresa geht Ende des Jahres in den Ruhestand und sie hat sich beworben. Sie ist nicht die Einzige und der Oberarzt Dr. Traisen hat versprochen, sie zu unterstützen. Vielleicht wird es ja was!
Sie schaut aus dem Panoramafenster in eine schwarze Welt. Einen Schritt aus dem Spital und sie würde in ein Nichts kippen. Einen Augenaufschlag später hebt sich der Himmel eine Nuance gegen den noch schwarzen Wald ab. Jetzt beginnt der Tag. Sie sagt sich intuitiv gerettet! Sie weiß nicht warum. Wer soll sie von wo retten und überhaupt. Eigentlich rettet eher sie Menschenleben. Dennoch. Mit aller Stärke, die sie aufbieten kann, lässt sich eine Art Verlassenheit verdrängen, wenn sich der Himmel vom Wald abhebt. Sie schaut in den Wald hinein. Noch ist alles schwarz, reglos, aber der anbrechende Tag lässt sich nicht mehr aufhalten.
»Du bist die Krampusprinzessin!« Jenny zuckt zusammen, so erschrocken ist sie momentan! Sie dreht sich um. Schon wieder steht der Junge vor ihr. Sie hat ihn gar nicht kommen gehört. »Stimmt!«, antwortet sie.
»Wir sind da hinten bei der Stahlgasse beim Palmers gestanden und haben dich angeschaut, dir zugejubelt! Go, Jenny, go!«, sprüht der Junge nur so vor Energie. Ein Feuerwerk voller Eindrücke verlässt seinen Mund, während im schlauchigen Spitalsgang seine Worte nachhallen. Der ganze Krampuslauf saust an ihr nochmals wie im Zeitraffer vorbei. Eigentlich das ganze halbe Jahr. Von dem Moment, wo sie sich im Verein freiwillig meldete, die Krampusprinzessin, quasi die Anführerin aller Krampusse zu sein, und dann die zwei Monate, bis es tatsächlich zum Lauf kam. Schon der Gedanke daran wühlt sie auf und zehrt an ihren Akkus. Ihr Mund wird trocken und salzig, ihre Zunge verwandelt sich in ein Reibeisen. Heuer wird es keinen Lauf geben, zumindest nicht mit ihr. Ihr hängt das ganze Ding noch nach und sie will ein Jahr pausieren, bevor es wieder losgeht. Am liebsten hätte sie, dass Kevin, ihr Freund, auch die Finger vom Lauf lassen würde, aber da ist sie wohl machtlos. So ein Lauf beschwört immer Gestalten ans Tageslicht, mit denen sie nicht zwingend etwas zu tun haben will. Nebenbei passt es nicht wirklich zu einer Oberschwester, wenn man so zufällig auch noch Krampusprinzessin ist, und der Job ist nun mal bald zu haben, weil Oberschwester Theresa in Rente geht. Es passiert halt immer einiges bei diesem Lauf und das Spital ist im Härtefall dadurch überlastet. Obgleich ihr die plötzliche Prominenz in Eisenhagel durch ihre Rolle als letztjährige Krampusprinzessin durchaus zum Vorteil gereicht hat, das gibt sie gerne zu.
»Ich freue mich schon auf den heurigen Lauf!«, lässt der Junge nicht locker und bringt sie wieder zurück in die Realität. »Dann gehst bis zum Lauf am 5. Dezember anständig in die Kraftkammer pumpen und rennst auf die Berge, wenn du selber einmal mitlaufen willst. Weil da hast noch ziemlich zu tun!«, ermahnt sie den Jungen. Er nickt eifrig. »Ich sag dir was, ich werd ein ganz ein cooler Kämpfer! Mit so einem Bizeps! Die werden noch alle Augen machen! Und du bist dann wieder die Krampusprinzessin, und dann kann dich niemand aufhalten! Ich werd dich an jeder Ecke gegen alle Krampusse dieser Welt verteidigen und du gewinnst den Lauf und dann bist du die Königin! Ganz Eisenhagel wird dich feiern! Nieder mit Hangbluten, dem Scheißkaff!« Dabei schaut er Jenny mit aufgerissenen Augen an. Sein Echo hallt durch alle Stockwerke. Von der Annahme schaut Erna kurz zu Jenny, ob eh alles passt. Jenny nickt ihr zu und deutet dem Jungen Richtung Ausgang. Mit schnellem Schritt verlässt er das Spital, schwer überzeugt, ein Kämpfer für die gute Sache zu werden. Den Jungen wird man in Zukunft wohl eher im Fitnessstudio treffen als im Bamm-Bamm, und das ist ja nicht das Schlechteste.
Jenny schaut auf die Uhr. 5:30 Uhr. Schichtwechsel. Sie nimmt ihre Haube ab und lockert ihr schulterlanges Haar. Sie begrüßt Iris, die sie ablösen wird.
»Herr Ignaz, Zimmer 302, schläft nun endlich. Vielleicht könnt ihr die Visite so planen, dass er als Letztes drankommt.«
»Von mir aus, gerne«, antwortet Iris und hebt dabei fragend ihre Hände, »aber kannst du vielleicht ein Memo hinterlassen, weil auf dich hört man ja!«, antwortet sie einen Deut zu schnippisch. Jenny schaut aber darüber hinweg. Iris ist harmlos, sie will keine Oberschwester werden. Und ja, seit sie den Krampuslauf anführte, ist sie eben ein Stück bekannter in der Stadt als andere, das verschafft ihr auch mehr Gehör.
»Versuch es doch einfach«, antwortet Jenny ruhig und unterdrückt ein Gähnen, ihre Augen werden dennoch glasig.
»Ich werde schauen, dass er als Letzter zum Fiebermessen drankommt«, verspricht Iris nun wieder in normaler Stimmlage und macht eine Notiz.
»Passt, das ist schon viel wert!«, antwortet Jenny und klopft mit Iris freundschaftlich ab.
Die elektrische Schiebetür öffnet sich mit einem Knarren und einem ruckartigen Zittern. Jenny geht zufrieden ins Freie. Natürlich wird Herr Ignaz ganz normal aufgeweckt werden. Vielleicht kann er später auch wieder einschlafen. Sie ist ja nicht blind und weiß, wie die Systeme funktionieren. Dennoch sollte man nichts unterlassen, um den Aufenthalt für Patienten möglichst erträglich zu machen. Kommt ja niemand freiwillig. Auch der Junge von heute morgen nicht. Natürlich erfüllt der Titel »Krampusprinzessin« sie mit Stolz, und sie gibt auch gerne zu, dass es geile Momente gab, an die sie sich euphorisch zurückerinnert, und es ist auch nicht schlecht, in Eisenhagel keine kleine Nummer zu sein. Sie hat etwas mitzureden und das tut ihr gut. Immerhin war sie eine Vollwaise, die bei ihren Großeltern aufgewachsen ist, da tut Anerkennung gut. Aber es ist eben nur ein Titel, und dafür muss ein Jahr pausieren möglich sein, indem sie an ihren Job und die Aufstiegschancen denkt. Es ist ja nirgendwo Feuer am Dach. Niemand muss Eisenhagel retten.
Außer vielleicht …
Aus dem Aschenbecher an der Eingangstür steigt eine dünne Rauchfahne hoch, noch von den flüchtig ausgedrückten Kippen der Frühschicht. Plötzlich überkommt sie die Lust, selber eine Zigarette zu rauchen. Sie greift auf die Außentaschen ihres Rucksacks, sie hat keine dabei, wahrscheinlich am Küchentisch liegenlassen, oder letzte Nacht bei Kevin, ihrem Freund. Das ist aber jetzt nicht weiter schlimm. Sie raucht oft tagelang keine Zigarette und dann plötzlich aus irgendeinem Grund heizt sie an einem Abend eine ganze Schachtel. Sie schaut hinab auf Eisenhagel. Die Ampeln schalten gerade auf die Grünphase um, kurz war es, als würden sie schwarz bleiben, in irgendeiner Zwischenwelt hängenbleiben und es sich überlegen, jemals wieder anzugehen, aber nun hüpften sie doch auf grün. Sie steht gerne hier an der Brüstung und schaut hinunter nach Eisenhagel. Auf halbem Weg sieht sie die Kirche und im Vordergrund den Friedhof, wohin es sie regelmäßig zieht. Hier liegt ihre gesamte Familie. Ihre Großeltern und ihre Eltern. Ihre Eltern verunglückten bei einem Autounfall tödlich, da war sie noch ein Kleinkind. Ein LKW nahm in voller Fahrt den Mini Cooper ihres Vaters mit. Es ging alles sehr schnell, wurde ihr gesagt. Sie wuchs dann bei ihren Großeltern auf. Diese starben aber, als sie volljährig war. In einer gewissen Weise ist alles gutgegangen, denkt sie sich. Mit allem, was sie in dieser Zeit erlebt hat. In Eisenhagel hat man im Großen und Ganzen immer zu ihr gehalten. Wenn sie jetzt auf den Friedhof geht, am besten, wenn Kevin Eishockey-Training hat, sagt sie ihm, sie geht die Familie besuchen. Oder sie geht nach der Nachtschicht, wie jetzt. Der Friedhof liegt ja am Nachhauseweg. Da sagt sie niemandem etwas. Mittlerweile braucht sie auch schon etwas länger am Friedhof. Hier liegen mittlerweile auch noch Arnolds Vater und unter einem ganz frischen Stein ihr Kumpel Daniel. Damals waren sie noch zu viert. Vier Freunde. Annika, Daniel, Kevin und sie. Jetzt sind sie nur noch zu dritt.
Noch immer zu dritt?! Die Betonung liegt auf NOCH!
Blitzt eine Bar zu blank, hat der Barkeeper zu wenig zu tun, dann fehlt es ihm an Umsatz, denkt sich Kevin und öffnet den Geschirrspüler. Es dampft heraus, die kleinen Wolken verflüchtigen sich von selbst. Er wischt sich den Schweiß von seinem Gesicht. HOT! Vorgestern hat es in der Nacht zum Glück geregnet, aber geholfen hat es nicht viel, denn Eisenhagel glüht gerade. FUCKING HOT! Alles verschwimmt in der gleißenden Hitze. Sogar die Bäume freuen sich über eine leichte Brise. Er zupft an seinem T-Shirt. Kaum bewegt er sich, legt es sich auch schon an seinem Köper an. Bevor er geht, wird er die Waschbetontröge, aus denen die Geranien wuchern, nochmals gießen. So erspart er sich den Stress mit seinem Chef. Gefühlt ist noch immer Sommer, alles noch saftig grün. Er hustet und lässt sich einen Espresso runter. Er trinkt ihn in einem Satz aus und beginnt seine Fingernägel aneinander zu schaben. Kurz rauchen? Noch nicht. Pflichtbewusst zieht er die Ablage mit den Gläsern aus dem Geschirrspüler und trocknet mit einem Geschirrtusch schnell über die noch feuchten Ränder, damit keine Kalkflecken entstehen. Hinter seinem Rücken hört er einige Schülerinnen schnattern, die aus ihrem Eistee schlürfen.
»Noch eine Runde, Mädels?«
Sie kichern und nicken. Kevin greift nach dem Krug mit dem goldfarbenen Gebräu und den Zitronenscheiben, die auf der Oberfläche schwimmen. Er schenkt die drei Gläser voll. Er bringt sie den Mädels vorbei, stellt sie hin und zwinkert ihnen zu. Dieser Sommer scheint nicht und nicht vergehen zu wollen. Seine Haut an den Schultern schält sich bereits das dritte Mal. Seine wasserstoffblonden Haare wirken struppig, wie aus einem anderen Jahrzehnt, dabei ist es nur die Hitze, die ihnen zusetzt. Wenn nächste Woche die Schule beginnt, wird auch hier im Stadtcafé wieder anständig was los sein. Am Morgen kommen die Berufstätigen auf einen schnellen Espresso und Sandwiches fürs Büro, am Vormittag die Schulschwänzerinnen auf einen Cappuccino oder Chai Latte, die Jungs auf ein Bier aus der Flasche, zu Mittag kommt die Menüverköstigung und ab dem Nachmittag rotten sich alle zusammen, bevor es ins Pub oder ins Bamm-Bamm geht. Er freut sich darauf, dass das Technofett endlich wieder aufsperrt, für das Bamm-Bamm fühlt er sich fast zu alt. Aber manchmal geht es bis zum bitteren Ende, und tatsächlich bis zum bitteren Ende, was hat er hier schon spontane Partys erlebt. Kein Mensch weiß, warum manchmal die Mädels und Jungs von hier nicht wegwollen. Das war das Signal in seinem Kopf! Er wechselt die Musik. Die Toten Hosen. »All die ganzen Jahre.« Er lässt ein Glas Bier runter und genehmigt sich einen Schluck. Die Schülerinnen schauen kurz auf, er winkt ihnen zu, sie tratschen zufrieden weiter. Er schaltet eine Spur leiser. Campino intoniert gerade »Alles was war«. Das erinnert ihn ans letzte Nova. Als er mit Jenny und Annika durch die Freilichtarena zog. Sogar in einem Abstand von zwei Monaten weiß man ziemlich genau, wie viel Biere man bei welchem Song intus hatte. Bei »Alles was war« waren sie schon ziemlich fett. Jenny und er grölten aus voller Kehle, als sie merkten, wie Annika plötzlich in sich gekehrt war. Da dachte sie wohl an Daniel, ihren Ex, der letztes Jahr das Duell gegen Arnold verlor. Eisenhagel hat den Kürzeren gegen den Eindringling Arnold gezogen. Er greift nach seiner letzten Marlboro Light und kickt die leere Schachtel mit einem Ferserl in den Mistkübel. Sie bleibt kurz an der Kante hängen und rutscht doch hinein. Geht ja! Kevin grinst. So etwas gelingt dir alle heiligen Zeiten. Was wären die großen Erfolge ohne die kleinen, hat es einmal in der Werbung geheißen. Wo war er gerade? Annikas Trauer. Genau, die geht schon ziemlich lange. Leck fuck. Campino singt gerade »Steh auf, wenn du am Boden bist!«, und das hofft er jetzt ganz innig für Annika. Da muss ja was nachkommen! Daniel ist hinüber. Auch er rennt jetzt ohne besten Freund durch die Straßen, aber die Dinge kann man nicht mehr ändern. Steh auf, wenn du am Boden bist, singt er ansatzweise mit, nimmt einen Stift zur Hand und klopft an der Aluminium-Kante der Theke mit dem Kuli das Lied im Takt mit. Irgendwie sollte sich etwas ergeben, für alle!
»Dir ist wohl auch ein bisserl fad«, stellt der Bürgermeister fest. Kevin zuckt zusammen, er hatte den Bürgermeister nicht kommen hören. Als ob der Gedanken lesen könnte!
»Na, vom Urlaub zurück und schon wieder volle Fahrt voraus?«, fragt Kevin nach, grinst und lässt automatisch ein Glas Bier runter.
Der Bürgermister runzelt die Stirn. »So kannst du das auch sagen. Das Erste, was ich auf den Schreibtisch krieg, ist der Einspruch gegen die Generalsanierung vom Schwimmbad. Die Anrainer im blauen Haus haben Beschwerde gegen den 10-Meter-Turm eingereicht. Aber nur die Anrainer im blauen Haus, sonst niemand. Wird wegen Nichtigkeit eingestellt werden, da geht es um das Gemeinwohl. Aber es kostet halt alles Zeit. Geht sich dann erst nächstes Jahr aus.«
Kevin nickt. Er muss sich die Probleme von allen und jedem anhören. Wie tausende Barkeeper auf dieser Welt. »Willst dir wohl ein Denkmal setzen, bevor du in die wohlverdiente Pension gehst?«
»Eines? Zehn! Ich bin wenigstens so ehrlich und geb das zu. Ich habe die besten politischen Kontakte nach Graz und nach Wien. Wenn ich die nicht für Eisenhagel nütze? Denk an die Sanierung der Eishalle. Ihr braucht’s ein Flutlicht und eine neue Anlage.«
Kevin stellt die Kaffeetasse ab. »Genau, ja. Von dem redet’s ihr schon drei Jahre, oder wie lange?«
»Jetzt habe ich einmal alles von meinem Vorgänger erledigen müssen!«, verteidigt sich der Bürgermeister lautstark. »Und wenn wir gerade dabei sind, nächste Woche ist Sitzung!«, spricht er weiter und schiebt ihm einen Brief über die Bar.
»Ja, genau!«, antwortet Kevin. Insgeheim hatte er gehofft, der Krug würde an ihm vorbeigehen, aber wie denn auch. Er nimmt den Brief entgegen. Er ist weder frankiert noch zugeklebt. Als Betreff steht »Einladung zur Sitzung des Krampusvereins«.
»Das ist der Vorteil des Krampuslaufs, wie du weißt. Du bereitest ihn zwei Monate vor und genießt dann eine äußerst lange gesellschaftliche Präsenz. Ungefähr ein Jahr.«
Kevin nickt. Wo der Bürgermeister recht hat, hat er recht.
»Du kannst dir übrigens deinen Zement abholen, die Säcke stehen hinter dem Rathaus. Aber bitte bald, ich brauch da keine unangenehmen Fragen im Rathaus.«
»Ich kann was?!«, kommt es abrupt aus Kevin heraus. In dem Moment wirft er alles über Bord, was ihn noch vor Minuten gekümmert hat.
Der Bürgermeister fischt den zweiten Brief aus seiner braunen Aktentasche, die eigentlich wie ein alter Schulranzen aussieht, und schiebt ihn Kevin locker entgegen.
»Du kannst an der Bucht deinen Surfsteg hinbauen. Die Genehmigung ist durch. Du verwaltest ihn, aber er bleibt im Besitz der Gemeinde. Wir übernehmen dafür die Materialkosten und die Arbeitsstunden übernehmt ihr.«
Kevin zittert. Durch Eisenhagel geht ein zerklüfteter Fluss, die Assel. Schön anzuschauen, aber absolut unbrauchbar, doch am Stadtrand von Eisenhagel sind hier ein paar hübsche Stromschnellen. Seit Jahren wünscht er sich diesen Steg zum Riversurfen, für sich, seine Freunde und alle, die Riversurfen wollen. Offizielles Riversurfen in Eisenhagel! Asselsurfen klingt doch geil!
»Daneben machst du mir bitte den stellvertretenden Leiter vom Sportamt. So bleibt alles unter Kontrolle.«
»Echt?«, fragt er nach, als ob er nicht gewusst hätte, dass das ein kleines Gegengeschäft werden wird. »Das Sportamt machst ja du, oder?«
Der Bürgermeister schaut ihn nüchtern an und nickt: »Und so bringen wir dich wieder einen Zentimeter unserem Endziel näher, dass du einmal mein Nachfolger als Bürgermeister wirst.«
Kevin rinnt es kalt runter. Ein scheiß Job, aber man könnte viel verändern. Er will jetzt auch keine Diskussion darüber, sondern den scheiß Steg bauen. Also nickt er zur Verstärkung noch einmal.
»Wie geht’s eigentlich unserer Krampusprinzessin?«
Bingo! In Kevins Schädel ploppt es gewaltig, als würde ein Dom Pérignon durch seine Birne rauschen. Jenny! Die Krampusprinzessin! Seine Freundin. Seit 1000 Jahren und noch viel länger. Kevin schaut zum Bürgermeister auf und wird von seinem stechenden Blick durchbohrt. Der Mann ist unberechenbar. Er muss eine Art Röntgenblick entwickelt haben, der in seinem Gegenüber Dinge offenlegt, die ein bisschen faul sind, zumindest nicht ganz sauber. Eine Art Zahnarzt des Lebens. Wahrscheinlich ist er deshalb schon ein halbes Leben lang Bürgermeister.
»Ich hab dich etwas gefragt, Kevin«, bleibt er ruhig, aber doch hartnäckig.
»Wir arbeiten daran.«
»Was soll das heißen?«
»Zurzeit ist die Lust von Jenny noch nicht so ganz vorhanden, ich meine zu mir durchgedrungen«, bleibt Kevin diplomatisch.
»Scheißt sie drauf?!«
»Sie will Oberschwester im Spital werden und hat Angst, dass sie als Krampusprinzessin nicht in die enge Auswahl kommt. Das sind konservative Lutscher dort«, antwortet Kevin trocken, sodass sich alles wie ein 5-Teile-Puzzle für Idioten zusammensetzt, ohne dass der Bürgermeister etwas davon merkt.
Der Bürgermeister nimmt einen Schluck Bier. »Ist ja interessant. Anstatt dass die im Krankenhaus eine Freude haben, wenigstens einmal im Jahr mehr zu tun zu haben. Richt deiner Prinzessin aus, ums Krankenhaus kümmere ich mich. Die Leute hier wollen Jenny als Krampusprinzessin sehen und dich als Prinzen. Ohne dass du Prinz bist, wirst du nie König von Eisenhagel und das sind dann nur noch Zentimeter zum Bürgermeister. Sonst kannst du nach deinem Job in der Spritzer-Bude da zu den Eisenbahnern gehen, oder du wirst zum Austrianer, mehr geht bei uns nicht. Kevin! Dieser Lauf bringt der Gemeinde Ruhm, Ehre und dir Kohle. Daneben machst eine feine Bar auf und alles läuft!« Der Bürgermeister fährt mit seinen fleischigen Tatzen über den Tresen und packt ihn an den Schultern: »Jenny sollte wissen, dass Krampusprinzessin zu sein die schönste Sache auf der Welt ist. Woanders wird man Weinkönigin und poliert am Ende des Tages die Gläser, bei uns wird man Krampusprinzessin und poliert den anderen die Fresse!« Der Bürgermeister knallt die Einladungen für Jenny und Annika auf den Tresen und geht. Er nickt kurz den Mädels zu, die nun wieder in ihren Eistee prusten. Kurz dreht er sich noch zu Kevin um. »Und im Übrigen sind keine Vögel mehr da. Wie ausgestorben. Schon mitgekriegt?« Unwillkürlich schaut Kevin in den Himmel. Tatsächlich kein Vogel. »Es beginnt wieder alles langsam seltsam zu werden, in Eisenhagel. Ob ihr das nun wollt, oder nicht, ihr werdet eurer Bestimmung in Eisenhagel nicht entrinnen können«, legt der Bürgermeister noch eines drauf und kneift dabei die Augen zusammen.
Kevin nickt, ohne dass ihn wer dabei sieht. Klare Worte waren ihm schon immer am liebsten. Er schenkt sich ein Bier ein. Dazu einen Grappa. Er holt sich aus seinem Spind eine Schachtel Marlboro Rot und raucht sich eine an. Mit dem Grappa brennt sie so richtig schön den Hals hinunter, zu Mittag kann man sich gar nichts Besseres vorstellen. Jenny wird sicher entzückt sein, wenn er ihr die Story verklickert. Er schaut in die Ferne. Hinten am Platz bewegt sich etwas. Da kommt ein Typ auf ihn zu. Zu Beginn so klein wie eine Fliege. Eine halbe Zigarettenlänge später: Der Typ hat einen trainierten Körper, jetzt nicht aufgeblasen, aber er ist trainiert. Der Typ geht strichgerade auf ihn zu. Sein Sakko und sein weißes Hemd flattern im Wind. Kevin weiß nicht, wann er das letzte Mal ein weißes Hemd und ein Sakko freiwillig getragen hätte, vor allem nicht bei 40 Grad im Schatten. Und wann hat er jemals einen Typen in seinem Alter in Eisenhagel damit gesehen?
Schon steht sie am Friedhof. Die Gräber sind noch voll Tau und auf manchen brennt eine Kerze. Mittlerer Gang, dritte Reihe, Grab 16. Die Steine unter ihren Turnschuhen knirschen, sie haben einen ganz eigenen Klang, denkt sie nun. Schon jetzt erkennt sie die Margeriten, die durch den Regen vor zwei Tagen zu einer natürlichen Wasserzufuhr gekommen sind. Der Lorbeer am Grab ist noch frisch. Sie hebt ihn auf, greift nach dem Beserl, das sie hinter den Grabstein gesteckt hat, und kehrt das Grab sauber. Sie legt den Lorbeer wieder auf den Grabstein zurück, genau in die Mitte. So hat sie die Teilung. Hinten die Blumen, in der Mitte das Gesteck und vorne die Laterne mit der Grabkerze. Die Kerze ist zu früh ausgegangen. Sie greift nach einem Feuerzeug in ihrem Rucksack und öffnet die Laternentür, kurz riecht es nach Paraffin. Sie zündet den öligen Docht nochmals an. Es knistert kurz und die Kerze brennt wieder. Jenny stellt sie zurück in die Laterne und verschließt die Glastür. Sie wischt über das gerippte Dach, steht auf und wirft einen Blick in die hinteren Reihen. Dort liegt Arnolds Vater begraben.
Sie geht zum Grab und schaut zweimal zum Eingang des Friedhofs zurück. Es ist nicht so, dass sie sich verfolgt fühlt, aber sicher ist sicher. Manches kriegst du eben nie los. Da kannst du tun, was du willst. Abgesehen davon ist sie in Eisenhagel. Sie schaut sich um. Kein Mensch weit und breit. Das Grab ist sauber. Ohne einen Makel. Keine Kerze. Aber auch kein Unkraut, welches bei ungepflegten Grabsteinen aus den Ritzen sprießt. Es ist fast zu sauber. Sein Vater Erwin Resch liegt hier. Am 5.12.2009 gestorben. Arnold war in der Schule in sie verliebt gewesen, das war zugegeben nicht ganz einseitig, und letztes Jahr kam er wieder, um sie mit in sein Reich zu holen. Als sie nicht so ganz mit ihm aus Eisenhagel nach Graz gehen wollte, wollte er sie schlussendlich töten, da sie die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, nicht erwidern wollte und konnte. Das klingt jetzt alles reichlich nüchtern, das war es aber bei Gott nicht. Arnold wollte in der Schulzeit immer ein Teil von ihrer Viererbande sein. Das war er aber nie. In der Zwischenzeit war er zu Wohlstand gekommen. Alles erste Güte, wirklich bewundernswert. Dann wollte er sie zehn Jahre später, nachdem sein Vater hier bei einem Krampuslauf verunglückt war und seine Mutter von ihm wegging, von hier wegbringen. Das war letztes Jahr gewesen, und es misslang. Aber nicht ganz. Jenny ging nicht mit Arnold mit, aber Daniel hat er sich geholt. Einen aus ihrer Runde. Offiziell war Daniel aus dem Fenster gestürzt, was aber nicht sein konnte. Kein Mensch stürzt so aus dem Fenster, schon gar nicht Daniel. Jetzt steht sie vor dem Grab Daniels. »Es hätte jeden erwischen können«, spricht sie und bekommt dabei ganz glasige Augen. Das sagt sie jedes Mal, wenn sie hier steht. Sie weiß schlussendlich, dass sie den Mord an Daniel auf ihre Kappe nehmen muss. »Es hätte jeden von uns erwischen können, aber passiert ist es nun mal Daniel.« Nun wiederholt sie sich auch schon, als ob sie sich selbst etwas einreden müsste. Sie weiß ganz genau, dass sie Schuld auf sich geladen hat. Wäre sie mit Arnold mitgegangen, wäre niemandem etwas passiert. Das war aber unmöglich. Arnold ist ein Krampus, zumindest zählt er sich zu denen dazu und steht mit ihnen in Verbindung. Sie ist hier die Krampusprinzessin, wenn man so will, eine Regentin. Die Regeln werden hier außerhalb der Gesellschaft aufgestellt. Es ist eine Parallelwelt, die erstaunlich gut funktioniert. Falschparken zahlt sie schon lange nicht mehr, Strom und Gas schluckt die Gemeinde. Schuld wird in Eisenhagel alljährlich am 5.12. beglichen. Das war schon immer so. Anderswo finden kommerzielle Krampusläufe statt, in Eisenhagel rechnen sie ab. Und Arnold ist eben von der anderen Seite. Durch seine Adern fließt Krampusblut. Das Irre daran ist, sie findet das jetzt alles gar nicht so unsexy. Das sollte aber keiner erfahren, am besten nicht einmal sie.
Jetzt findet sie in einer Falte am Boden ihres Rucksacks eine gekrümmte Zigarette. Sie nimmt sie heraus und raucht sie an. Für einen kurzen Moment macht sie der trockene, lockere Tabak, der zu schnell verbrennt, beduselt. Sie setzt sich auf den Grabstein, im Bewusstsein, dass Daniel nichts dagegen hätte. Der Tod Daniels brachte mit sich, dass seine Freundin Annika in eine Art unendliche Trauer verfiel. Das ist in Eisenhagel nichts Außergewöhnliches, dazu hat jedoch auch Daniels Wohnung noch nicht ausgeräumt werden dürfen. Finanziell ist das kein Problem, weil Daniel im Mietzinshaus ihrer Eltern wohnte. Emotional aber viel eher. Das ist nun neun Monate her. Sie bewegen sich seit damals nicht so wirklich weiter. Kevin sollte schon längst sein eigenes Lokal aufmachen und Annika träumt von ihrer eigenen Tourismusagentur. Und was ist mit ihr? Sie will Oberschwester werden und allein das Gefühl, dass nichts weitergeht, fühlt sich so zäh wie fertiggekauter Kaugummi an! Herrgott! Sie waren, seit sie sich zurückerinnern kann, immer vier. »Vier Freunde, den fünften gibt es nur im Buch!«, war ihr Leitspruch. Und nun fehlt eben einer von ihnen, der Daniel. Das ist wie eine Lücke im Gebiss. Die spürt man immer. Als ob plötzlich ein Eckzahn fehlt. Und Daniel fehlt eben. Mensch, ist das scheiße!
»Es hätte nicht jeden treffen können«, spricht sie es endlich aus und dämpft ihre Zigarette aus. »Es hat dich getroffen, weil du das schwächste Glied in unserer Kette warst. Sorry, Daniel, aber es ist nun mal so.« Sie ist selbst über ihre klaren Worte erstaunt und verlässt den Friedhof.
Sie bleibt am Abhang neben dem Friedhof stehen und schaut ins Tal. Gleich im Zentrum liegt Kevins Wohnung, in einem erdfarbenen Siedlungshaus im vierten Stock. Keiner weiß, warum die ersten fünf Stockwerke in diesem rötlichen Braun gehalten sind, nur der letzte Stock ist weiß. Kevin meint immer, denen sei die braune Farbe ausgegangen. Aber immerhin kann man sich auch in Eisenhagel noch über etwas wundern, denkt sich Jenny und schaut einige Straßen weiter zu ihrer Wohnung. Und dort brennt jetzt Licht. Sie kann sich nicht erinnern, das Licht eingeschaltet gelassen zu haben, als sie wegging. Putzmunter schwingt sie sich auf ihr Rad. Licht bei ihr in der Bude. Das findet sie doch mächtig interessant. Vielleicht beginnt jetzt endlich etwas. Sie ist bereit! ANSCHIEBEN!
»Ja, sicher, aber…«, antwortet Annika und wundert sich über die Menschen, die so hartnäckig am Telefon sein können. Ein Nein scheint keiner akzeptieren zu wollen. »Die Krampuswoche ist voll, tut mir leid. Aber ich habe einen guten Tipp für Sie. Kommen Sie eine Woche danach. Machen Sie Wanderungen oder gehen Sie langlaufen. Und in dieser Zeit fragen Sie an, ob Sie vielleicht für nächstes Jahr in der Krampuswoche ein Zimmer haben können. Da stehen die Chancen ziemlich gut, weil die Leute hier merken, Sie kommen nicht nur deshalb, um am Krampus-WE die Sau rauszulassen.« Sie hält nun den Hörer bewusst von ihrem Ohr weg, weil das meistens der Zeitpunkt ist, wo die Anrufer ausfällig werden. Warum denn der Krampus so eine lange Zunge habe, ob sie das wüsste, oder dass sie lieber aufpassen sollte, um nicht selbst einmal anständig versohlt zu werden oder in der Kraxn zu landen. Annika klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und fächert die Briefe für ihren Chef in sein Fach ein. Als ob der Kunde von ihrer Vorahnung beeinflusst wäre, rülpst er nun anständig ins Telefon. Im Hintergrund hört sie herumalbernde Jugendliche. Annika spürt, wie ihr Kopf rot anläuft und ihre Ohren pochen. Was erlauben sich diese Schweine eigentlich?! Verärgert schüttelt sie den Kopf und legt auf. Sie schaut mit triumphierendem Blick zum Telefon. Ich hab aufgelegt, nicht die anderen. Ätsch! Noch im selben Moment läutet das Telefon. Sie schaut skeptisch auf das Display des Telefons. Die Nummer kennt sie nicht, kommt ihr aber irgendwie bekannt vor. Sie hebt zur Sicherheit ab.
»Ja, hallo? Tourismusamt Eisenhagel. Was kann ich für Sie tun?« Den Anrufer kennt sie nun doch nicht, aber die Anfrage ist die gleiche.
»Wissen Sie, wo ich ein Zimmer für den Krampuslauf herkriegen kann?«
»Zurzeit ist keines frei, es tut mir leid«, antwortet sie wahrheitsgemäß. »Sie können sich aber online auf eine Liste setzen lassen. Da schaut es noch gut aus … es passiert immer wieder, dass jemand absagt … bei uns auf der Website der Gemeinde.« Sie nützt den Moment, wo ein kurzer Leerlauf stattfindet, verabschiedet sich und legt auf. Ab nächster Woche ist sie wieder im operativen Bereich tätig, im Sommer muss man aber im Tourismusamt überall Hand anlegen, wenn die Kolleginnen und Kollegen im Urlaub sind. Sie leitet das Telefon zur Vermittlung um, mit der Bitte zu ihr durchzuschalten, wenn es wichtig ist, wenn es also um keine lapidaren Zimmervermittlungen in der Krampuswoche geht. Wenn zum Beispiel der Bürgermeister anruft, der berechtigterweise fragen könnte, warum sie schon am Freitagmorgen in der Stadt herumtanzt. Sie hört hinter sich die Rathaustür ins Schloss fallen und spürt einen Hauch von Freiheit. Sie wird im Amt ja nicht gequält, aber es ist und bleibt einmal das Amt. Dresscode, Freundlichkeit und im Klang der Stimme sollte das Gefühl mittransportiert werden, Eisenhagel einen guten Dienst erweisen zu wollen. Aber nun ist sie in Freiheit und je mehr sie sich vom Rathaus entfernt, desto mehr wächst ihre Gewissheit, heute nicht mehr zurückzukehren, sondern ein paar Überstunden abzubauen. Manchmal muss man einfach draußen sein, um die Welt zu genießen. Vielleicht am Nachmittag noch eine Radtour machen und am Abend eine Kleinigkeit fein essen.
Sie verschwindet im nächsten Supermarkt. Heute verspürt sie Lust auf Saures Rindfleisch »vietnamesisch«. Das hat sie letztens in einem Gourmetmagazin aufgeschnappt. Sie nimmt ihr Handy zur Hand und liest: Kokosflocken, Sojasprossen, Thai-Basilikum. Thai-Basilikum wird sie in Eisenhagel nicht bekommen, sie ist ja nicht auf dem Naschmarkt in Wien, da zupft sie ein paar Blätter von ihrem weg, welches am Balkon auf der schattigen Nordseite wächst. Minze, Koriander, Dill, stehen als nächstes auf der Liste. Frische Minze bekommt sie von Kevin, Koriander hat sie getrocknet, den wird sie im Essig zur Entfaltung bringen und das zarte Dill-Gewächs sieht sie schon im Kübel mit den Kräutern auf sie warten. Irgendwie kommt sie schon zurecht, denkt sie sich und atmet für sich hörbar aus und beutelt den Dill ab. Von irgendwo hätte Daniel sicher auch noch frischen Koriander herbekommen, und wenn er nach Hangbluten gefahren wäre und dort den Asiaten bezirzt hätte, ihm von seinem Kräutergarten einen zu holen. Aber Daniel ist tot. Er hat den Lauf nicht überlebt. Das ist jetzt neun Monate her und noch immer saust sie in ein dunkles Loch, wenn sie daran denkt, so wie jetzt. Mühsam bewegt sie sich zur Kassa und fragt sich, warum sie sich das alles überhaut antut.
Dabei hätte es Jenny treffen sollen. Jenny konnte mit aller Gewalt das Unglück noch von sich abwenden. Mit düsterem Blick schaut Annika in den nächsten Winter. Der wird kalt und eisig. Noch wehrt sich Jenny, den Krampuslauf zu übernehmen. Hinter einer gewissen Sturheit verbirgt sich die Angst am Lauf zu scheitern, in die Bedeutungslosigkeit zu versinken oder gar zu sterben. Noch fehlt Jenny die Kraft, aber sie wird sich der Aufgabe stellen müssen, so wie jeder in Eisenhagel. Annika wäre bereit, sie spürt in sich die frisch aufgeladenen Batterien, wenn sie nur dem Schatten ihres Exfreundes entfliehen könnte. Exfreund klingt gut, denkt sie sich. Ein Toter kann auch ein Exfreund sein. Sie muss sich von Daniel trennen, warum hat ihr das niemand gesagt! Sie räumt noch ein paar Jägermeister in ihren Einkaufskorb. Ein paar schlechte Eigenschaften muss man sich bewahren. Sie hält die Bankomatkarte gegen das Kassagerät und spürt ihre schweißkalten Hände. Dazu den metallenen Geschmack im Mund. Sie hat sich die Lippe aufgebissen. Sie war so trocken wie an einem kalten Wintertag, obgleich es heute 30 Grad hat. Geistesabwesend steckt sie die Rechnung in ihren Korb. Da sieht sie auch schon Jenny an ihr vorbeiradeln, schneidet den Fußgängern den Weg ab, die sich schimpfend nach ihr umdrehen. Wenn Jenny nur nichts zustößt, sagt Annika zu sich selbst. Die hat ja noch überhaupt keine Ahnung, was auf sie zukommt. Die Prinzessin muss wieder zur Kämpferin werden! Zügig verlässt sie das Geschäft. Mal eine Runde zu Jenny schauen. Der depressive Anflug ist im Nu verschwunden, sodass Annika es nicht einmal bemerkt.
Überhastet tritt Jenny in die Pedale. Sie spürt den frischen Fahrtwind, Tränen spritzen wie stecknadelgroße Perlen aus ihren Augen, die frische Luft nagt an ihrem Zahnschmelz. Die 48 Stunden Dienst machen sich bemerkbar. Mit jedem Tritt in die Pedale spürt sie ihren Körper. Sie kommt vor ihrem grauen Hochhaus an. Tatsächlich, oben ist Licht. In der tränenden Iris zerspringt das erleuchtete Zimmer in tausend Teile, wie in einem Kaleidoskop. Sie tastet ihren Oberkörper ab, ihr Baby ist in der Wohnung, im Waffenschrank. Mit ihrer Glock würde sie sich sicherer fühlen. Sie sperrt hastig auf, wartet auf keinen Lift, nimmt drei Stufen auf einmal, als ob sie dringend pinkeln müsste. Ja und wer weiß, was oder wer bei ihr los ist! Das kann ja alles sein! In ihrem Kopf rast die Zeit zurück, als sie in Eisenhagel nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf steht. Gib’s doch zu, du willst die Zeit zurückhaben. Du bist nach ihr süchtig, wie ein General sich in Friedenszeiten nach den Kanonen und dem Geruch nach Schwarzpulver sehnt. Du sehnst dich nach der Zeit zurück, in der du fast draufgegangen bist. Vergiss das nicht. Jenny! Ohne es zu bemerken, steht sie auch schon vor der Tür und hat bereits die Türklinke in der Hand. Sie tastet nach dem richtigen Schlüssel am Bund, sperrt auf, doch der Zylinder dreht sich durch. Falscher Schlüssel! »Herrgott noch einmal, dass nicht einmal die kleinsten Dinge funktionieren! Wie scheiße ist denn das!« Sie atmet dreimal durch. Das Rasen des Blutes in ihren Adern verebbt langsam. Sie sperrt die Tür auf, öffnet sie wie jeden Tag. Ein Licht brennt, einfach ein Licht. Ein Blick genügt. Hier war niemand und hier ist niemand. Sie hat einfach das Küchenlicht vergessen auszuschalten. Es liegt alles in gewohnter Vertrautheit, so wie sie die Wohnung verlassen hatte. Leicht schlampig, aber jetzt nicht so unordentlich, dass sie nichts finden würde. Sie erschreckt, wie präzise sie sich beschreiben kann. Wie siehst du dich selber? »Leicht schlampig, aber jetzt nicht so unordentlich, dass ich nichts finden würde.« Fast geniert sie sich für ihren Gedanken. Sie schaut in den Spiegel, schiebt einen Haarreifen ins braune Haar, damit es nicht immer ihr Gesicht kitzelt. Sie schaut in ihr Gesicht. Vereinzelt hat sie Sommersprossen, ihre Haare sind an den Spitzen durch die Sonne ausgebleicht und Millionen von Menschen tragen die gleichen Sneakers wie sie. Wahrscheinlich ist sie wirklich so fad, wie sie sich nun gerade fühlt, vor allem lächerlich, sie vergisst das Licht auszuschalten und glaubt, es passiert gerade der große Wahnsinn in ihrer Bude. Prinzessinnen schauen anders aus. Kämpferinnen auch. Draußen beginnt ein wunderbarer Tag und sie kann nicht anders, als Lou Reed aufzulegen. Der passt zu ihrer Stimmung. Dass sie die CD von Daniel geschenkt bekommen hat, braucht sie jetzt nicht noch zusätzlich erwähnen. Lou Reed intoniert »Perfect Day«. Ihm geht es so ziemlich gleich wie ihr. Sie lässt einen Kaffee runter, geht zum Kühlschrank und öffnet ihn.
»AAAAAHHHH!«
Sie wirft aus dem Affekt die Kühlschranktür wieder zu. Mit so einer Wucht, dass die Tür nun wieder aufgeht und genau so stehen bleibt, dass sich gerade mit einem Klack das Licht im Kühlschrank einschaltet. Schwarz, schwarzer Mund, schwarze Augen, alles schwarz. Schwarzes Gefieder hat sie vergessen! Und nicht Mund, sondern Schnabel! Plötzlich formt sie ihre Hand zu einer Faust. Zu einer Faust des Sieges und des Willens. Sie ist nicht irre, sie ist auch von keinen falschen Sehnsüchten geleitet. Es war wer in ihrer Bude! In ihrem Kühlschrank befindet sich eine Krähe in nicht mehr sehr lebendigem Zustand. Sie klatscht die Tür wieder zu und lehnt sich dagegen. Sie spürt ihren Puls. Jetzt hat sie die Botschaft des Tattoos auf ihrem Rücken im Kopf.
FREAK
OUT!
Das hat sie schon ziemlich lange. Das zeugt von ihrer Unabhängigkeit und dass sie liebend gerne das Leben rocken will. Immer und überall. Dass sich das dann gelegentlich so anfühlt wie jetzt gerade, ist ziemlich geil. Keine Ahnung, wie der tote Vogel in ihren Kühlschrank kommt, aber immerhin tut sich etwas. »Leck fuck!«
»Hört sich das immer so an, wenn du allein bist?«
Annika steht vor ihr. »Annika!« Sie umarmen sich. Etwas Besseres hätte nicht passieren können.
»Und?«
Jenny schaut Annika konzentriert in die Augen. »Du wirst es nicht glauben, aber im Kühlschrank ist eine tote Krähe. Oder eine Dohle, keine Ahnung.«
Annika schaut sie mit großen Augen an. »Echt jetzt?«
Jenny nickt. »Ja!«
»Darf ich?«
Jenny nickt und lässt Annika ran.
Annika öffnet den Kühlschrank nur einen Spalt und schließt ihn wieder. »Grausam!«, antwortet sie. »Mir fehlen die Worte. Ich mein, wer tut so etwas und was hat eine tote Krähe bei dir im Kühlschrank zu suchen?«
»Ja was weiß ich!?!«, antwortet Jenny und dreht ihr den Rücken zu. Sie öffnet die Lade im Küchentisch, nimmt eine Schachtel Camel Filter heraus und zündet sich eine an. Kevin raucht seit einiger Zeit Marlboro Light, früher hat er die roten Marlboro geraucht. Sie weiß auch nicht, was mit ihm los ist, vor allem weiß sie nicht, warum ihr dieser Scheiß jetzt einfällt. Sie öffnet das Fenster und sieht, wie es den Rauch in zackigen Rhythmen hinauszieht. Ihre Augen tasten nervös das Zimmer nach Veränderungen ab. Immerhin hatte sie unangemeldeten Besuch. »Bei mir liegt ein toter Vogel im Kühlschrank, dazu brannte die ganze Nacht das Licht in meiner Bude. Das schaut jetzt nicht wirklich nach Einbruch aus, aber jemand wollte mich mit einer toten Krähe im Kühlschrank beglücken. Das muss irgendein scheiß Zeichen sein, was mich jetzt bei näherer Überlegung eher aufgedreht macht!«, antwortet Jenny und wählt eine Nummer.
»Rufst du jetzt die Bullen an?«
»Ja, nämlich …«, antwortet Jenny und verdreht dabei die Augen. »Wo ist eigentlich Kevin? Wenn man ihn braucht, ist er nicht erreichbar!«
Annika raucht sich nun auch eine an und schaut aus dem Fenster. »So blöd es klingt, aber es klärt sich meistens alles auf, in dieser Welt. Vielleicht auch sehr bald.«
Jenny geht auch zum Fenster. Sie kneift ihre Augen zusammen und hat nun Kevin im Visier. Er hat den typisch schlaksigen Gang, alles leicht schlampig angezogen, als ob er seine Fetzen die nächsten 500 Meter vollkommen verliert. So latscht nur er. Wenn man ihn so ansieht, ist es kaum zu glauben, dass der Bürgermeister ihn gerne als seinen Nachfolger sehen würde. Sie schaut zu Annika, die ihr sonderbar ruhig vorkommt. Annika nickt zufrieden in Kevins Richtung, als ob bei Tropenhitze mit drei Wochen Verspätung der Bierkutscher ankommen würde. Neben Kevin geht ein dunkelhaariger Typ, und das jetzt nicht zufällig. Er ist gut gebaut und hat etwas KONKRETES an sich, denkt sich Jenny, falls man das irgendwie sagen kann. Sie reden miteinander, jetzt nicht so, als ob sie sich gerade kennengelernt haben, das muss schon länger gehen. Wo sich Kevin die ganze Zeit herumtreibt, während sie im Spital Menschenleben rettet, möchte sie so und so einmal wissen. Aber sind das Brillen? So echte Brillen. Klar. Hm. Der Typ hat Brillen auf. Annika ist auffallend ruhig. Nicht wunderlich, denn ihre Blicke haften am Typen fest. »Annika, mach den Mund zu, es zieht!«
Jetzt wird Annika auch noch rot. Jenny geht vom Fenster, als sie ein kurzer, kühler Windschwall streift. Plötzlich riecht alles nach Herbst. Es wird auch Zeit! Plötzlich spürt sie sich in Bewegung und ist überrascht über ihren Gedanken.
»Es wird auch Zeit!«, sagt sie nun laut und Annika nickt, schließt die Augen und bekommt ein gewisses Lächeln. »Der Herbst ist da, und wo ein Herbst, dort kommt auch ein Winter.«
»So ist es. Dann lassen wir den Herbst einmal rein«, antwortet Jenny. Nicht überrascht ist sie, dass sie, als sie Kevin die Tür öffnet, in der Gegensprechanlage zwei Stimmen hört. In ihrem Gehörgang ploppt es. Ihr ist sofort klar, mit dem Typen wird sie noch mehr zu tun haben. Ob das gut oder schlecht ist, weiß sie nicht. Veränderungen klopfen nicht an, die kommen ganz einfach. Im besten Falle durch diese Tür.
Freak out!
Sie bringt das Bild nicht mehr aus dem Kopf. Kevin schiebt sie zur Seite, niemand schiebt sie zur Seite, schon gar nicht in ihrer Wohnung! Er geht zum Kühlschrank, öffnet ihn, holt die Krähe heraus und beißt ihr den Kopf ab. Es entsteht ein klaffendes, dunkelrotes Loch, eine Ader hängt heraus, so dick, als wäre sie ein Regenwurm. Jenny kann nicht einmal schreien. Alle gaffen Kevin an. Dieser lacht brachial in die Stille. Der Typ steht noch immer im Hintergrund – in ihrer Wohnung, was macht er da? Und Annika weiß so und so nicht, wie es ihr geschieht.
»Sag einmal spinnst du?!?!«, schreit sie Kevin an, in einer Lautstärke, dass die beiden Bilder auf der Wohnzimmerwand wackeln. Ein großes Bild als Puzzle, sie in den Armen ihrer Großeltern nach der Erstkommunion. Und sie als Krampusprinzessin im Meer der Menschen. Beide Bilder hat sie in ihr Herz geschlossen. Wäre auch nur eines von ihnen auf den Boden gefallen, Kevin wäre des Todes! Und der andere Typ sowieso! So lass es Winter werden und die Dinge bereinigen sich von selbst, denkt sich Jenny im nächsten Moment.
Kevin beginnt zu lachen. Ein gellender Lacher und er weiß, dass sie das hasst. Warum macht er das dann?! Er hält den toten Vogel an den Beinen fest und reißt ihm mit einer Gier einen Flügel ab. Federn, Knochen, Sehnen, alles stopft er in sich hinein! Eine dunkelrote Blutbrühe sammelt sich in seinem Mund. In Jenny zieht sich alles zusammen, 48 Stunden im Dienst und das Kasperltheater hier als Zugabe! Ihr Körper signalisiert STOP IT!, und Kevin riecht nach Schokolade. Das gibt’s ja nicht! Leck fuck! Ist sie jetzt im Zirkus, oder im »Fluch der Karibik« in Eisenhagel? Der Typ mit dem markanten Gesicht tritt in den Vordergrund. Jenny kann nicht anders als ihn so zu nennen, Annika nickt noch immer mit ihrer Kinnlade und Kevin riecht nach Schokolade und schaut aus wie ein unordentliches Kind.