Eisfeld - Der Fall Katharina S. - Steffen Weinert - E-Book

Eisfeld - Der Fall Katharina S. E-Book

Steffen Weinert

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Beschreibung

Sie will nur eines: Gerechtigkeit. Manchmal vielleicht zu sehr … In Steffen Weinerts Berlin-Brandenburg-Krimi »Eisfeld – Der Fall Katharina S.« löst die willensstarke, sympathische Kommissarin Mara Eisfeld ihren ersten Fall. Mara Eisfeld – eben erst zur neuen Leiterin der 9. Mordkommission im Berliner LKA befördert – sollte eigentlich nur den Tod eines Einbrechers untersuchen. Doch in dem Haus am nördlichen Stadtrand stößt sie auf einen geheimen Kellerraum, in dem sich ein düsteres Geheimnis verbirgt. Hier findet sie Hinweise auf die vor zehn Jahren als Teenager spurlos verschwundene Katharina Stellkamp. Mara war damals kurzzeitig an den Ermittlungen beteiligt, und seitdem hat sie der Fall nicht mehr losgelassen. Deshalb setzt sie nun alles daran, die junge Frau zu finden und aus der Gewalt ihres Entführers zu befreien. Authentischer Kriminalroman mit tollen Figuren Mara Eisfeld hat das Zeug zu einer Kult-Ermittlerin. Der Auftakt der Krimi-Reihe aus Berlin ist ein Fest für Fans starker Kommissarinnen wie Julia Durant, Sabine Kaufmann oder Femke Folkmer. Natürlich kommt auch Maras Privatleben nicht zu kurz. So viel sei verraten: In ihrer Ehe kriselt es so sehr, dass ihr Mann beschlossen hat, in einem Zelt anstatt im gemeinsamen Bett zu übernachten.

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Seitenzahl: 342

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Steffen Weinert

Eisfeld

Der Fall Katharina S.

Kriminalroman

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Über dieses Buch

Mara Eisfeld – eben erst zur neuen Leiterin der 9. Mordkommission im Berliner LKA befördert – sollte eigentlich nur den Tod eines Einbrechers untersuchen. Doch in dem Haus am nördlichen Stadtrand stößt sie auf einen geheimen Kellerraum, in dem sich ein düsteres Geheimnis verbirgt. Hier findet sie Hinweise auf die vor zehn Jahren als Teenager spurlos verschwundene Katharina Stellkamp. Mara war damals kurzzeitig an den Ermittlungen beteiligt, und seitdem hat sie der Fall nicht mehr losgelassen. Deshalb setzt sie nun alles daran, die junge Frau zu finden und aus der Gewalt ihres Entführers zu befreien.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

1

Mit geübten Handgriffen hebelte Leif innerhalb weniger Sekunden die Terrassentür auf. Danach verstaute er das Werkzeug im Rucksack und gab seinem Freund Hamudi mit einer galanten Geste den Vortritt.

Das Haus, das sie nun betraten, hatten sie zuvor einige Tage lang ausgespäht und waren sich sicher, dass es trotz seiner Größe nur von einer einzigen Person bewohnt wurde: einem Mann, der frühmorgens zur Arbeit fuhr und erst am späten Nachmittag wieder zurückkehrte. Sie hätten also genügend Zeit, sich in aller Ruhe umzusehen und die Sachen auszusuchen, die sich am teuersten bei eBay verkaufen ließen.

Die beiden waren ein eingespieltes Team und hatten die Aufteilung der Räume bereits im Vorfeld festgelegt. Hamudi übernahm Dachboden und ersten Stock, Leif Erdgeschoss und Keller. Nachdem Hamudi nach oben verschwunden war, zog Leif im Wohnzimmer die erstbeste Kommodenschublade auf und wurde sofort fündig: eine Schatulle aus edlem Holz, randvoll mit Schmuck. Ringen, Broschen, Spangen. Zwar altmodisches Zeug, dafür schien alles aus Silber zu sein.

Überhaupt wirkte vieles im Haus irgendwie aus der Zeit gefallen. Besonders die Einrichtung. Sie passte so gar nicht zu dem Mann, der hier wohnte. Leif vermutete, dass es einst das Haus von dessen Eltern gewesen war und er sich nicht die Mühe gemacht hatte, es nach seinem Geschmack einzurichten. Oder er hatte einfach keinen Geschmack.

Leif war es egal. Er selbst hatte Geschmack und wusste auch schon genau, was er mit seiner Beute anfangen würde. Ein paar Scheine würde er seiner Mutter geben, ein bisschen was würde er in Gras investieren, den Großteil aber würde er sparen, um in ein, zwei Jahren komplett aus dem Einbruchsbusiness auszusteigen. Und dann: ein eigener Klamottenladen!

Nachdem er den Inhalt der Schatulle in seinen Rucksack gekippt hatte, fiel sein Blick auf eine grüne Geldkassette, die im Wandschrank stand und nur dürftig durch einen kleinen Strauß Trockenblumen verdeckt wurde. Der Schlüssel steckte. Er öffnete die Kassette und war nun endgültig sicher, dass dies der entspannteste Coup seit Langem werden würde. In der Geldkassette lagen acht Hunderteuroscheine, zwei Fünfziger und fünf Zwanziger. Insgesamt also tausend Euro Taschengeld. Und zwar für ihn allein, denn er hatte nicht vor, Hamudi davon zu erzählen.

In letzter Zeit war es nämlich etwas zu oft vorgekommen, dass der ihm irgendwelche erfundenen Posten in Rechnung gestellt und diese dann von seinem Anteil abgezogen hatte. Einer dieser Posten war typischerweise Murat, Hamudis großer Bruder, oder besser gesagt dessen Dienste.

Es stimmte zwar, dass Murat sie bereits mehrfach aus brenzligen Situationen gerettet hatte, und schon während ihrer Grundschulzeit war es von Vorteil gewesen, mit einem kriminell und gewalttätig wirkenden großen Bruder drohen zu können und diesen im Bedarfsfall auch kommen zu lassen, Leif bezweifelte allerdings, dass Hamudi das Schutzgeld auch wirklich an ihn weiterleitete. Im Gegenteil, er war sich eigentlich ziemlich sicher, dass er es nicht tat.

Nachdem Leif mit dem Erdgeschoss fertig war, verschaffte er sich einen Überblick über das, was er neben dem Schmuck bisher zusammengetragen hatte: eine goldene Armbanduhr, ein iPad, eine Kamera mit mehreren Objektiven und ein Set antiken Tafelsilbers für zwölf Personen. Ganz okay für den Anfang. Als Nächstes war der Keller an der Reihe.

Mit Kellern hatte Leif unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Meist fand sich dort nur Gerümpel, Sperrmüll und unnützes Zeugs, doch manchmal auch richtige Schätze, wie alte Weine – von denen er zwar keine Ahnung hatte, aber er kannte einen Typen, der sie ihm abkaufte – oder altes Spielzeug, für das man wiederum online viel Geld bekam.

Als Leif den Lichtschalter betätigte und die Steintreppen nach unten stieg, überkam ihn ein mulmiges Gefühl. Der kleine Junge in ihm meldete sich zurück, der mit dunklen Kellern immer etwas Beängstigendes verband. Er drückte dieses Gefühl weg und versuchte, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

Der Keller bestand aus mehreren spärlich beleuchteten Räumen. Im ersten befanden sich Regale mit alten Koffern, Umzugskartons und diverse große und kleine Schachteln. In dem daneben standen eine Schubkarre, ein paar alte Fahrräder sowie große Plastikkisten mit Bettwäsche, Gardinen und Tischtüchern. Der nächste wurde zur Lagerung von Baumaterial und Werkzeug genutzt. In einer Ecke war eine größere Menge Dachziegel gestapelt. Davor standen zwei Zementsäcke, ein ungeöffneter und ein halb leerer, außerdem ein Bottich zum Anrühren von Mörtel und eine große Bohrmaschine mit entsprechendem Quirl.

Ein weiterer, wesentlich kleinerer Raum war leer bis auf einen einzigen Gegenstand: eine riesige Gefriertruhe, die ein gleichmäßiges, tiefes Brummen von sich gab. Unvermittelt kehrte das mulmige Gefühl zurück. Vor Leifs innerem Auge zogen all die Szenen aus Serienkillerfilmen vorüber, in denen Gefriertruhen in dunklen Kellern nie etwas Gutes bedeuteten. Dennoch näherte er sich mit entschlossenen Schritten der Truhe, zog mit einem Ruck den Deckel auf und … zuckte zurück.

Die Truhe war bis oben hin gefüllt mit Fleisch und Knochen. Jedes Stück war in eine eigene Plastiktüte verpackt. Auf kleinen Klebeetiketten war akkurat vermerkt, was sich darin befand, beispielsweise »Nacken vom Schwein, Droisenhof« oder »Hinterläufe Reh, Jägerhof Abt«, dazu ein Datum, das vermutlich Auskunft darüber geben sollte, wann die Stücke eingefroren worden waren. Angewidert knallte Leif den Truhendeckel wieder zu. Es gab kaum etwas, was ihn mehr anwiderte als unverarbeitetes Fleisch.

Er hatte genug gesehen. Anstatt den Keller weiter zu durchsuchen, wollte er lieber schauen, was Hamudi gefunden hatte. Als er schon dabei war, die Treppen wieder nach oben zu steigen, bemerkte er etwas Seltsames: Vor einem der Regale zeichneten sich merkwürdige Schleifspuren auf dem Fußboden ab. Leifs Herz schlug schneller. Sollte es hier doch noch so etwas wie ein Geheimversteck geben? Unwillkürlich musste er an den alten Mann aus München denken, über den er mal einen Bericht gesehen hatte und der in seinem unscheinbaren, kleinen Häuschen Gemälde und Zeichnungen im Wert von mehreren Millionen gebunkert hatte. So eine Entdeckung wär’s jetzt.

Als er näher an das Regal herantrat, bemerkte er, dass die eine Seite mit Scharnieren an der Wand befestigt war. Er zog an der anderen Seite. Und tatsächlich: Das Regal ließ sich von der Wand wegklappen.

Leif staunte nicht schlecht, als er sah, was sich dahinter verbarg: eine enge Röhre, in der eine schmale Treppe nach unten führte. Ein Keller unter dem eigentlichen Keller. Ganz unten konnte man eine graue Tür erahnen. Leif verspürte Unbehagen, aber auch eine gewisse Vorfreude auf das, was es dort zu entdecken gab.

Stufe um Stufe schritt er die unebene Treppe nach unten, bis er erkannte, dass es sich bei der grauen Tür um eine massive Feuerschutztür handelte, was bei Leif kurz ein Gefühl der Enttäuschung auslöste. Wahrscheinlich befand sich dahinter eine gewöhnliche Heizungsanlage. Er drückte die Klinke nach unten und zog die Tür langsam auf.

Zunächst wunderte er sich darüber, dass in dem Raum Licht brannte. Dann über den Geruch, der ihm plötzlich in die Nase stieg. Leif konnte ihn zwar nicht genau bestimmen, aber er wusste sehr wohl, dass er nicht zu diesem Ort passte. Es roch irgendwie nach Küche.

Nachdem er die Tür ein weiteres Stück aufgezogen hatte, blieb er wie gelähmt stehen, denn das, was er sah, konnte sein Kopf nur schwer mit seinen Erwartungen in Einklang bringen.

Bewegungslos starrte er einige Sekunden lang in den Raum. Doch dann setzte Panik ein, und die riss ihn schlagartig aus seiner Lethargie. Adrenalin schoss durch seine Adern. Blitzschnell trat er einen Schritt zurück, schnappte nach Luft und drückte die Metalltür wieder zu.

Er drehte sich um und hastete die enge Treppe nach oben.

»Hamudi! Komm runter! Jetzt! Schnell! Wir hauen ab!«

Er erreichte den eigentlichen Keller, rief nochmals nach Hamudi, sprintete dann die dreizehn Stufen ins Erdgeschoss hinauf, bog um die Ecke in Richtung Küche, wo er das bisher Erbeutete zwischengelagert hatte, und … bremste abrupt ab.

Vor ihm stand ein drahtiger, vielleicht fünfzigjähriger Mann mit kurz geschorenen Haaren, bekleidet mit der charakteristischen gelb-roten Uniform eines DHL-Boten. In der Hand ein Brecheisen. Der Blick grimmig, der Körper gespannt und zum Sprung bereit.

Leif erkannte den Mann sofort. Lange genug hatten sie ihn ausgekundschaftet. Es war der Bewohner des Hauses, der ihm hier den Weg nach draußen versperrte, weshalb ihm in diesem Moment auch nur ein einziger Gedanke in den Sinn kam: »Fuck!«

2

Mara Eisfeld stand mit einer Kaffeetasse in der Hand an der Terrassentür ihrer Erdgeschosswohnung, hörte den Soundtrack eines Films, an dessen Titel sie sich nicht mehr erinnern konnte, und blickte durch die ungeputzte Scheibe nach draußen. Dort, auf dem kleinen Stückchen vertrockneten Rasens, das in ihrem Mietvertrag beschönigend als »Garten« bezeichnet wurde, stand seit ziemlich genau einem Monat ein Zweipersonenzelt. Und in diesem Zelt schlief seit ebenso langer Zeit ihr Ehemann Matti. Natürlich nicht durchgehend, sondern nur nachts oder genauer gesagt zu Zeiten, die er als Nacht definierte. Also auch jetzt, um halb acht Uhr morgens.

Bevor er sein Quartier dort draußen aufgeschlagen hatte, war sein Schlafplatz neben ihr im gemeinsamen Ehebett gewesen. Acht Jahre lang plus die drei Jahre davor, in denen das Ehebett noch nicht Ehebett hieß, sondern einfach nur Doppelbett. Und das wäre sicher auch so geblieben, wäre es nicht zu dieser alles verändernden Auseinandersetzung gekommen, die einen denkbar unoriginellen Auslöser gehabt hatte: einen One-Night-Stand.

Doch nicht Mara hatte diesen Fehltritt begangen, sondern Matti. Und anstatt ihn für sich zu behalten, wie sie es getan hätte, war er auf die in ihren Augen absolut idiotische Idee gekommen, ihr diese Verfehlung zu beichten. Reumütig und mit allen Details, auf die sie gut und gern verzichtet hätte. So hatte sie nicht nur erfahren, wer neben ihm an dem Seitensprung beteiligt gewesen war (eine Schauspielkollegin), sondern auch, bei welcher Gelegenheit die Anbahnung stattgefunden hatte (Werbedreh für eine bekannte Fast-Food-Kette) und wo der Akt schließlich vollzogen wurde (Damentoilette einer Bar).

Ja, Matti war Schauspieler, ein ziemlich guter sogar, wie Mara fand, und früher, als es noch besser lief mit den Aufträgen, war er beruflich viel unterwegs gewesen. Dementsprechend oft hatte er also Gelegenheit gehabt, sich mit anderen Frauen zu treffen, und sie war sicher, dass er diese auch hin und wieder genutzt hatte. Hinweise darauf hatte es zur Genüge gegeben, die Mara aber geflissentlich ignoriert hatte, um das liebevolle und zärtliche Miteinander mit ihm nicht zu gefährden.

Warum nur hatte Matti plötzlich das dringende Bedürfnis entwickelt, ihr seinen letzten One-Night-Stand zu beichten? Eine einfache Frage, auf die sie eine ebenso einfache Antwort bekommen hatte – nachdem sie den Fehler gemacht hatte, sie zu stellen: weil es sein erster Seitensprung überhaupt gewesen war.

Maras nächster, viel gravierenderer Fehler war dann gewesen, laut und herzhaft über diese Aussage zu lachen, woraufhin die Stimmung endgültig gekippt war und es plötzlich um ganz andere Dinge gegangen war. Um ihr ständiges Misstrauen so ziemlich allem gegenüber, um die Zeit, die sie nicht für gemeinsame Gespräche und Unternehmungen aufbringen wollte oder konnte, und um den nicht wiedergutzumachenden Schaden, den all das an ihrer Beziehung angerichtet hatte. Bevor Mara begriffen hatte, was überhaupt los war, hatte die Auseinandersetzung auch schon geendet – und zwar mit Mattis Entschluss, sich von ihr zu trennen.

Sie seufzte und trank den letzten Schluck Kaffee. Draußen im Zelt tat sich immer noch nichts. So langsam konnte er aber auch mal aufstehen, dachte sie, während sie zur Kaffeemaschine ging und sich nachschenkte.

Noch in der Nacht des großen Streits hatte Matti angekündigt, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Doch fünfzig Wohnungsbesichtigungen und ebenso viele Absagen später hatte sein Elan diesbezüglich deutlich nachgelassen. Mara kam das natürlich sehr gelegen, hoffte sie doch insgeheim, dass Matti seine Umzugspläne irgendwann ganz begrub, in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehrte und sie beide auf diese Weise ganz organisch wieder zusammenfanden. Alles andere wäre auch wirklich eine Katastrophe. Nicht nur für sie, die in Matti nach wie vor die große Liebe sah, sondern vor allem für ihren gemeinsamen Sohn Sami, der im zarten Alter von vier Jahren sicher andere Erfahrungen machen wollte als die Trennung seiner Eltern.

Zurzeit gefiel Sami sein Leben allerdings recht gut. Unter anderem auch, weil er jeden zweiten Tag bei Papa im Zelt übernachten durfte. Das war aufregend und fast wie Urlaub. Und solange Sommer war, sprach auch überhaupt nichts dagegen.

Mara hingegen kam mit dem Schwebezustand, in dem sich ihre Ehe befand, immer weniger zurecht. Auch wenn sie der Überzeugung war, dass die Zeit für sie arbeitete, machte die Ungewissheit sie fertig. In der vergangenen Nacht war sie deshalb zu dem Entschluss gekommen, dass nun ganz schnell etwas passieren musste. Und sie hatte auch schon eine Idee, was das war.

Gedankenverloren drehte sie sich um – und stieß einen spitzen Schrei aus. Matti stand direkt vor ihr, und darüber erschrak sie so sehr, dass sie nahezu die Hälfte ihres Tasseninhalts auf Jeans, Schuhen und Boden verteilte.

Sie fluchte und zog mit einer schnellen Bewegung die Kopfhörer aus den Ohren.

»Sorry, ich hab geklopft und gerufen …«, sagte Matti schuldbewusst und fuhr sich mit der Hand durch die langen, zerzausten Haare.

»Schon gut, war ja auch gar nicht deine Schuld«, erwiderte Mara lächelnd. »Ich war gerade ganz woanders. Guten Morgen erst mal.«

»Guten Morgen«, sagte Matti, reichte ihr einen Lappen und schenkte sich ebenfalls Kaffee ein.

Er trug nur Shorts und ein verwaschenes Pixies-T-Shirt, das sie ihm vor langer Zeit zu Weihnachten geschenkt und über das er sich wie ein Kind gefreut hatte. Er roch nach Schlaf und Matti. Mara vermisste diesen Geruch. Aus ihrem Bett war er schon nach einer Woche nahezu verschwunden gewesen, obwohl sie den Bettwäschewechsel länger als sonst hinausgezögert hatte.

Sie überlegte, ob sie das Thema, das sie beschäftigte, gleich ansprechen sollte oder ihm noch ein paar Minuten Zeit zum Aufwachen geben sollte.

Matti trank zwei Schluck Kaffee, rieb sich den Schlafsand aus den Augen und gähnte. »Du kommst nachher schon mit zur U8, oder?«

Mara presste die Lippen aufeinander, um nicht zu ratlos zu wirken.

»Weißt du nicht mehr? Die U8?«

»Doch, doch«, antwortete sie, obwohl sie sich tatsächlich nicht an diesen Termin erinnern konnte. Was aber nichts hieß, denn ihre ausgeprägte Merkfähigkeit erstreckte sich leider fast ausschließlich auf berufliche Belange. Bis vor Kurzem – genauer gesagt bis zur U4 – hatte sie sich nicht einmal merken können, dass damit nicht etwa die U-Bahn gemeint war, sondern die Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt. Matti hingegen war zwar in vielen Lebensbereichen eher nachlässig, in allem, was Sami betraf, aber ein Organisationsgenie, und er hätte den Zeitraum der nächsten drei Us selbst dann fehlerfrei benennen können, wenn man ihn nachts um halb vier aus der Tiefschlafphase riss.

»Heißt dann wahrscheinlich, dass du nicht mitkommst. Oder?«

Mara sog Luft durch die Zähne, was ein zischendes Geräusch verursachte. »Heute ist doch wieder Tamms Montagsbriefing, und der sieht es gar nicht gerne, wenn man da fehlt.«

»Klar.«

»Zur nächsten komme ich mit. Ganz sicher.«

»Hast du bei der letzten zwar auch schon gesagt, aber okay.«

Mara war der passiv-aggressive Unterton in der Stimme ihres Noch-Ehemanns nicht entgangen. Sie zog eine Augenbraue hoch und lächelte herausfordernd.

Matti lächelte ebenfalls, aber so, als hätte man ihn bei etwas ertappt. Und letztlich war es auch so. Mara hatte ihn dabei ertappt, wie er ins Beleidigte abrutschte, ein Verhalten, das er nicht leiden konnte, vor allem nicht an sich selbst, erinnerte es ihn doch zu sehr an seine Mutter, die diese spätpubertäre Eigenschaft bis heute nicht ablegen konnte. All das steckte in dem kurzen Blickwechsel. Ihre Kommunikation war nach so vielen Jahren als Paar inzwischen sehr ökonomisch geworden.

»Anderes Thema«, sagte Mara schließlich. »Du hattest doch vor einiger Zeit vorgeschlagen, dass wir ein Paarcoaching machen könnten …«

»Vor einiger Zeit ist gut, das ist bestimmt schon fünf Jahre her.«

»Ich dachte, hm, wir könnten das langsam mal angehen.«

Matti sah sie mit einem Anflug von Irritation an. »Du meinst ein Trennungscoaching? Wegen Sami und so?«

»Ich meinte eigentlich schon ein Paarcoaching. Also etwas Ergebnisoffeneres …«

Matti blickte sie lange und nachdenklich an.

Mara befürchtete, dass er ihren Vorstoß mit einem Nebensatz abräumen würde, denn in der Vergangenheit – genauer gesagt in der Woche nach der Trennung, später hatte sie das Thema gar nicht mehr aufgebracht – hatte er immer wieder bekräftigt, dass es nichts mehr zu bereden gäbe. Doch seine Züge wurden sanfter, und das ließ sie hoffen.

Bevor er jedoch antworten konnte, kam Sami in die Küche gestürmt. In seinem flauschigen Dino-Schlafanzug und ein hektisch blinkendes und lärmendes Polizeiauto vor sich herschiebend.

»Mama, Papa, Mama, Papa. Ich hab geträumt, dass ich mit einem riesengroßen Schiff gefahren bin. Und das hatte auch ein Blaulicht! Ein Unterwasserblaulicht!«

Mara gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange und strich über sein volles, lockiges Haar.

Der Rest des Morgens versank im üblichen Chaos, in dem eine Fortführung ihres Gesprächs kaum möglich war. Kurz bevor Mara die Wohnung verließ, kündigte Matti jedoch an, abends für sie zu kochen, und wenn Sami schlief, könnten sie in Ruhe über ihren Vorschlag sprechen. Einen besseren Start in den Tag hätte sie sich gar nicht wünschen können.

3

Mara bog auf das Gelände des Landeskriminalamtes in der Keithstraße und fand zu ihrer eigenen Überraschung auf Anhieb einen freien Parkplatz. Kaum hatte sie jedoch den Motor ausgestellt, bemerkte sie, wer da just in dem Moment aus dem Wagen rechts neben ihr stieg: Bertram Banners. Ausgerechnet. Denn wenn Eisfeld bei der Arbeit um jemanden einen großen Bogen zu machen versuchte, dann war das Kriminalhauptkommissar Banners, Leiter der 5. Mordkommission.

Als Mara vor zehn Jahren im LKA Berlin angefangen hatte, war Banners ihr direkter Vorgesetzter gewesen, und sie hatte unter seiner Führung einiges gelernt. Vor allem, wie man sich nicht verhalten sollte, wenn man eine integre Polizistin sein wollte, deren oberstes Ziel die Aufklärung von Verbrechen und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit war. Wenig verwunderlich also, dass sie und Banners schon nach wenigen Wochen heftig aneinandergeraten waren, denn Banners war so ziemlich das Gegenteil davon: faul, inkompetent und auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Die feine Linie zur juristischen Angreifbarkeit hatte er ihres Wissens zwar nie überschritten, wohl aber seinen Spielraum so weit wie nur möglich ausgereizt. Zudem hatte er es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, eigene Misserfolge anderen zuzuschreiben und fremde Erfolge für sich zu reklamieren.

Mara blieb im Wagen sitzen und gab vor, wichtige Nachrichten auf ihrem Handy zu lesen, doch Banners hatte sie bereits entdeckt, klopfte an die Scheibe der Beifahrertür und lächelte ihr übertrieben freundlich zu. Mit Erleichterung nahm sie zur Kenntnis, dass er nicht wartete, bis sie ausstieg, sondern sich auf den Weg ins Gebäude machte. Vermutlich, um nicht zu spät zu kommen und seinen Vorgesetzten keine weitere Munition zu liefern, seine Beförderung noch weiter hinauszuzögern. Diese war nämlich überfällig. Banners hatte die Leitung der 5. Mordkommission schon seit dreizehn Jahren inne. Seit Eckart Tamms Aufstieg zum Leiter der Abteilung »Delikte am Menschen« vor ein paar Wochen war dessen Posten als Dezernatsleiter unbesetzt. Eisfeld wusste, dass Banners sich darauf beworben hatte und er sich durchaus Chancen ausrechnen durfte. Sollte er Erfolg haben, müsste sich Mara warm anziehen. Eine Hierarchieebene würde es dann zwar immer noch zwischen ihnen geben, aber sollte ihr Chef aus irgendwelchen Gründen ausfallen, wäre sie Banners wieder direkt unterstellt.

Erster Programmpunkt des Tages, wie neuerdings regelmäßig zu Wochenbeginn, war das »Montagsbriefing«. Eckart Tamm hatte diesen festen Termin ins Leben gerufen, um den direkten Kontakt zu seinen Mitarbeitern zu etablieren und zu pflegen.

Tamm war ein dicklicher, bärtiger, brumm- bis kuschelbärig wirkender Mann, dessen gemütliches Aussehen aber niemand mit Harmlosigkeit verwechseln sollte. Diejenigen, die diesen Fehler begangen hatten, saßen jetzt entweder im Knast – sofern es sich um Kunden handelte – oder waren von ihm auf der Karriereleiter rechts überholt worden – sofern es sich um Kollegen handelte. Angefangen hatte er als Verhörspezialist und sich während dieser Zeit offenbar Fertigkeiten angeeignet, die er auch beim Netzwerken gut gebrauchen konnte.

Im Laufe seiner Karriere hatte er einige gute Ideen gehabt, um die ihm unterstellten Kollegen zu Höchstleistungen zu animieren, das »Montagsbriefing« gehörte Maras Ansicht nach definitiv nicht dazu. Sie hielt es für verschwendete Zeit. Den Informationsgehalt der ersten beiden Male hätte man durch eine einzeilige E-Mail ersetzen können. Lesezeit: vier Sekunden. Tatsächlicher Zeitaufwand für das »Montagsbriefing«: dreißig Minuten. Eisfeld hatte nichts, aber auch gar nichts erfahren, was irgendeinen Gegenwert für ihre tägliche Arbeit gehabt hätte.

Das erste Briefing diente ausschließlich dazu, mal »Guten Tag« zu sagen und sich als neuer Chef vorzustellen, auf »kollegiale Zusammenarbeit« zu hoffen, die Erfolge seines Vorgängers hervorzuheben, zu bekräftigen, daran anknüpfen zu wollen, aber auch eigene, nicht näher beschriebene »Akzente« setzen zu wollen.

Thema des zweiten Briefings war die in einem halben Jahr anstehende Weihnachtsfeier. Als der Begriff »Weihnachtsfeier« fiel, hatte Mara ihre Gehörgänge mit kabellosen In-Ear-Kopfhörern versiegelt, die sich bestens unter den langen Haaren verstecken ließen, und eine ihrer Playlists gestartet. Sie hasste an Weihnachtsfeiern so ziemlich alles und zog es seit Beginn ihrer Polizeikarriere vor, an diesem Tag freiwillig den Bereitschaftsdienst zu übernehmen.

Mara war also alles andere als gespannt, welches prickelnde Thema heute auf der Tagesordnung stehen würde.

»Alles klar?«, fragte Umut Oktay, als sie sich im Großen Konferenzsaal neben ihn setzte. Der Raum hatte sich mittlerweile mit einem Großteil der auf Schicht befindlichen Kolleginnen und Kollegen gefüllt, und Umut hatte ihr wie immer einen Platz freigehalten. Wie immer in der letzten Reihe.

Umut Oktay war als Leiter der 9. Mordkommission formal ihr Vorgesetzter, was sich im Arbeitsalltag aber nie bemerkbar machte. Er war ihr Partner, betrachtete sie als ebenbürtig und behandelte sie auch so.

»Ja«, erwiderte Mara knapp und gab ihm eine der zwei Tassen mit Cappuccino, die sie eben noch aus der Küche geholt hatte. »Alles super.«

»Wie geht’s Matti? Ist er immer noch Camper?« Umut blickte Mara mit leicht besorgtem Ausdruck an. Der Umstand, dass der Ehemann seiner Stellvertreterin seit nunmehr einem Monat in einem Zelt im Garten wohnte, war schon nach kurzer Zeit durchgesickert und sorgte im Kollegenkreis für den ein oder anderen Lacher. Nicht so bei Oktay. Der nahm die Situation ernst und hoffte, dass in Maras Privatleben bald wieder etwas Ruhe einkehrte. Bisher schlugen sich ihre Eheprobleme zwar noch nicht auf die Arbeit nieder, er wollte aber ungern abwarten, bis es so weit kam.

Mara bejahte die Frage mit einem kurzen Nicken. »Wird Zeit, dass der Herbst kommt.« Das Thema wollte sie jetzt keinesfalls vertiefen und war deshalb froh, dass in diesem Moment Eckart Tamm in den Raum kam und sich ans Rednerpult stellte.

»Lassen Sie uns gleich anfangen«, begann er und wartete die drei Sekunden ab, die seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigten, ihre eben begonnenen Sätze zu Ende zu sprechen. »In den ersten beiden Briefings hatten wir ja eher weiche Themen auf der Tagesordnung. Ich wollte schließlich nicht mit der Tür ins Haus fallen. Ab heute wird sich das aber ändern. Wir wagen uns ans Eingemachte. Zu viele Dinge liegen hier bei uns leider schon seit zu langer Zeit im Argen, als dass man noch länger tatenlos abwarten dürfte.«

Er ließ seine Worte wirken. Eine leichte Unruhe breitete sich im Kollegium aus.

»Beginnen wir mit dem Punkt, der mir am meisten am Herzen liegt. Wie Sie wissen, wurden in der Vergangenheit immer wieder Informationen über laufende Ermittlungen an die Presse durchgestochen, und zwar zu einem Zeitpunkt, der für eine schnelle und erfolgreiche Aufklärungsarbeit äußerst hinderlich war. Um es mal harmlos auszudrücken.«

Nicht wenige nickten, denn Tamm sprach etwas an, das bei vielen großen Ärger erregt hatte.

»Ich nenne als jüngstes Beispiel den Sprengstoffanschlag auf das Fahrzeug in der Kaiserin-Augusta-Allee vergangene Woche. Im ARGUS ist nun nicht nur zu lesen, aus welchen Materialien der Sprengstoff hergestellt wurde, sondern auch das exakte Mischverhältnis. Eindeutiges Täterwissen also. Die Arbeit der ermittelnden Kollegen wird so massiv erschwert. Für mich sind derartige Vorfälle nicht mehr hinnehmbar, und deshalb habe ich heute den Auftrag erteilt, eine Kontaktstelle einzurichten, an die Hinweise über Regelverstöße anonym übermittelt werden können. Das Ganze funktioniert digital, zum Beispiel über Ihren Dienstcomputer, die Kennung des Hinweisgebers wird dabei aber nicht gespeichert. Die technischen Details entnehmen Sie bitte der E-Mail, die Sie in Kürze erhalten werden. Also: Wer etwas im Zusammenhang mit der nicht autorisierten Informationsweitergabe an die Presse weiß, gesehen oder gehört hat oder auch nur etwas vermutet, meldet dies bitte. Wir werden jedem Hinweis nachgehen. Helfen Sie mit, den oder die Verantwortlichen zu finden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche noch einen erfolgreichen Tag.« Sprach’s und war auch schon wieder aus dem Konferenzraum verschwunden. Alle anderen blieben mit ungläubigen Mienen sitzen.

»Äh, was war das denn jetzt?«, fragte Mara irritiert, ohne sich an einen bestimmten Adressaten zu wenden.

»Ich glaube, es wurde eben die Gründung von LKA Leaks verkündet«, antwortete Oktay leise.

»Sieht so aus, ja.« Mara konnte mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören. »In Woche drei gleich mal ein internes Bespitzelungssystem eingerichtet. Hut ab, Tamm. Mit dem Vertrauen unter Kollegen ist es jetzt wohl erst mal vorbei.«

»Stasi 2.0«, witzelte der junge Kollege mit der Vorliebe für Hawaiihemden, der direkt vor Mara saß, dessen Name ihr aber momentan nicht einfiel.

Sie ignorierte ihn. »Das sind also diese sagenumwobenen Akzente, die er setzen wollte.« Ein Blick in die sich auflösende Runde sagte ihr, dass viele der Anwesenden ihre Empörung teilten, aber bei Weitem nicht alle. Von einigen wusste sie, dass sie Anweisungen von Vorgesetzten unreflektiert Folge leisteten. Mara kannte ihre Kandidaten.

»Seit 1972 verpetze ich grundsätzlich niemanden mehr«, sagte Umut mit dem durchschaubaren Ziel, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern. »Da hab ich im Kindergarten mal richtig Dresche bekommen.« Er nahm Mara die leere Kaffeetasse ab und stand auf. »Aber die Täter hat’s schlimmer getroffen. Ihnen wurden eine ganze Woche lang Friedenslieder vorgesungen. War ein anthroposophischer Kindergarten.«

Mara lächelte und folgte ihm. »Klassisches Strafsingen also. Da bist du wirklich noch gut weggekom…«

Unvermittelt hielt sie inne, denn vor der Tür des Konferenzraumes wartete Eckart Tamms persönlicher Assistent Gideon Blessing und sah sie und Oktay durch seine runde Brille auf seine verkniffene, durch und durch arrogant wirkende Art an. Blessings Alter ließ sich schwer schätzen, Mara vermutete aber, dass er höchstens dreißig sein konnte. Dennoch war er bereits in den Rang eines Kriminalhauptkommissars aufgestiegen. Auffällig war zudem, dass er immer tadellos und stilsicher gekleidet war. Seine Anzüge waren teuer, das sah man, wirkten dabei aber nicht protzig, sondern unaufdringlich elegant. Das musste Mara trotz ihrer Verachtung für den Kerl anerkennen, und insgeheim gefiel ihr das. Nicht der Mann, nur der Kleidungsstil. Vor allem, weil der Kontrast zu einem großen Teil der Kollegen so auffällig war.

»Umut Oktay. Mara Eisfeld. Kriminaldirektor Tamm möchte Sie beide in fünf Minuten in seinem Büro sprechen.« Kaum hatte er den Satz beendet, machte er auf dem Absatz kehrt und schritt klackernd in seinen rahmengenähten Schuhen über den Flur davon.

Eisfeld und Oktay blickten sich verwundert an.

»Die Lümmel aus der letzten Reihe müssen zum Rapport, oder was?«, fragte Oktay leise und mit gespieltem Entsetzen. »Das System funktioniert also jetzt schon.«

»Sieht so aus«, erwiderte Mara ernst.

4

Als Oktay und Eisfeld vier Minuten und dreißig Sekunden später im Büro ihres Chefs standen, stellte sich das Ganze jedoch völlig anders dar.

»Der Polizeipräsident wünscht sich jemanden wie dich als meinen Nachfolger auf dem Posten des Dezernatsleiters«, erklärte Tamm an Oktay gewandt, ohne sich lang mit Begrüßungsfloskeln oder gar Small Talk aufzuhalten.

»Jemanden wie mich?«, fragte Oktay amüsiert. »Du meinst, er wünscht sich einen Quotenausländer?«

Tamm seufzte. »Du weißt, dass die Polizei von allen Seiten unter Druck steht. Das war zwar schon immer so, der gesellschaftliche und damit der politische Druck hat allerdings stark zugenommen und nimmt weiter zu. Der Polizeipräsident hält es deshalb für wichtig, dass bei der Neubesetzung von Posten verstärkt darauf geachtet wird, dies mit Personen zu tun, die helfen können, das Außenbild der Polizei in eine Richtung zu verschieben, die eher ein Abbild der Gesellschaft darstellt, als es das Außenbild der Polizei derzeit tut. Stichwort Diversität.«

»Sehr schön ausgedrückt, Eckart«, schmunzelte Oktay. »Wie lange hast du an diesen Formulierungen gefeilt?«

Tamm lächelte seinen langjährigen Kollegen milde an. »Umut, ich bin gerade dabei, dich zu befördern. Mach es mir doch nicht so schwer.«

»Doch, mache ich. Weil ich etwas Schwierigkeiten damit habe, dass ich wegen meiner Herkunft und meiner Hautfarbe Karriere machen soll. Und du das auch noch unumwunden zugibst.«

»Du sollst Karriere machen, weil du der geeignetste Kandidat für den Posten bist«, fuhr Tamm mit sonorer Stimme fort. »Und ausnahmsweise ist es mal so, dass eine politische Entscheidung den besten Kandidaten bevorzugt. Was ja nicht immer so ist, wie ich mal gehört habe. Du hast es dir verdient. Also freu dich jetzt gefälligst.« Tamm reichte ihm die Hand. »Gratuliere.«

Oktay huschte ein Lächeln übers Gesicht. »Danke.«

Eisfeld, die bis jetzt etwas unbeteiligt herumstand, wollte gerade ansetzen, Umut ebenfalls zu gratulieren, wurde jedoch von Kriminaldirektor Tamm daran gehindert.

»Und Sie, Kriminalhauptkommissarin Eisfeld, übernehmen die Leitung der Neunten.«

»Was? Ich?« Mara benötigte eine Sekunde, sich zu sammeln. »Äh, okay. Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Herr Kriminaldirektor. Ich muss das aber noch mit meinem Mann besprechen, bevor ich zusage. Wir hatten nämlich …«

Oktay warf ihr einen entsetzten Blick zu und grätschte schnell dazwischen. »Natürlich nimmst du die Stelle an.« Und an Tamm gewandt: »Natürlich nimmt sie die Stelle an.«

»Natürlich nehme ich die Stelle an«, sagte jetzt auch Mara, denn ihr war mit einem Mal klar geworden, dass ihr ein Zögern oder gar etwas, was den Anschein von Zuhause-um-Erlaubnis-Fragen hatte, als Schwäche ausgelegt werden würde. Und es war ja schließlich auch der Posten, den sie sich schon lange erträumt und auf den sie all die Jahre hingearbeitet hatte. Zwar regte sich in den Tiefen ihres Bewusstseins der Wunsch, mehr Zeit mit Sami und Matti zu verbringen, aber das würde sie auch so irgendwie hinbekommen.

»Sehr gut«, sagte Tamm. »Dann gratuliere ich Ihnen ebenfalls ganz herzlich. Es wären aber auch keinerlei Nachteile entstanden, wenn Sie den Job nicht gewollt hätten. Es gibt ausreichend Kandidaten, die scharf darauf sind.«

»Blöderweise alles Männer, stimmt’s?«, frotzelte Oktay. »Stichwort Diversität.«

Tamm grinste. »Du wirst es weit bringen, Umut. So und jetzt raus. Ich muss zwischendrin auch mal arbeiten.«

Und so durchquerten Eisfeld und Oktay kaum zwei Minuten später erneut das Vorzimmer, wo ihnen Gideon Blessing ebenfalls zur Beförderung gratulierte. Steif und ohne jegliche sichtbare Emotion, wie es seine Art war. Erst als die beiden wieder auf dem Flur standen, brach die Freude aus ihnen heraus und sie umarmten sich herzlich. Allerdings nur kurz, denn im nächsten Augenblick trat Blessing aus dem Vorzimmer, einen Karton mit seinen persönlichen Sachen in der Hand.

»Wo wollen Sie denn hin, Blessing?«, fragte Oktay erstaunt. »Sind Sie gefeuert?«

»Nein«, antwortete der sichtlich irritiert. »Ich bin ab sofort KHK Eisfeld unterstellt und außerdem ihr Stellvertreter. Hatte Kriminaldirektor Tamm das nicht erwähnt?«

Jetzt waren es Eisfeld und Oktay, die sich irritiert ansahen.

»Eckart ist so eine Schlange«, sagte Umut mit einem Anflug von Fassungslosigkeit.

»Nein, das muss er wohl vergessen haben«, sagte Eisfeld an Blessing gewandt und machte dabei nicht mal den Versuch, ihren Ärger zu verbergen. Dann drehte sie sich um und ging weiter. Oktay blieb an ihrer Seite.

Blessing folgte den beiden zögerlich und mit einigem Abstand.

»Mein Nachfolger«, zischte Mara Umut zu. »Im buchstäblichen Sinne. Und die Standleitung zu Tamm.«

Oktay musste ihr schweren Herzens beipflichten. »Ja, der alte Stratege hat dir seinen Zögling ins Nest gesetzt. Besser, du hältst ihn an der kurzen Leine.«

»Das werde ich. Da kannst du dir sicher sein.«

Als sie in dem Räumen der 9. Mordkommission ankamen, wurde Maras Ärger aber gleich ein wenig besänftigt, denn dort war alles für eine kleine Feier vorbereitet. Weder Umut noch Mara waren darüber sonderlich überrascht, sie konnten sich denken, wer dahintersteckte. Hedwig Diedrichsen, die mit Anfang sechzig älteste Sachbearbeiterin im Team, verfügte über exzellente Kontakte in alle Hierarchieebenen des LKA Berlin und wusste immer vor allen anderen, wenn etwas im Busch war. Sie hatte nicht nur Zugang zu vielen wichtigen Köpfen – wobei sie ihre Quellen natürlich stets geheim hielt –, sondern auch zu fast allen Räumen des Gebäudekomplexes. Die Schlüssel dazu hatte sie sich im Laufe der Jahre auf verschlungenen Wegen organisiert, weswegen sie von den meisten nur Dietrich genannt wurde. Hedwig Diedrichsen war außerdem Kettenraucherin, trug Dauerwelle aus Überzeugung, hasste Urlaube und hatte im vergangenen Jahr das erste Mal geheiratet. Wen, das behielt sie allerdings für sich. Alte BRD-Geheimdienstschule eben, denn ihre berufliche Laufbahn hatte sie nicht bei der Polizei begonnen, sondern beim Bundesnachrichtendienst in Pullach.

Alle Mitarbeiter der Neunten standen mit einem Gläschen in der Hand herum. Dietrich empfing Mara und Umut mit einem freudigen Grinsen und einer herzlichen Umarmung. »Wusste ich doch, dass aus meinen Schäfchen mal was wird. Bin so stolz auf euch Heidschnucken!« Dann drückte sie jedem von ihnen ein Sektglas in die Hand, sogar Blessing, der seine Kiste mittlerweile auf einem freien Schreibtisch abgestellt hatte.

»Auf euch!« Dietrich erhob ihr Glas und prostete Oktay und Eisfeld zu. Die versammelten Kollegen taten es ihr gleich. Sie leerte ihr Glas in einem Zug und ging dann endlich an ihr Telefon, das seit Maras und Umuts Eintreffen leise, aber beharrlich geläutet hatte.

»Danke, Dietrich, danke, Kollegen, das ist lieb von euch«, sagte Mara gerührt und blickte in die Runde.

»Zeit für eine kleine Ansprache, würde ich mal sagen«, bemerkte Umut, aber so laut, dass es nicht nur Mara hörte, sondern alle im Raum. »So als neue Chefin.«

Mara warf ihm einen scharfen Blick zu, denn er wusste, dass sie spontane Reden hasste, holte dann aber trotzdem tief Luft und hoffte, so einen geistreichen Gedanken anzulocken. Doch bevor sie ansetzen konnte, knallte Dietrich den Hörer zurück auf den Apparat und sprang auf.

»Der kulturelle Teil muss leider warten, Kinners. Es gibt Arbeit!«

Sie hielt einen Zettel hoch, auf dem sie sich die wesentlichen Punkte notiert hatte. »Männliche Leiche, Anfang zwanzig. Todesursache vermutlich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, hervorgerufen durch stumpfe Gewalt gegen den Kopf. KT ist vor Ort. Eine Frau hat zwei Männer bei einer Verfolgungsjagd durch ihren Garten gesehen. Dabei ist eine Skulptur zu Bruch gegangen. Einen der Männer konnte sie als ihren Nachbarn zwei Häuser weiter identifizieren. Als die Kollegen ihn zu dem Vorfall befragen wollten, öffnete niemand, aber durch das Fenster sahen sie eine leblose Person in der Küche liegen.«

Oktay nahm den Zettel, warf einen kurzen Blick darauf und reichte ihn dann an Mara weiter. »Machste allein, ja?«

Mara nickte und merkte im selben Moment, wie ihr etwas mulmig zumute wurde.

5

Eisfeld setzte sich in ihren Dienst-Audi und schloss nachdenklich die Tür. Es war das erste Mal seit ihrer Beförderung, dass sie einen kurzen Moment für sich allein hatte. Neben der Freude über das Erreichen der neuen Karrierestufe spürte sie auch einen Anflug von Unsicherheit. War sie der alleinigen Verantwortung überhaupt gewachsen? Die Antwort darauf gab sie sich unmittelbar selbst, denn schon vor einigen Jahren hatte sie entschieden, den kleinen, zweifelnden Einflüsterer in ihrem Kopf zu ignorieren und öfter einfach mal zu machen.

Entschlossen legte sie den Sicherheitsgurt an, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Motor. Doch gerade als sie im Begriff war zurückzusetzen, ging die Beifahrertür auf, und Gideon Blessing nahm auf dem Sitz neben ihr Platz. Ohne sie anzusehen, schnallte er sich ebenfalls an, legte sein iPad auf die Oberschenkel, darauf seine Hände und wartete mit nach vorne gerichtetem Blick, dass es losging.

Mara sah ihn abwartend an. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich nahm an, Sie benötigen mich am Tatort.«

»So, nahmen Sie an?«

»Ja.«

»Habe ich diesbezüglich etwas gesagt?«

»Nein.«

»Sehen Sie.«

Mara mochte sich nicht, wenn sie so sprach, aber im Laufe der zehn Jahre im Polizeidienst hatte sie gelernt, diesen autoritär-herablassenden Ton anzuknipsen, wenn sie ihn benötigte, denn in manchen Situationen war es der einzige Weg, sich gegen die toxische Männlichkeit mancher Kollegen durchzusetzen.

Gideon Blessing drehte nun zum ersten Mal den Kopf zu ihr und musterte sie mit einer Mischung aus Verunsicherung und Trotz. »Soll ich wieder aussteigen?«, sagte er schließlich, und sein Ton bekam unwillkürlich etwas Flehendes.

Mara tat ihr neuer Mitarbeiter fast ein wenig leid. Tamm hatte ihn in eine Situation gebracht, die alles andere als komfortabel war. Eben noch offiziell der verlängerte Arm des Chefs ihres Chefs und jetzt ihr Untergebener. Mara dämmerte, dass es eigentlich klüger wäre, sich langfristig mit ihm zu arrangieren oder, noch besser, ihn auf ihre Seite zu ziehen, anstatt weiterhin auf Konfrontationskurs zu gehen.

»Sie können vorerst sitzen bleiben, Blessing. Für die Zukunft würde ich mir aber wünschen, dass Sie zuerst meine Anweisungen abwarten und sie dann umsetzen. Und nicht mutmaßen, was meine Anweisungen sein könnten.«

»Selbstverständlich«, murmelte der.

»Schön. Dann haben wir das auch geklärt.«

Mara parkte schwungvoll rückwärts aus, bog in die Keithstraße und gab Gas. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Blessings Hand reflexartig zum Haltegriff schoss, woraufhin sie ein wohliges Gefühl der Genugtuung durchströmte.

Sie kämpften sich zügig durch den vormittäglichen Verkehr quer durch die Stadt und näherten sich schließlich der Adresse, die Dietrich ihnen aufgeschrieben hatte. Als Mara noch mit Oktay unterwegs gewesen war, verfielen sie an diesem Punkt immer in Schweigen. Beide waren sich unausgesprochen darüber einig gewesen, sich ab einer bestimmten Entfernung zum Leichenfundort ganz auf ihre Wahrnehmung zu konzentrieren, die Umgebung wirken zu lassen und einen ersten Eindruck zu bekommen, in welchem Milieu man sich bewegte.

Da Eisfeld und Blessing auf der ganzen Fahrt bisher kein weiteres Wort gewechselt hatten, erübrigte sich eine Einführung in diese Routine. Der Neue konnte schweigen, so viel war sicher. Immerhin ein Pluspunkt. Es gab nichts Schlimmeres als Kollegen, die am laufenden Band quatschten und am Ende doch nichts sagten.

Sie fuhren durch ein Gebiet mit durchmischter Bebauung. Berliner Randlage. Speckgürtel. Handwerksfirmen und Gebrauchtwagenhändler wechselten sich mit Neubausiedlungen und Ansammlungen einfacher Einfamilienhäuser aus den 1920ern mit grauer Fassade ab. Das Haus, auf das sie zusteuerten und das wegen einiger weniger Schaulustiger bereits mit Flatterband abgesperrt war, gehörte zur letzten Kategorie. Umgeben war es von einem großen, mäßig gepflegten Garten. Davor standen zwei Streifenwagen, ein Leichenwagen sowie der grau-blaue Sprinter der Kriminaltechnik.

Mara parkte, stellte den Motor aus und blickte Blessing eindringlich an. »Hören Sie, Blessing, ich glaube, wir sollten noch mal ganz von vorne anfangen. Ich weiß zwar nicht, in welcher Mission Sie unterwegs sind, aber ich bin eher der Harmonietyp, und mir wäre es am liebsten, wir kommen einigermaßen miteinander aus.«

»Ich bin in der gleichen Mission unterwegs wie Sie und in sonst keiner«, versicherte Blessing und rückte sich die Brille zurecht.

Eisfeld war fast geneigt, ihm Glauben zu schenken. Aber was sollte er auch sagen? Zugeben, dass Tamm sie beim geringsten Anlass feuern würde und er dann als ihr Nachfolger bereitstehen würde? Wohl kaum.

Eisfeld überlegte kurz, reichte ihm dann die Hand. »Mara.«

Blessing nahm sie zögerlich und lächelte ganz kurz, was aber irgendwie merkwürdig fratzenhaft aussah. Seine Gesichtsmuskulatur war an diesen Vorgang offensichtlich nicht gewöhnt. »Blessing. Äh, Gideon. Freut mich.«

Mara nickte. »Duzen auch? Oder ist das noch zu früh?«

Blessing wand sich ein wenig. »Vielleicht noch ein bisschen früh, oder?«

»Wie Sie meinen.« Mara schnallte sich ab.

»Aber wenn Sie wollen, dann …«, beeilte sich Blessing zu sagen.

»Nee, nee, schon gut«, unterbrach sie ihn. »Es wird eh zu schnell geduzt. Und jetzt lassen Sie uns arbeiten.«

Sie legten die wenigen Schritte zum Hauseingang zurück. Zwei ältere Streifenpolizisten nickten ihnen kurz zur Begrüßung zu, während sie ihre brennenden Zigaretten hinter dem Rücken versteckten, jedoch so nachlässig und unentschlossen, dass sie es auch hätten bleiben lassen können. Mara vermutete, dass es sich bei den beiden um die Kollegen handelte, die die Leiche entdeckt hatten. Sie würde später mit ihnen sprechen.

Als Eisfeld das Haus betrat, sah sie sofort die Spuren des Kampfes, der hier stattgefunden haben musste. Bilderrahmen mit gebrochenem Glas lagen auf dem dunklen Fliesenboden im Flur. Eine kleine Kommode hatte ein Loch an der Seite, so als hätte jemand mit voller Wucht dagegengetreten. Am Eingang zur Küche sah Mara erste Blutspritzer am Boden. Als sie um die Ecke bog, dann das ganze Ausmaß des Dramas, das sich hier abgespielt haben musste.