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Tödliche Jagd auf Grönland.
Als zwei Arbeiter eines umstrittenen Tagebauprojekts in Grönland ermordet werden, sieht die Polizeichefin von Aarhus die Möglichkeit, ihren eigensinnigen Ermittler John Kaunak loszuwerden. Vorgeblich als neuer Sicherheitschef fliegt er auf die Insel und begreift bald, dass er es nicht mit einem gewöhnlichen Mörder zu tun hat. Im Tagebau wird das begehrte Neodym abgebaut, dem die ganze Welt nachjagt. Niemand will John unterstützen und sich den großen Playern in den Weg stellen. Bis er Aka Høegh trifft, eine junge Einheimische, die ihm die mystische Seite Grönlands zeigt ...
Ein so brisanter wie hochaktueller politischer Thriller vor der spektakulären Kulisse des grönländischen Eises.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2024
Zwei Arbeiter einer Tagebaumine in Südgrönland werden harpuniert – für die Polizeidirektorin von Aarhus die Gelegenheit, ihren zwar begabten, aber unbeliebten Ermittler John Kaunak loszuwerden. In Grönland wird John über die dunkle Seite des lukrativen Projekts aufgeklärt: Der Damm des Rückhaltebeckens, das den giftigen Abraum aufnimmt, droht aufgrund steigender Temperaturen zu brechen, was eine Umweltkatastrophe für ganz Grönland und die indigene Bevölkerung bedeuten würde. John gerät zwischen die Akteure und ihre Interessen; Umweltaktivisten, Baukonzerne, Separatisten. Einzig die junge Einheimische, Aka Høegh, für die er eine wachsende Zuneigung entwickelt, hält zu ihm. Doch ihre Freundschaft und seine Ermittlungen werden auf der Insel nicht gern gesehen, und bald erfährt John am eigenen Leibe, was es bedeutet, ums Überleben zu kämpfen.
Roland Muller ist Texter und Kreativdirektor. Bereits während seines Ethnologie-Studiums in Göttingen und Mainz faszinierten ihn die Arktis und ihre Bewohner. Später startete er in Frankfurt eine Werbekarriere und fand Gelegenheit zu ausgedehnten Reisen an den Polarkreis, nach Dänemark, Kanada und in die USA. Bis heute lässt ihn das »Arktis-Virus«, wie er es nennt, nicht los. Muller ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und mehreren Sibirischen Katzen in Hofheim am Taunus.
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Roland Muller
Eisrausch
Thriller
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PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
Nachwort des Autors
Danksagung
Impressum
Wer von diesem Thriller begeistert ist. liest auch ...
Eis. Ein Ensemble aus Kuppeln, Türmen, Kathedralen – regelmäßig klatschten Trümmerstücke in die vom Sturm aufgewühlte arktische See.
Einen Kilometer entfernt fraßen sich die Abbauterrassen des Tagebaus immer tiefer in den Berggipfel, der das Kvanefjeld-Plateau überragte. Das Geheul einer Sirene ertönte. Kurz darauf krachte die Sprengung. Tonnen von Gestein brachen aus dem Berg und donnerten zu Tal, wirbelten Steinstaub und Schneewolken auf, die im letzten Schein des Tageslichts zu Boden sanken.
»Elendes Scheißwetter!« Ole schob sich den Schild seines Schutzhelms tiefer über die Augen. Nicht, dass das etwas nützte. Der Wind peitschte Eiskristalle auf jeden Zentimeter Haut seines Gesichts, den die Sturmhaube ungeschützt ließ. Schnee um diese Zeit? Normal war das nicht. Sein Kollege, der unmittelbar hinter ihm durch den Schnee stapfte, klopfte ihm mit der behandschuhten Hand auf die Schulter.
»Lass uns eine Pause machen, bis der Sturm sich etwas legt.«
»Das kann aber dauern,« erwiderte er.
»Und wenn schon«, beharrte sein Kollege. »Bei dem Wetter wird keiner merken, dass wir eine Viertelstunde später zum Schichtwechsel kommen.«
Er nickte. Dann deutete er auf zwei Schaltkästen zwischen den Stützstreben eines Flotationsbeckens, und sie stapften darauf zu. Im Windschatten des Schaltkastens holte sein Kollege einen Flachmann aus der Innentasche seiner Polarjacke.
»Hier, das wärmt. Aber lass mir was übrig.«
»Danke. Du hast was gut bei mir, Morten.«
»Verdammtes Neodym. Hätte ich damals geahnt, unter welchen Bedingungen wir hier fördern, hätte ich mir zweimal überlegt, ob ich den Vertrag unterschreibe. Von dem Dreck, der dabei anfällt, ganz zu schweigen.«
Er nahm einen großen Schluck und schüttelte sich. »Immerhin verdienen wir gutes Geld. Nur auf den Bohrplattformen zahlen sie noch besser.«
»Nicht mein Ding!«, sagte Morten. »Ich werde zu leicht seekrank. Hier haben wir wenigstens festen Boden unter den Füßen.« Er nahm den Flachmann wieder an sich, zog sich seine Sturmhaube bis unters Kinn und leerte ihn in einem Zug.
Ole bemerkte den ungläubigen Blick seines Kollegen zu spät. Eben lehnte er noch seitlich am Schaltkasten, jetzt rutschte er wie in Zeitlupe daran herab und fiel mit dem Gesicht nach vorn in den Schnee. Eine rote Spur zog sich über das Blech. Aus seinem Rücken ragte ein langer Stahlstab.
»Was zum –« Bevor er den Satz vollenden konnte, spürte er einen stechenden Schmerz. Von hinten war etwas mit Wucht unterhalb seines linken Schulterblatts eingedrungen – und an seiner Brust wieder ausgetreten. Ein Schwall Blut schoss in den frischen Schnee und versickerte. Eine Pfütze helles Rot im allumfassenden Weiß.
John Kaunak hasste Friedhöfe. Zu viele Opfer von Straftaten landeten hier. Den Friedhof oberhalb des Fischereihafens verabscheute er besonders. Er kniff die Augen zusammen und rümpfte die Nase. Spätsommersonne, Flieder und Fisch, diese Kombination vertrug sich nicht. Bei auflandigem Wind wehte eine stete Brise und verbreitete den Gestank von Salzlake und Fischabfällen, der sich jetzt mit dem Duft des blühenden Fliederstrauchs neben der Doppeltür der Aussegnungshalle vermischte und wie eine schwere Wolke über der Menschenmenge hing, die sich vor dem Eingang drängte. Viele der Anwesenden trugen die Ausgehuniform der Aarhuser Polizei, wie auch er selbst. John zupfte an seinem Krawattenknoten.
»Stell dich nicht so an!«, zischte seine Mutter. Gudrun Kaunak stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Du hast mir die Krawatte zu eng gebunden«, gab John zurück.
»Bei einer Beerdigung läuft man nicht so verlottert herum, wie du es sonst immer tust.« Die Flügeltüren der Aussegnungshalle öffneten sich. Gudrun drapierte den Schleier ihres schwarzen Strohhuts vor ihrem Gesicht und schob John vor sich her in Richtung Eingang. Der Vikar führte die Trauergemeinde an, begleitet von Johns Vorgesetzter, der Polizeichefin von Aarhus. Gudrun erkannte sie sofort.
»Das ist Katharina Hagelund, nicht wahr?«
»Ja.« John zögerte. »Vermutlich wird sie eine Rede halten. Sie liebt Reden.«
»Eine eindrucksvolle Frau«, sagte Gudrun. »Ich habe sie leider in all den Jahren nur ein paarmal getroffen. Franklin hat nie viel über sie gesprochen.«
»Er wird seine Gründe gehabt haben.« John zog einige zusammengefaltete Blätter aus der Innentasche seiner Uniform, während sie weiterschritten. Der Vikar nickte ihnen zu, als sie ins Halbdunkel traten.
»Ich hoffe, deine Trauerrede ist angemessen, John. Du hast deinem Vater viel zu verdanken.« Gudrun schlug einen mahnenden Tonfall an. »Du hättest sie mir gestern ruhig vorlesen können.«
John unterdrückte gerade noch die Antwort, die ihm auf der Zunge lag.
Sie nahmen in der ersten Stuhlreihe links des Mittelganges Platz, der mit Blumengebinden geschmückt war. Rechts vor ihnen war der Sarg platziert. Im halbrunden Alkoven dahinter war eine kleine Bühne mit zwei Kerzenständern und einem Rednerpult. John atmete tief durch.
»Mein aufrichtig empfundenes Beileid.« Hagelund setzte sich neben John in die Bank. Gudrun nickte kurz, er schwieg. Dann trat der Vikar ans Rednerpult. Er begrüßte die Trauergemeinde, kondolierte und winkte John zu sich auf die Bühne.
John stand auf und trat vor. Als Sohn des Verstorbenen war es nun an ihm, die passenden Worte zu finden.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Trauernde, liebe Katharina.« Er stockte und ordnete seine Notizen. Dann fuhr er mit fester Stimme fort.
»Franklin Lee Kaunak war ein guter Vater. Bei aller Strenge hatte er stets ein offenes Ohr für seinen einzigen Sohn. Er brachte mir bei, Recht und Unrecht auseinanderzuhalten und für das Gesetz einzutreten. Und auch, wenn es nicht immer leicht war, seinen Ansprüchen zu genügen, hielt er in schwierigen Zeiten stets zu mir. Er hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Franklin Lee Kaunak war ein guter Ehemann. Bei einem Austauschprogramm mit Dänemark lernte er meine Mutter kennen. Als er sie traf, haderte sie mit ihrer Herkunft, aber er sah sie als die, die sie ist: eine bildschöne Frau mit einem eisernen Willen und einem großen Herz. Es war Liebe auf den ersten Blick und bis zum letzten Tag. Franklin Lee Kaunak war ein guter Polizist. Er arbeitete sich bis zum Superintendenten der Royal Canadian Mounted Police hoch, diente bei der V Division Nunavut in Iqaluit, im Norden Kanadas. Zusammen mit seiner Partnerin Katharina Hagelund reformierte er den Polizeibezirk Kopenhagen und machte den Kriminaldienst der Hauptstadt zum erfolgreichsten des ganzen Landes, bevor er hierher nach Aarhus wechselte.
Franklin Lee Kaunak war ein guter Mensch. Vielleicht ein besserer als die meisten von uns, und sein überraschender Tod hinterlässt eine schmerzhafte Lücke. Er wird meiner Mutter fehlen. Er wird mir fehlen. Und er wird uns allen fehlen.«
John nickte dem Vikar zu und eilte zurück zu seinem Platz. Seine Mutter legte ihm eine Hand auf den Unterarm.
»Gut gesprochen, John. Ich weiß ja, wie schwer es dir fällt, Gefühle zu zeigen.«
Hagelund beugte sich zu John hinüber und raunte: »Das war vermutlich die längste Rede, die ich je von Ihnen gehört habe.« Dann erhob sie sich, um im Namen der versammelten Polizeiangehörigen zu sprechen.
Zwei Stunden später war es überstanden. Alle Reden waren gehalten, der Sarg war zur Grabstelle getragen und hinabgelassen worden. Der Vikar sprach die üblichen, wohlgesetzten Worte, und die Trauergemeinde zerstreute sich. Nicht jedoch, ohne sich herzlich von John und Gudrun zu verabschieden. Als sie aus dem Schatten der von Bäumen umgebenen Grabstätte ins Licht der Sommersonne traten, gesellte sich der Vikar zu ihnen.
»Mit Gottes und Ihres Sohnes Beistand werden Sie den schmerzlichen Verlust ihres Gatten bewältigen, liebe Frau Kaunak, da habe ich keinerlei Zweifel. Der Herr hält seine Hand über die, die reiner Seele sind. Und Sie sind schließlich christlich getauft, nicht wahr?« Er lächelte.
Gudrun schoss einen flammenden Blick auf ihn ab.
Der Geistliche wandte sich John zu. Sein Lächeln war wie festgetackert.
»Ihnen, John, möchte ich einen Vers aus dem Lukas-Evangelium mitgeben. Kapitel 22, Vers 43, der da lautet: ›Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn.‹ Ich hoffe, der Herr gibt Ihnen die Kraft, Ihre Last zu tragen.« Dann verabschiedete er sich und wandte sich zum Gehen.
John wischte sich über die Stirn – die Hitze war wirklich unerträglich – und reichte seiner Mutter den Arm. Sie hatten die Bushaltestelle noch nicht erreicht, als die Polizeichefin zu ihnen aufschloss.
»John, könnten Sie morgen um Punkt neun Uhr bei mir im Büro vorbeischauen? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen«, sagte sie. Bevor er antworten konnte, wandte sie sich an seine Mutter. »Sollten Sie in der kommenden Zeit Beistand suchen, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen. Franklin war mir ein treuer Freund und der beste Partner und Kriminalist, mit dem ich je das Privileg hatte, zusammenarbeiten zu dürfen.« Dann verschwand sie so eilig, als könne ihr die Spätsommersonne nichts abhaben. Diese Frau war ihm ein Rätsel. Was wollte sie bloß von ihm?
In diesem Moment wehte vom Hafen her ein Schwall des typischen Duftgebräus aus Algen, gammeligem Fisch und Salzlake herauf. John rümpfte die Nase und ertrug es wie alles andere an diesem Tag.
Am nächsten Morgen betrat John das Polizeipräsidium von Aarhus in seinem üblichen Outfit: Jeans und darüber ein abgetragenes Tweedjackett. Was würde ihn in Hagelunds Büro erwarten? Die halbe Nacht hatte er sich das Hirn zermartert. Ohne Ergebnis.
Er trat durch die Glastür am Eingang, wies sich aus und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Die Büros seiner Abteilung und das Zimmer seiner Chefin lagen im obersten Stockwerk. Auf seinem Weg durch die Gänge grüßte ihn kaum jemand. John quittierte das mit einem Lächeln. Er kannte es nicht anders. Vor Hagelunds Bürotür verharrte er kurz und sah auf die Uhr. Neun Uhr dreizehn. Er trat ein, ohne anzuklopfen.
»Ah, da sind Sie ja. Unpünktlich wie immer«, begrüßte ihn Katharina Hagelund. Sie klappte ihren Laptop zu und lehnte sich zurück. »Lassen Sie die Jalousien herunter und nehmen Sie Platz.«
»Wenn das hier ein Anschiss wird, bleibe ich lieber stehen.« Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Seien Sie nicht so renitent, John. Ich will nur mit Ihnen sprechen. Und nun schließen Sie endlich die Jalousien.«
»Also gut, meinetwegen.« John drückte einen Knopf, und die Lamellen des elektrischen Sichtschutzes vor dem Glasfenster zum Gang falteten sich raschelnd übereinander. Sie waren nun vor neugierigen Blicken geschützt. Er setzte sich.
Katharina Hagelund musterte ihn kurz und wandte sich dann wieder der Zigarette zu, die sie sich gerade zu drehen begonnen hatte. Verbotene Freuden – Rauchen im Büro war nicht erlaubt, aber die seit der Pandemie installierte Entlüftungsanlage würde es vertuschen.
»Lassen Sie uns nicht um den heißen Brei herumreden, John. Sie haben die beste Aufklärungsquote aller meiner Leute. Aber nach den Ausrutschern, die Sie sich geleistet haben, muss ich Sie … aus der Schusslinie nehmen.«
»Bin ich suspendiert?« John blickte sie unverwandt an.
»Nein, natürlich nicht. Auch wenn die Kollegen von der unabhängigen Polizeibeschwerdestelle seit Monaten darauf drängen.«
»Hätte ich mir denken können.«
»Sind sie trocken, John?« Hagelund legte die Zigarette beiseite und zog eine Flasche Aquavit und zwei Gläser aus einem Schubfach ihres Schreibtischs.
John erstarrte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Handflächen.
»Ich meine, wirklich trocken?« Sie goss sich ein Glas ein, nippte daran und beobachtete ihn gespannt.
»Ja, verdammt, ich bin trocken. Und ich bleibe es! Vermutlich liegt irgendwo auf Ihrem Schreibtisch der Schlussbericht der Polizeipsychologin. Was soll die Frage?«
»Dr. Raasted scheint tatsächlich der Meinung zu sein, dass Sie es geschafft haben. Diesmal.« Hagelund leerte ihr Glas in einem Zug.
»Menschen machen Fehler. Ich habe für meine bezahlt.« John erhob sich. »War’s das?«
»Bleiben Sie bitte sitzen.« Hagelund schüttelte fast bedauernd den Kopf. »Ich weiß, dass Sie immer wieder Probleme mit Ihren Kolleginnen und Kollegen haben. Und mir ist zu Ohren gekommen, dass keiner mehr mit Ihnen zusammenarbeiten will. Sie sind zu oft im Einsatz handgreiflich geworden, John.«
»Sagt wer? Die Polizeibeschwerdestelle?«
»Das sagen alle hier.«
»Vielleicht, weil mich die geschätzten Kolleginnen und Kollegen nicht als der akzeptieren, der ich bin?«
»Hier wird niemand aufgrund seiner Herkunft diskriminiert. Nicht, solange ich das Sagen habe. Das wissen Sie.« Sie sah ihn durchdringend an.
»Aber es wäre gut, wenn Sie für ein paar Monate von der Bildfläche verschwinden. Damit Ruhe einkehrt. Ich bin es langsam leid, meine Hand über Sie zu halten, und Sie hätten die Chance, sich zu rehabilitieren. Beweisen Sie allen, dass Sie unser bester Ermittler sind.« Katharina Hagelund zog einen Schnellhefter aus der Schreibtischablage und warf ihn vor John auf den Tisch. »In Grönland!«
John glaubte, sich verhört zu haben. »Grön- im Eis?«
»Ein Studienkollege von mir leitet das Seltene-Erden-Tagebauprojekt in Kvanefjeld, das von einem australisch-dänischen Bergbauunternehmen betrieben wird. Vor ein paar Wochen hat es dort zwei Tote gegeben. Unter sehr merkwürdigen Umständen.«
John griff nach dem Schnellhefter und begann, darin zu blättern.
»Sie werden als neuer Sicherheitschef des Tagebauprojekts angestellt. Und dann finden Sie heraus, was geschehen ist.« Hagelund schob ihm über den Tisch einen Umschlag mit dem Logo der Air Greenland zu. »Ihr Flug geht von Kopenhagen nach Narsarsuaq. Übermorgen.«
John schluckte. Ohne aufzusehen, sagte er: »Das ist verdammt kurzfristig. Was sage ich meiner Mutter? So kurz nach der Beerdigung …«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Gudrun und ich kennen uns seit Jahren. Ich werde mich um sie kümmern, das bin ich ihr schuldig.« Sie fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschnittene graue Haar. »Wir wollten uns sowieso bald treffen.«
John hob den Blick von der Akte. Die Umstände des Doppelmords schienen, gelinde gesagt, bizarr zu sein. Seine Neugierde war geweckt.
»Was muss ich sonst noch wissen?«
»Nur zwei Dinge. Erstens werden Sie Kontakt aufnehmen zum Chef der Polizeistation in Narsaq, das ist acht Kilometer vom Tagebau entfernt. Er ist bereits informiert. Und zweitens: Passen Sie auf sich auf. Da oben geht irgendetwas sehr, sehr Merkwürdiges vor sich.«
Pling! Birte Poulsen warf einen Blick auf ihr Smartphone, auf dem sie bereits ihren Boardingpass geöffnet hatte.
»Das ist Nils!« Sie überflog die Nachricht und stieß ihre Freundin Liv aufgeregt in die Seite. »Wir können bei ihm auf dem Boot wohnen, bis wir etwas gefunden haben. Er holt uns am Flughafen ab. Und er lässt dich grüßen.«
»Auf dem Boot? Das wird doch zu eng«, sagte Liv stirnrunzelnd. »Außerdem ist er sich bestimmt zu schade dafür, in der Kombüse zu stehen. Das bleibt nur wieder alles an mir hängen.«
»Das kommt davon, wenn man so gut kochen kann wie du«, sagte Birte.
»Es geht los!« Der Mann hinter ihnen drängte sie ungeduldig vorwärts.
Birte zog Liv am Ärmel mit sich. Die Schleuse zum Andocktunnel war geöffnet worden, und die Gruppe der Wartenden schob sich darauf zu, die Smartphones mit den QR‑Codes gezückt. Der Air-Greenland-Airbus nach Narsarsuaq war startbereit.
»Zweiter Gang, gleich dort hinten, beidseits am Gang«, sagte die Stewardess, als Birte ihr ihren Boardingpass zeigte. Sie zwängten sich an den Passagieren vorbei, die den Mittelgang blockierten, weil sie ihr Gepäck verstauten. Es roch nach Schweiß, Desinfektionsmittel und dem penetranten Parfum des Kabinenpersonals.
»Schade, ich hätte gern am Fenster gesessen.« Birte seufzte. »Der Blick auf die Eisberge muss toll sein.« Sie öffnete die Gepäckklappe über ihrem Sitz und schob ihren Rucksack hinein. Liv stopfte ihren Daypack daneben und setzte sich auf den Platz auf der anderen Gangseite. Die Viererreihe vor ihnen war frei. Die Maschine würde nicht einmal halbvoll sein, wenn sie abhob, und fast die Hälfte der Passagiere sah aus wie Geschäftsreisende.
»Wir können gern tauschen – 16K gegen 16G.« Der Drängler von vorhin tauchte neben ihnen auf. »Ich sitze lieber am Gang.« Er deutete auf Livs Sitzplatz. »Dann können Sie nebeneinandersitzen.« Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht.
»Das ist super. Danke!«, sagte Liv, erhob sich und ließ sich neben ihrer Freundin nieder. Birte war bereits ans Fenster aufgerutscht und musterte ihren groß gewachsenen Mitpassagier.
»Danke schön.« Sie lächelte. Dann runzelte sie die Stirn. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Habe ich sie vielleicht mal im Fernsehen gesehen? Oder online?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen.« Mit diesen Worten wandte er sich seinem Handgepäck zu.
»Ich könnte schwören, dass ich sein Gesicht irgendwoher kenne«, sagte Birte leise an Liv gewandt, nachdem sie abgehoben waren. »Vielleicht ist er Schauspieler?«
»Ich glaube, das bildest du dir ein.«
»Nein, ehrlich, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.«
»Und ein miserables Namensgedächtnis. Vielleicht hättest du mal einen Blick auf sein Ticket werfen sollen.« Liv strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und grinste. »Birte Poulsen von New Arctic Watch im Undercover Einsatz. Das ist wirklich zum Fürchten!«
»Du nimmst mich nicht ernst.«
»Wenn du auch so einen Blödsinn erzählst … Lass uns lieber überlegen, was wir machen, wenn wir endlich da sind. Hat Nils noch was gesagt?«
Birte schüttelte den Kopf.
»Und wie läuft es mit seinem Job in Kvanefjeld?«
»Dazu hat er auch nichts geschrieben. Er hat stattdessen ein Foto von seinem Boot geschickt.« Birte hielt ihrer Freundin das Smartphone hin.
»Von wegen sein Boot!«, schimpfte Liv. »Das ist die Kalmar, einer von zwei umgebauten Kuttern, die New Arctic Watch an der Westküste einsetzt. Den Kapitän und seinen Bootsmann haben wir sogar mal kennengelernt.«
»Beim Jahrestreffen in Kopenhagen?«
»Genau. Dieser Seebär. Hat Fischereiwissenschaft studiert und fährt schon mindestens zehn Jahre für die Organisation.« Liv lächelte versonnen. »Und er ist ziemlich attraktiv.«
»Apropos attraktiv …«, flüsterte Birte und beugte sich so weit vor, dass sie ihren Sitznachbarn ansehen konnte.
»Darf ich fragen, was Sie nach Grönland führt?«, fragte sie ihn. »Zwischen Narsarsuaq und Narsaq sagen sich doch nur Polarfuchs und Eisbär gute Nacht.«
»Das könnte ich Sie genauso fragen.« Der Mann sah kurz von seiner Lektüre auf, verzog aber keine Miene.
»Wir sind keine Touristinnen. Wir arbeiten für die Umweltschutzorganisation New Arctic Watch«, erklärte Liv. »Auf der Halbinsel zwischen dem Sermilik- und dem Tunulliarfik-Fjord gibt es einen riesigen Tagebau. Haben Sie davon gehört? Dort werden seit Kurzem Seltene Erden gefördert, vor allem Neodym. Wir wollen uns das mal anschauen.«
»Interessant.« Der Mann kniff die Augen zusammen. »Sie sind also Klimaaktivistinnen? Generation Thunberg, schätze ich?«
»Genau. Vor allem wollen wir die rücksichtslose Ausbeutung der arktischen Rohstoffe verhindern.« Livs Augen blitzten.
Birte stieß sie mit dem Ellbogen in die Seite und sagte beschwichtigend: »Das ist für eine Seminararbeit. Wir studieren Umweltwissenschaften in Kopenhagen.«
»Im Hauptfach«, ergänzte Liv. Sie hatte verstanden. »Birte ist im vierten, ich bin im fünften Semester.«
»Angehende Wissenschaftlerinnen.« Der Mann nickte anerkennend. »Davon brauchen wir mehr.« Er wollte sich wieder seiner Lektüre zuwenden, einem dünnen roten Schnellhefter, doch Birte hakte nach: »Und was haben Sie vor, wenn wir gelandet sind? Wie ein Tourist sehen Sie auch nicht aus, Herr …«
»John, ich heiße John.« Der Mann musterte sie.
In diesem Moment wurde ein Rollcontainer mit Getränken und Snacks in den Gang zwischen ihnen geschoben und ihr Blickkontakt unterbrochen. Eine Stewardess beugte sich zu ihnen hinunter und fragte nach ihren Wünschen. Zwei Tonic Water später wandte sie sich an ihren Gangnachbarn. Er bestellte kein Bier, wie die meisten Passagiere, sondern Tomatensaft. Die Frau in Himbeerrot bediente ihn und schob ihren Rollcontainer weiter.
Birte versuchte, das Gespräch wieder aufzunehmen. Dieser Typ kam ihr so seltsam bekannt vor.
»Ist es etwas Berufliches?«
»Nichts, was Sie interessieren würde.«
»Ach, kommen Sie. Niemand fliegt einfach so nach Grönland!« Birte wollte nicht lockerlassen.
»Ich möchte nicht darüber sprechen. Und ich habe zu tun.«
Der Mann griff demonstrativ nach einer Mappe, die vor ihm auf dem Klapptisch lag und widmete sich den Dokumenten darin.
»Ich könnte schwören, dass ich diesen John von irgendwoher kenne«, zischte Birte. »Ich komme noch drauf.«
»Lass gut sein, Birte. Du siehst doch, dass du ihn mit deiner Fragerei nervst. Obwohl er tatsächlich gut aussieht. Erinnert mich an Mads Mikkelsen.« Liv schlürfte ihr Tonic Water.
Als sie zum Landeanflug ansetzten, hatte sich das Wetter verschlechtert. Der Flugplatz von Narsasuaq bestand aus einer einzigen Piste und lag am Ende eines engen, sich nach Westen öffnenden Fjords, umgeben von Bergzügen und einem Gletscher, und schon bei schönem Wetter bereitete der Anflug Schwierigkeiten. Jetzt hingen die Wolken bedrohlich niedrig, und ein böiger Ostwind rüttelte die Maschine durch.
»Das wird holprig«, sagte Birte und konnte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Seit Minuten blinkten die Warnleuchten und ermahnten sie, ihre Sicherheitsgurte anzulegen.
Liv tat gelassen. »Da haben wir beim Segeln im Belt schon Schlimmeres erlebt. Denk nur an unsere Sturmfahrt damals, als –« Das Flugzeug sackte in ein Luftloch. Sie fielen – zwanzig, dreißig, fünfzig Meter. Liv verstummte. Birte warf einen Blick hinüber zu John und bemerkte einen grünlichen Schimmer auf seinen Wangen. Er hatte die Lippen zusammengepresst und hielt die Augen geschlossen. Dann sah sie aus dem Fenster und erschauderte.
»Da vorne liegen Wracks neben der Piste«, hauchte sie, »ziemlich viele.«
Liv beugte sich über sie und blickte ebenfalls aus dem Fenster.
»Halleluja.« Ihre Gesichtsfarbe ähnelte jetzt der von John, was sie aber wohl nie zugegeben hätte.
Mit quietschenden Reifen und einem Schlingern setzte der Airbus schließlich auf. Der Pilot wendete die Maschine und parkte auf einer markierten Fläche am Rande des Rollfelds.
Birte atmete tief durch. »Wir sind da.«
Nach und nach verließen die Passagiere die Maschine. Am Fuß der Gangway warteten zwei Shuttlebusse, die sie zum Empfangsgebäude des Flugplatzes bringen würden. Das Gepäck wurde auf Elektrokarren verladen.
»Triste Gegend«, stellte Liv fest. »Hast du schon eine Nachricht von Nils, wie es jetzt weitergeht?«
Birte checkte ihr Handy, während sie die Alustufen der Gangway hinuntergingen. Von See her peitschten Windböen über das Flugfeld, vermischt mit Graupel.
»Wir sollen mit dem Heli nach Narsaq fliegen. Er hat uns in einem Hostel ein Zimmer reserviert. Bis übermorgen. Dann holt er uns ab und bringt uns zum Boot. Wann genau, ist noch unklar. Er hängt gerade auf der Arbeit fest. Ach ja, gute Nachricht: das Hostel hat freies WLAN!«
»Na, wenigstens etwas«, sagte Liv und versuchte, ihre blonde Mähne zu bändigen, die vom Wind völlig zerzaust war.
Die beiden Shuttlebusse benötigten nur wenige Minuten, bis der Terminal in Sicht kam – was eine hochtrabende Bezeichnung war für den eingeschossigen Satteldach-Zweckbau, auf dem der Tower thronte wie ein kleines Krönchen.
»Könnte auch eine Feuerwache in Kopenhagen sein, nur in hellblau«, bemerkte Liv. Birte schaute sich um. Der Typ aus dem Flieger war stehen geblieben und umklammerte mit weißen Knöcheln eine der Haltestangen. Er sah immer noch aus, als sei ihm schlecht. Und da wusste sie es plötzlich.
»Jetzt fällt’s mir wieder ein!«, zischte sie.
»Was denn?« Liv riss ihren Blick vom Fenster los.
»Na, dieser John.« Birte schüttelte den Kopf; sie konnte nicht fassen, dass sie erst jetzt darauf gekommen war. »Das ging damals durch alle Medien. Ein Polizeioberkommissar in Aarhus … hat im Alleingang eine jugendliche Dealerbande hochgenommen und den Anführer fast totgeprügelt. Zuvor muss er ganz schön gebechert haben. Jedenfalls hat ihn die Polizeibeschwerdestelle daraufhin aus dem Verkehr gezogen. Er soll einen Entzug gemacht haben.«
»Bist du dir sicher?« Liv legte die Stirn in Falten.
»Ganz bestimmt. Wenn wir im Hostel sind, google ich das noch mal.« Birte schüttelte den Kopf. »Was der hier wohl will?«
Den Kragen der Polartec-Jacke hochgeschlagen stemmte sich John gegen den eisigen Wind, der vom Fjord hereinwehte. Nach wenigen Metern erreichte er den Windschatten des Shuttlebusses, der zum Terminal fuhr. Er war einer der Letzten, die einstiegen. Er zwängte sich durch eine Gruppe Mitpassagiere und blieb in der Nähe der Tür stehen. So ganz wohl im Magen war ihm nicht. Im Gegensatz zu den anderen Reisenden – Touristen mit Rucksäcken in allen Formen, Farben und Größen und Geschäftsreisende mit unifarbenen Trolleys – hatte er nur einen zerkratzten Alukoffer dabei. Gerade groß genug, um seinen Laptop, ein paar Klamotten und die Unterlagen mitzunehmen, die seine Chefin ihm gegeben hatte. Ein Aufgabegepäck hatte er nicht. Aus alter Gewohnheit ließ er seinen Blick über die Anwesenden streifen, versuchte, sie einzuordnen. Die beiden Studentinnen aus Kopenhagen, die Kleinere, brünett und ein bisschen zu gesprächig für seinen Geschmack. Die Größere, hellblond und zurückhaltender. Sie saßen vorne, beim Fahrer, und unterhielten sich angeregt, hinter ihnen eine Gruppe Trekking-Touristen. Auf der anderen Seite war eine junge Familie mit zwei Kindern. Hatten sie die Großeltern in Dänemark besucht? Möglich. Vielleicht arbeitete der Vater in der Mine von Kvanefjeld. Ihnen gegenüber saßen zwei in teure Anzüge gekleidete asiatisch anmutende Männer. Diplomaten? Geschäftsleute? Investoren? Seit das zurückweichende Eis die Bodenschätze freilegte, kam vor allem chinesisches Kapital auf die Insel.
»Sind Sie zum ersten Mal in Grönland?« Die Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Die junge Frau, die auf dem Einzelsitz neben der Haltestange saß, die er umklammerte, sah lächelnd zu ihm auf.
John nickte. »Ja.«
»Man könnte meinen, Sie sind von hier«, fügte sie hinzu und lachte. Ein offenes, perlendes Lachen voller Unbeschwertheit, das winzige Risse in Johns Eispanzer hinterließ.
»So?« Er musterte sein Gegenüber. Sie mochte Mitte zwanzig sein, trug einen Daunen-Parka und hatte das dunkelbraune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Hohe Wangenknochen, blitzende schwarze Augen; war das ein Tattoo an ihrem Hals? Womöglich eine Inuk?
»Haben Sie Verwandte hier?«
»Weiß nicht, vielleicht?«
Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die John ergriff. Sie ruhte warm in seiner und ein wenig länger, als es die Höflichkeit gebot. »Ich heiße Aka Høegh. Wie die berühmte Künstlerin. Meine Eltern haben eine kleine Farm unweit von Narsaq.« Aka strahlte. »Wir bauen dort Erdbeeren, Äpfel und versuchsweise Orangen an. Seit ein paar Jahren schon.«
»Orangen auf Grönland? Tatsächlich?«
»Irre, oder? Und ein paar Schafe haben wir auch. Die weiden im Sommer oben auf den Hängen. Es ist wirklich schön bei uns.« Sie zog ein Kärtchen aus der Seitentasche des Rucksacks auf ihrem Schoß. »Besuchen Sie uns doch mal. Ich würde mich freuen.«
»Danke.« John warf einen Blick auf die Visitenkarte. Høegh-Farm, Kommune Kujalleq, Distrikt Narsaq. Wo Grönlands Orangenbäume blühen. Gefolgt von einer unaussprechlichen Adresse. Bevor er weitere Fragen stellen konnte, hielt der Bus vor dem Terminalgebäude. Zischend öffneten sich die Hydrauliktüren, und die junge Frau erhob sich.
»Die Høegh-Farm kennt hier jeder. Bis dann!«, rief sie und schwang sich nach draußen.
John konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er griff nach seinem Koffer und reihte sich in den Strom aussteigender Passagiere ein.
Nachdem John die Formalitäten hinter sich gebracht hatte, erfreut über die grönländische Unkompliziertheit, trat er durch die Glastüren des Terminals nach draußen. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen. Direkt vor dem Gebäude parkte ein blauer Polizei-Land-Cruiser. John steuerte zielstrebig darauf zu. Als er sich dem Wagen näherte, sprang die Beifahrertür auf.
»Kriminalhauptkommissar Kaunak aus Aarhus?«, fragte die junge Polizistin hinterm Steuer.
»John Kaunak, ja.«
»Herzlich willkommen auf unserer Insel! Sie können Ihren Koffer auf die Rückbank legen. Und dann steigen Sie schleunigst ein.«
John folgte ihrer Aufforderung. Kaum saß er auf dem Beifahrersitz, trat die junge Frau auch schon aufs Gaspedal. Der Land Cruiser machte einen Satz nach vorn, und dann rasten sie auf die Zufahrt zur Verbindungsstraße zu.
»Sie haben Glück. Dank des Infrastrukturprogramms unserer chinesischen Freunde gibt es hier seit Kurzem eine nagelneue Straße«, sagte sie. »Wie war Ihr Flug?«
»Die Landung war etwas holprig«, sagte John. Er hielt sich mit beiden Händen an dem Haltegriff am Armaturenbrett fest.
»Das ist ganz normal. So schön unser Flughafen auch liegt, die Piloten fürchten ihn. Hin und wieder crasht sogar einer. Speziell bei so schlechtem Wetter wie heute. Narsasuaq hat einen ziemlich miesen Ruf.« Sie lachte.
»Sehr beruhigend.«
»Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Die junge Frau warf einen Blick auf ihn und seine am Haltegriff verkrampften Hände. »Polizeihauptmeisterin Silpa Skov Jørgensen. Ich bin die Assistentin des Polizeichefs von Narsaq, Carl Vittus Olsvig. Sie werden ihn gleich kennenlernen.«
»Wie schön.«
»Entspannen Sie sich. Er ist zwar nicht begeistert über die Verstärkung, aber im Moment passieren hier eigenartige Dinge. Sie werden sich schon zusammenraufen.«
Mit quietschenden Reifen schossen sie um eine Kurve.
»Geht’s auch ein bisschen langsamer?«, meldete sich John zu Wort. Er fühlte wieder Übelkeit in sich aufsteigen, aber Silpa ignorierte ihn.
»Sie werden bis morgen bei uns in der Polizeistation bleiben. Dann bringe ich Sie die paar Kilometer hinauf nach Kvanefjeld zum Tagebau, wo Sie der Geschäftsführer schon sehnlichst erwartet. Gut dotierter Job übrigens, Sicherheitschef von Kvanefjeld. Wie sind Sie da drangekommen?«
»War nicht meine Entscheidung.«
»Ach? Hätte mich auch gewundert. Wer geht schon freiwillig nach Grönland, wenn er eine gute Position in Dänemark hat.«
»So gut war die nun auch wieder nicht.« John biss die Zähne zusammen.
»Man hört ja so einiges online. Sie sollen einen Dealer halb totgeschlagen haben. Das Handy-Video war echt übel …«
»Lassen Sie uns das Thema wechseln.«
»Schon gut, Ihre Sache. Hier ist die Kacke jedenfalls ziemlich am Dampfen. Normalerweise passiert nicht viel. Hin und wieder ein Selbstmord. Häusliche Gewalt, Diebstahl, Alkoholdelikte, solche Geschichten. Aber seit ein paar Monaten …«
John horchte auf.
»Das Seltene-Erden-Tagebauprojekt in Kvanefjeld war lange umstritten. Nach der letzten Wahl wurde es dann endlich freigegeben. Das ist jetzt drei Jahre her. Anfangs lief alles reibungslos. Im Frühjahr kam es dann erstmals zu Zwischenfällen. Kleinigkeiten zuerst, durchgeschnittene Stromleitungen, manipulierte Ventile, Störungen im Kommunikationsnetz.« Silpas Miene verdüsterte sich. »Das meiste konnte schnell behoben werden. Dann gab es zwei Morde.«
»Die beiden Minenarbeiter?« John dachte an die Akte, die er dabei hatte.
»Genau. Irgendjemand muss ihnen während des Schichtwechsels aufgelauert haben. Beide wurden von hinten harpuniert. Grauenhaft! Man hat sie erst Stunden später unter einer Schneewehe gefunden. Ich war selbst bei der Spurensicherung. Aber da war nicht viel zu sichern. Zu viel Schnee. Nur dieses Püppchen …«
»Was für ein Püppchen?« John sah sie an. Davon hatte nichts in den Akten gestanden.
»Ein Tupilak. Eine knapp zwanzig Zentimeter große Figur aus geschnitztem Walrosselfenbein. Ziemlich gruselig. Für die Inuit hatten sie früher irgendeine spirituelle Bedeutung. In den einsam gelegenen Dörfern weiter draußen ist das wohl heute noch so. Bisher ist unbekannt, wie der an den Tatort kam. Vielleicht ein Souvenir von einem der beiden Minenarbeiter.«
»Kann ich diesen Tupilak mal sehen?«
»Klar. Wenn wir in der Station sind, können Sie ihn sich gern anschauen.«
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Kurz vor Ende der Halbinsel wurde die Strecke kurvenreicher und wand sich einen steilen Berghang hinunter. Sie erreichten Narsaq unversehrt, wie John erfreut registrierte. Vor einem grün gestrichenen, eingeschossigen Holzhaus kam der Land Cruiser zum Stehen. »Politi« stand in großen weißen Lettern auf der Seitenwand. An einem Fahnenmast vor dem Gebäude flatterte der Dannebrog im Wind.
»Da wären wir.« Silpa setzte eine ernste Miene auf. »Carl erwartet Sie sicher schon. Er legt großen Wert auf Pünktlichkeit.« Sie schaute auf die Uhr im Cockpit. »Kurz nach drei. Sorry, dass ich ein bisschen auf die Tube drücken musste.«
»Kein Problem.« John hievte seinen Koffer aus dem Wagen und folgte Silpa zum Windfang der Polizeistation. Neben den fünf Holzstufen, die hinauf zur Eingangstür führten, lag ein großer Hund, der sie aufmerksam beäugte.
»Die lungern hier überall herum«, sagte Silpa. »Die Inuit lassen ihre Schlittenhunde grundsätzlich draußen, meist angekettet, auch im Winter bei minus 40 Grad. Nur so überleben sie. Für Tierschützer ist das schwer zu akzeptieren.«
John stellte seinen Koffer ab und beugte sich zu dem Tier hinunter. Der Hund ließ ihn nicht aus den Augen.
»Sie sollten vorsichtig sein. Der ist halbwild wie alle anderen hier. Taucht immer mal wieder bei der Station auf. Der Teufel weiß, warum.« Silpa klang besorgt. »Wahrscheinlich wurde er von seinem Rudel verstoßen.«
»Da haben wir was gemeinsam.« John hockte sich hin und betrachtete ihn. Er hatte schmutzig weißes Fell, eines seiner Ohren und der linke Hinterlauf zeigten Spuren früherer Verletzungen. Als John ihm vorsichtig die Hand entgegenstreckte, legte er den Kopf schief und knurrte leise. Dann schnupperte er an seiner Handfläche und leckte darüber. Es wirkte fast beiläufig.
John erhob sich wieder und griff nach seinem Koffer. »Können wir?«, drängte Silpa. Sie hatte die Eingangstür bereits geöffnet.
»Ah, da sind Sie ja!« Ein groß gewachsener Däne mit schütterem, angegrautem Haar, die Ärmel des blauen Polizeihemds hochgekrempelt, stand im Flur zu den Büros. Er nickte Silpa kurz zu und nahm dann ihren Begleiter ins Visier. »Sie sind also John Kaunak, den mir Aarhus angekündigt hat? Der Ermittler, der mit der Polizeibeschwerdestelle aneinandergeraten ist? Dann kommen Sie mal rein!« Er machte einen Schritt zur Seite.
Sie betraten den Empfangsbereich der Polizeistation. Ein breiter Tresen teilte den Raum in zwei Hälften, dahinter ein niedriger Schreibtisch mit einem Bürosessel. Ein runder, mit Akten vollgepackter Besprechungstisch stand in der Ecke, neben einem Kaffeeautomaten. Vor dem Tresen, an der fensterlosen Wand, standen eine Reihe Besucherstühle ordentlich nebeneinander.
Olsvig durchquerte den Raum und blieb vor der Kaffeemaschine stehen.
»Kaffee?«, fragte er.
Silpa zwinkerte John zu.
»Gern«, sagte John. »Der Kaffee an Bord war, nun ja …« Er stellte seinen Koffer ab, entledigte sich seiner Polartec-Jacke und der Dockermütze und schaute sich um. »Wir könnten auch irgendwo auf Fünen sein. Wie lange sind Sie schon hier, Carl? Ich darf Sie doch Carl nennen?«
Olsvig lachte rau. Der Automat rumpelte, dann erfüllte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee die Station. Der Polizeichef stellte zwei gefüllte Becher auf den Tresen und schob einen dritten unter den Kaffeeauslauf.
»Elf Jahre, acht Monate und vierundzwanzig Tage.« Olsvig strich sich über seine beginnende Stirnglatze. »So lange schon gebe ich den Vertreter der dänischen Staatsmacht hier in Narsaq. Elf Jahre, acht Monate und vierundzwanzig Tage versuche ich die Einheimischen vor den Versuchungen der modernen Welt und vor sich selbst zu schützen. Ich stifte Ehen, schlichte Streitigkeiten und schlage mich mit Vorschriften herum, die sie sich in der fernen Hauptstadt Nuuk ausgedacht haben.«
Der Polizeichef drehte sich um und grinste.
»Tagesgeschäft gewissermaßen.« Dann gefror seine Miene plötzlich. »Was sich seit ein paar Monaten im Tagebau von Kvanefjeld abspielt, ist allerdings eine andere Geschichte. Aber deshalb sind Sie ja jetzt hier, richtig?«
John nickte. »Können sie mich auf den aktuellen Stand bringen? Ich hatte nur eine dünne Akte zur Verfügung, die wenige Informationen enthielt. Und schon gar keine aus erster Hand.« John nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Und was hat es mit dieser Figur auf sich, die man am Tatort gefunden hat?«
»Aha, Silpa hat es Ihnen bereits erzählt?« Olsvig umrundete den Tresen, trat an den Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Er entnahm einen Plastikbeutel und legte ihn auf den Tresen. »Ein Tupilak. Sagt Ihnen das etwas?«
John öffnete den Beutel, zog die knapp zwanzig Zentimeter große Figur heraus, wog sie in der Hand und betrachtete sie von allen Seiten.
»So etwas sehe ich zum ersten Mal. Ist das Handarbeit?«
»Ja, handgeschnitzt, vermutlich aus Walross-Elfenbein«, sagte Silpa. »Das auf der Vorderseite sollen wohl zwei Masken sein und das auf der Rückseite ein Seehund- und ein Bärenkopf. Die Touristen lieben so was.«
Olsvig warf ihr einen strengen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass wir es mit einem Souvenir zu tun haben. Da steckt mehr dahinter.«
Er hatte die Stirn in Falten gelegt.
»Vor dem Eintreffen der Europäer gab es diese kleinen Tupilak-Figuren nicht. Im alten Grönland waren damit gefürchtete, Unglück und Tod bringende Zauberwesen gemeint. Vor allem Schamanen erschufen sie aus den Knochen verschiedener Tiere, die sie zusammenbanden und mit Torf und Stofffetzen umwickelten. Es heißt, manchmal bedienten sie sich sogar Teilen von Kinderleichen. Der Zauberkundige erweckte den Tupilak mit Beschwörungen zum Leben und platzierte ihn an seinem Geschlechtsteil. Dort sollte er saugen, wachsen und erstarken. Das dauerte eine lange Zeit. Wenn er groß genug war, setzte der Schamane ihn in einen Fluss, der ihn Richtung Meer treiben sollte. Nachdem er ins Wasser gelassen wurde, rief der Tupilak seinem Schöpfer zu: ›Was soll ich tun?‹ Der Schamane nannte daraufhin den Namen eines Feindes, wonach der Tupilak diesen aufsuchte und tötete. Diese Elfenbeinfiguren gibt es nur, weil sich die Europäer nicht vorstellen konnten, wie ein Tupilak aussieht.«
Olsvig machte eine kurze Pause. »So wird es jedenfalls in der wenigen Literatur beschrieben, die es zu diesem Thema gibt.« Er ging zum Automaten, um sich einen weiteren Kaffee zu machen.
»Heutzutage sind geschnitzte Tupilait, so die Mehrzahl, typische Souvenirs für Touristen. Die meisten werden im Osten Grönlands hergestellt. Dort gibt es etliche Werkstätten«, sagte Silpa. »Schwer zu sagen, wie alt der hier sein mag. Geschnitzte Tupilait gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.«
»Irgendeine Idee, wie das Ding an den Tatort kam?« John starrte die Figur in seiner Hand an. Sie war irgendwie gruselig.
»Ich weiß nicht. Es kommt mir so vor, als sei es mit Absicht dort hinterlassen worden.« Silpa seufzte. »Falls es nicht einem der beiden Toten gehört hat.«
»Es könnte eine Botschaft gewesen sein.« Olsvig kramte in einer Schublade. »Wenn man bedenkt, wie die beiden Minenarbeiter zu Tode kamen, ergibt das durchaus Sinn.«
Er legte zwei Ausdrucke vor John auf den Tresen. »Das hier sind Aufnahmen aus der Pathologie.« Als er Johns fragenden Blick sah, ergänzte er: »Wir haben die beiden Leichen nach ihrer Bergung unverzüglich mit dem Heli nach Nuuk geschickt. Im dortigen Polizeihauptquartier gibt es eine rechtsmedizinische Abteilung.«
John legte die Figur zurück auf den Tresen und schaute sich die Fotos genauer an. »Das sind Stichwunden, offenbar sehr tief«, stellte er fest. »Die Ränder sind ausgefranst, wie zerrissen. Das ist das erste Mal, dass ich eine Wunde sehe, die von einer Harpune stammt.« Er sah zu Olsvig.
»Ja, das sieht übel aus. Beide Männer wurden harpuniert, wie man traditionell einen Seehund oder eine Robbe erlegt. Und zwar mit großer Wucht und so gekonnt, dass sie regelrecht aufgespießt waren. Widerlich! Alles muss sehr schnell gegangen sein, denn die beiden lagen dicht beieinander, die Köpfe nebeneinander. Es gab keinerlei Abwehrspuren, und die Harpunen sind von hinten eingedrungen. Wir müssen also davon ausgehen, dass es zwei Täter waren, die nahezu gleichzeitig angegriffen haben, und so ungesehen bleiben konnten.«
John hob die Augenbrauen. »Glauben Sie, die Täter waren Einheimische?«
»Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, auch wenn alles darauf hindeutet: die Tötungsart, der Tupilak neben den Leichen, das Fehlen von weiteren Spuren. Das könnte eine Warnung sein, den Tagebau bei Kvanefjeld einzustellen. Von wem auch immer. Zumindest sollte den Minenarbeitern wohl Angst gemacht werden. Was zu funktionieren scheint.«
»Die Arbeiter haben tagelang gestreikt und erhöhte Sicherheitsmaßnahmen gefordert. Die Geschäftsleitung hat sich deshalb entschlossen, einen Sicherheitschef einzustellen und zusätzliches Sicherheitspersonal.« Silpa deutete auf John. »Deshalb hat man Sie hergeschickt.«
»Trauen Sie den Inuit hier in der Region eine solche Gewaltbereitschaft zu? Nach allem, was ich weiß, sind sie zutiefst friedliebende Menschen«, sagte John. »Und was könnten sie gegen die Seltene-Erden-Mine haben? Sie bringt immerhin Arbeitsplätze und eine Menge Geld hierher.«
»Arbeitsplätze für Dänen, Norweger, Isländer, sogar Kanadier, die hier mit einem hoch dotierten Zweijahresvertrag in der Tasche ankommen. Von den Inuit aus der Region arbeiten gerade mal eine Handvoll im Tagebau. Und auch die sind allenfalls Hilfskräfte. Kaum jemand hier hat die nötige Ausbildung.«
»Das mit dem Geld ist auch so eine Sache«, ergänzte Silpa. »Im Containerdorf unten am Hafen wird zwar einiges ausgegeben, aber hauptsächlich für Alkohol und illegale Glücksspiele. In den Ort verirrt sich kaum mal ein Minenarbeiter.«
»Es ist immer dasselbe. Als vor zwei, drei Jahren die Chinesen herkamen, um den Great Greenland Circle zu bauen und die ganzen neuen Heliports und Flugplätze, dachten wir auch, dass unsere Bevölkerung davon profitieren würde. Und was ist passiert? Die chinesische Baugesellschaft hat ihre eigenen Arbeiter eingeflogen und sie im Nirgendwo kaserniert. Das war wohl billiger als einheimische Arbeiter einzustellen. Sie blieben unter sich und ließen sich nicht einmal hier im Supermarkt blicken.« Olsvig schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, so dass die Löffel in den Kaffeebechern schepperten.
»Die Straße, über die wir vom Flughafen hierhergefahren sind, ist Teil des Great Greenland Circle. Ein Ring von Straßen, Brücken und Heliports, der vom Osten bis zur Südspitze und dann die Westküste hoch über Nuuk bis nach Ilulissat reicht, einem beliebten Touristenziel. In drei Jahren soll das Projekt abgeschlossen sein.« Silpa rührte mit dem Löffel in ihrem erkaltenden Kaffee herum. »Die derzeitige Regierung hat ein offenes Ohr für Investoren«, sagte sie gedehnt. »Ein sehr offenes Ohr.«