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In den eisigen Weiten Grönlands recherchiert der dänische Journalist Matthew Cave den Fall dreier blutiger Selbstmorde und kommt dabei einem noch größeren Verbrechen auf die Spur. Ein Wochenendausflug mit tödlichen Folgen: Als Matthew Cave sich auf die Suche nach seiner Halbschwester Arnaaq macht, ahnt er nicht, in welche Lebensgefahr er sich und seine rätselhafte Begleiterin Tupaarnaq bringen wird. Denn sie finden viele Blutspuren an diesem abgelegenen Ort, die auf ein massives Verbrechen deuten. Und sie entdecken einen geheimnisvollen Bunker unter Tage, der vor Jahren zu einer amerikanischen Basis gehörte. Hier nahm Matthews Vater Tom Cave an einem geheimen medizinischen Experiment teil, das scheiterte. Matthews Vater wurde verdächtigt, zwei Menschen ermordet zu haben, und floh. Seither gibt es keine Spur von ihm. Als Matthew den Spuren nachgeht, interessieren sich plötzlich nicht nur das amerikanische Militär, sondern auch die grönländische Polizei für seine Nachforschungen. "Kälte, Eis und die geheimnisvollen Riten der Inuit - Mads Peder Nordbo ist ein packendes Buch gelungen." amazon-Rezensent
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Seitenzahl: 441
Mads Peder Nordbo
Eisgrab
Ein Grönland-Thriller
Aus dem Dänischen von Marieke Heimburger
FISCHER E-Books
Malersuisoq
Tasiilaq, Ostgrönland
14. Oktober 2014
Tupaarnaq sah den Hang hinunter zum Ortsrand. Die verstreut liegenden roten, grünen, blauen und gelben Holzhäuser leuchteten im orangeroten Licht der Herbstsonne. Im Meer zwischen der kleinen Stadt und den Bergen auf der anderen Seite des Fjords trieben zahllose vom Inlandeis abgebrochene Eisbrocken. Einige waren auf Grund gelaufen, andere bewegten sich langsam mit der Tide vorwärts. Schnee lag in langen Zungen auf den Berghängen und reichte hier und da bis ins Meer hinunter. Bald würde alles unter ihm begraben sein.
Jeden Tag saß sie dort. In der Nähe eines Wildwechsels, über Jahrzehnte gebahnt von Beute und Jägern. Von hier aus konnte sie fast jedes Haus in dem Ort sehen, den sie mehr verabscheute als jeden anderen. Sie konnte beobachten, wohin die Autos vom Heliport aus fuhren, und durch das Zielfernrohr ihrer Büchse konnte sie erkennen, wer welches Haus betrat und wieder verließ.
Nicht weit von ihr entfernt standen zwei Grönländer, die vor ein paar Minuten den Pfad verlassen hatten und in einem Bogen um sie herumgegangen waren. Der eine zeigte auf sie, der andere nickte.
Beide hatten Büchsen über der Schulter hängen, aber offenbar noch nichts geschossen. An ihren Gürteln hing keine Beute, ihre Rucksäcke wirkten schlaff und leer. Doch darüber redeten sie nicht. Sie redeten über sie. Eine Frau mit einer Büchse – das sah man hier nicht gern. Schon gar nicht, wenn sie tagein, tagaus damit am Wildwechsel saß.
Tupaarnaq war sich sicher, dass die meisten Leute in Tasiilaq genau wussten, wer sie war – und doch grüßte sie keiner. Niemand redete mit ihr.
Sie schloss die Augen und strich sich über den kahlen Schädel. Die Haut fühlte sich kalt an. Glatt. Wenn sie gefrieren könnte, wäre sie sicher schon zu Eis geworden – so lange saß Tupaarnaq nun schon reglos da und wartete. Es waren fast null Grad. Oder sogar weniger. Sie atmete tief durch. Hatte das Gefühl, die klare Luft würde ihre Lungen reinigen.
In Tasiilaq sah nie jemand was.
In Tasiilaq sagte auch nie jemand was.
Obwohl sie alles wussten.
Sie spannte die Muskeln unter ihrer schwarzen Kleidung an. Erst in den Armen, dann in der Brust, im Bauch und in den Beinen. Sie biss die Zähne zusammen. Ihr ganzer sehniger, von Tätowierungen bedeckter Körper stand unter Spannung – dann entspannte sie ihn wieder.
Eiskalt pfiff der Wind über ihre Glatze. Tupaarnaq atmete aus und öffnete die Augen. Die beiden Männer waren immer noch da. »Was glotzt ihr denn so?«, flüsterte sie. Ihr Atem bildete Wolken. Sie nahm die Büchse zur Hand. Das kalte Holz und der Stahl so glatt. So sauber. Mit der rechten Hand spannte sie die Waffe. Ruhig legte sie sie an und richtete sie auf die beiden Männer.
Der eine nahm schnell sein eigenes Gewehr von der Schulter, doch noch bevor er es anlegen konnte, fiel bereits ein Schuss.
Die Männer fuhren zusammen, der Knall hallte vom Berg wider.
»Sag mal, hast du sie nicht mehr alle, du Schlampe?«, rief der eine Mann und ruderte mit den Armen. »Verpiss dich und geh dahin zurück, wo du hergekommen bist!«
Sie ließ die Büchse sinken. Der andere Mann rief auch etwas, aber sie hörte nicht hin. Ihr Blick war auf das Weidengestrüpp neben ihnen gerichtet.
»Hey!«
Sie sah auf, ihm direkt ins Gesicht, und setzte sich in Bewegung, direkt auf die beiden zu. Die Büchse hatte sie sich wieder über die Schulter gehängt.
»Wir wollen dich hier nicht«, rief der Mann. »Verpiss dich!«
»Wohin denn?«, fragte sie.
»Na, irgendwohin, wo du nicht deine ganze Familie umgebracht hast«, sagte er, und seine Stimme bebte.
Tupaarnaq blieb stehen. Keine fünf Meter trennten sie mehr von den beiden. Der, der ihr dauernd etwas zurief, hatte immer noch das Gewehr in der Hand, die Finger fest um Kolben und Schaft gelegt.
»Ich habe nur einen umgebracht«, sagte Tupaarnaq. Die Muskeln unter ihrer Haut zitterten. »Und der war ein Schwein.«
Der Mann legte die Waffe an. »Du verficktes Luder, dir werd’ ich …«
»Halt«, sagte der andere und fasste seinem Freund an die Schulter. »Du kannst sie doch nicht einfach so abknallen.«
»Wen interessiert das schon?«, knurrte der Mann hinter seinem Gewehr. »Sie ist eine Mörderin!« Er starrte sie am Zielfernrohr vorbei an.
»Das geht nicht«, sagte der andere.
Tupaarnaq schnaubte und musterte den Wüterich von oben bis unten. »Du bist genauso ein Schwein wie dein Bruder.«
»Er war dein Vater!«
»Er war ein Schwein«, sagte Tupaarnaq. »Einen Vater habe ich nie gehabt.«
Der Mann brüllte, richtete den Lauf seiner Büchse auf den Boden ein paar Meter neben Tupaarnaq und drückte ab. Schuss für Schuss leerte er das Magazin. Die Echos wollten kein Ende nehmen. Es dröhnte in Tupaarnaqs Ohren. Die Patronenhülsen fielen zu Boden und wirbelten Staub und Pulverschnee auf.
Sie schüttelte den Kopf. »Genau wie dein Bruder.«
Der andere Mann packte den Schützen bei der Jacke. Er starrte Tupaarnaq über die Schulter seines Freundes hinweg an. »Du hast hier nichts zu suchen«, sagte er leise. »Du bringst nichts als Unruhe und Ärger.«
»Ich fliege zurück nach Nuuk, wenn ich hier fertig bin.« Sie ging weiter auf die beiden zu, bückte sich und zog einen toten Hasen aus dem arktischen Gestrüpp. Sein weißer Winterpelz war blutig. Tupaarnaq hielt den Kadaver hoch und legte den Kopf schräg. Dann zuckte sie mit den Schultern und warf das tote Tier den Männern vor die Füße. Wortlos marschierte sie an den beiden vorbei Richtung Siedlung.
Seit zwei Monaten wartete sie nun schon. Eines Tages würde er hier aufkreuzen, das wusste sie ganz genau. Eines Tages würde er den Weg heraufkommen, und dann würde sie ihn zur Strecke bringen, wie sie ihren Vater vor über zwölf Jahren zur Strecke gebracht hatte, als sie nach Hause kam und er zwischen den Leichen ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwestern saß. Mit dem Gewehr in der Hand. Er hatte geschrien, als sie ihm den Bauch aufschlitzte und die Kehle durchschnitt. So viel Blut. Ihr Vater war längst tot und schmorte in der Hölle – jetzt war Abelsen dran.
Misiliut
Thule Air Base, Nordgrönland
13. Februar 1990
Fünf Männer saßen im Schnee, um sie herum nichts als Dunkelheit und Eiseskälte. Zuletzt hatten sie minus dreizehn Grad gemessen, doch durch den Wind, der die oberste Schneeschicht vor sich hertrieb, fühlte es sich noch viel kälter an.
Tom sah an sich herunter. Der aufgewirbelte Schnee hatte sich in den Falten seiner langen Baumwollunterwäsche niedergelassen. Anfangs hatte die Körperwärme den Schnee schmelzen lassen, doch jetzt war die Haut unter der dünnen Kleidung so weit abgekühlt, dass der Schnee liegen blieb. Der Baumwollstoff war steif geworden. Fror an der Haut fest. Tom sah zu den anderen. Seinen drei Soldatenfreunden und dem jungen Grönländer Sakkak aus Moriusaq. Sie alle trugen nichts als die lange weiße Militärunterwäsche und blaue Turnschuhe. Ihre Haut wirkte blass. Die Extremitäten waren kaum noch durchblutet.
Sakkak zitterte am ganzen Körper und keuchte vor sich hin. Im Sekundentakt ballte er die Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Als wollte er Blut pumpen.
Sakkak war heute zum ersten Mal dabei. Das Experiment lief schon eine Weile, und jetzt hatten sie zur Sicherheit Sakkak dazugenommen – sie brauchten jemanden, dessen Körper normal reagierte.
Tom schloss die Augen. Spürte sein Herz schlagen. Träge. Sein Puls war enorm langsam. Er hatte Schmerzen, aber sie waren nicht mehr so schlimm wie in den ersten Versuchswochen.
Der Körper hatte das Gefühl zu sterben. Das Gehirn kämpfte mit allen Instinkten gegen die Kälte an. Jedes Mal, wenn sie draußen saßen, spürte Tom, wie sein Körper die verschiedenen Stadien durchlief. Die Maßnahmen, die sein Körper ergriff, um dem Tod zu entgehen: Muskelzittern. Beschleunigter Puls. Hyperventilation. Erblassen.
Solange sie die Sache mit der Durchblutung des unterkühlten Körpers nicht im Griff hatten, war der Inuit ein wichtiger Indikator, der sie vor dem Tod bewahren sollte. Sobald der Grönländer heftig anfing zu zittern, sobald seine Finger und Ohrläppchen blau wurden, mussten sie reingehen, denn dann war die Grenze erreicht. Die anderen froren zwar nicht mehr, aber ihre Körper befanden sich dann genau wie seiner in einem kritischen Zustand.
Eine heftige Bö fuhr zwischen die Kasernen. Tom sah zum Himmel. Er kam ihm so dicht und kompakt vor. Grau und schwarz. Kein Licht. Nirgendwo. Nur piksender Schnee. Er drückte seine Fingerspitzen aneinander. Sie fühlten sich fremd an. Nicht so, als würde er sich selbst berühren. Er klopfte an die Holzwand hinter sich. Seine Gelenke ächzten unter der Bewegung.
Einer nach dem anderen wurden sie hereingerufen. Sakkak. Briggs. Bradley. Reese. Sergeant Cave. Sie durften nicht drinnen warten. Die Messgeräte mussten in dem Moment angeschlossen werden, in dem sie von der Kälte in die Wärme kamen.
Tom holte tief Luft, als er das Gebäude betrat. Die Wärme war mächtig, sofort spürte er, wie es überall unter seiner Haut zu prickeln und zu stechen begann.
Die anderen saßen auf einer langen Bank in einer Art Wartezimmer. Ihre Körper waren über und über mit Elektroden beklebt, von denen zahllose dünne Drähte zu den vielen Analysegeräten hinter ihnen führten.
Tom atmete schwer, als er sich die lange Baumwollunterwäsche auszog. Nur mit Boxershorts bekleidet, setzte er sich neben den jungen Grönländer und spürte, wie ihm die Elektroden aufgeklebt wurden.
Sakkak sah ihn an. »Bist du Däne?«
»Nein, aber ich spreche Dänisch.«
»Die anderen nicht«, stellte Sakkak fest. »Und auch kein Grönländisch.«
»Die sind hier vom Stützpunkt«, erklärte Tom. »Amerikaner, wie ich.«
»Ich heiße Sakkak.« Der junge Inuit lächelte. »Ich spreche auch nicht so gut Dänisch.« Er rieb sich über die Schenkel und räusperte sich. »Bist du auch zum ersten Mal hier?«
»Nein.« Tom atmete tief durch die Nase ein. »Wir sind schon seit knapp zwei Monaten dabei.«
»Huch«, sagte Sakkak und riss die Augen auf. »So lange schon.« Er rieb sich immer noch mit den Handflächen über die Oberschenkel.
»Wir sollen während der Messung stillsitzen. Ich bin übrigens Tom.«
»Ich wohne mit meiner Freundin zusammen in Moriusaq«, erzählte Sakkak.
Tom nickte. Das wusste er bereits.
»Ich bin Jäger.«
Tom ließ den Blick über den Körper seines Sitznachbarn wandern. Seine Haut war gerötet mit weißen Punkten. Er zitterte immer noch.
Sakkak sah zu den dunklen Fenstern hinüber. »Meine Freundin heißt Najârak. Sie ist zweiundzwanzig. Wir sind schon fast drei Jahre zusammen.« Er schüttelte sich. Lachte vor sich hin. »Sie kommt aus Savissivik. Wir haben uns in Moriusaq kennengelernt, weil sich in dem Sommer ganz viele aus den anderen Orten dort versammelt hatten. Ich hatte gerade meinen ersten Eisbären erlegt, und Najârak sollte ihn ausnehmen und häuten. Sie konnte das nicht besonders gut und bat mich um Hilfe, aber ich wusste auch nicht genau, wie man das macht, und am Ende standen wir beide da und waren von oben bis unten blutbeschmiert. Wir sahen uns an und lachten.« Sakkak blickte Tom an. »Sie hat mir gerade erst einen Sohn geschenkt, er heißt Nukannguaq. Ich bin so glücklich, dass wir ihn haben.«
»Schön«, sagte Tom. »Ich habe auch einen Sohn, aber der ist mit seiner Mutter in Dänemark. Er ist drei.«
»In Dänemark?«, sagte Sakkak. »Dann musst du ihn aber bald mal besuchen. Ein Sohn braucht seinen Vater. Als Vorbild. Glaub mir. Wer keinen Vater hat, hat keinen Schutz … Nukannguaq hat mich.«
»Wir müssen erst mal mit dem Kram hier fertig werden.« Tom nickte in Richtung der Apparate und der Forscher, die sich alles Mögliche notierten.
Sakkak lächelte. Dann runzelte er die Stirn. »Ich verstehe nicht, wieso ich so furchtbar friere und ihr anderen nicht.«
»Sergeant?«
Tom blickte sich um.
»Was redet der Eskimo da?«, fragte die Stimme hinter ihnen auf Englisch.
»Er erzählt von seiner Freundin und seinem Sohn«, sagte Tom.
»Kannst du ihm bitte sagen, dass er die Klappe halten soll?«
Tom sah Sakkak an. »Wir sollen leise sein.« Er nickte in Richtung der Elektroden auf seinem Arm. »Das Reden stört die Messungen.«
Sakkak senkte den Blick. »Vielleicht wirken die Tabletten bei euch Weißen einfach besser.«
Tom schloss die Augen und zog sich in sich zurück. Unter der Haut kribbelte es immer noch. Das Blut floss wieder. Dieses Mal hatten sie über eine Stunde da draußen gesessen, und er hatte nicht eine Sekunde lang gefroren. Der Körper war steif geworden, und ihm hatte alles weh getan, als er sich erhob, aber gefroren hatte er nicht.
»Und wie sieht es mit Aggressionen aus?«
Tom sah sie an. »Ich bin nicht ganz sicher, aber ich meine, da hat sich was verändert.«
Sie waren nur noch zu dritt. Christine und Lee, beide Biochemiker, und Tom. Sakkak, Briggs, Bradley und Reese hatten den Raum verlassen, nachdem man sie von den Messelektroden befreit hatte.
»Oder doch, ich bin mir sicher«, fuhr Tom fort. Er sah in seine Notizen. »Vor allem im letzten Monat hat sich einiges verändert, insbesondere was die Gemütslage und den sozialen Umgang angeht.«
»Zum Negativen?«
»Ja, zum Negativen.«
»Die Messungen zeigen auch eine erhöhte Aktivität in der Amygdala«, sagte Christine. »Und auf den Aufnahmen, die wir vorgestern gemacht haben, ist eine deutlich verschlechterte Verbindung zwischen der Amygdala und den Stirnlappen zu erkennen.«
»Das deutet also auch darauf hin, dass wir immer aggressiver werden?«, fragte Tom.
»Auf jeden Fall«, sagte Christine. »Ganz ähnliche Untersuchungsergebnisse bekommt man nämlich bei verurteilten Gewaltverbrechern … also was die reduzierte Verbindung zwischen Amygdala und den Stirnlappen angeht und Jähzorn und … Gewaltbereitschaft.«
»Sind die Ergebnisse schlimmer als erwartet?«, fragte Tom.
Christine nickte. »Nach nur anderthalb Monaten Medikation? Ja.«
»Gleichzeitig können wir feststellen, dass eure Kälteresistenz markant gestiegen ist«, merkte Lee an. »Was das angeht, sind unsere Ergebnisse vollkommen eindeutig, und das heißt, wir arbeiten in die richtige Richtung. Vor allem seit wir euch die doppelte Dosis geben, gibt es da überhaupt keinen Zweifel mehr.«
»Leider haben auch die Nebenwirkungen markant zugenommen«, sagte Christine.
»Ja«, sagte Lee. »Aber wenn du mich fragst, sind die Nebenwirkungen angesichts des Gesamtergebnisses zu vernachlässigen.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Ich habe den Eindruck, dass sich alle Versuchsteilnehmer mehr zurückziehen und Kontakt mit den anderen meiden.«
»Alle? Du also auch?«
»Ja, ich auch. Ich bin zurzeit enorm antriebslos, und morgens werde ich ohne jeden Anlass sauer. Aber ich hab das im Griff.«
»Ich wollte eure Dosis eigentlich gerne noch einmal verdoppeln«, sagte Lee.
Tom warf einen Blick auf seine Notizen. »Okay.«
»Das ist noch zu früh«, widersprach Christine. »Wir müssen abwarten, ob sich die verschlechterten Werte stabilisieren.«
Lee nickte. »Und Sakkak? Geben wir dem weiter Placebos, oder wollen wir ihn richtig mitmachen lassen?«
»Placebos«, beeilte Christine sich zu sagen. »An Zivilbürgern dürfen wir die Tabletten noch nicht testen.«
Tom rieb sich die Stirn. »Wir könnten uns auch mal die Zusammensetzung ansehen.«
»Nein, daran rühren wir jetzt erst mal nicht«, wehrte Lee ab. »In zwei Wochen erhöhen wir die Dosis, und dann werden wir sehen, was die Messungen ergeben. Alles andere würde die Ergebnisse verfälschen.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Christine. »Mehr möchte ich nicht riskieren. Wenn die Reduktion der Verbindung zwischen Amygdala und Stirnlappen sich fortsetzt, können wir es mit Blackouts und Psychosen zu tun bekommen.« Sie sah Tom an. »Du nimmst doch auch dieselbe Dosis.«
»Ich weiß.« Tom massierte sich die Nase. Dann rieb er sich die Augen. »Ich finde, wir sollten die Dosis jetzt gleich erhöhen.«
Thule Air Base, Nordgrönland
27. Februar 1990
Tom schob seinen Spion direkt neben einen von Briggs’ roten Stratego-Steinen und sah fragend auf.
»Bumm«, sagte Briggs.
Tom nickte zufrieden. »Hab ich’s mir doch gedacht.«
Briggs schob eine Figur neben die Bombe.
»Oberst?«, fragte Tom.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das verrate, oder?«
»Einen Versuch war es wert.« Tom schob einen Mineur hinter den General, den er in der Nähe von Briggs’ Bomben platziert hatte.
Briggs’ Beine zitterten. »Drecksspiel. Ich kann mich nicht konzentrieren.«
»Genau darum spielen wir ja«, sagte Tom.
Briggs betrachtete die Spielsteine, als wären sie lebendig und außer Kontrolle.
»Jetzt mach schon«, sagte Tom. »Ich gewinne ja sowieso immer.«
»Verdammtes Drecksspiel!«, brach es aus Briggs hervor. Er trat gegen den Tisch, so dass einige der Spielfiguren umkippten.
Tom sah auf. »Jetzt beruhig dich mal wieder.«
»Ich kann nicht mehr«, sagte Briggs. Er atmete viel zu schnell. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter dem grauen Trainingspulli. »Diese Versuche machen uns kaputt.«
Tom stand auf und ging zum einzigen Fenster. Draußen war es stockfinster, obwohl es erst Nachmittag war. Der Schnee reichte bis zur Fensterbank. Er öffnete das Fenster. Draußen waren es mindestens minus fünfzehn Grad. Die klare Luft umfing ihn. Er spürte sie tief in seinen Lungen. Aber sie fühlte sich nicht kalt an, obwohl er an seinen Armen sehen konnte, dass die Haut sofort reagierte. Er steckte Hände und Arme bis zur Schulter in den Schnee unter dem Fenster und legte das Kinn auf dem Fensterrahmen ab.
»Was machst du denn da?«, murrte Briggs.
»Ich spür gar nichts«, sagte Tom. »Kein bisschen Kälte … Total irre, oder?«
»Kann dir doch scheißegal sein, wenn dabei gleichzeitig dein Gehirn zu Matsch wird«, schimpfte Briggs. »Jetzt guck dir mal meine Scheißhände an!«
Tom zog die Arme aus dem Schnee und drehte sich um. Briggs hatte die Hände ausgestreckt.
»Guck mal, wie die zittern! Ich kann überhaupt nichts mehr machen! Und in meinem Kopf ist auch die Hölle los … Ich verstehe nicht, wieso ich überhaupt an diesem Versuch teilnehmen muss!«
Tom strich sich langsam mit beiden Händen übers Gesicht. Dass sie nass waren, spürte er – dass sie kalt waren, nicht. »Soll ich dir ein Beruhigungsmittel besorgen?«
»Was? Beruhigungsmittel … Nein, danke. Ich habe keine Lust mehr auf Chemie. Ich will hier raus. Ganz raus.«
»Das ist nicht so einfach«, sagte Tom.
»Das ist mir scheißegal! Das hier macht uns kaputt … Und wofür? Damit wir durch die Arktis spazieren können, ohne zu frieren?« Er breitete die Arme aus. »Hier ist doch eh nichts los. Was zum Henker machen wir überhaupt hier? In diesem gottverlassenen Scheißland?«
»Es geht nicht um Grönland«, sagte Tom. »Kälteresistenz birgt ein ganz enormes Potential … Die Neandertaler waren unempfindlicher gegen Kälte als wir, und wenn wir die dafür zuständigen Gene reaktivieren können, dann …«
»Die Neandertaler?«, fiel Briggs ihm ins Wort. »Verdammte Hacke, Tom. Wenn das für die so entscheidend gewesen wäre, dann wären sie doch wohl nicht ausgestorben, oder?«
»Das Klima verändert sich ständig.«
»Ja, und zwar erwärmt es sich … Ich darf mir also zwecks Steigerung von Kälteresistenz das Hirn zermatschen lassen, während um uns herum das Inlandeis schmilzt. Schönen Dank auch.«
»Es wird sich auch irgendwann wieder in die andere Richtung entwickeln«, sagte Tom. »Und das kann ganz schnell gehen. Aber das kann uns auch egal sein, weil der Versuch sich ganz aufs Hier und Jetzt konzentriert. Wenn wir auf medizinische Weise Kälteresistenz herstellen können, wird das sämtliche arktischen Einheiten der NATO stärken – und vielleicht sogar neue Siedlungsgebiete erschließen. Menschen aus überbevölkerten und Dürre ausgesetzten Gebieten in Äquatornähe könnten sich in kälteren, dünnbesiedelten Gegenden der Arktis ein neues Leben aufbauen.«
»Wer will denn bitte hier leben?«, rief Briggs und boxte so heftig gegen die Wand hinter dem Sofa, dass die Haut über seinen Knöcheln platzte. Er starrte seine Hand an. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich kann nicht schlafen. Ich bin aufbrausend, hab mich nicht im Griff. Das ist nicht gut. Ich muss hier raus.«
»Aus Tupilak?«
»Aus Tupilak kommt wohl keiner raus«, sagte Briggs knapp. »Tupilak läuft. Aber die Kälte überlasse ich gerne euch.«
Tom sah auf seine Hände. Sie zitterten auch. Er schloss die Augen. Rieb sie sich vorsichtig. Spürte eine immense Müdigkeit tief in seinem Körper. »Das geht nur schrittweise«, sagte er leise. »In einer Woche halbieren wir deine Dosis, und dann lassen wir es ganz ausschleichen. Anders geht es nicht.«
Briggs setzte sich aufs Sofa und schlug die Hände vors Gesicht. »Siehst du denn nicht, was das Zeug mit uns anstellt?«
»Das wussten wir von Anfang an.«
»Du redest vielleicht einen Scheiß, Mann«, schnauzte Briggs ihn an. »Wir beide entscheiden doch selbst, ob wir die Tabletten nehmen wollen oder nicht. Reicht doch, wenn Bradley und Reese die nehmen.«
»Nein, das reicht nicht. Und wir können auch nicht selbst entscheiden. Das weißt du ganz genau.«
»Hauptsache, wir drehen am Ende nicht komplett ab und landen in der Klapse«, schimpfte Briggs.
»Ist alles eine Frage der Gewöhnung«, sagte Tom. »Die Wut wird schon wieder nachlassen.«
Briggs schüttelte den Kopf. »Wie läuft’s mit Annelise und Matthew?«
»Was meinst du?«
»Na ja, geht’s ihnen gut in Dänemark?«
»Alles bestens«, sagte Tom. »Sie wohnen auf dem Land. Auf Fünen. In einem Ort namens Tommerup.«
»Vermisst du sie gar nicht?«
»Doch.«
»Dann hör doch mit dem Scheiß hier auf und fahr zu ihnen, bevor es zu spät ist. Du hast doch noch jede Menge Heimaturlaub gut.«
Tom schloss das Fenster wieder. »Wie du bereits sagtest: Aus Tupilak kommt man nicht raus.«
Briggs drehte die linke Hand so, dass er die Pulsadern und eine schmale weiße Narbe sehen konnte.
»Verdammt lange her.« Tom lächelte.
»Du bist schon immer irgendwie verrückt gewesen«, sagte Briggs. »Schön tief schneiden, hast du gesagt. Damit das Blut sich vermischen kann.« Er sah auf. »Damals hättest du uns beide auch beinahe umgebracht.«
Tom betrachtete die Narbe an seinem eigenen Unterarm. »Sag mal … Falls mir irgendwas passieren sollte … passt du dann für mich auf Matthew auf?«
»Was sollte dir denn passieren?«
»Keine Ahnung. Falls ich verschwinde oder sterbe.«
»Lass mich bloß in Ruhe, ich hasse Kinder.«
»Ich meine es ernst!«
Briggs holte tief Luft und atmete sehr lange aus. »Ich kann nicht mit Kindern umgehen.«
»Du sollst ihn ja auch nicht adoptieren, Herrgott.« Tom strich über seine Narbe. »Ich möchte nur, dass du im Auge behältst, was er so treibt … aus der Ferne … und in Erscheinung trittst, falls er in Schwierigkeiten gerät … Wenn du Kinder bekommst, tue ich das Gleiche für dich.«
»Okay«, sagte Briggs. »Ich behalte ihn im Auge … aus der Ferne!«
»Versprochen?«
»Ja, sag ich doch. Und du siehst zu, dass du am Leben bleibst, ja? Ich hab kein Händchen für Kinder.« Kopfschüttelnd erhob Briggs sich. »Ich geh rüber und stemme ein paar Gewichte. Willst du mit?«
»Heute nicht.«
Tom begleitete Briggs zur Tür und ging dann ins Bad. Er öffnete einen kleinen Spiegelschrank über dem Waschbecken, holte ein Glas ohne Etikett heraus, schüttelte zwei unregelmäßig geformte Tabletten heraus und steckte sie sich in den Mund.
Er betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war schmal. Bleich. Seine Augen glotzten ihn an. Das eine mit seinen zwei Pupillen. Matthew hatte seine Pigmentstörung in der Iris geerbt, diesen schwarzen Punkt, durch den es aussah, als hätte er in einem Auge zwei Pupillen. Tom schloss die Augen. Der kleine Junge strahlte ihn an. Als Annelise und Matthew in Thule das Flugzeug nach Dänemark bestiegen, hatte der Kleine auch gestrahlt und gewinkt. Er war zu klein gewesen, um zu verstehen, wie lange er seinen Vater nicht sehen würde. Aber so, wie die ganze Operation sich entwickelte, hatte Tom sie nicht länger bei sich auf der Basis behalten können. Das war ihm zu riskant gewesen.
Die Tabletten begannen zu wirken. Seine Muskeln spannten sich an. Er warf sich bäuchlings auf den Badezimmerfußboden, fing sich mit beiden Armen ab und ging direkt dazu über, wie wild Liegestütze zu machen, einen nach dem anderen, immer weiter, ohne zu zählen. Wie im Rausch.
Erst als es an der Tür klopfte, drang die Umwelt wieder zu ihm durch. Er sprang auf und wusch sich schnell das Gesicht.
Das Wasser vermischte sich mit seinem Schweiß.
Wieder klopfte es.
»Moment … Komme!«
Er öffnete die Tür, draußen stand eine der kleinen Inuitfrauen von der Messe. In seinen Armen und seiner Brust ächzten die Muskeln.
Sie lächelte. »Sergeant Cave … Ein Anruf für Sie … Aus Dänemark.«
Tarrat toqqortat
Nuuk, Westgrönland
17. Oktober 2014
Am Mittwochnachmittag wurde der frühere Regionalregierungs- und Selbstverwaltungsvorsitzende Jørgen Emil Lyberth tot in einer Wohnung im zweiten Stock von Block 18 aufgefunden. Die Polizei in Nuuk hat noch nicht viele Informationen preisgegeben, jedoch ist unserer Zeitung bekannt, dass es sich um einen äußerst brutalen Mord handelt. Das Opfer wurde an den Fußboden genagelt und anschließend aufgeschlitzt. Noch liegen der Polizei keine konkreten Beweise vor, jedoch ist nicht auszuschließen, dass der Mord etwas mit Lyberths polarisierenden Aussagen zur Unabhängigkeit Grönlands zu tun hat. Die Polizei sucht jetzt nach Ressortchef Erik Abelsen und einer vor kurzem aus der Haft entlassenen jungen Frau aus Tasiilaq, die dem Leiter der Ermittlungen Michael Ottesen zufolge vermutlich zur Aufklärung des Falls beitragen können.
Matthew schob den Artikel beiseite, den er sich vor fast zwei Monaten von der Website der Zeitung Sermitsiaq ausgedruckt hatte. Das Papier war bereits ganz zerknittert, so lange trug er es schon in seiner Tasche mit sich herum. Sein Kollege Leiff hatte den Artikel geschrieben, kurz nachdem man Lyberths aufgeschlitzte Leiche in einer der heruntergekommenen Mietskasernen gefunden hatte – und zwar in genau der Wohnung, in die Tupaarnaq erst wenige Wochen vorher eingezogen war. Matthew hatte in den Tagen nach dem Mord den Ball flach gehalten, bis Abelsen aufgegriffen und festgesetzt worden war. Außerdem hatte Matthew selbst ein Menschenleben auf dem Gewissen – in Notwehr hatte er Ulrik getötet.
Als er Ulrik das erste Mal begegnete, war dieser ein junger, gutgelaunter und ehrgeiziger Polizist gewesen, der in die politischen Fußstapfen seines Ziehvaters Lyberth treten wollte – doch dann war alles um ihn herum zusammengebrochen und hatte ein blutiges Ende genommen, als herauskam, dass Ulrik in Wirklichkeit das Ergebnis einer Vergewaltigung und Abelsen sein leiblicher Vater war. Dass dann auch noch Ulriks Schwester Tupaarnaq nach zwölf Jahren Haft für den Mord an ihrer Familie entlassen worden und wieder in Nuuk aufgetaucht war, hatte Ulrik überfordert. Tupaarnaq gab ihrem Vater und Abelsen die Schuld am Mord an ihrer Mutter und ihren kleinen Schwestern, doch Ulrik gab Tupaarnaq die Schuld an allem. Sie war es gewesen, die man neben der aufgeschlitzten Leiche ihres Vaters gefunden hatte, sie war es gewesen, die über und über mit dem Blut aller vier Toten beschmiert war, sie war es gewesen, die für diese vier Morde verurteilt wurde. Ulrik hatte keine Ahnung gehabt, dass Abelsen sein leiblicher Vater war, bis an jenem Tag alles auf einmal herauskam, er rotsah und sowohl Tupaarnaq als auch Abelsen töten wollte. Ulrik und Tupaarnaq waren zusammen in Tasiilaq aufgewachsen, aber nach den Morden an Vater, Mutter und kleinen Geschwistern hatten nicht nur Tupaarnaqs viele Jahre im Gefängnis, sondern auch Ulriks abgrundtiefer Hass auf seine große Schwester eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen geschaffen –, bis diese plötzlich in Nuuk aufkreuzte und mitten in einem neuen Mordfall landete.
Die Sonne tauchte das Wohnzimmer in glänzendes Gold. Matthew hatte auf der Suche nach einem USB-Stick seine Tasche auf dem Sofa ausgekippt. Alles Mögliche flog darauf herum – Papiere, Bilder. Er rieb sich die Augen. Was für ein Chaos. Seine Augen brannten von der trockenen arktischen Luft. Und von der ihn plagenden Schlaflosigkeit. Vor vier Monaten war er von Dänemark nach Nuuk gezogen, weil er sich nach Ruhe und Ordnung sehnte, doch dann hatte er im Spätsommer Tupaarnaq kennengelernt, und als die beiden sich gemeinsam mit einem alten Fall von Rachemord und Kindesmissbrauch beschäftigten, war ihm alles entglitten. Auf einmal stand er im Obergeschoss von Jakobs Haus und sah, wie Ulrik Tupaarnaq ein Messer in die Seite rammte, während Abelsen in der Stube direkt unter ihnen an einen Sessel gefesselt war.
Die ersten Tage nach dem Überfall und Ulriks Tod saß Matthew vor allem im Krankenhaus an Tupaarnaqs Bett, und während er darauf wartete, dass sie wieder zu Bewusstsein kam, musste er immer wieder an die Geschehnisse in Jakobs Haus denken. Tupaarnaq und wie sie aus der Wunde blutete, die Ulrik ihr mit dem Messer zugefügt hatte. Das Gefühl in den Händen, als er mit Jakobs alter Harpune Ulriks Rücken durchstieß. Das Geräusch, als die gebogene Klinge des Ulu Ulriks Kehle aufschlitzte. Dick war das Blut aus der Wunde hervorgequollen und ihm über die Brust gelaufen. Leblos war der Körper vornübergefallen und mit der aus dem Rücken ragenden Harpune liegen geblieben.
Matthew wurde übel. Er würgte. Schluckte ein paarmal, zwang die Übelkeit und den Speichel herunter. Sah hinüber zu den großen Wohnzimmerfenstern und der Balkontür. Klar legte sich die Herbstluft auf Nuuk. Es herrschte nur zwei Grad plus, und vor wenigen Tagen hatte ein heftiger Sturm mit peitschendem, eiskaltem Regen die letzten Reste des Spätsommers vertrieben. Die Berge sahen aus, als würden sie weinen, überall waren Wasserfälle entstanden, die sich nun die Fjällflanken herunterstürzten.
Matthew zündete sich eine Zigarette an. Betrachtete seine Hände. Der Rauch tat gut. Matthew schloss die Augen und inhalierte. Ließ die Kippe zwischen den Lippen hängen.
Ulriks Tod hatte viele Fragen aufgeworfen, doch die Polizei und insbesondere der Dienststellenleiter Ottesen hatten ihn gut abgeschirmt. Schon bald hieß es, nicht die Harpune im Rücken habe zum Tod geführt, sondern der Schnitt durch die Kehle, und deshalb machte man Matthew nicht den Prozess, er musste kein Urteil fürchten. Er hatte Ulrik in Notwehr getötet, auch wenn er sich selbst anders erinnerte. Ulrik hatte auf der ans Bett gefesselten, nackten Tupaarnaq gesessen. Als er ihr das Messer in die Seite rammte, stieß Matthew ihm die Harpune in den Rücken. Mit einer solchen Wucht, dass die Spitze zur Brust wieder herauskam.
Matthew hatte Tupaarnaq zugedeckt und versucht, ihre Wunde zuzudrücken. Das Blut war zwischen den tätowierten Blättern und seinen Fingern hervorgequollen und in die Matratze gesickert.
Dann waren sie einige Tage im Krankenhaus gewesen. Wurden immer wieder verhört. Tupaarnaq kam wieder zu sich und verschwand aus Nuuk, bevor die Ärzte sie entlassen hatten. Sie hatte seine Hand gehalten, und dann war sie plötzlich weg gewesen. Ottesen brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass sie nach Tasiilaq geflogen war – mehr wusste Matthew nicht. Sie antwortete nicht auf seine SMS und ging nicht ans Telefon. Sie war längst noch nicht in der gesundheitlichen Verfassung gewesen, eine solche Reise anzutreten, und doch war sie weg – und schwieg. Alles Mögliche hatte er ihr geschrieben in der Hoffnung, sie würde irgendwann endlich reagieren. Vergeblich.
Matthew warf die Kippe in eine Tasse auf dem Tisch. Es zischte. Er betrachtete die Bilder auf dem Sofa. Tine. Tines Bauch. Das Foto war wenige Wochen vor dem Verkehrsunfall entstanden, bei dem Tine und die ungeborene Emily ums Leben kamen. Matthews Hand glitt in die rechte Hosentasche und befühlte den Ring. Er konnte ihn nicht ganz ablegen, konnte sich nicht endgültig trennen von dem Gefühl der Geborgenheit, das der Ring ihm gab. Er hatte versucht, ihn mal ein, zwei Tage in der Schublade liegen zu lassen, aber das hatte sich falsch angefühlt. Einsam und nackt. Tine war mit ihrem Ring beerdigt worden. Es war alles so schnell gegangen. Der Unfall. Ihr Tod. Tines Blick, als sie starb. Seine Finger auf ihrem runden Bauch. Das Leben, das endete, bevor es begann.
Die meisten Fotos waren schon ziemlich abgegriffen. Manche waren genauso alt wie er selbst. Die von seinem Vater waren die ältesten. Aufgenommen an der Thule Air Base. Bevor Matthew und seine Mutter nach Dänemark ausreisten. Sein Vater war ihnen nie gefolgt. Matthew drehte die Karte um, die er ihnen im August 1990 aus Nuuk geschickt hatte. Ich kann doch noch nicht nach Dänemark kommen. Tut mir leid. Ich liebe Euch. Zusammen mit den Bildern von der Air Base, auf denen sein Vater und seine Mutter in der Regel zusammen zu sehen waren, war diese Karte alles, was ihm von seinem Vater geblieben war. Das letzte Lebenszeichen.
Zwischen den Sachen auf dem Sofa lag auch das schwarze Notizbuch, in dem er angefangen hatte, seine Gedanken aufzuschreiben. Für Emily. Es war ihm ein Bedürfnis, ihr vom Leben und der Welt zu erzählen, deren Licht sie nie erblicken würde.
Die Luft schmeckte nach Rauch. Die Sonne stand hoch über den niedrigen Gebäuden, die sich zum Herrnhuter-Friedhof hin erstreckten. Er ging seine vielen unbeantworteten SMS an Tupaarnaq durch. Immer wieder. Zündete sich noch eine Zigarette an und stand auf. Um ihn herum tanzte Staub. In der Wohnung roch es schal.
Er öffnete die Balkontür, die friedlich in ihren Angeln hing. Bei Sturm hatte er manchmal Mühe, die Tür festzuhalten.
Er atmete tief durch. Vermischte die klare Luft der Arktis mit dem Rauch der Zigarette. Tupaarnaq hatte recht. Wieso hörte er eigentlich nicht mit dem Rauchen auf? Kurz nach dem Unfall war er zu nichts anderem imstande gewesen, als Zigaretten anzuzünden und Löcher in die Luft zu starren.
Seine Gedanken fuhren Karussell. Es war keine zwei Monate her, seit er selbst unmittelbar mit Lyberths und Ulriks Tod zu tun gehabt hatte, und jetzt sollte er einen Artikel über drei Selbstmorde schreiben, die sich vor wenigen Tagen in Ittoqqortoormiit in Ostgrönland ereignet hatten. Der Redakteur hatte ihm am Vorabend ein paar Bilder und die ersten Zeugenaussagen geschickt. In Ittoqqortoormiit gab es nur einen richtigen Polizisten. Er hatte zwei Hilfskräfte, die nur sporadisch arbeiteten und von denen die eine der Zeitung die Informationen übermittelt hatte. Der Ablauf war so weit korrekt, und Matthew hatte gleich alles an Ottesen weitergeleitet. Nicht, weil er die Quelle des Redakteurs preisgeben wollte, sondern weil sie Probleme bekämen, wenn sie die Bilder in der Zeitung verwendeten. Nahaufnahmen der Toten. Zwei von ihnen mit Schussverletzungen in der Brust, der dritte mit vom Mund aufwärts zerschossenem Kopf. Das Zimmer, in dem sie lagen, glich einer ramponierten Haschhöhle, war aber wohl einfach das Haus eines der Toten. Ittoqqortoormiit war eine im Verfall begriffene, heruntergekommene Stadt, obwohl ein paar Handvoll der letzten knapp vierhundertfünfzig Einwohner taten, was sie konnten, um sie zu retten. Ittoqqortoormiit war die kleinste Stadt Grönlands und auf bestem Wege, zu einem Dorf zu verkümmern. Ittoqqortoormiit war auch die entlegenste Stadt Grönlands. Vielleicht die entlegenste Stadt der Welt – von der nächsten Stadt Tasiilaq trennen sie 850 Kilometer Eis und Fjäll.
In dem Zimmer in Ittoqqortoormiit waren vier junge Männer gewesen, aber nur drei von ihnen waren tot. Der vierte hatte sich auch eine Kugel verpasst, war aber noch am Leben. Es war das Bild von ihm gewesen, das Matthew veranlasst hatte, alles an Ottesen weitzuleiten. Eine Nahaufnahme von seinem Kopf. Die eine Gesichtshälfte total zerfetzt. Die Lippen hingen schlaff herunter, und die Wange war so aufgerissen, dass man die Zähne sehen konnte. Einige waren zertrümmert und verteilten sich als weiße Splitter in der Wunde. Das Gesicht war blutverschmiert. Der Hals auch. Ein Auge war starr auf den Fotografen gerichtet. Eins. Das andere verschwand unter Blut.
Matthew ließ die Kippe in ein Gurkenglas voller Wasser und alter Zigarettenstummel fallen und sah dann hinüber zum Ukkusissat, jenem Berg, der sich hinter Nuuks letztem Stadtteil Qinngorput in den blauen Himmel erhob. Hinter dem Ukkusissat lugten weitere Fjällgipfel hervor, und direkt dahinter begann schon das Inlandeis. Vom Gipfel des Ukkusissat sah man, wenn man Richtung Ittoqqortoormiit schaute, 1500 Kilometer Eis. Sonst nichts. Kein Leben. Nichts. Einfach nur einen kilometerdicken Eispanzer, doppelt so groß wie Frankreich und Deutschland zusammen.
Der junge Mann, der sich das Gesicht zerschossen und überlebt hatte, hieß Nukannguaq, und den Notizen zufolge, die Matthew vorlagen, hatten alle vier wohl unter Drogeneinfluss gestanden. Nukannguaq hatte sogar ausgesagt, ein Dämon habe die anderen getötet und ihn dazu gedrängt, sich selbst zu erschießen. Nukannguaq war kurz nach dem Schuss gefunden und sofort nach Reykjavík geflogen worden, wo die Ärzte in einer stundenlangen Operation versuchten, sein Leben zu retten – und sein Gesicht.
Im Verhör mit der isländischen Polizei hatte Nukannguaq ausgesagt, sie hätten eine Tüte mit selbstgemachten Tabletten gefunden und dass diese Tabletten an allem schuld seien. Erst hätten sie jeder zwei genommen. Davon seien sie alle angenehm high geworden, darum hätten sie gleich noch mehr genommen. So sechs, sieben Stück. Und darauf hätten sie im Prinzip sofort reagiert. Binnen weniger Sekunden sei alles um sie herum kaputt gewesen. Als wären sie in die Hölle hinabgestürzt und von unterirdischen Geistern zerfetzt worden. Alles Dunkle in ihnen sei hervorgezerrt worden. Sie hätten gebrüllt und geschrien. Nukannguaq wusste nicht, was passiert war. Plötzlich habe er im Sessel gesessen, und die anderen hätten blutüberströmt um ihn herumgelegen. Er habe keine Schüsse gehört. Er habe gedacht, der Lärm sei in seinem Kopf gewesen. Als kurz darauf der Dämon von außen das Wohnzimmerfenster zertrümmerte, habe Nukannguaq versucht, sich selbst zu erschießen. Der Tod schien ihm der einzige Ausweg zu sein, weg vom Geschrei des Dämons und den blutigen Leichen.
Laut der Quelle des Chefredakteurs fand sich im Haus allerdings nicht der geringste Hinweis auf die Tabletten. Und auch nicht auf Dämonen. Lediglich massenweise leere Flaschen flogen herum, außerdem reichlich Hasch – und dass Hasch junge Grönländer in den Selbstmord trieb, war bekannt.
Matthew fischte einen Kugelschreiber aus dem Chaos auf dem Sofa und schrieb Selbstmord? Wer hat wen erschossen? Welche Tabletten? auf die Rückseite eines der Bilder von den Toten. Vier junge Männer, die sich gleichzeitig im selben Raum und mit derselben Büchse erschossen. Das war krass. Selbst für ostgrönländische Verhältnisse.
Matthew betrachtete das Bild und versuchte, sich den Gestank von Hasch und Schmauch vorzustellen. Den alten Kacheltisch mitten im Wohnzimmer bedeckten zahllose leere Bierflaschen und zwei Teller voller Asche sowie Joint- und Zigarettenkippen, wenn er das richtig sah. Einige der Flaschen waren umgekippt. Eine war ausgelaufen, die gelbliche Flüssigkeit hatte sich über die grünen Kacheln verteilt und war auf den fleckigen Teppich getropft. Auf dem Sofa hinter dem Tisch lagen zwei junge Männer, die dem Redakteur zufolge Salik und Miki hießen. Die Schüsse auf sie waren aus nächster Nähe abgefeuert worden. Salik saß einfach nur in sich zusammengesackt da. Miki war von dem Schuss umgeworfen worden, er lag halb über Saliks Schoß. Saliks Kleidung war voller Blut. Sein Blick leer. Auf dem Boden lag ein dritter junger Mann. Konrad. Bäuchlings. Sein Hinterkopf war ein offener Krater. In seinen Haaren hingen Klumpen von Blut und Gehirnmasse.
Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags, als Matthew sich an den kleinen Tisch in Elses Küche setzte. Else war die Mutter seiner Halbschwester, sie wohnte in einem der flachen, heruntergekommenen Wohnblöcke im Radiofjeldet, ganz in der Nähe seiner eigenen Wohnung. Er hatte schon öfter daran gedacht, die beiden zu besuchen, aber er war einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Sein Leben war so chaotisch und verwirrend. Allein der Umstand, plötzlich zu erfahren, dass er eine Schwester hatte, nachdem er sein ganzes Leben lang Einzelkind gewesen war, hatte ihm mehr zugesetzt, als er erwartet hätte.
Mit einem leicht gequälten Lächeln sah Matthew auf den Tisch. Dort lag ein weißer Briefumschlag, adressiert an Matthew Cave, aber an Elses Anschrift. Ohne Absender.
»Kaffee?«
»Nein, danke.« Matthew studierte die Schrift. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, als er den Umschlag aufschlitzte und ein Blatt Papier herauszog. »Ich glaube, der ist von Tom«, sagte er heiser und legte den Brief auf den Tisch.
Ich lese Deine Artikel in der Sermitsiaq. Komm nach Ittoqqortoormiit. Haus 87. Ich muss Dir von Tupilak erzählen.
Mehr stand da nicht.
»Nach vierundzwanzig Jahren will er mir plötzlich von einem Tupilak erzählen?«, sagte Matthew vor sich hin. Sein Magen rebellierte. Er stand auf und ging hinaus. Raus aus der Küche, raus aus der Wohnung. Draußen schien immer noch die Sonne, sie stand jetzt sehr tief. Färbte alles strahlend orange. Matthew sah zum Himmel. Sein Vater hatte ihm so viele Jahre gefehlt, dass diese Sehnsucht zu einem seltsamen Dauerzustand geworden war, der wohl am ehesten mit dem Hass zu vergleichen war, den man für einen Menschen empfand, von dem man gar nicht mehr wusste, warum man ihn hasste.
»Alles in Ordnung?«, fragte Else, als Matthew einige Minuten später wieder in die Küche kam.
Matthew nickte und rieb sich die Augen.
»Glaubst du, euer Vater wohnt jetzt dort?«, fragte sie. »In Ittoqqortoormiit?«
»Keine Ahnung.« Matthew setzte sich wieder an den kleinen Tisch. »Aber das ist seine Schrift. Ich habe eine Postkarte von ihm, die er 1990 an meine Mutter und mich geschickt hat, und das ist genau dieselbe Schrift. Ich habe mir die Karte in den letzten zwanzig Jahren tausendmal angesehen, ich bin mir da ganz sicher. Das da hat mein Vater geschrieben.«
»Ich erkenne die Schrift auch wieder«, sagte Else. »Und es würde ihm ähnlich sehen, sich an einem Ort wie Ittoqqortoormiit zu verstecken. Er war immer irgendwie auf der Flucht. Also je abgelegener, desto besser.«
Matthew sah zu dem Foto von seiner Halbschwester am Kühlschrank hinüber. »Wie geht es Arnaq denn mit Tom?«
»Wir haben früher eigentlich nie richtig über ihn geredet. Nachdem sie einigermaßen verdaut hatte, dass sie einen großen Bruder hat, hat sie aber angefangen, alles Mögliche zu fragen. Ich glaube, sie würde Tom gerne sehen. Oder vielmehr kennenlernen. Sie war gerade mal zwei, als er verschwand.«
Matthew betrachtete den Brief. »Ist Arnaq zu Hause?«
»Nein, sie hat Besuch von drei Internatsfreunden aus Dänemark und ist mit denen nach Færingehavn gefahren. Mit Zelten und allem.«
Er sah auf. »Die wollen da übernachten?«
»Ja. Ich glaube, die werden ihren Spaß haben. Die anderen drei sind zum ersten Mal in Grönland, für die ist alles neu, und Færingehavn ist ja völlig verlassen.«
Matthew nickte. »Wie lange wollen sie dableiben?«
»Übers Wochenende auf jeden Fall.« Else lächelte. »Sie haben reichlich Klamotten und gute Schlafsäcke mit. Und sie können ja auch in einem der Häuser übernachten, macht ja nichts, wenn die Fenster kaputt sind.«
»Klar … Sie sollen sich bloß von der alten Mole fernhalten.«
»Habt ihr da im Sommer das tote Mädchen gefunden?«
»Ja. Aber ich meinte jetzt mehr, weil die Mole marode ist.«
»Sie war schon ziemlich lange tot, oder?«
»Ja. Seit 1973. Also kein Grund zur Sorge.«
Else trank einen Schluck Kaffee. »Natürlich nicht. Sonst hätte ich ihnen das ja auch gar nicht erlaubt. Und mein Freund Lars, der sie mit dem Boot hingebracht hat, hat mir versprochen, dass er jeden Tag kurz hinfährt, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Gut … Handyempfang gibt es da nämlich nicht.«
»Ich weiß. Hat es da nie gegeben.« Sie legte den Kopf schräg. »Lars ist Lehrer am Gymnasium, er weiß also ganz gut, wie man in Arnaqs Alter so denkt und drauf ist.«
»Geht sie gern zur Schule?«
»Ja, ich glaube schon. Da passiert jeden Tag was Neues.«
»Und jetzt ist auch noch unser Vater wiederaufgetaucht.«
Else nickte, ihr Blick leicht entrückt.
»Ich werde mit Arnaq reden«, sagte Matthew.
»Danke.«
Matthew warf einen weiteren Blick auf den Brief. Er runzelte die Stirn. »Das letzte Mal habe ich vor vierundzwanzig Jahren von meinem Vater gehört.«
»Ja. Verschwinden kann er richtig gut«, sagte Else. Sie spielte mit dem Henkel an ihrer Tasse. »Kannst du dich erinnern, dass ich dir von einem Mann erzählt habe, vor dem Tom Angst hatte?«
Matthew sah sie an. »Ehrlich gesagt, nein. In den letzten beiden Monaten ist so viel passiert.«
»Es geht um jemanden von früher«, erzählte sie.
»Aha. Also um jemanden aus seiner Zeit als Soldat?«
»Ja. Tom hatte Angst vor ihm.«
»Ist er deshalb weg aus Nuuk?«
»Ich weiß es nicht. Von einem Tag auf den anderen war er einfach weg, und ich habe nie wieder von ihm gehört. Aber ja, Tom hatte so große Angst vor diesem Mann, dass er keinen Schritt mehr vor die Tür machte, und eines Tages war er einfach weg.«
»Weißt du, wer dieser Mann war?«
»Ja, ich habe ihn gefunden.« Elses Blick glitt wieder in die Ferne. »Wir waren auf dem Weg in die Selbstverwaltung, als Tom ihn das erste Mal sah. Tom wurde kreidebleich und wollte sofort nach Hause. Er nannte ihn Briggs. Als wir nach Hause kamen, verschwand Tom für Stunden auf der Toilette.«
»Aber du hast ihn gefunden? Den Mann? Briggs?«
»Ich hatte solche Angst, dass Tom etwas zugestoßen sein könnte, als er verschwand, darum bin ich in die Verwaltung spaziert und habe nach Briggs gefragt. Ich habe mit ihm geredet, aber er sagte, er hätte keine Ahnung, wer Tom ist. Das habe ich ihm nicht so richtig abgenommen. Eine Cousine von mir arbeitet bei der Selbstverwaltung, und die hat mir erzählt, dass Briggs, soweit sie wüsste, früher mal amerikanischer Offizier in Thule gewesen ist. In der Selbstverwaltung war er dann der Personalchef. Sie sagte auch, dass er nicht gut Dänisch konnte, als er die Stelle antrat, es dann aber sehr schnell gelernt hat.«
»Aber du bist nicht dahintergekommen, warum mein Vater solche Angst vor ihm hatte?«
»Nein … Und nach ein paar Monaten glaubte ich dann auch nicht mehr daran, dass Tom wiederkommen würde. Er war nirgends registriert gewesen, darum konnte die Polizei da gar nichts machen. Hatten wohl auch keine Lust.«
»Glaubst du, dieser Briggs ist da noch?«
»Keine Ahnung.« Else schaute zum Fenster am Ende der schmalen Küche. Draußen war nicht viel mehr zu sehen als der nächste gammelige Wohnblock.
Matthew nahm den Umschlag. »Hast du ein Bild von Tom und Arnaq? Von den beiden zusammen?«
Else kniff die Augen zusammen und nickte. »Tom hat sich nicht gerne fotografieren lassen, aber ich glaube, ich habe ein paar. Von der Konfirmation meiner Nichte.« Sie erhob sich. »Kleinen Moment, ich sehe mal nach.«
Dichter Nebel hatte sich auf Nuuk gelegt, als Matthew Elses Wohnung verließ. Die feuchte Luft fühlte sich kalt an und verteilte den Duft des Eismeeres zwischen den grauen Wohnblöcken des Radiofjeldet.
Er bog auf den Lyngby-Tårbæksvej ab und stieg die vom Kiassaateqarfik abgehende lange Holztreppe über die Felsen zu dem blauen Gemeinschaftshaus gleich beim Tele-Post-Gebäude hinab.
In seiner Tasche brummte kurz das Handy. Sein Chefredakteur fragte, wie weit er mit dem Artikel über die Selbstmorde in Ittoqqortoormiit vor drei Tagen sei. Bin dran, schrieb er zurück. Er wechselte zu den Nachrichten zwischen ihm und Tupaarnaq. Ich habe von meinem Vater gehört, schrieb er. Meine Schwester ist übers Wochenende mit ein paar Freunden in Færingehavn. Mit Zelten und Schlafsäcken.
Ganz automatisch holte er seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Dann marschierte er weiter.
Das Handy in seiner Hand brummte wieder. Eine Nachricht von Tupaarnaq erschien auf dem Display. Dein Vater? Ich komme.
Er starrte auf das kleine weiße Textfeld. Wie, sie kommt? Nach Nuuk? Oder was meinte sie? Ihm wurde heiß. Um ihn herum schienen sich plötzlich alle in Zeitlupe zu bewegen. Der Rauch füllte seine Lungen. Er blies ihn aus, der Rauch vermischte sich mit dem kalten Nebel. Ein halbvoller gelber Bus von Nuup Bussii schlich an ihm vorbei. Autos. Gesichter. Mit der Zigarette zwischen den Lippen und zusammengekniffenen Augen, tippte er eine Antwort in sein Smartphone. Cool. Sag Bescheid, wann Du in Nuuk landest, dann hole ich Dich ab. Er wartete ein paar Minuten, dann warf er die Kippe weg und steckte das Handy wieder ein. Mehr würde jetzt nicht kommen, das war ihm klar.
Er hatte Toms Brief zusammen mit den Fotos, die Else ihm gegeben hatte, in die hintere Hosentasche gesteckt. Sobald er zu Hause war, wollte er herausfinden, wie man am besten nach Ittoqqortoormiit kam. Wenn er sich recht erinnerte, musste man erst nach Reykjavík, und das letzte Stück legte man im Hubschrauber zurück.
Im Innern des Gebäudes, in dem sich die Ressorts Wirtschaft, Arbeitsrecht und Personal der grönländischen Selbstverwaltung befanden, steuerte Matthew einen weißen Tresen an, hinter dem eine Grönländerin am Computer saß.
Sie sah ihn an und lächelte. Ihre Haut und ihr schwarzes Haar glänzten in der grellen Beleuchtung. »Hallo?«
»Hallo«, sagte Matthew. »Ich habe eine etwas seltsame Frage, aber – gibt es hier irgendwo einen Mann namens Briggs?«
Die Frau nickte. »Ja, gibt es. Haben Sie einen Termin?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Nein. Es geht um was Privates. Familienangelegenheiten.«
»Aha.« Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und tippte etwas. »Er müsste da sein. Gehen Sie einfach rein.«
»Okay … Danke.« Matthew sah sich um. Vom Eingangsbereich gingen mehrere Türen und Flure ab.
Die Frau lächelte wieder und zeigte zu einem der Flure. »Vierte Tür rechts.«
Matthew nickte. Der Flur war schmal. Erinnerte ihn an alte Holzbaracken. Die vierte Tür rechts stand, wie alle anderen Türen auch, offen. In den meisten Büros saßen gleich mehrere Menschen an ihren Schreibtischen und arbeiteten.
Neben der vierten Tür hing ein Schild mit nur einem Namen darauf: Robert Briggs.
Matthews Herz hämmerte, er holte tief Luft und tastete nach dem Ring in seiner Hosentasche. Dann betrat er das Büro.
Am Schreibtisch saß ein Mann Anfang fünfzig, der auch im Sitzen ziemlich groß wirkte.
Matthew räusperte sich.
Der Mann sah auf. »Suchen Sie jemanden?«
»Ja«, sagte Matthew. »Sie, glaube ich. Heißen Sie Briggs?«
»Ja. Wie kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie Arbeit?«
»Nein … Nein, ich bin Journalist bei der Sermitsiaq.« Matthew trat näher. »Ich bin aus privaten Gründen hier. Mein Name ist Matthew Cave.«
»Cave?«
»Ja. Ich glaube, Sie und mein Vater waren Kameraden beim Militär … in Thule.«
Briggs drehte sich auf seinem Bürostuhl um und sah Matthew einige Sekunden lang an. »Sie haben recht, ich war auf der Thule Air Base, aber das ist lange her.«
»Mein Vater war bis vor vierundzwanzig Jahren dort, soweit ich weiß«, sagte Matthew. »Er heißt Tom.«
Briggs sah Matthew unverwandt in die Augen. Ganz langsam schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich an keinen Tom erinnern … tut mir leid. Ihr Vater, sagen Sie?«
»Ja. Tom Roger Cave.« Matthew massierte seinen ringlosen Finger. »Sie müssten eigentlich ungefähr im gleichen Alter sein.«
»Solange ich dort war, gab es da keinen Cave.« Briggs presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern.
»Er war bis 1990 dort«, fuhr Matthew fort. »Und meine Mutter und ich auch, als ich noch ganz klein war.«
»Tut mir leid«, sagte Briggs. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»Okay.« Matthew senkte den Blick. Er hatte das Gefühl, der Fußboden würde ihn ansaugen. Er war schwer wie Blei. »Hatte ich mir schon gedacht, dass es ziemlich unwahrscheinlich ist.«
»Und Sie haben seit 1990 nichts von Ihrem Vater gehört?«
Matthew sah wieder auf. »Nein. Kein Wort. Meine Mutter und ich sind kurz vor meinem vierten Geburtstag nach Dänemark gezogen, und er wollte nachkommen. Aber er kam nie.«
»Das tut mir leid«, sagte Briggs. »Aber wenn es vierundzwanzig Jahre lang kein Lebenszeichen von ihm gegeben hat, könnte er ja auch tot sein.«
»Er hat aber nach 1990 einmal eine Weile in Nuuk gelebt.«
»Aber sagten Sie nicht gerade …?«
»Das habe ich erst vor ein paar Wochen erfahren.«
»Sie glauben also, dass er lebt?« Briggs machte ein seltsam zischendes Geräusch.
»Ja.« Matthew runzelte die Stirn und sah Briggs verwundert an. »Er hat in den 1990er Jahren hier in Nuuk mit einer Frau zusammengelebt … und mit ihr ein Kind bekommen. Jetzt habe ich zwar eine Halbschwester, aber immer noch keine Ahnung, wo mein Vater ist.«
Briggs fuhr sich durch das kurze blonde Haar und trommelte sich mit den Fingern auf den Kopf.
»Ich habe gehört, dass er fluchtartig die Stadt verlassen haben soll, nachdem er Sie hier gesehen hatte«, erzählte Matthew. »Meine Schwester war damals zwei, und sie hat seitdem auch nichts mehr von ihm gehört.«
»Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, Matthew. Leider.«
»Schon gut.« Matthew senkte den Blick. »Entschuldigen Sie die Störung.«
»Kein Problem.« Briggs lächelte. Dann wurde sein Blick ernst. »Warum sind Sie ausgerechnet heute zu mir gekommen?«
»Ich habe einen Brief von meinem Vater bekommen, und da … Na ja, die Mutter meiner Halbschwester hat mir von Ihnen erzählt, und darum bin ich hier.«
Briggs rutschte auf seinem Stuhl nach vorn und sah Matthew überrascht und eindringlich zugleich an. »Sie haben von ihm gehört?«
»Ja, aber erst heute … Und ohne Absender, aber ich kenne ja seine Handschrift.«
»Haben Sie den Brief dabei?«
Matthew schüttelte den Kopf.
Briggs wollte den Blickkontakt nicht abreißen lassen. »Was stand in dem Brief?«
»Nicht viel … Nur, dass er mir von einem Tupilak erzählen will.«
»Tupilak?« Briggs legte die Stirn in Falten, schloss kurz die Augen und atmete schwer durch die Nase aus. Dann sah er Matthew wieder an. »Und das ist das Einzige, das Sie in den letzten vierundzwanzig Jahren von ihm gehört haben?«
»Ja.« Matthew schwitzte. Er holte die Fotos von Tom und Arnaq aus der Hosentasche. »Das sind mein Vater und meine Schwester.«