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Ein Flugzeugabsturz in einer gefrorenen Einöde – und die grausame Frage: Wer wird überleben?
Der dritte Band der packenden Thriller-Reihe, die unter die Haut geht
Nach der Zerschlagung eines brutalen Mädchenhändlerrings sehnt sich FBI-Agentin Victoria Heslin nach einer wohlverdienten Auszeit in Europa. Doch ihr Traum von Ruhe verwandelt sich in einen Albtraum: Ihr Flugzeug stürzt ab. Verloren in einer eisigen Wildnis kämpfen Victoria und die wenigen anderen Überlebenden gegen die unerbittliche Kälte – jeder Tag bringt neue Verluste und unerträgliche Tragödien. Bald steht die Gruppe vor einer schicksalhaften Entscheidung: Sollen sie am Wrack bleiben und auf Rettung hoffen oder in die unbekannte, tödliche Landschaft aufbrechen, um selbst nach Hilfe zu suchen? Währenddessen setzt Victorias Partner, Agent Dante Rivera, alles daran, das verschwundene Flugzeug und seine Kollegin zu finden. Doch je tiefer er in die mysteriösen Umstände des Absturzes eintaucht, desto größer wird seine Angst: Wird er Victoria je wiedersehen – oder ist sie für immer verloren?
Erste Leser:innenstimmen
„Die packende Mischung aus Survival-Drama, emotionaler Tiefe und spannenden Wendungen ist perfekt gelungen.“
„Ein atemloses Abenteuer in eisiger Kälte!“
„Die Verbindung zwischen Victoria und Dante verleiht dem Kriminalthriller eine besondere Dynamik, und die Frage, wer überlebt, hat mich bis zum Schluss in Atem gehalten.“
„Victoria Heslin ist eine starke, vielschichtige Protagonistin, die man sofort ins Herz schließt.“
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nach der Zerschlagung eines brutalen Mädchenhändlerrings sehnt sich FBI-Agentin Victoria Heslin nach einer wohlverdienten Auszeit in Europa. Doch ihr Traum von Ruhe verwandelt sich in einen Albtraum: Ihr Flugzeug stürzt ab. Verloren in einer eisigen Wildnis kämpfen Victoria und die wenigen anderen Überlebenden gegen die unerbittliche Kälte – jeder Tag bringt neue Verluste und unerträgliche Tragödien. Bald steht die Gruppe vor einer schicksalhaften Entscheidung: Sollen sie am Wrack bleiben und auf Rettung hoffen oder in die unbekannte, tödliche Landschaft aufbrechen, um selbst nach Hilfe zu suchen? Währenddessen setzt Victorias Partner, Agent Dante Rivera, alles daran, das verschwundene Flugzeug und seine Kollegin zu finden. Doch je tiefer er in die mysteriösen Umstände des Absturzes eintaucht, desto größer wird seine Angst: Wird er Victoria je wiedersehen – oder ist sie für immer verloren?
Deutsche Erstausgabe März 2025
Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98778-697-6
Copyright © 2020, Greyt Companion Press Titel des englischen Originals: When They Find Us
Published by Arrangement with GREYT COMPANION PRESS
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Übersetzt von: Johanna Ellsworth Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Romain TALON, © Jens Ottoson shutterstock.com: © Smit, © Alexander Chaikin Korrektorat: Marita Pfaff
E-Book-Version 03.03.2025, 11:05:37.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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In der Flughafenhalle des Dulles Airport betrachtete Ned Patterson das First-Class-Flugticket auf seinem Handydisplay. „Das wird mein erster Flug in der ersten Klasse. Ich fühle mich privilegiert.“
Victoria Heslin klemmte sich Mantel und Schal unter den Arm, als sie vor dem Schalter der Skyline Airline stehen blieben. „Ich habe meine Flugmeilen für die erste Klasse eingelöst. Freu dich nicht zu früh. Sie ist auch nicht viel besser als die zweite.“
„Gut, aber nimm es mir nicht übel, wenn ich sie voll ausnutze.“ Er grinste und wich einer Familie aus, die an ihm vorbeieilte. Alle waren vom Regen durchnässt und die Eltern gaben das Tempo vor. Das kleinste Kind trottete hinter der Familie her, schaute sich um und sang dabei „Rudolph, das kleine Rentier“, bis sein Bruder ihm an gegen Schulter stieß und sagte: „Hör auf damit. Ich kann es nicht mehr hören!“
Victoria konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Wie süß“, sagte sie und wandte sich wieder Ned zu. „Hör zu, ich muss durch eine separate Sicherheitskontrolle. Wir treffen uns drinnen.“
„Bis gleich.“ Ned winkte ihr nach und ging weg.
Der Mitarbeiter der Fluggesellschaft rief Victoria zu sich. Sie ging an den Schalter und hievte ihre Tasche auf die Waage. Der gesamte Inhalt war für die Tierschutzorganisation Abigail Heslin Rescue Foundation in Spanien bestimmt. Victorias persönliche Gegenstände für die einwöchige Reise waren in ihrem Rucksack und einem kleinen Handgepäckstück verstaut. Sie legte ihren FBI-Ausweis und die Nummer des nationalen Telekommunikationssystems der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden auf den Tresen.
„Hallo“, sagte sie zu dem Mitarbeiter der Airline. „Ich habe meine Dienstwaffe dabei.“
Dreißig Minuten später kam Ned aus der Sicherheitskontrolle; an seiner Größe war er leicht zu erkennen. Sein athletischer Körper war ein starker Kontrast zu dem des Mannes hinter ihm, der gebückt ging, mit einer tragbaren Sauerstoffflasche ausgerüstet war und Schläuche in der Nase hatte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Wäre er nicht eindeutig krank gewesen, hätte die Fluggesellschaft ihn möglicherweise aus der Warteschlange herausgeholt, um ihn näher zu befragen. Das war die Standardregel. Jeder, der ungewöhnlich nervös oder unruhig wirkte, war verdächtig.
Victoria wartete, bis Ned sich die Laufschuhe wieder zugebunden hatte, damit sie gemeinsam ihr Terminal aufsuchen konnten. Sie gingen durch den Gastronomiebereich und stellten sich auf ein Laufband.
„Ich würde mir gern einen Kaffee holen. Ich freue mich seit Tagen auf eines dieser Urlaubsgetränke“, sagte sie, als sie am Ende des Laufbandes angekommen waren. „Willst du auch was?“
„Ja klar.“ Auf dem Weg zum Café holte er seine Brieftasche heraus.
„Vergiss es. Ich verschleppe dich nach Europa, damit du kostenlos deine tierärztlichen Fähigkeiten einsetzt. Lass mich wenigstens mein schlechtes Gewissen lindern, indem ich dir einen Kaffee spendiere.“
„Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich bin wirklich froh, helfen zu können. Ich kann es kaum erwarten, das Tierheim zu sehen.“ Ned verlagerte das Gewicht seines Rucksacks auf die andere Schulter. „Ich möchte nicht, dass es verkrampft wird. Und es fühlt sich jetzt schon ein bisschen komisch an, weil du meine Chefin bist und …“
Victoria spürte, dass sie errötete. Blitzartig kam ihr die Erinnerung an einen leidenschaftlichen Kuss, den sie vor Kurzem ausgetauscht hatten. Allmählich entwickelte sich ihre Beziehung zu mehr als einem reinen Arbeitsverhältnis.
„Ich will auch nicht, dass es sich komisch anfühlt.“ Sie blieb vor dem Café stehen. „Gut, ich bestehe nicht darauf, deinen Kaffee zu bezahlen, falls du überhaupt einen willst, aber ich werde die Kosten für Reise, Verpflegung und Unterkunft übernehmen. Keine Widerrede. Du kannst mich ja zu einer deiner Ironman-Veranstaltungen einladen und die Rechnung dafür bezahlen, okay? Es wird nicht verkrampft, wenn wir entscheiden, es nicht zuzulassen.“
„Ja, Boss.“ Er salutierte und wandte sich den Getränkelisten auf den Schildern hoch oben an der Wand zu. „Ich wusste gar nicht, dass du mir bei meiner Performance eines Ironmans zusehen willst.“ Er strahlte. „Ich arrangiere es, bevor du es dir anders überlegst.“
Als sie ihre Getränke gekauft hatten, nahm Victoria aus einer Schachtel eine Tablette und würgte sie mit einem Schluck Latte herunter.
Ned warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Die ist gegen Höhenkrankheit.“
Er verzog das Gesicht. „Im Flieger?“
„Ja, ich weiß. Es hilft nicht wirklich. Aber ich nehme trotzdem eine. Als meine Mutter noch lebte, gingen wir oft Skifahren. Damals habe ich damit angefangen. Vielleicht bin ich jetzt einfach nur abergläubisch. Ich nehme vor dem Fliegen immer eine dieser Pillen.“
Mit den Bechern in den Händen gingen sie zu ihrem Gate. Sie hatten die Getränke gerade ausgetrunken, als ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft das Boarding der ersten Klasse ankündigte.
Ihre Sitzplätze befanden sich in der dritten Reihe auf der linken Seite. Wie immer merkte sich Victoria die Anzahl der Reihen zwischen ihrem Platz und den nächsten Notausgängen.
Ned sah sie erstaunt an. „Zählst du etwa die Reihen?“
„Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich im Dunkeln zu einem Ausgang kriechen muss, weiß ich lieber genau, wohin ich mich wenden muss.“
„Ach so.“ Er grinste. „Warst du zufällig die Leiterin der Pfadfinderinnen?“
„Was? Mach dich nicht über mich lustig.“ Sie stieß ihn sanft gegen die Schulter. „Das ist so eine Angewohnheit von mir. Eine gute.“ Auf halbem Weg zu ihrem Sitz blieb sie stehen. „Willst du dich hier hinsetzen?“
„Ist mir egal. Es macht mir nichts aus, am Gang zu sitzen.“ Nachdem sie Platz genommen hatten, musterte Victoria die Mitreisenden. Als Profilerin tat sie das automatisch.
Ein Mann mit dem Gesicht einer Bulldogge, buschigem dunklem Haar und Koteletten kam hinter Ned den Gang entlang. Er hatte eine wulstige Narbe von der Schläfe bis zum Kiefer und eine kürzere, verblasste Narbe verlief quer über seine Wange. Sein untersetzter Körper wirkte in dem teuer aussehenden Anzug aufgedunsen, so als würde er sich ungesund ernähren. Während der Mann seinen Mantel im Fach über seinem Sitz verstaute, stieß er Ned mit dem Ellenbogen in den Rücken, ohne sich dafür zu entschuldigen. Er ließ sich auf dem gegenüberliegenden Sitz nieder und winkte sofort die Flugbegleiterin herbei, um einen gemixten Drink zu bestellen, wobei er einen New Yorker Akzent offenbarte.
Egoistischer unangenehmer Kerl, der nur an sich denkt.
In der Reihe vor ihnen konnte Victoria zwischen den Sitzen eine elegant gekleidete Frau sehen, die Ende fünfzig oder Anfang sechzig war und mit den Fingern einen Rosenkranz abtastete. Ihr dunkles Haar war zu einem makellosen glatten Knoten frisiert, keine Strähne tanzte aus der Reihe. Ein einzelner Strang aus kleinen Perlen ergänzte einen puderblauen Kaschmirpullover. Sie neigte den Kopf und schloss die Augen.
Sie ist sehr gläubig oder hat einfach große Flugangst.
Ein sportlich wirkender Teenager schlurfte mit kabellosen Kopfhörern, Bean-Stiefeln und einem T-Shirt unter dem weiten Wintermantel an Bord. Er hatte rotbraunes Haar, das an der Stirn ein wenig abstand, was eindeutig beabsichtigt war. Er konzentrierte sich auf das, was er gerade hörte, warf einen flüchtigen Blick auf die Nummer über seinem Sitz und ließ sich schräg gegenüber von ihnen nieder.
Ein typischer privilegierter Teenager. Er ist schon so ans Fliegen gewöhnt, dass er keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Hoffentlich habe ich als Jugendliche nicht auch so gewirkt. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie früher die meiste Zeit die Nase in ein Buch gesteckt hatte. Ihre Familie und Freunde erinnerten sie gern daran. Vielleicht war diese Angewohnheit vergleichbar mit der des Teenagers, der Kopfhörer aufhatte.
Nun schlurfte der Mann mit der tragbaren Sauerstoffflasche, den sie schon bei der Sicherheitskontrolle wahrgenommen hatte, durch den First-Class-Bereich. Aus der Nähe wirkte er nicht viel älter als fünfzig. Victoria lächelte ihn an. Hastig wandte er den Blick ab und senkte den Kopf.
Normalerweise ist das ein Hinweis darauf, dass jemand etwas zu verbergen hat, aber es kann leider auch sein, dass er sich für seine Krankheit schämt.
Als Nächstes betrat ein grauhaariges Paar mit den ersten Anzeichen von Hängeschultern das Flugzeug. Die beiden hatten kleine Köfferchen dabei und blieben in der Reihe vor dem Mann mit dem vernarbten Gesicht stehen. Die Frau trug einen sonnengelben Pullover. Ihr Begleiter stellte seinen Gehstock ab und zog den langen Wollmantel aus, unter dem ein Pulli und eine Fliege zum Vorschein kamen.
Ned öffnete seinen Sitzgurt und erhob sich. „Lassen Sie mich das machen.“
Mit einem höflichen „Danke“ trat der Mann, ohne zu zögern, beiseite und ließ sich von Ned helfen. Nachdem Ned die Koffer im Fach über seinem Kopf verstaut hatte, reichte der ältere Mann ihm noch seinen gefalteten Mantel, den Gehstock und zwei Golfschirme. Ned legte sie neben dem Handgepäck ab. Die Frau tätschelte würdevoll Neds Arm und bemerkte murmelnd, wie jung und stark er sei. Der ältere Mann bedankte sich noch einmal bei ihm. Dann nahm er Platz und verstaute einen Roman in der Tasche des Vordersitzes.
Er ist zwar daran gewöhnt, von anderen bedient zu werden, aber er hält es nicht für selbstverständlich.
Eine atemberaubend schöne Inderin mit dunkler Haut und üppigem schwarzen Haar blieb neben dem Mann mit dem Bulldoggengesicht stehen. Er hatte die Beine ausgestreckt, sodass niemand an ihm vorbeikam.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Ihre Stimme war sanft, kultiviert und höflich, perfekt zu ihrer Erscheinung passend. „Der Sitz neben Ihrem ist meiner.“
Er runzelte die Stirn. Dann strich er sich über die wulstige Narbe und starrte sie eine Sekunde zu lange an, bevor er die Beine zurückzog.
Drei junge Frauen in Sweatshirts mit dem Emblem der University of Virginia stiegen lachend und plaudernd ein. Der Blick der Blondine blieb an Ned haften, während sie sich mit den Fingern durchs lange Haar fuhr.
Eine Flugbegleiterin, die Ende zwanzig sein musste, brachte dem unhöflichen Mann einen Gin Tonic. Victoria warf einen Blick auf das Namensschild der Frau. Sarah. Ihr strahlender Teint war gleichmäßig gebräunt. Sie hatte makellose weiße Zähne und rosa schimmernde Lippen. Sarah nahm die Getränkebestellungen der anderen Reisenden auf und fragte dann Victoria, was sie gern hätte, ohne sie dabei anzusehen. Etwas draußen vor dem Fenster erregte die Aufmerksamkeit der Flugbegleiterin. Victoria folgte ihrem Blick. Ein Gepäckwagen näherte sich dem Flugzeug und verschwand darunter aus dem Blickfeld.
Victoria berührte Ned am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Sieht so aus, als wäre ein Gepäckstück beinahe zurückgelassen worden.“ Sie reckte den Hals und fragte sich, ob es womöglich ihr Koffer mit den Vorräten für das spanische Tierheim war, doch sie konnte den Wagen nicht länger sehen. Als sie sich wieder dem Gang zuwandte, merkte sie, dass Sarah sie beobachtete. Die Flugbegleiterin setzte ein kurzes Lächeln auf und eilte davon.
Aus den Lautsprechern über ihren Köpfen ertönte ein Klicken. „Guten Abend, hier spricht Ihr Kapitän. Willkommen an Bord von Flug 745 nach London Heathrow. Die Flugzeit beträgt circa sieben Stunden und dreißig Minuten. Über dem Atlantik braut sich ein Sturm zusammen. Wir werden unseren Kurs bei Bedarf anpassen, aber unsere Ankunftszeit ändert sich nicht. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich. Wenn Sie schlafen können, sind wir im Handumdrehen am Ziel. Flugbegleiter, bitte bereiten Sie unsere Passagiere auf den Start vor.“
Victoria machte es sich für die lange Reise auf ihrem Platz bequem, während die restlichen Passagiere an Bord kamen. Die Frau mit dem Rosenkranz hustete ein paar Mal und hielt sich den Arm vor den Mund.
„Bitte bringen Sie Ihre Sitze in die aufrechte Position.“ Sarah ging den Gang entlang und schloss die Gepäckfächer. „Schalten Sie bitte alle Ihre Mobilgeräte aus.“
Der untersetzte Mann im teuren Anzug arbeitete weiter an seinem aufgeklappten Laptop.
Sarah faltete ihre manikürten Hände und beugte sich hinunter. „Bitte schalten Sie Ihren Computer aus, Sir.“
Mit einer raschen Bewegung drehte er den Bildschirm aus ihrem Blickfeld.
„Ich muss Sie bitten, ihn jetzt ganz zuzumachen und Ihren Tabletttisch hochzuklappen.“ Sarah bewahrte zwar ihren neutralen Gesichtsausdruck, doch ihre Stimme wurde angespannter.
„Ich muss noch kurz etwas zu Ende bringen. Ich klappe ihn zu, bevor wir abheben.“
„Sie müssen ihn jetzt schließen, Sir.“
Er starrte weiter auf den Monitor und tippte auf seiner Tastatur herum.
„Sir, bitte klappen Sie Ihren Computer zu.“
Die meisten Stimmen verstummten. Alle Augen richteten sich auf den Mann.
„Wir sind noch am Boden. Der Flieger ist noch nicht gestartet. Ich hab doch gesagt, ich mache ihn zu, wenn ich fertig bin.“
Die Frau, die vor Victoria saß, bekam einen heftigen Hustenanfall. Sarah verschwand und kam mit einem Glas Wasser zurück. „Hier, Ma’am.“
Die Frau nahm das Glas entgegen und bedankte sich hustend.
Sarah ging zurück zu dem Mann im Anzug. „Mr. Lombardo, bitte, Sir.“ Entweder kannte sie ihn bereits oder sie hatte seinen Namen auf der Passagierliste gefunden.
Ned beugte sich vor, die Hand hatte er auf die Schnalle seines Sicherheitsgurtes gelegt. Während Victoria hoffte, dass Ned sich raushalten würde, klappte der Mann knurrend den Laptop zu. „Also gut. Ich bin fertig. Und Sie können mich Sergei nennen.“ In der Art, wie er „Sie“ betonte, schwang ein lasziver Unterton mit.
Die Inderin drehte sich ganz zum Fenster hin, sodass sie mit dem Rücken zu Sergei saß. Victoria konnte es ihr nicht verübeln; sie war froh, nicht den ganzen Weg nach London neben ihm sitzen zu müssen.
„Was für ein arrogantes Arschloch“, flüsterte Ned.
Victoria erwiderte leise: „Ich weiß, dass du ihn gerade darauf ansprechen wolltest. Bin froh, dass du es nicht getan hast. Wir haben einen langen Flug vor uns und er sitzt so nahe dran.“
Sergei drehte sich um und starrte Ned direkt an.
Oh, Mist, hat er uns gehört?
„Der Grund, warum wir unsere Mobiltelefone ausschalten sollen“, sagte Sergei verächtlich, „ist, weil sie angeblich die Kommunikationssysteme des Flugzeugs stören. Glauben Sie nicht, dass wir womöglich angreifbar sind, wenn ein paar lächerliche Handys und Laptops die Kommunikation des Fliegers durcheinanderbringen könnten? Vielleicht sollte uns das alle ein wenig beunruhigen, oder? Ich meine ja bloß.“
Victoria nickte, ohne zu lächeln, da sie den Mann nicht auch noch ermutigen wollte. Sie hoffte, Ned würde es ihr gleichtun.
„Mein Tipp ist“, sagte Ned, „wenn Sie die Regeln ändern wollen, dann tun Sie es nicht, während wir fliegen.“
Ein Flugbegleiter, auf dessen Namensschild Pete stand, betrat von hinten die First-Class-Kabine, gefolgt von der hübschen Blondine im Sweatshirt der University of Virginia. Sie nieste dreimal kurz hintereinander.
„Suchen Sie sich einen aus“, sagte Pete und deutete auf die Sitzreihen. „Sie haben Glück, dass wir hier vorn nicht voll besetzt sind.“
„Vielen Dank“, säuselte die junge Frau. „Im Ernst, da hinten wäre ich gestorben.“
„Das wollen wir natürlich nicht. Ich bin froh, dass wir Ihnen entgegenkommen können.“ Pete winkte die Flugbegleiterin der ersten Klasse nach vorn. „Sie leidet unter Allergien und saß in der Reihe, in der die langhaarige Therapiekatze eines Passagiers untergebracht ist.“ Die Art, wie er Therapie betonte, ließ vermuten, dass er den Begriff für leicht übertrieben hielt.
„Willkommen in der First Class“, sagte Sarah. „Wie heißen Sie? Ich muss die Passagierliste aktualisieren?“
„Lizzie Smith. Ähm, was ist mit meinen Freundinnen?“ Lizzie drückte sich den Handrücken auf die Nase, drehte sich zur Seite und nieste. „Hier sind noch so viele freie Plätze. Können sie sich nicht zu mir setzen?“
„Neben mir ist auch noch ein Sitz frei“, bot der Teenager mit den Kopfhörern an.
„Das geht leider nicht.“ Sarah räumte ein leeres Glas von einem Tablett ab.
„Okay. Trotzdem danke.“ Lizzie lächelte den jungen Mann an, der sie und ihre Freundinnen offensichtlich gern vorn gehabt hätte. „Dahinten wäre ich echt gestorben.“ Sie schob ihren Ärmel hoch. „O mein Gott, ich bekomme schon Pusteln!“
Eine Dramaqueen.
„Ich wette, ihre Freundinnen wünschten, sie hätten auch Allergien“, flüsterte Ned, als Lizzie zwei Reihen vor ihnen Platz nahm. „Das hätte ich auch versuchen sollen, um einen Platz in der ersten Klasse zu bekommen.“
„Ich glaube nicht, dass jemand es dir abnehmen würde, als Tierarzt allergisch auf Katzen zu reagieren.“ Victoria konnte sich ein Leben ohne Tiere nicht vorstellen, und jeder tat ihr leid, der wie ihr Kollege Dante Rivera allergisch war. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um an Rivera zu denken – und daran, wie es zwischen ihnen hätte funken können. Nicht, während sie mit Ned verreiste und, wie konnte man es am besten beschreiben, sich zwischen ihnen etwas entwickelte? Ja, es entwickelte sich etwas und sie wollte ihnen eine faire Chance geben. Sie hatte zwar nicht viel Erfahrung mit Liebesbeziehungen, aber es schien ihr am klügsten zu sein, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Was auch immer zwischen ihr und Ned passierte, das Tierheim würde eine Woche lang von seiner tierärztlichen Expertise profitieren.
Als das Flugzeug zur Startbahn rollte, begann Sarah mit der Sicherheitseinweisung. Victoria konzentrierte sich voll und ganz darauf. Als Sarah damit fertig war, zog Victoria die Sicherheitskarte aus der Sitztasche und las sie durch.
Ned legte den Finger auf den Kartenrand. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der die wirklich durchliest.“
„Es gibt einen Grund, warum sie hier steckt. Jedes Flugzeug ist ein wenig anders. Wenn jemand denkt, er würde sich schon damit auskennen, ist das ein Fehler.“
„Genau.“ Ned griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Wir brauchen mehr Menschen wie dich auf der Welt.“
„Vielen Dank, mein Herr.“ Sie reichte ihm die Sicherheitskarte. „Bitte sehr.“
Seufzend nahm Ned ihr die Karte ab.
Unter ihnen raste die Startbahn mit einem lauten Dröhnen vorbei. Der Jet hob sanft ab und die G-Kraft drückte ihre Körper in die Sitze.
Sie lächelten sich an. Ned beugte sich zu ihr. Sie tauschten einen raschen Kuss aus. „Auf ein tolles Abenteuer“, sagte er. „Und darauf, dass wir das Beste daraus machen.“
Draußen vor dem Fenster zuckte ein Blitz im Zickzack über den Himmel.
Im sechzehnten Stockwerk der kanadischen Kontrollzentrale zog Ted Neimer seinen Sicherheitsausweis durch den Scanner und betrat den Hauptkontrollraum. Ben, der junge Mann, der gerade zu seinem Nachfolger ausgebildet wurde, folgte ihm dicht auf den Fersen.
Als Ted an Shelley vorbeiging, gab sie ihm einen sanften Fauststoß gegen die Schulter. „Zeig jetzt bloß keine Altersschwäche in deiner letzten Woche, Teddy.“
Ted gluckste. „Der Freitag kann gar nicht schnell genug kommen.“ Das war glatt gelogen. Er hatte mehr als fünfzehn Jahre lang einen guten Job gemacht. Mit sechsundfünfzig war er nun zu alt dafür. Jetzt wachte er nachts auf und dachte an die Tage, an denen er nichts anderes zu tun haben würde, als seinen Enkel bei Videospielen zu schlagen. Was für ein Leben sollte das sein? Er rannte immer noch vier bis fünf Meilen am Tag, seine Sehkraft war nach wie vor perfekt – anders als die seiner Freunde, die alle eine Brille trugen oder beim Lesen einer Speisekarte blinzeln mussten. Aber als Fluglotse war er zu alt, so lautete die Anweisung. Er hatte den Gedanken jahrelang verdrängt, doch nun war die Zeit gekommen. Was sollte er jetzt mit sich anfangen? Er spielte kein Golf. Hatte keine wirklichen Hobbys. Ginnie mit ihrer Liebe zur Gartenarbeit, ihrem Weinverein und dem Buchclub hatte genug für beide. Sie erzählte ihm gern von jedem noch so kleinen Detail ihres Alltags. Wenn er zu Hause herumhing, würden sie sich gegenseitig in den Wahnsinn treiben.
„Da drüben braut sich ein großer Sturm zusammen. Dicke Wolken und Nebel.“ Shelley setzte sich und stellte ihre Bedienelemente ein. „Vermassel es jetzt bloß nicht und verlier keinen Flieger.“
Ben lachte unbehaglich.
Ted schüttelte den Kopf. „Sie versucht immer, die Stimmung hier aufzuheitern, auch wenn ihr Humor etwas daneben ist.“ Er setzte sein Headset auf und drehte den Stuhl ein paar Mal, um ihn in die richtige Position zu bringen. Während Ben sich neben ihn hinsetzte, nahm Ted das nächtliche Panorama in sich auf.
Auf ein kurzes statisches Rauschen folgte eine eingehende Meldung. „Zentrale, hier ist Delta 920. Bitte um Sinkflug auf Flugfläche 310, um starke Turbulenzen zu vermeiden.“
Ted blickte prüfend auf den Bildschirm, bevor er antwortete. „Delta 920, Zentrale, leiten Sie den Sinkflug ein und halten Sie die Flughöhe auf 310.“
„Delta 920 verlässt 350 und geht auf 310.“
Auf dem Monitor erschien ein neuer Data-Tag mit Informationen zu Skyline-Flug 745, einer Boeing 777, die um genau 20.59 Uhr in ihren Luftraum hineinflog.
„Eigentlich hätten sie mit einem Check-in-Anruf Kontakt mit uns aufnehmen sollen, als sie in unseren Flugsektor eindrangen“, sagte Ted. „Geben Sie ihnen noch eine Minute und stellen Sie dann die Kommunikation her.“
„Okay.“ Ben räusperte sich mit leuchtenden Augen. Er rollte seinen Stuhl näher heran und starrte auf den Data-Tag, bevor er den Knopf drückte, um Kontakt mit der Maschine aufzunehmen. „Skyline 745, hier ist das South Canadian Air Center; wir begrüßen Sie in unserem Luftraum. Können Sie uns hören?“
Ted nickte zustimmend. „Skyline 745, hier spricht die Zentrale“, wiederholte Ben und drehte einen Knopf unter dem Monitor. „Wie gut können Sie mich hören?“
Wieder keine Reaktion.
Ben runzelte die Stirn. „Sie antworten nicht.“
Ted überprüfte rasch Bens Geräte. „Normalerweise antworten sie sofort, aber vielleicht machen sie gerade eine Durchsage. Versuchen Sie es in ein paar Sekunden noch einmal.“
Ben holte tief Luft. „Skyline 745, hier ist die Zentrale. Können Sie uns hören?“
Das Data-Tag des Flugzeugs verschwand vom Monitor.
Ted blinzelte und starrte auf den Bildschirm.
„Wo ist es hin?“, fragte Ben.
Ted hatte darauf keine prompte Antwort. Plötzlich fing sein Herz an zu rasen und das Blut schoss ihm ins Gesicht. Das war ihm noch nie passiert, nicht in seiner gesamten Karriere als Mitarbeiter der Zentrale. Das Data-Tag zu verlieren, war weitaus schwerwiegender als die Unterbrechung der Kommunikation. „Lassen Sie mich das übernehmen. Ich werde sie auf der Notruffrequenz anrufen.“ Ted schaltete seine eigenen Geräte ein. „Skyline 745, hier ist die Zentrale Südkanada, können Sie mich hören?“
Keine Antwort.
„Was ist los?“ Ben sah ihn fragend an, doch Ted nahm die Anwesenheit des Auszubildenden kaum wahr. Es lag keine Störung im System des Kontrollzentrums vor, denn andere Data-Tags bewegten sich immer noch über den Monitor. Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab, stützte sich auf seine Ellenbogen und lehnte sich vor, als würde es etwas bringen, wenn er näher an den Bildschirm heranrückte. Hatte er sich das Auftauchen des Fliegers in ihrem Luftraum nur eingebildet? Nein. Natürlich nicht. Ben hatte es ja auch gesehen. Ted kniff die Augen zu und betete, dass das Flugzeug wieder auf dem Monitor erscheinen und die Piloten antworten würden.
Er versuchte es erneut. „Skyline 745, hier ist die zuständige Kontrollzentrale. Ich bitte um Bestätigung.“ Teds Stimme klang schriller als sonst.
Die Stille zog sich in die Länge, während Teds Adrenalinspiegel stieg.
„Verschwinden Flugzeuge manchmal vom Radar?“ Ben legte die Stirn in kleine Fältchen. „Warum antworten sie nicht?“
Teds Gedanken rasten, während er die möglichen Erklärungen durchging. Keine war plausibel. Ein Passagierjet, der über die Ostküste flog, konnte nicht einfach vom Radar verschwinden. Er sprang auf und winkte den Leiter herbei.
„Rick! Wir haben ein Flugzeug in dem Moment verloren, als es in unseren Luftraum eindrang.“ Hastig schilderte Ted das Wenige, was er über die Situation wusste.
Rick schloss für ein paar Sekunden die Augen und wandte sich dann an Shelley. „Finden Sie heraus, ob Flug 745 gelandet ist.“ Er hockte sich auf die Kante eines Stuhls und starrte auf den Bildschirm, während er Schalter umlegte und sich auf die anderen Flüge auf dem Monitor konzentrierte. „Delta 452. Hier ist die Zentrale. Wie gut hören Sie mich?“
„Hier ist Delta 452. Laut und deutlich, Zentrale.“
Rick antwortete: „Delta, eines unserer großen Flugzeuge, Skyline 745, ist vom Radar verschwunden. Die letzte bekannte Position war zehn Meilen vor Ihnen auf Flughöhe 310. Können Sie versuchen, die Piloten auf der Notfrequenz eins-einundzwanzig-Komma-fünf zu kontaktieren?“
„Natürlich. Ich melde mich gleich wieder zurück, Zentrale.“
Zusammen mit Rick überprüfte Ted die Monitore, während er Deltas Versuchen, Flug 745 auf der Notruffrequenz zu erreichen, zuhörte und sich auf die Nachricht eines Absturzes gefasst machte.
Ein kurzes Rauschen kündigte die nächste Übertragung an. „Delta 452 an Zentrale. Können Sie mich hören?“
„Delta 452, hier Zentrale. Sprechen Sie“, antwortete Rick, obwohl er bereits wusste, was Delta 452 melden würde, da sie die Kommunikation auf der Notrufleitung mithören konnten.
„Wir erhalten keine Antwort von Flug 745.“
„Danke, Captain.“ Rick schaffte es irgendwie, mit ruhiger Stimme zu sprechen.
„Es gibt keine Meldungen über ein abstürzendes Flugzeug.“ Shelleys Blick war intensiv und fokussiert. „Noch nicht.“
Rick griff nach dem Notruftelefon und klopfte mit dem Stift heftig und schnell auf den Schaltertisch. „Hier ist der Leiter des Air Control Center Canada, Rick Starling. Ich habe einen Jet, der seit drei Minuten vom Radar verschwunden ist. Skyline-Flug 745. Es sind einhundertachtundsiebzig Seelen an Bord.“
***
Beim Verlassen des Basketballplatzes wischte sich FBI-Agent Dante Rivera mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn.
„Sieht so aus, als wüssten Sie noch, wie man spielt.“ Der frischgebackene Agent Edwards tippte Rivera freundschaftlich auf die Schulter. „Nicht schlecht für einen alten Mann, der längst im Bett liegen sollte.“
Rivera schüttelte den Kopf über den Neuling. „Ich geh mal davon aus, dass ein Mann in den Dreißigern noch nicht zum alten Eisen gehört. Zu Ihrem Glück mussten Sie nicht gegen mich spielen, als ich noch in Ihrem Alter war.“ Er grinste. „Woran arbeiten Sie derzeit?“
„Ich arbeite mit einer Versicherungsgesellschaft zusammen.“
„Ach, tut mir leid. Mit wem haben Sie es sich denn verdorben?“
„So schlimm ist es nicht. Sailor Albrecht wurden Diamanten im Wert von zwanzig Millionen gestohlen.“
„Dem Besitzer des NFL-Teams?“
„Genau dem.“
„Was wollte Albrecht denn mit Diamanten im Wert von zwanzig Millionen?“
Der Neue zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Aber die Steine waren versichert, und deswegen setzt die Versicherungsgesellschaft alles daran, sie zu finden.“
„Das kann ich mir vorstellen.“
Der Point Guard, der ein Rekrutierer des FBI war, streckte die Arme hoch. „Rivera, schön, Sie wiederzusehen. Hat ein großer Fall Sie in letzter Zeit vom Spielen abgehalten?“
„Ja. Ist schon ‘ne Weile her.“ Nur wenige Menschen kannten die näheren Details seines letzten Ermittlungsfalles.
In der Umkleidekabine blickte eine kleine Gruppe gebannt auf den Fernsehbildschirm.
Rivera schlang sich das Handtuch um den Hals und blieb stehen, um zu sehen, welche Mannschaften gerade spielten. Es war aber keine Sportsendung. Nachrichten. Das Programm wechselte zur Werbung über.
„Puh.“ Einer der Männer blies hörbar die Luft aus.
Ein anderer schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich traurig.“
„Was ist denn passiert?“ Rivera nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche.
„Eine Boeing 777 ist spurlos verschwunden. Es gibt noch keine Meldung eines Absturzes. Die Maschine gilt vorerst nur als vermisst.“
Das waren wirklich erschreckende Nachrichten. Rivera betete im Stillen für alle an Bord des vermissten Jets und ihre Angehörigen. Sein erster Gedanke galt Terroristen. Er hoffte, dass er sich irrte. Er hatte genug von denen. In seinem jüngsten Fall hatte er geholfen, die Täter aufzuspüren, die den Sohn des US-Präsidenten mit einem Nervengift infiziert hatten.
Seine Haare waren noch feucht vom Duschen, als er zehn Minuten später mit großen Schritten zu seinem Wagen ging. Er schnallte sich an und schaltete das Radio ein. Es überraschte ihn nicht, dass über den vermissten Jet berichtet wurde. Der Nachrichtensprecher ging näher ins Detail und sagte: „Das Flugzeug, das von Dulles aus startete, verlor eine Stunde und siebenundvierzig Minuten nach dem Start den Kontakt zur Flugsicherung. Such- und Rettungsaktionen sind im Gange.“
Ein vermisstes Flugzeug, das von Dulles aus abgeflogen war?Victoria befand sich im Urlaub, auf dem Weg zu dem von ihr finanzierten Hundeheim in Spanien.Sie war verrückt nach Tieren, insbesondere geretteten Hunden. War sie schon dort angekommen? Oder hattesie in London einen Zwischenstopp?Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit?
Er hatte sie seit Wochen nicht gesehen, aber das bedeutete nicht, dass er nicht an sie dachte.Aus den Augen, aus dem Sinn traf nicht mehr zu, wenn es um Victoria ging.
Ned, ihr privater Tierarzt und Hundesitter, wohnte jetzt sicher vorübergehend in ihrem Haus und versorgte ihre Tiere.Ned schien ein netter Kerl zu sein, und Rivera wollte, dass Victoria glücklich war, nur … na ja, es war sinnlos, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Sie würden sich wiedersehen,sobald sie von ihrer Reise zurückkehrte.Sie hatten noch persönliche Dinge zu klären.
Während Rivera zu später Stunde auf den recht leeren Straßen nach Hause fuhr, betete er erneut darum, dass Victoria sicher in Spanien war.
Ein erschreckendes Gefühl eisiger Kälte riss Victoria aus dem Schlaf.
Ihre Jeans waren nass.Ein Glas mit schmelzenden Eiswürfeln war vom Sitztablett auf ihren Schoß gerutscht.Aber das war nicht das Schlimmste.
Ihr letzter Asthmaanfall war zwar schon zwanzig Jahre her, doch sie erinnerte sich sofort wieder an das würgende Gefühl in der Brust und im Hals. Was sie jetzt erlebte, war zwar nicht genau dasselbe, aber ähnlich.Ihre Lunge wurde zusammengepresst und sie hatte Herzrasen. Wie bei einem Kater verspürte sie einen starken Druck im Kopf. Victoriawischte sich die Eisstückchen von der Jeans und rang nach Luft. Sie nahm die Umgebung nur nebelhaft wahr.
Auf dem Sitz neben ihr schlief Ned. Er schnarchte, doch es klang wie ein unheimliches rhythmisches Keuchen.Vielleicht lag es an der schummerigen Beleuchtung, dass seine Haut einen bläulichen Farbton angenommen hatte.
Trotz der Angst, die sich in ihr aufbaute, fand sie sich langsam wieder zurück in die Realität. Sie war gerade mitNed unterwegs nach Spanien.Ein Zwischenstopp in London, dann weiter zum Tierheim.Stürmisches Wetter, heftige Turbulenzen; sie hatte sich beim Ansehen eines Films an den Armlehnen festhalten müssen. Sie zog sich die Stöpsel aus den Ohren. Der Videobildschirm vor ihr war nun dunkel. Victoriawusste nicht mehr, was sie sich angeschaut hatten. Sie rieb sich die Hände und hustete, um ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Die Klimaanlage strömte eiskalte Luft aus. Sie zog sich ihren Mantel an und wickelte ihn sich fest um den Körper.
Das monotone Brummen des Flugzeugmotors dröhnte durch die ansonsten stille Kabine. Hier und da hellten Leselampen an der Decke dieDunkelheit auf. Alle anderen an Bord schienen zu schlafen.
Victoria holte ihr Handy aus der Manteltasche.Kein Empfang und auch keine Internetverbindung, aber sie konnte wenigstens die Uhrzeit sehen. Vier Uhr morgens. Seltsam. Hätten sieinzwischen nicht landen sollen? Es fiel ihr schwer,klare Gedanken zu fassen.Vielleicht hatte sie den Zeitunterschied falsch berechnet.
Victoria löste ihren Sicherheitsgurt und stand auf, um zur Toilette zu gehen. Sie wollte Ned nicht aufwecken, war jedoch verwundert, als er sich nicht einmal rührte, während sie sich an ihm vorbeizwängte.
Ihre Asthmaanfälle waren immer mitten in der Nacht aufgetreten. Ihr Vater hatte ihr verzweifeltes Ringen um Luft gehört und war aus seinem Zimmer an ihr Bett gerannt.„Entspann dich, entspann dich. Langsam atmen“, hatte er sie ermahnt, während er nach ihrem Medikament tastete und seine Angst und Sorge kaum verbergen konnte. Jetzt rief sie sichseine Stimme wieder in den Sinn – wie er es geschafft hatte, sie davon zu überzeugen, dass das Schlimmste bald vorbei sein würde, wenn sie nur ruhig bliebe.Es musste an Bord ein Inhalationsgerät geben.
Sie suchte mit den Augen die Kabine nach einem Flugbegleiter ab.Der Gang war leer.Sie schloss eine Sekunde lang die Augen, um das Schwindelgefühl loszuwerden, und kämpfte sich vor zur Toilette. Ihre Panik wurde stärker, weil sie nicht mehr normal atmen konnte und ihr Körper von einer seltsamen Schwere ergriffen wurde.
Die erste Toilette – besetzt.Sie drehte sich um und öffnete die zweite.Im Spiegelbild wirkte ihre Haut noch blasser und kränklicher als Neds Gesicht.
Sie musste dringend ein Inhalationsgerät finden. Als sie wieder auf dem Gang war, schobsie die Trennwand auf, die die erste Klasse von der zweiten trennte. Niemand rührte sich.Alle schliefen.Victoria musterte die Mitreisenden
noch einmal, wobei ihr Blick von einer Reihe zur nächsten huschte.Sie hatte sich nicht geirrt.Alle hatten die Augen geschlossen.
Ihre Nackenhaare sträubten sich, während sie die Arme um ihren Oberkörper schlang und kurz und krampfhaft nach Luft schnappte.Auf einem Nachtflug hofften die meisten Reisenden, schlafen zu können, doch wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich zur Ruhe kamen?Wieder suchte sie die Kabine nach den Flugbegleitern ab.Aus den Augenwinkeln sah sie ein Stückblaue Uniform.Dahinten, zwischen den Sitzen, lag Pete seitlich auf dem Boden.
Victoria eilte zu ihm und kniete sich neben ihn hin.„Ist alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sie sich und dachte gleichzeitig, wie absurd es war, zu fragen.Natürlich stimmte etwas nicht mit ihm.Sie rüttelte an seiner Schulter und versuchte ihn aufzuwecken.Dann hielt sie denFinger an seinen Hals.Er hatte einen Puls.Warum lag er auf dem Boden?Sie sah sich nach anderen um, die womöglich wach waren.Was war hier nur los?Es fiel ihr schwer, einen Gedanken zu formen.Ihre Angst war klar und deutlich, doch ihr Gehirn war benommen.
Hypoxie. Das würde alles erklären! Die Luftzirkulation hatte versagt. Keiner schlief. Sie waren alle bewusstlos. Und ihr eigener Sauerstoffmangel hatte nichts mit einem Asthmaanfall zu tun. Aber Flugzeuge hatten automatische Warnsensoren für solche Ausfälle. Wenn es eine Dekompression gab, warum waren dann die Sauerstoffmasken nicht heruntergefallen?
Victorias panischer Blick fiel auf den Mann, der seine eigene Sauerstoffflasche mit an Bord gebracht hatte. Er saß eine Reihe hinter dem Notausgang. Aus seiner Nase liefen durchsichtige Schläuche. Er hatte den Kopf gesenkt, und daher hatte sie es zunächst nicht bemerkt, doch seine Augen waren offen und er tippte mit den Fingern auf einem Tablet.
„Hey!“, rief sie.
Ohne aufzublicken, konzentrierte er sich intensiv auf das, was er gerade tat.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Waren die Piloten etwa auch bewusstlos? Das Cockpit hatte ein vom restlichen Flugzeug getrenntes Luftsystem – sie konnte nur hoffen, dass es funktionierte.
Sie erhob sich und eilte zurück in die erste Klasse, um Hilfe zu holen.
Sie rüttelte an Neds Schultern, verzweifelt bemüht, ihn jetzt endlich aufzuwecken.
Er reagierte nicht.
Sie ging weiter und schwankte unsicher nach vorn zur Bordküche. „Entschuldigung? Ist hier jemand?“
Eine andere Flugbegleiterin, die mit den kurzen schwarzen Haaren, saß zusammengesunken auf dem Boden; sie lehnte mit dem Rücken an der Wand, hatte die Beine vor sich ausgestreckt und das Kinn lag auf ihrer Brust.
Ich muss träumen. Und das ist ein Albtraum. Manche Albträume wirken unglaublich real, das macht sie so beängstigend. Das hier ist so einer. Aber sie war nicht davon überzeugt. Die Panik, die in ihrer Brust hochstieg – äußerst real. Der keuchende Schrei, der ihr im Hals stecken blieb – überaus echt. Das nagende Unbehagen, das jeden flachen Atemzug begleitete, und der starke Druck im Kopf – zu lebendig und schmerzhaft für einen Traum. „Wach auf!“, zischte sie sich zu, wütend auf sich, weil sie einen so beängstigenden Traum hatte. Sie kniff sich fest in die Wange und spürte ein stechendes Brennen.
Das hier war echt. Es passierte und es musste etwas dagegen getan werden. Ihr Gehirn wurde vernebelt. Sie musste bei Bewusstsein bleiben. Sie stellte sich mitten in die First-Class-Kabine und rief: „Aufwachen! Alle aufwachen! Bitte wachen Sie auf!“
Ihre Schreie hallten in ihren Ohren wider.
Plötzlich sackte das Flugzeug ab und Victoria wurde in einer gewaltigen Bewegung hochgedrückt, bei der ihr schlecht wurde. Ihr Magen verkrampfte sich und sie kämpfte gegen eine erstickende Welle der Übelkeit an. Das Flugzeug hüpfte und schwankte wie ein schwereloses Spielzeug, das durch den Himmel geworfen wurde. Gegenstände fielen von den Tabletttischen und wurden durch die Kabine geschleudert. Über ihren Köpfen knallten Koffer und Taschen gegen die Wände der Ablagefächer.
Sie wurde nach vorn geschleudert und prallte mit der Schulter gegen die Seite der Bordküche. Sie packte einen Griff, der sich über ihr befand, um das Gleichgewicht zu halten, und schlug mit der Faust gegen die Cockpittür. „Was ist hier los?“, schrie sie und erkannte ihre eigene keuchende Stimme kaum wieder. „Hilfe!“
Niemand antwortete.
Sie kämpfte gegen den Drang an, ohnmächtig zu werden. Panik überwältigte sie und zerstörte das Wunschdenken, dass sie nur überreagierte.
Das Flugzeug machte erneut Hüpfer, es war unberechenbar und außer Kontrolle.
Es stabilisierte sich kurz, dann bäumte es sich auf und Victoria rutschte taumelnd den Gang entlang in Richtung ihres Sitzplatzes. Sie blieb stehen, wo sie konnte, und schüttelte die Passagiere grob, während sie an ihnen vorbeischlitterte. Ihre Panik wurde immer stärker.
Sergei wachte auf. Er blinzelte und starrte sie mit glasigen Augen an. Sein Laptop lag geöffnet auf seinem Klapptisch. Er folgte ihrem Blick zum Monitor und ließ den Computer zuschnappen.
„Alle haben das Bewusstsein verloren!“ rief sie, bevor sie durch ein weiteres plötzliches Absenken des Fliegers von ihm weggeschleudert wurde.
„Ich habe geschlafen“, sagte er, doch in seiner Stimme schwang eine Unsicherheit mit, die vorher nicht da gewesen war.
Das Flugzeug bebte und stürzte in einen steilen Sinkflug. Victoria schluckte schwer, um den Druck loszuwerden, der sich in ihren Ohren aufbaute. Sie klammerte sich so fest an die Rückenlehnen der Sitze, als würde sie einen steilen Berg erklimmen, und kehrte zu ihrem Platz zurück. Als sie sich an Ned vorbeizwängte, rüttelte sie ihn erneut an der Schulter. „Ned, wach auf! Bitte aufwachen!“
Als sie sich setzte, flatterten seine Lider und er öffnete die Augen. Er sah sie mit leerem Blick an.
„Wir sinken schnell ab.“ Sie schnallte sich an. „Und von den Piloten ist nichts zu hören.“
Neds Blick war verschwommen. Er döste wieder ein.
Das Flugzeug rüttelte hin und her. Vorn in der Kabine hatte die Flugbegleiterin, die auf dem Boden gesessen hatte, das Bewusstsein wiedererlangt. Sie stand auf wackeligen Beinen da und klammerte sich an die Ecke der Wand. Victoria versuchte Augenkontakt zu ihr herzustellen. Ein abruptes Absinken schleuderte sie wie eine Stoffpuppe hin und her. Sie prallte gegen die Wand und stürzte zurück in die Bordküche, wo sie außer Sichtweite war.
Sergei umklammerte seine Armlehnen. „Was ist los?“, schrie er Victoria an. „Wer sind Sie? Was haben Sie getan?“
„Nichts habe ich getan!“, rief sie trotz ihrer Angst empört zurück.
Ein Gepäckfach sprang auf. Sofort flogen eine Aktentasche und ein Koffer heraus, trafen die Köpfe der beiden alten Leute und fielen vor ihnen auf den Boden.
Hinter ihr ertönten Rufe. Wenigstens kamen andere Reisende wieder zu sich, auch wenn jetzt genau der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, in der ahnungslosen Welt der Bewusstlosigkeit zu verharren.
Das Flugzeug klapperte und ließ ihren Körper vibrieren.
Ein zweites Fach sprang auf. Der Inhalt fiel heraus und segelte nach vorn.
„Kopf runter!“ Victoria verschränkte die Arme im Nacken.
Die elegante Dame vor ihr betete das Ave Maria. Zwei Reihen weiter vorn schrie Lizzie.
Der Lärm nahm die Ausmaße eines Donners an. Erneut sackte das Flugzeug ab, stieg dann ruckartig nach oben, begradigte sich und sank wieder nach unten.
Die Maschine ist außer Kontrolle. Nein, das kann nicht sein. Wenn das der Fall wäre, gäbe es nicht immer wieder diese heftigen Korrekturen. Die Piloten versuchen einen Absturz zu vermeiden.
Victoria klammerte sich an ihre Armlehnen und spähte aus dem Fenster. Keine Lichter. Keine sichtbaren Objekte. Nichts, was ihre Entfernung zum Boden anzeigte. Nur Schwärze. Die Erde besteht hauptsächlich aus Ozeanen; die Chancen standen gut, dass sie sich gerade über dem Meer befanden. Sie schob ihre Finger unter das Sitzkissen, das gleichzeitig als Rettungsring diente. Wie lange würde sie brauchen, um es freizubekommen? Wie viel Zeit blieb ihr?
Das Fahrwerk knarrte, als es sich unter ihnen entfaltete.
Sie drückte Neds Schultern nach vorn und seinen Kopf nach unten, während sie seinen Nacken mit ihrem Arm schützte. Voller Todesangst machte sie sich auf den Aufprall gefasst, der ein paar Sekunden oder unerträglich lange Minuten entfernt sein konnte. Sie betete, dass die Piloten alles unter Kontrolle hatten und dass sie nicht sterben müssten. Würden sie auf dem Wasser aufschlagen und die Maschine beim Aufprall in Millionen Stücke zerspringen oder würden sie im Meer ertrinken? Sie betete verzweifelt, dass all das nur ein sehr plastischer Albtraum war.
Das Flugzeug ruckte stoßartig nach rechts. Der Aluminiumrahmen ächzte wie ein sterbendes Ungeheuer.
Noch mehr Schreie.
Victorias Gedanken wanderten zu denen, die ihr nahestanden. Vor ihrer Abreise hatte sie ihrem Vater noch gesagt, wie sehr sie ihn liebte. Erst vor Kurzem hatte sie Sam und Murphy sorgfältig ausgewählte Geschenke gemacht, ohne jeden Grund, nur als Zeichen dafür, dass sie die Zusammenarbeit mit ihnen zu schätzen wusste. Sie hatte seit Wochen nicht mehr mit Rivera gesprochen und bereute es nun. Ihr Testament war erst kürzlich aktualisiert worden. Ihr gesamter Nachlass und ihr Treuhandfonds würden zwischen mehreren Rettungsorganisationen und Tierheimen sowie einigen anderen Wohltätigkeitsorganisationen aufgeteilt werden. Ihr Vater erbte ihren kostbarsten Besitz – ihre Windhunde, Galgos und die neuen geretteten Esel. Die Hunde würden nie verstehen, warum sie nicht mehr nach Hause kam. Sie würden ewig sehnsüchtig auf sie warten und jedes Mal zur Tür rennen, wenn jemand zur Haustür kam, immer in der Hoffnung auf ihre Rückkehr. Die Vorstellung schmerzte sie am meisten.
Eine starke Hand drückte ihre Schulter, während Tränen auf ihre Knie tropften. Gott sei Dank war Ned wach. Sie drehte den Kopf und sah über ihrem Oberschenkel zu ihm hin. Wie sie saß er in der Schutzposition vornübergebeugt und richtete den Blick besorgt auf sie. Sie dachte an das Leben, das sie haben könnten, wenn sie heute nicht sterben müssten – an eine mögliche Ehe und Kinder. Sie betete, dass sie bitte im Himmel landen würde, falls es wirklich einen gab. Ned nahm ihre Hand und hielt sie fest, während sie wie Marionetten herumgeschüttelt wurden.
Die Schreie wurden lauter, als das Flugzeug unweigerlich auf den Boden zuraste. Das Schlimmste war das Warten, da man nicht wusste, wie lange es noch dauern würde, bis sie aufschlugen. Die Sekunden dehnten sich wie eine Ewigkeit. Ein schwerer Gegenstand fiel auf Victorias Rücken und sie spürte einen Druck und Schmerzen. Sie schrie auf und Ned stieß ihn weg.
Wenn sie sterben sollte, dann schnell und schmerzlos, hoffte sie. Das geistige Bild ihrer abgerissenen Gliedmaßen ließ sie erschauern. Wut stieg in ihr hoch. Sie würde jung und gesund sterben, aber wenn ihr Körper zerfetzt oder von Flammen verzehrt wurde, wären ihre Organe zerstört. Sie hatte mehr Zeit, an das Ende zu denken, als sie erwartet hatte. Victoria drückte das Kissen; sämtliche Muskelfasern waren so angespannt, dass sie um ihr Gesicht und ihre Schultern herum zitterten. Sie wünschte, sie könnte woanders sein, egal wo.
Der Aufprall kam plötzlich – ein knochenbrechender, donnernder Knall. Die Wucht schleuderte Victoria nach vorn. Durch ihren Unterleib zuckte ein Schmerz. Die Schnauze des Flugzeugs prallte zurück nach oben und das restliche Flugzeug knallte mit einem ungeheuerlichen Knirschen herunter; es war das Geräusch von zerberstendem Metall, das in Stücke gerissen wurde. Eiskalte Luft strömte in die Kabine. Tassen, Papierblätter und Kleidungsstücke flogen umher und das ohrenbetäubende Zerbersten hörte nicht auf. Victorias Zähne mahlten und sie biss sich auf die Zunge.
Schmerzen und Schreie bedeuten, dass ich noch lebe.
Die lautesten Geräusche erstarben, doch das Flugzeug hüpfte weiter nach vorn, schlitterte und schrammte über den Boden und rutschte laut heulend auf dem Bauch. Schließlich kam die zerstörte Maschine zum Stehen. Eine unglaubliche Kälte drang bis in ihre Knochen ein. War sie real oder ein weiterer Ausdruck ihrer ungefilterten Todesangst? Des Schreckens? Die eisige Luft war ein Schock für ihre Lunge, doch sie konnte wieder atmen. Sie sog den Sauerstoff gierig ein und öffnete erst das eine Auge, dann das andere. Die Kabine war in Dunkelheit gehüllt. Eine erschreckende Stille herrschte, bis das Stöhnen begann.
„Bist du verletzt?“ Ned hielt immer noch ihre Hand umklammert.
„Ich glaube nicht.“ Sie schluckte das Blut herunter, das ihr in den Mund lief. Als sie sich auf ihrem Platz aufrichtete, schoss ein Schmerz durch ihren Unterleib. Sie zuckte zusammen und wartete, bis er nachließ, denn ihr war bewusst, dass er viel stärker sein würde, wenn er nicht durch Adrenalin überdeckt wurde. „Und du?“
„Ich bin okay.“ Er griff nach einem heruntergefallenen Rucksack und schob ihn beiseite. „Beweg dich langsam.“
Ihr war nach Weinen zumute – warum brodelte dann hysterisches Gelächter in ihrer Brust und drohte, aus ihr herauszuplatzen?
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und die Umrisse von Gegenständen zeichneten sich in vagen, undeutlichen Formen ab. Sie zitterte so stark, dass sie mehrfach an ihrem Sicherheitsgurt reißen musste, um ihn aufzumachen, was eine neue Welle quälender Schmerzen auslöste. Ned war bereits aufgestanden und schwankte nach vorn. Victoria schaltete die Taschenlampe ihres Handys ein. Beinahe jedes Gepäckfach stand offen oder die Tür war herausgeschlagen worden. Der Gang war mit Trümmern übersät.
„Helfen Sie mir! Ich kann mich nicht bewegen. Nehmen Sie das Zeug von mir runter!“ Am Akzent konnte sie eindeutig Sergei erkennen.
„Einen Moment.“ Neds feste Stimme war ein Lichtstrahl der Ruhe inmitten der surrealen Szene.
Sergei stieß einen Schwall Flüche aus. Ned zog einen Koffer herunter, der auf ihm lag. Victoria erhob sich, um zu helfen. Sie packte eine Frau am Arm und zog sie hoch, doch sie spürte keinen Widerstand. Victorias Herz sank, als sie den Arm losließ und versuchte, sich zu erinnern, wer neben dem Mann gesessen hatte.
Die schöne Inderin.
„Sie ist tot!“, schrie Sergei.
Der wandernde Lichtkreis eines Handys leuchtete in sein Gesicht. Er hatte eine dicke Lippe. Eines seiner Augen war zugeschwollen. Er wand sich unter der Frau, um sich zu befreien, und stieß ihre Leiche weg.
Ned drängte sich an Sergei vorbei und ging in die Hocke. „Ihr Genick ist gebrochen. Sie ist tot.“
Schreie und Stöhnen erfüllten die Kabine. Der Wind heulte. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben wirbelte Schnee herein.
Zitternd ließ Victoria das Licht ihrer Taschenlampe über die Kabine gleiten. Die Frau, die vor ihr gesessen hatte, war vornübergebeugt und betete so schnell und ununterbrochen wie ein Auktionator.
Der Teenager stand im Gang. Auch er schwenkte die Taschenlampe seines Handys hin und her und betrachtete das Ausmaß der Zerstörung.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte sie ihn.
„Ja. Ich glaube schon.“
„Ich bin Victoria. Wie heißt du?“
„Ashby.“
Victoria erinnerte sich plötzlich daran, wie die Flugbegleiterin beim Absturz des Flugzeugs in die Bordküche geschleudert worden war. Sie eilte nach vorn und stolperte über Trümmer, die in den Gang geflogen waren. Die Flugbegleiterin lag immer noch auf dem Boden. Victoria kniete sich hin, um ihren Puls zu fühlen, konnte aber keinen finden. Sie spürte eine warme nasse, klebrige Substanz auf der Hand. Blut. Die Flugbegleiterin hatte eine tiefe Schnittwunde in der Stirn, über dem Auge. Aber als das Flugzeug abgestürzt war, hatte sie noch gelebt. Victoria drehte sie auf den Rücken und begann mit der Herzdruckmassage.
Ned ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und übernahm die Erste-Hilfe-Maßnahme. Eine Minute lang schaute sie hilflos zu, dann ging sie, um nach den anderen Passagieren zu sehen.
Das ältere Paar hatte sich nicht gerührt. Victoria legte ihnen die Hand auf den Hals, doch sie wusste bereits, dass beide tot waren. Sie hatten keine sichtbaren Verletzungen und sahen aus, als wären sie an Hypoxie oder einem Herzinfarkt gestorben. Victoria öffnete das Gepäckfach über ihren Köpfen – eines der wenigen, die noch geschlossen waren – und tastete den Innenraum ab. Ihre Hand landete auf einem Stapel gefalteter, in Plastik eingewickelter Decken. Sie nahm eine heraus und breitete sie über das Paar aus, aus Respekt vor den Toten und als Schutz für die anderen. Sie hatte schon mehr als genug Leichen gesehen, aber für die meisten war es kein gewohnter Anblick.
Lizzie saß noch immer auf ihrem Platz, dem hinteren Teil des Flugzeugs zugewandt. Zwischen unkontrollierbaren Schluchzern rief sie: „Lauren! Sadie!“
Victoria legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. „Brauchst du Hilfe?“
„Ich glaube, in meinem Bein steckt was.“ Die Stimme der jungen Frau bebte vor Angst. „Ich kann es nicht bewegen.“
Victoria fuhr mit der Hand sanft vom Knie des Mädchens nach unten. Nichts ragte hervor. Die junge Frau schrie auf, als Victorias Finger ihren Knöchel erreicht hatten. Doch Victoria spürte keine gebrochenen Knochen.
„Lizzie, nicht wahr?“, fragte sie, um sie zu beruhigen.
„Ja“, schluchzte die junge Frau.
„Ich bin Victoria. Bewege das Bein nicht, okay? Es ist vielleicht gebrochen, aber es wird wieder heilen. Bald kommt Hilfe. Ich suche für dich ein paar zusätzliche Kleidungsstücke, damit du dich warmhalten kannst, und Schmerzmittel.“
„Mein Mantel ist in einem Gepäckfach hinten im Flugzeug.“ Lizzie schniefte. „Ich habe all meine Sachen dagelassen, als ich in die erste Klasse gewechselt bin.“ Sie brüllte Victoria direkt ins Ohr: „Lauren! Sadie!“ Dann hörte sie auf zu schreien und zeigte auf ihr Handydisplay. „Es gibt gar kein Signal. Kein Empfang und auch kein Internet. Warum können meine Freunde mich nicht schreien hören?“
„Bleibe einfach, ähm … auf deinem Platz.“ Victoria fand zwei weitere Decken sowie einen Mantel und reichte beides Lizzie. „Wickel dich darin ein. Du musst dich warmhalten, bis wir gerettet werden. Ich bitte deine Freunde, hierher zu kommen, damit ihr euch gegenseitig warmhalten könnt. Und ich werde ihnen sagen, sie sollen deinen Mantel suchen.“
Wo ist jetzt mein Handy? Ich muss es fallen gelassen haben, als ich die Decken herausgeholt habe.
Sie tastete das Innere des Gepäckfachs ab. Nichts.