Eiskalter Wahnsinn - Alex Kava - E-Book
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Eiskalter Wahnsinn E-Book

Alex Kava

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Beschreibung

FBI-Agentin Maggie O'Dell hat eigentlich Urlaub. Doch als eine Freundin sie um ihre Mithilfe bei der Suche nach einer verschwundenen Patientin bittet, kann sie nicht Nein sagen. Da wird in einem Steinbruch ein grausamer Fund gemacht: Tonnen voller zerstückelter Leichenteile, denen Organe entfernt wurden. Welcher psychopathische Mörder war hier am Werk? Ist die verschollene Patienten unter den Leichen? Und - wer wird das nächste Opfer des Wahnsinnigen sein?

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Seitenzahl: 342

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Eiskalter Wahnsinn

Es ist die widerlichste und grausamste Mordserie, die die FBI-Agentin Maggie O’Dell je erlebt hat. Dabei hat die unerschrockene Ermittlerin eigentlich Urlaub, den sie auch dringend nötig hat. Nach ihrer Scheidung braucht sie endlich einmal Abstand von allem.

Dennoch macht sich Maggie auf die Suche nach einer verschwundenen Patientin ihrer Freundin, der Ärztin Dr. Gwen Patterson. Doch was haben die im Steinbruch gefundenen Tonnen voller zerstückelter Leichenteile mit der verschwundenen Patientin zu tun?

Maggie ermittelt privat weiter gegen einen offensichtlich geistesgestörten Killer. Warum zerstückelt und operiert der Mörder seine Leichen, warum entfernt er Organe und Implantate? Hat der Wahnsinn Methode?

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Alex Kava

Eiskalter Wahnsinn

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Margret Krätzig

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

At The Stroke Of Madness

Copyright © 2003 by S.M. Kava

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-185-0 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-184-3

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

www.mira-taschenbuch.de

1. KAPITEL

Samstag, 13. September

Meriden, Connecticut

Es war fast Mitternacht, trotzdem wartete Joan Begley ab.

Sie trommelte mit den Fingernägeln auf das Lenkrad und hielt im Rückspiegel nach Scheinwerfern Ausschau. Die gelegentlichen Blitze in der Ferne versuchte sie zu ignorieren und redete sich ein, das heraufziehende Gewitter gehe in die andere Richtung. Ihr Blick wanderte immer mal wieder durch die Windschutzscheibe, ohne dass sie die spektakuläre Aussicht auf die Lichter der Stadt bemerkt hätte. Lieber vergewisserte sie sich noch einmal in den Seitenspiegeln, ob sie dort etwas entdeckte, was ihr im Rückspiegel entgangen war.

„Manches ist näher, als man denkt.“

Der Aufdruck auf dem Spiegel der Beifahrerseite ließ sie schmunzeln. Schmunzeln und zugleich frösteln. In dieser verdammten Dunkelheit konnte sie einfach nichts erkennen. Wahrscheinlich sah sie ihn erst, wenn er schon direkt an ihrem Wagen stand.

„Na klasse, Joan“, tadelte sie sich. „Mach dir nur richtig Angst.“

Sie musste positiv denken und sich eine positive Einstellung bewahren. Was nützten die vielen Sitzungen bei Dr. Patterson, wenn sie das Gelernte nicht beherzigte?

Was hielt ihn so lange auf?

Vielleicht war er vor ihr hier gewesen und hatte keine Lust gehabt, auf sie zu warten? Schließlich hatte sie sich zehn Minuten verspätet. Nicht absichtlich. Er hatte die Straßengabelung vor dem Anstieg zur Hügelkuppe nicht erwähnt, was ihr einen unerwarteten Umweg beschert hatte. Schlimm genug, dass es hier oben unter dem Baldachin aus dicht belaubten Ästen, die nicht mal den Mondschein durchließen, pechschwarz war. Der Mond würde bald hinter Gewitterwolken verschwinden, und stattdessen brach dann vermutlich eine Lichtshow aus Blitzen los.

Herrgott, sie hasste Gewitter! Sie spürte die Elektrizität bereits an den Haaren und schmeckte sie, metallisch und unangenehm wie eine frische Füllung vom Zahnarzt. Die geladene Atmosphäre verstärkte ihre Angst, zerrte an ihren Nerven und machte ihr bewusst, dass sie nicht hier sein sollte. Was sie vorhatte, war nicht gut, sie sollte es nicht tun … nicht schon wieder.

Diese dummen, störenden Gewitterwolken hatten ihr sogar den Orientierungssinn geraubt. Zumindest gab sie ihnen die Schuld, obwohl sie genau wusste, dass ihre Orientierung schon dahin war, sobald sie ein Mietauto bestieg und die Türen schloss. Und es half ihr nicht gerade, dass die Straßen in den Städten Connecticuts in alle möglichen Richtungen verliefen, nur nicht im rechten Winkel und geradeaus. Wie oft sie sich in den letzten Tagen hier verfahren hatte, war unglaublich. Auch heute Abend war sie ständig falsch abgebogen, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Wäre der alte Mann mit seinem Hund nicht gewesen, sie hätte sich auf der Suche nach dem West Peak ständig im Kreis bewegt.

„Ich bin Walnüsse sammeln“, hatte er ihr erklärt, und sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht, weil sie zu sehr mit der Wegsuche beschäftigt gewesen war. Aber wenn sie jetzt so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass er weder Eimer noch Beutel bei sich gehabt hatte. Nur eine Taschenlampe. Wer ging mitten in der Nacht Walnüsse sammeln? Seltsam. Ja, der Mann war irgendwie seltsam gewesen. Trotz des verlorenen, in die Ferne gerichteten Blickes hatte er jedoch nicht gezögert, ihr den Weg hinauf zur Kuppe zu weisen, wo im tosenden Wind Schatten werfende Äste knackten.

Warum war sie bloß hergekommen?

Sie nahm ihr Handy, gab die Nummer auswendig ein und hoffte, sie war da. Doch sie wurde enttäuscht. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. „Sie haben den Anschluss von Dr. Gwen Patterson erreicht. Bitte hinterlassen Sie Namen und Telefonnummer, und ich werde so schnell wie möglich Kontakt zu Ihnen aufnehmen.“

„So schnell wie möglich könnte zu spät sein“, sagte Joan anstelle einer Begrüßung und lachte. Dann bedauerte sie die Bemerkung, denn Dr. Patterson würde zwischen den Zeilen lesen. Aber zahlte sie ihr nicht genau dafür gutes Geld? „He, Dr. P., ja, ich bin’s wieder. Tut mir Leid, dass ich Ihnen so auf den Wecker falle. Aber Sie hatten Recht. Ich tue es schon wieder. Also nein, ich glaube, ich habe meine Lektion nicht gelernt. Denn ich sitze hier mitten in der Nacht in meinem dunklen Wagen und warte auf … ja, Sie ahnen es, auf einen Mann. Aber Sonny ist wirklich anders. Wissen Sie noch, ich habe Ihnen in meiner E-Mail von ihm erzählt. Wir haben uns getroffen, um zu reden, einfach nur zu reden. Jedenfalls bisher. Er scheint wirklich sehr nett zu sein. Eigentlich gar nicht mein Typ, was? Nicht dass ich in puncto Männer eine besonders gute Menschenkennerin wäre. Genau genommen könnte er auch ein Axtmörder sein, oder?“

Wieder ein gezwungenes Lachen. „Also ich hatte gehofft … ich weiß nicht … vielleicht hatte ich gehofft, Sie würden es mir ausreden und mich vor … Sie wissen schon … mich vor mir selbst schützen, wie Sie das immer tun. Wer weiß, vielleicht kommt er gar nicht. Jedenfalls sehen wir uns am Montagmorgen zu unserer üblichen Sitzung. Dann dürfen Sie mich anschreien, okay?“

Sie unterbrach die Leitung, ehe sich automatisch die Liste weiterer Vorgehensweisen abspulte, wonach sie ihre Botschaft noch einmal hätte hören, verändern oder löschen können. Sie war es Leid, Entscheidungen zu treffen, jedenfalls für heute Nacht. In den letzten Tagen hatte sie nichts anderes getan als entschieden. Das feierliche Arrangement oder das De-Luxe-Vorzugsarrangement, für den Fall, dass man sich schuldig fühlte? Weiße Rosen oder weiße Lilien? Der Walnusssarg mit Messingbeschlägen oder der Mahagonisarg mit Seidenauskleidung?

Allmächtiger! Wer hätte gedacht, dass die Beisetzung eines Menschen so viele dumme Entscheidungen erforderte?

Joan warf das Handy in ihre Tasche, fuhr mit den Fingern in das dichte blonde Haar und schob sich ungeduldig die feuchten Strähnen aus der Stirn. Sie schaltete das Licht über dem Spiegel ein und besah sich im Rückspiegel den dunkel nachwachsenden Haaransatz. Darum würde sie sich bald kümmern müssen. Blond zu sein erforderte einigen Aufwand.

„Du bist arbeitsintensiv geworden, Schätzchen“, sagte sie dem Spiegelbild ihrer Augen. Augen, die sie an manchen Tagen kaum erkannte, da immer mehr Krähenfüße ihre Lachfalten verdrängten. Würde das ihr nächstes Projekt werden, als Teil des neuen Images, das sie sich zulegte? Sie hatte sogar schon einen plastischen Chirurgen aufgesucht. Was bildete sie sich überhaupt ein? Dass sie sich neu erschaffen konnte wie eine ihrer Skulpturen? Tonform, Messingguss und fertig? Und wenn sie schon mal dabei war, gab sie der so geschaffenen Joan Begley auch gleich noch ein paar neue Verhaltensmuster mit.

Vielleicht war dieses Umkrempeln der Persönlichkeit ein hoffnungsloses Unterfangen. Allerdings schien sie allmählich ihre vielen Diäten samt Jo-Jo-Effekten unter Kontrolle zu bekommen. Okay, Kontrolle war vielleicht nicht das richtige Wort, denn sie war nicht überzeugt, dass sie sich wirklich unter Kontrolle hatte. Aber sie musste zugeben, dass sich ihr neuer, abgespeckter Körper gut anfühlte. Richtig gut. Sie konnte jetzt Dinge tun, zu denen sie schon lange nicht mehr fähig gewesen war. Sie konnte sich bei der Arbeit wieder um ihre Metallskulpturen herumbewegen, ohne alle fünf Minuten aus der Puste zu sein. Wie eine Öllampe ohne Öl hatte sie dann warten müssen, bis genügend nachgepumpt war, ehe sie weitermachen konnte.

Ja, die neue, schlanke Figur hatte auch Auswirkungen auf ihre Arbeit. Sie ging mit einem völlig neuen Lebensgefühl daran. Warum wurde sie dann diese ärgerliche kleine Stimme im Hinterkopf nicht los, die dauernd nörgelnd fragte: „Wie lange wird es diesmal halten?“

So wunderbar sie ihren neuen Zustand auch fand, in Wahrheit traute sie dieser neuen Joan nicht. Sie traute ihr so wenig wie zuckerfreier Schokolade oder fettfreien Kartoffelchips. Da musste es einen Haken geben, wie schlechten Nachgeschmack oder chronische Diarrhö. Worauf es eigentlich hinauslief, war ihr mangelndes Selbstvertrauen. Da steckte ihr Problem, das brachte sie in Schwierigkeiten. Deshalb wartete sie in finsterer Nacht hier oben auf der Hügelkuppe im Auto auf einen Typen, mit dem sie sich hoffentlich gut fühlte und der ihr das Gefühl gab – oh Gott, sie mochte es kaum zugeben –, vollwertig zu sein.

Dr. P. behauptete, das käme daher, weil sie glaube, es nicht zu verdienen, glücklich zu sein. Sie fände, Glück nicht wert zu sein – oder irgend so ein Psychokrampf. Immer wieder hatte ihr Dr. P gesagt, es nütze wenig, das Äußere zu verändern, solange man im Innern die Alte blieb.

Wie sie das verabscheute, wenn ihre Seelenklempnerin Recht hatte.

Sie überlegte, ob sie Dr. P. noch einmal anrufen sollte. Nein, das wäre lächerlich. Sie sah kurz in den Rückspiegel. Er kam wahrscheinlich sowieso nicht.

Plötzlich merkte sie, wie enttäuscht sie war. War das nicht lächerlich? Sie hatte ihn wirklich für etwas Besonderes gehalten, für anders als ihre üblichen Bekanntschaften – ruhig, scheu und interessiert. Ja, er war richtig an ihr interessiert gewesen und hatte ihr zugehört. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Sonny war nicht nur interessiert, sondern sogar besorgt um sie gewesen. Besonders als sie ihm diesen Mist über ihr Gewicht aufgetischt hatte – dass ein Hormonmangel daran schuld gewesen sei. So als hätte sie nichts dagegen tun können, dauernd futtern zu müssen. Anstatt es als die dumme Ausrede zu entlarven, die es war, hatte Sonny ihr geglaubt. Er hatte ihr einfach geglaubt.

Wenn sie ehrlich war, hockte sie genau deshalb hier mitten im Nirgendwo im Finstern. Wann hatte das letzte Mal ein Mann Interesse an ihr gezeigt? Echtes Interesse an ihr als Person, nicht an ihrem Äußeren, der neuen schlanken Figur und den blondierten Haaren?

Sie schaltete die Innenbeleuchtung aus und blickte auf die Lichter der Stadt hinab. Ein schöner Anblick. Wenn sie entspannt wäre, würde sie es trotz des ärgerlichen Donnergrollens sogar als romantisch empfinden. War das ein Regentropfen auf der Windschutzscheibe? Na, großartig! Wunderbar! Das fehlte ihr gerade noch.

Erneut mit den Fingernägeln auf das Lenkrad trommelnd, nahm sie ihre Nachtwache wieder auf und blickte abwechselnd in die Seitenspiegel und den Rückspiegel.

Warum kam er so spät? Hatte er es sich anders überlegt? Aber warum sollte er?

Sie schnappte sich ihre Handtasche, durchsuchte sie bis zum Boden und hörte das Knistern. Sie zog den Beutel M&Ms heraus, riss ihn auf und kippte sich etliche in die Hand. Danach begann sie die Kugeln eine nach der anderen in den Mund zu werfen, als wären es Zoloft-Tabletten. Sie hoffte, die Schokolade würde sie beruhigen. Gewöhnlich tat sie das.

„Ja, natürlich kommt er“, sagte sie halblaut, als müsste sie zur Bestätigung den Klang der eigenen Stimme hören. „Ihm ist etwas dazwischengekommen, um das er sich kümmern musste. Er ist sehr beschäftigt.“

Nach allem, was er in der letzten Woche für sie getan hatte … nun ja, da konnte sie wirklich ein bisschen warten.

Sie hatte sich etwas vorgemacht zu glauben, Grannys Tod berühre sie nicht besonders. Granny war der einzige Mensch gewesen, der sie verstanden und unterstützt hatte. Sie war für ihre Enkelin eingetreten und hatte sie verteidigt, wo immer es ging. Zum Beispiel hatte sie überall erzählt, Joan sei auf Grund ihres unabhängigen Naturells mit Vierzig noch Single und keineswegs ein bedauernswerter Fall.

Und nun war Granny, ihre Beschützerin, ihre Vertraute, ihre Anwältin, nicht mehr da. Auch dass sie ein langes und wunderbares Leben gehabt hatte, tröstete sie nur wenig. Sonny hatte ihren Schmerz über den Verlust und ihre Trauer erkannt und ihr durch die letzte Woche geholfen. Er hatte ihr erlaubt und sie sogar darin bestärkt zu trauern. Und er hatte sie ermutigt, ein bisschen zu jammern und zu klagen.

Sie lächelte, als sie sich sein Gesicht mit der ernst gefurchten Stirn vorstellte. Sonny wirkte immer sehr ernst und beherrscht. Und im Moment brauchte sie jemanden, der diese ruhige Stärke ausstrahlte.

In der Sekunde erhellten wie zur Belohnung ihrer Gedanken zwei Scheinwerfer die Dunkelheit. Sie sah einen Wagen die kurvenreiche Allee zur Kuppe mühelos nehmen, als kenne der Fahrer die Strecke zu diesem Treffpunkt hoch über der Stadt auch im Dunkeln – als käme er oft hierher.

Unerwartet hatte sie vor Aufregung und Beklommenheit Schmetterlinge im Bauch und schalt sich dafür. Diese Nervosität konnte sie einem unreifen Schulmädchen nachsehen, aber keiner Frau ihres Alters.

Sie sah den Wagen hinter ihrem anhalten und spürte geradezu die starken Scheinwerfer im Nacken, als wären es seine kräftigen Hände, die manchmal leicht nach Vanille rochen. Er hatte erklärt, der Vanilleduft überlagere die anderen penetranten Gerüche, mit denen er regelmäßig zu tun habe. Dabei war er leicht verlegen gewesen, doch ihr machte der Geruch nichts aus. Im Gegenteil, sie mochte ihn inzwischen ganz gern. Vanille hatte etwas Tröstliches.

Der Donner grollte jetzt über ihr. Die Regentropfen wurden dicker und zahlreicher, pladderten auf ihre Windschutzscheibe und nahmen ihr die Sicht. Sie sah einen Schatten, die schwarze Silhouette eines Mannes mit Hut, aus dem Wagen steigen. Er hatte den Motor ausgeschaltet, die Scheinwerfer jedoch nicht, was es ihr fast unmöglich machte, ihn gegen das grelle Licht und durch die feuchte Scheibe zu erkennen.

Er holte etwas aus dem Kofferraum. Eine Tasche. Kleidung zum Wechseln? Vielleicht hatte er ihr ein Abschiedsgeschenk gekauft? Bei dem Gedanken musste sie wieder lächeln. Doch als er näher kam, merkte sie, dass der Gegenstand lang und schmal war. Etwas, das er an einem Griff tragen konnte … eine Reisetasche vielleicht?

Er hatte ihren Wagen fast erreicht, als sie in einem Blitz das Glänzen von Metall sah. Jetzt erkannte sie auch den Kettenmechanismus um die Schneide und die herabbaumelnde Leine des Anlassers. Sie musste sich irren. Vielleicht war das ein Witz. Ja, ein Witz. Warum sollte er eine Kettensäge mitbringen?

Dann sah sie sein Gesicht.

Im Wolkenbruch erhellt vom grellen Blitzlicht wirkte es finster und entschlossen. Er starrte sie unter dem Rand des Hutes hinweg an, die Miene zornig, der Blick durchdringend, wie sie es noch nie gesehen hatte. Durch den Regen und die trennende Seitenscheibe starrte er ihr in die Augen. Hier war etwas auf entsetzliche Weise nicht in Ordnung. Er sah aus wie ein Besessener.

Joan fürchtete, den Verstand zu verlieren vor Panik. Er stand an ihrer Autotür und starrte zu ihr hinein. Ein Donnerschlag über ihr erschreckte sie so, dass sie zusammenzuckte, ließ sie aber auch schlagartig aktiv werden, wie durch einen kleinen Stromschlag animiert. Fieberhaft tastete sie in der Dunkelheit nach Knöpfen, suchte, fühlte, drückte. Ihr Herzschlag pochte ihr in den Ohren, oder war das ein weiteres Donnergrollen? Verzweifelt probierte sie mehrere Knöpfe aus. Ein Surren, und die Fensterscheibe glitt hinab. Falscher Knopf. Verdammtes Mietauto! Sie probierte weiter.

Oh mein Gott! Zu spät!

Er riss die Wagentür auf. Dem klingelnden Warnton folgte das laute Trommeln der Regentropfen. Der ärgerliche Warnton teilte ihr mit, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, und bestätigte ihr zugleich, dass es zu spät war.

„Guten Abend, Joan“, sagte er mit seiner sanften Stimme, die in Verbindung mit der finsteren Miene jedoch nur seinen Wahn unterstrich. In dem Moment wusste Joan Begley, dass niemand sie mehr jammern und klagen und niemand ihren letzten Schrei hören würde.

2. KAPITEL

Montag, 15. September,

Wallingford, Connecticut

Luc Racine tat, als wäre es ein Spiel. So hatte es vor einigen Monaten angefangen, als albernes Ratespiel mit sich selbst. Außer dass er jetzt in Socken am Ende seiner Zufahrt stand und auf die in Plastik eingehüllte Zeitung am Boden blickte, als wäre sie eine Rohrbombe, dort abgelegt, ihn zu täuschen.

Er drehte sich einmal im Kreis, um zu sehen, ob seine Nachbarn ihn beobachteten. Was für keinen von ihnen eine leichte Aufgabe gewesen wäre. Vom Ende seiner Straße hier oben konnte Luc kaum ihre Häuser erkennen, geschweige denn ihre Fenster, die hinter dichtem Blattwerk verborgen waren. Die Strahlen der über dem Bergkamm aufgehenden Sonne konnten das dichte Blätterdach der alten Eichen- und Walnussbäume am Whippoorwill Drive nicht durchdringen. Es war unmöglich, oberhalb oder unterhalb seines Hauses etwas auf der Straße zu erkennen. Die Autos blieben nur für Sekunden sichtbar, ehe sie wieder verschwanden.

Die Straße schlängelte sich – zu beiden Seiten von Bäumen und Kletterpflanzen gesäumt, die manchmal sogar oben zusammenwuchsen –, sodass man nie mehr als zwanzig, dreißig Meter überblicken konnte. Wer sie befuhr, fühlte sich wie auf einer schlingernden Achterbahn. Sie führte steil bergan, um dann plötzlich in Windungen von neunzig Grad hinabzuführen, was einem drei, vier Sekunden Heiterkeit bescherte, während einem der Magen in die Kehle geschoben wurde und der Fuß über der Bremse verharrte. Die schöne Umgebung und die dramatische Abfahrt nahmen einem buchstäblich den Atem. Das gehörte zu den Dingen, die Luc Racine an dieser Gegend liebte, und er sagte es jedem, der es hören wollte. Ja, hier im Herzen von Connecticut hatten sie alles: Berge, Wasser, Wald, und der Ozean war nur Minuten entfernt.

Seine Tochter neckte ihn häufig, er könne verdammte Reklame für die Tourismusbehörde machen. Worauf er gewöhnlich antwortete: „Ich habe dich nicht dazu erzogen, zu fluchen wie ein Seemann. Du bist nicht zu groß, dass ich dir nicht immer noch den Mund mit Seife auswaschen könnte.“

Lächelnd dachte er an sein kleines Mädchen. Sie hatte wirklich eine große Klappe, besonders jetzt als erfolgreicher Detective in … verflixt! Warum konnte er sich nicht an den Namen der Stadt erinnern? Es war doch ganz einfach. Da, wo die ganzen Politiker waren, das Weiße Haus und der Präsident. Der Name lag ihm auf der Zunge.

Er merkte, dass er schon wieder auf dem Weg zur Haustür war, aber mit leeren Händen.

„Mist!“ Er drehte sich um und sah den Weg zurück. Die Zeitung lag noch dort, wo der Austräger sie hingeworfen hatte. Wie sollte er sich merken, welches Datum gerade war, wenn er nicht mal daran dachte, die dumme Zeitung mitzunehmen? Das konnte kein gutes Zeichen sein. Er zog ein kleines Notizbuch mit Schreibstift aus der Hemdtasche, notierte das Datum – zumindest glaubte er, dass es dieses Datum war – und schrieb: „Bin zum Ende des Weges gegangen und habe Zeitung vergessen.“

Als er das Notizbuch wieder einsteckte, merkte er, dass er sein Hemd falsch geknöpft hatte. Diesmal waren zwei Knöpfe falsch. Er liebte seine Oxfordhemden – kurzärmelig für den Sommer, langärmelig im Winter –, aber leider musste er sich von ihnen verabschieden. Während er zum Ende des Gartenweges trottete, stellte er sich vor, wie er mit seinem schwarzen Barett in T-Shirts oder Poloshirts aussehen würde. Wirkte das vielleicht albern? Und wenn schon, machte ihm das etwas aus?

Er nahm den Hartford Courant, zog ihn aus seiner Plastikhülle und entfaltete ihn schwungvoll wie ein Magier. „Und der Tag heute ist der … ja, Montag, der 15. September.“ Erfreut faltete er die Zeitung wieder zusammen, ohne sich auch nur eine einzige Schlagzeile anzusehen, und stopfte sie sich unter den Arm.

„He, Scrapple!“ rief er seinem Jack Russell Terrier zu, der aus dem Wald gelaufen kam. „Ich hatte wieder Recht.“ Doch der Hund beachtete ihn nicht. Völlig auf den riesigen Knochen in seiner Schnauze konzentriert, vollführte er einen Balanceakt zwischen Tragen und Zerren und verlor fast seine Beute.

„Scrap, mein alter Junge, eines Tages werden dir die Kojoten auflauern, weil du ihnen ihre Beute klaust“, scherzte er. Kaum hatte Luc zu Ende gesprochen, gab es ein lautes Krachen auf der anderen Seite des Wäldchens, als schlüge Metall gegen Fels. Erschrocken ließ der Hund den Knochen fallen und kam ängstlich zu Luc gelaufen, als wären die Kojoten tatsächlich hinter ihm her.

„Ist schon okay, Scrapple“, beschwichtigte er den Hund, als ein weiterer Schlag den Boden erzittern ließ. „Was ist da denn los?“

Luc schlüpfte eilig in seine Schuhe und ging den Pfad entlang, der in den Wald führte. Etwa eine Viertelmeile Wald und Buschwerk trennten sein Grundstück von einem stillgelegten Steinbruch. Der Besitzer hatte das Geschäft schon vor Jahren aufgegeben und den Steinbruch einfach verfallen lassen. Wobei Geräte und Berge von Fels, die noch zerkleinert und abtransportiert werden mussten, zurückgeblieben waren. Wer hätte gedacht, dass der wertvolle Sandstein den Abgasen von New York City eines Tages nicht mehr standhalten würde?

Irgendjemand hatte angefangen, den abgelegenen Steinbruch als freie Müllkippe zu missbrauchen. Luc hatte gehört, dass Calvin Vargus und Wally Hobbs engagiert worden waren, aufzuräumen und den Müll zu entfernen. Bisher hatte er aber nur große gelbe Baufahrzeuge neben dem alten verrosteten Zeug parken sehen. Er wusste noch, wie er gedacht hatte, dass Vargus und Hobbs – oder Calvin und Hobbs, wie sie von den Leuten in der Stadt genannt wurden – den Steinbruch nur als billiges, sicheres und abgeschiedenes Lager für ihre Ausrüstung nutzten.

Jetzt sah er auf der anderen Seite der Bäume, wie die schwere Planierraupe mit ihrer großen Schaufel riesige Felsbrocken von einer Seite zur anderen schaffte. Er hatte vergessen, wie abgelegen dieser Teil war, und konnte zwischen den Bäumen kaum den Lehmpfad, den einzigen Zugang, erkennen. Die überwucherte Weide davor wurde auf einer Seite von dem ausgebeuteten, seines wertvollen Sandsteins beraubten Berg und auf den restlichen von Wald eingerahmt.

Luc erkannte Calvin Vargus im offenen Führerhaus an den Hebeln der Monstermaschine. Er sah ihn mit seinen dicken Armen an den Hebeln ziehen und drücken, damit die Schaufel wie ein großes Maul Fels aufnahm. Ein weiterer Hebelzug, und die riesige gelbe Maschine drehte sich zur Seite und spie den Fels polternd und donnernd wieder aus.

Die Erschütterung ließ Calvins Kopf wackeln. Der Schirm einer orangefarbenen Baseballkappe schützte seine Augen vor der Morgensonne, jedoch bemerkte er Luc aus den Augenwinkeln und winkte.

Luc erwiderte den Gruß und nahm ihn als Aufforderung näher zu treten. Das Geräusch der schweren Baumaschine dröhnte ihm in den Ohren, und er spürte die Vibrationen von den Zehen bis zu den Zähnen. Was Luc faszinierte, ängstigte Scrapple halb zu Tode. Was für eine Memme, stahl riesige Knochen und hatte Angst vor ein bisschen Lärm. Der kleine Hund folgte Luc so dichtauf, dass er ihm mit der Nase in die Waden stieß.

Das riesige gelbe Maul der Raupe nahm noch einen Bissen, der aus zerkleinertem Fels, Gebüsch und Müll bestand. Diesmal löste sich ein verrostetes Fass und rollte den Felshaufen hinab. Es krachte gegen die scharfen Felskanten, platzte auf, und der Deckel flog wie eine Frisbee-Scheibe davon.

Luc sah dem Deckel nach, verblüfft von seiner Geschwindigkeit und Flugbahn. Den verschütteten Fassinhalt bemerkte er nur aus den Augenwinkeln. Zuerst hielt er es für alte Kleidung oder einen Haufen Lumpen. Dann entdeckte er einen Arm und dachte an eine Schaufensterpuppe. Schließlich diente das hier jemand als Müllkippe.

Aber dann bemerkte er den Gestank.

So roch kein gewöhnlicher Müll. Nein, das hier roch anders. Es roch nach … Tod. Es machte ihm nicht wirklich Angst, bis Scrapple anfing zu heulen – ein hoher lang gezogener Ton, der den Lärm der Maschine übertönte und Luc eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

Calvin hielt die Schaufel in der Luft an und schaltete den Motor aus. Plötzlich verstummte auch Scrapple, und eine unheimliche Stille senkte sich herab. Luc ließ das Fass nicht aus den Augen, bemerkte jedoch am Rande, wie Calvin sich die Kappe in den Nacken schob. Reglos warf er einen Blick zu dem kräftigen Mann in der Fahrzeugkabine, der jetzt wie gelähmt dasaß.

Luc bemerkte ein Pochen in den Ohren, das keine Nachwirkung des Maschinenlärms war. Vielmehr hämmerte sein Herz so laut, dass er kaum die vorbeifliegenden Gänse hörte. Ein Schwarm aus dutzenden Tieren schrie und quakte auf der täglichen Pilgerreise zum McKenzie Reservoir oder zurück. In der Ferne hörte er das Brummen des Berufsverkehrs auf der I-91. Die alltägliche Geräuschkulisse eines ganz normalen Tages.

Ein normaler Tag, dachte Luc versonnen, als er die Morgensonne durch die Bäume kommen und das bläulich weiße Fleisch bescheinen sah, das aus dem Fünfundfünfzig-Gallonen-Fass gerollt war. Er fing Calvins Blick auf und erwartete, in dessen Miene dieselbe Panik zu erkennen, die er empfand. Panik war vielleicht vorhanden, eventuell sogar ein wenig Abscheu über den Anblick. Was Luc zu seinem Erstaunen in Calvins Gesicht jedoch nicht sah, war Überraschung.

3. KAPITEL

FBI-Akademie,

Quantico, Virginia

Maggie O’Dell langte nach dem letzten Doughnut mit Schokoladenguss und Zuckerstreuseln in grellem Pink und Weiß und hörte bereits das tadelnde „Ts, Ts“ ihres Kollegen. Sie warf ihrem Partner, Spezialagent R. J. Tully, einen Blick über die Schulter zu.

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