Eleanor - Genevieve Cogman - E-Book

Eleanor E-Book

Genevieve Cogman

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Beschreibung

Dieses Buch gibt es in zwei Versionen: mit und ohne Farbschnitt. Sobald die Farbschnitt-Ausgabe ausverkauft ist, liefern wir die Ausgabe ohne Farbschnitt aus.

Frankreich, 1793. Eleanor, einst eine einfache Dienstmagd, ist nun Mitglied der Liga des Scarlet Pimpernel, die sich wagemutig in jedes Abenteuer stürzt, um Menschen - und Vampire - vor der Guillotine zu retten. Diesmal müssen Eleanor und ihre Verbündeten das Verschwinden von Charles-Maurice de Talleyrand untersuchen, eines berüchtigten französischen Staatsmannes und Diplomaten. Dabei kommen sie bald zwei verfeindeten Vampir-Clans auf die Spur, die sich wahrhaft verbissen bekämpfen. Und sie finden heraus, dass das Verschwinden Talleyrands nur Teil einer weitaus größeren Verschwörung ist, die ganz Frankreich in ein blutiges Chaos zu stürzen droht ...

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Seitenzahl: 647

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEINIGE WEITERE KURZE BEMERKUNGEN ZUR FRANZÖSISCHEN REVOLUTIONDRAMATIS PERSONAEPrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelDANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Frankreich, 1793. Eleanor, einst eine einfache Dienstmagd, ist nun Mitglied der Liga des Scarlet Pimpernel, die sich wagemutig in jedes Abenteuer stürzt, um Menschen – und Vampire – vor der Guillotine zu retten. Diesmal müssen Eleanor und ihre Verbündeten das Verschwinden von Charles-Maurice de Talleyrand untersuchen, eines berüchtigten französischen Staatsmannes und Diplomaten. Dabei kommen sie bald zwei verfeindeten Vampir-Clans auf die Spur, die sich wahrhaft verbissen bekämpfen. Und sie finden heraus, dass das Verschwinden Talleyrands nur Teil einer weitaus größeren Verschwörung ist, die ganz Frankreich in ein blutiges Chaos zu stürzen droht …

Über die Autorin

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt »Die unsichtbare Bibliothek« sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Die Reihe um Agentin Irene Winters hat auch in Deutschland viele Fans. Genevieve lebt im Norden Englands.

FRANKREICH, 1793DIE REVOLUTIONÄRE KÄMPFEN VERBISSEN –DOCH VAMPIRE BEISSEN GERN ZURÜCK

Roman

Übersetzung aus dem Englischenvon Dr. Arno Hoven

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Titel der englischen Originalausgabe:

»Elusive«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2024 by Genevieve Cogman

First published 2024 by Tor, an imprint of Pan Macmillan,

a division of Macmillan Publishers International Limited

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven von © Markus Weber/Guter Punkt, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6091-1

luebbe.de

lesejury.de

Für meine Tante Elisabeth, die mich immer unterstützt und ermutigt hat.Danke, Tantchen Lis.

EINIGE WEITERE KURZE BEMERKUNGEN ZUR FRANZÖSISCHEN REVOLUTION

Revolutionen sind keine gesellschaftlichen Veränderungen, in deren Verlauf es sauber und geordnet zugeht. Das mag offensichtlich erscheinen. Doch literarische Werke – und übrigens oftmals auch Geschichtsbücher – tendieren dazu, uns zu der Annahme zu verleiten, dass alles in Ordnung ist, sobald die Bösewichte abgesetzt worden sind und die »Guten« die Macht übernommen haben. Und unbedeutende Einzelheiten wie beispielsweise Köpfe, die in Körbe fallen, oder lästige Mitglieder der königlichen Familie, die man in Gefängnissen oder Kellern entsorgt, können schon mal in schönfärberischer Weise dargestellt werden.

In den späteren Jahren der Französischen Revolution ging absolut nichts sauber und geordnet zu.

In der Einleitung von Scarlet, des ersten Bandes dieser Buchreihe, sind so bedeutende Ereignisse wie der Marsch auf Versailles, die Erstürmung der Bastille, der Sturz der Monarchie, die Einsetzung des Nationalkonvents und später des Wohlfahrtsausschusses sowie die Hinrichtung des Königs erwähnt worden. Als die zuletzt genannten Ereignisse stattfanden, führte Frankreich bereits Krieg gegen Österreich, Preußen, England, Spanien, die Republik der Vereinigten Niederlande, Neapel und verschiedene andere Mächte. Darüber hinaus musste Frankreich jedoch auch noch mit anhaltenden inneren Konflikten fertigwerden. 1793 gab es in der Vendée, in Maine und in der Bretagne bewaffnete Aufstände gegen die neue Regierung. Im Mai jenes Jahres lehnten sich zudem die politischen Führer Lyons gegen den Nationalkonvent auf. Soldaten wurden entsandt, um diese Aufstände niederzuschlagen; und man erließ eine nationale Wehrpflicht, die vorschrieb, dass alle ledigen, körperlich gesunden Männer zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren in der Armee dienen mussten.

In den Hallen der Macht führten die politischen Parteien derweil weiterhin ihre Kämpfe um die Zukunft Frankreichs. Im Anschluss an den Sturz der Girondisten, einer der wichtigsten Parteien, wurden wenig später ihre bedeutendsten Mitglieder wegen Verrats und konterrevolutionärer Aktivitäten angeklagt und zum Gang auf die Guillotine verurteilt. Andere ließ man hinrichten, nachdem sie beschuldigt worden waren, mit den jetzt nicht mehr existierenden Girondisten zu sympathisieren. Im Gegenzug wurde der Jakobiner Jean Paul Marat von Charlotte Corday, einer Anhängerin der Girondisten, in seinem Bad erstochen. Marie Antoinette, die Witwe des Königs von Frankreich, wurde vor Gericht gestellt und auf die Guillotine geschickt. In Nantes ließ man Gefangene durch Massenertränkungen hinrichten. Die Hébertisten, eine weitere politische Partei, ereilte das gleiche Schicksal wie die Girondisten: Gefangenschaft und Exekution. Maximilien de Robespierre verkündete: »Die Grundlagen einer Volksregierung in einer Revolution sind Tugend und Terror; Terror ohne Tugend ist unheilvoll, und Tugend ohne Terror ist machtlos … Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit über die Tyrannei.«

Dennoch gab es auch in anderer Hinsicht Entwicklungen und Veränderungen in Frankreich. Der Nationalkonvent führte den neu geschaffenen republikanischen Kalender (der nicht mehr in Gebrauch ist) und das metrische System ein (das noch immer in Gebrauch ist), ließ den optischen Telegrafen ausarbeiten, widmete Notre-Dame in einen Tempel der Vernunft um und stimmte für die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien. Es gab sogar einige Politiker, die zur »Nachsicht« gegenüber den Gegnern und zur »nationalen Versöhnung« mahnten. In Paris wurden das Nationalmuseum für Naturgeschichte und der Louvre eröffnet. Viele Menschen unterstützten die Revolution, weil sie Veränderungen zum Besseren gebracht hatte – und immer noch brachte.

Die obige Zusammenstellung von Ereignissen stellt eine allzu starke, grobe Vereinfachung dar: Sie ist lediglich der Versuch, ein wenig zu veranschaulichen, wie viel damals tatsächlich passierte. Frankreich befand sich in einem Zustand des Wandels – und das Gleiche galt für den Rest der Welt. Gespräche über Gedankenmodelle wie das der »Aufklärung« griffen um sich und versetzten die Führer anderer europäischer Länder in große Besorgnis; diesen Leuten war nicht entgangen, was in Frankreich geschah, und sie konnten das Fallbeil der Guillotine wie einen eiskalten Wind im eigenen Nacken fühlen. Als Folge davon gab es vielfache Repressionen. Immerhin hatte der Nationalkonvent im Jahre 1792 für sich das Recht in Anspruch genommen, in jedem Land zu intervenieren, »in dem Menschen den Wunsch haben, ihre Freiheit wiederzugewinnen …«.

Das womöglich beste Attribut zur Bezeichnung der allgemeinen Lage – sowohl innerhalb als auch außerhalb von Frankreich – dürfte »instabil« sein. Und während Menschen, denen der Status quo zugutekommt, Instabilität wahrscheinlich ablehnen, sehen andere darin vielleicht einen Nutzen für sich …

DRAMATIS PERSONAE

Der Haushalt der Blakeneys

Sir Percy Blakeney und Lady Marguerite Blakeney, Adlige

Mrs Bann, Haushälterin

Mr Sturn, Butler

Alice und Rebecca, Dienstmädchen

Die Liga des Scarlet Pimpernel

Sir Andrew Ffoulkes, Adliger

Lord Anthony Dewhurst, Adliger

Lord Charles Bathurst, Adliger und Gelehrter

Weitere Gentlemen von adliger Geburt, die ein Leben in Muße führen

Eleanor Dalton, Dienstmädchen

Anima, uraltes Gespenst und Mitglied der Liga aufgrund der Vereinigung mit Eleanor

Einwohner von London

Joseph, ein bedauernswerter Diener

Mrs Cartersleigh, Gastgeberin von Gesellschaften

Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, auch unter dem Namen Talleyrand bekannt, ein Exilant

Einwohner von Mont-Saint-Michel

Guillaume Duquesne, Gefängnisdirektor

Monsieur und Madame Thiers, Gefangene

Fleurette Chauvelin, Tochter Armand Chauvelins

Bernard, eine Person von hohem Alter und sogar noch höherer Geheimhaltung

Einwohner von Paris

Armand Chauvelin, Agent des Wohlfahrtsausschusses

Degas, Sekretär Chauvelins

Armand Saint-Just, Bruder Marguerite Blakeneys

Louis-Antoine de Saint-Just, Mitglied des Wohlfahrtsausschusses

Maximilien Robespierre, Präsident des Nationalkonvents und Mitglied des Wohlfahrtsausschusses

Vampire

Lady Sophie, Baronin von Basing

De Courcis, französischer Gentleman und Vampir

Castleton, englischer Gentleman und Vampir

Charles de Valois, eine Person von königlichem Geblüt

Marie Antoinette oder »Witwe Capet«, ehemalige Königin von Frankreich und mutmaßlich tot

Prolog

Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, aber in Portsmouth herrschte bereits reger Betrieb. Das nächtliche Gewerbe – zu dessen Akteuren Vampire, Verbrecher und Huren ebenso wie Aristokraten zählten, die bis spät in die Nacht hinein feierten, sowie arme Mitmenschen, für die es keine andere Wahl gab, als in diesen frühen Tagesstunden zu arbeiten – neigte sich seinem Ende entgegen, und das morgendliche Geschäftsleben hatte begonnen. Der Himmel wirkte fahl, und am Horizont zeichnete sich ein dünner Streifen Licht ab, der von der See herkommend auf den Messingbeschlägen der Schiffe schimmerte, die dicht nebeneinander im Hafen von Portsmouth festgemacht hatten. Karren mit Nahrungsmitteln rollten knarrend durch die Straßen auf ihrem Weg, die Gasthäuser und Kaufläden für den Tag zu versorgen. Bettler, von denen viele verletzt und entstellt waren – oder zumindest den Anschein erweckten, es zu sein –, krochen aus ihren nächtlichen Verstecken hervor, bereit, an das Mitleid der Werktätigen zu appellieren, die zu ihren Arbeitsplätzen unterwegs waren. Ein Trupp frisch rekrutierter (und möglicherweise zum Militärdienst gezwungener) Soldaten marschierte die Straße zum Hafen hinunter, um sich einzuschiffen. Der Hall ihrer Stiefel ließ erkennen, dass der angestrebte Gleichschritt infolge ihrer Unerfahrenheit immer wieder aus dem Takt geriet. Und im Admiral Inn trug Joseph einen Krug heißen Wassers zum Zimmer seines Dienstherrn hoch, damit der sich rasieren konnte.

Monsieur Talleyrand hatte den Kopf in eines seiner Bücher gesteckt, aber er lächelte angemessen höflich, als Joseph das Wasser hereinbrachte. Er warf ihm keine Stiefel an den Kopf, wie es einige von seinen früheren Herren getan hatten, er beschimpfte ihn nicht als verdammten Dummkopf und schwor auch nicht, dass ihm der Lohn gekürzt würde, wenn das Wasser kühl sein sollte. Falls alle französischen Herren und Damen so waren wie Monsieur Talleyrand, dann konnte Joseph es nicht verstehen, warum sie aus Frankreich fortgejagt oder dort hingerichtet worden waren. Aber das war eben Politik, und wie Monsieur einmal gesagt hatte, war Joseph ohne Zweifel ein besserer und glücklicherer Mensch, da er sich aus solchen Dingen heraushielt.

»Danke schön, Joseph«, sagte Monsieur. Er nahm den Krug mit heißem Wasser und begann, sich vor dem kleinen, verblichenen Spiegel des Zimmers zu rasieren. Das Wirtshaus war billig und seine Einrichtung sogar noch billiger. In den wenigen vorangegangenen Monaten, in denen Joseph als Kammerdiener von Monsieur tätig gewesen war, hatten sie bessere Unterkünfte gehabt. Aber das war, bevor das Geld ausgegangen war – und sich mit ihm auch die Freundschaften seines Herrn verflüchtigt hatten. Eine ganze Menge von adligen Franzmännern hegte einen Groll gegen Monsieur wegen irgendwelcher Geschehnisse, die sich in Frankreich zugetragen hatten, und wie so viele Angehörige der Oberschicht suchten sie sich den unangenehmsten Moment aus, um nachzutreten. Sie hatten ihre Beziehungen spielen lassen, und Monsieur war mitgeteilt worden, dass er England verlassen musste. Er sollte noch am heutigen Tag mit der William Penn in See stechen, die ihn nach Amerika bringen würde.

Monsieur beendete seine Rasur und trat vom Spiegel zurück, damit Joseph Krug und Wasserschüssel fortschaffen konnte. Obwohl er so gelassen wie ein Bischof blickte – Joseph hatte erfahren, dass er vor der Revolution in Frankreich tatsächlich ein Bischof gewesen war –, lag ein kaltes Leuchten in seinen Augen, eisiger als die Märzluft draußen, das ausreichte, um jegliche christliche Nächstenliebe bis tief in die Seele hinein einzufrieren. Monsieur mochte in aller Stille fortgehen, aber er würde sicherlich niemals vergessen, dass man ihn zu diesem Exil gezwungen hatte.

Joseph öffnete die Tür und bekam sogleich einen Schreck, als er zwei Männer erblickte, die im Korridor auf der gegenüberliegenden Seite standen. Es waren keine lebenden Menschen, sondern zwei Vampire, deren Hüte und Mäntel sie als wohlhabende Gentlemen auswiesen, und deren Haut da, wo sie sich zeigte, weiß wie Knochen war. Zum Schutz gegen das Morgenlicht hatten sich beide dick eingemummelt, denn Vampire konnten Sonnenlicht zwar ertragen und sich auch tagsüber darin bewegen, aber keiner von ihnen mochte es je. Und obwohl beide einen Spritzer Parfüm aufgetragen hatten, wie es sich für vornehme Herren gehörte, konnte Joseph neben diesem Duft einen Hauch von frischem Blut riechen.

»Monsieur Talleyrand!«, rief der Größere und schritt ins Zimmer hinein. »Bitte verzeihen Sie unser Eindringen, aber wir konnten es nicht ertragen, Sie ohne ein paar letzte Worte fortgehen zu lassen.«

»Ah, de Courcis«, sagte Monsieur. »So wie unser letztes Gespräch verlief, habe ich gedacht, dass das Einzige, was Sie mir noch mitteilen wollen, ›Adieu‹ und nicht ›Au revoir‹ sein würde. Und …« Er runzelte die Stirn, während er den zweiten Vampir anschaute. »Castleton. Ich hatte nicht mitbekommen …«

»Ich könnte mir denken, Sie sind es nicht gewohnt, mich sprechen zu hören, ohne dass ich dabei huste«, fiel der zweite, dünnere Mann ihm ins Wort und folgte seinem Freund ins Zimmer. Joseph hatte zunächst geglaubt, sein Haar wäre gepudert, aber es war tatsächlich weiß, was in einem starken Kontrast zu seinem jugendlichen Gesicht stand. »De Courcis hier war so freundlich, unter den Damen und Herren seines Bekanntenkreises ein paar Beziehungen spielen zu lassen. Infolgedessen werde ich sehr viel länger zugegen sein als erwartet.«

Monsieur zuckte mit den Schultern. »Es gab eine Zeit, in der ich mit Ihnen über die theologischen Aspekte dieser Sache hätte debattieren können, aber das liegt schon eine Weile zurück. Also, wie kann ich Ihnen zu Diensten sein, meine Herren?«

»Sie nehmen doch wohl nicht an, dass wir aus reiner Herzensgüte hier sind, oder?«, fragte der erste Vampir.

»Es wäre sicherlich ein Novum, wenn Sie aus diesem Grund etwas täten, de Courcis«, antwortete Monsieur. »Mein Schlafzimmer ist weder eine Spielhölle noch ein eleganter Salon, und somit sind Sie hier im Grunde genommen eindeutig fehl am Platz. Ich würde Ihnen ja Erfrischungen anbieten, aber … Nun ja, keiner von Ihnen trinkt mehr Tee, und mein Schiff läuft mit der Flut aus.«

De Courcis neigte den Kopf zur Seite, als ob er jemandem zuhörte, und ließ dann ein strahlendes Lächeln aufblitzen. Er hatte Charme; so viel würde Joseph ihm zugestehen. Aber es war die Art von Charme, die einen Mann dazu überredete, seinen Geldbeutel zu öffnen, und eine Frau dazu brachte, ihren Rock hochzuziehen. »Es läuft in der Tat aus, Monsieur … Aber ich fürchte, Sie werden nicht mit ihm fahren.«

»Und was wollen Sie damit sagen?«, verlangte Monsieur zu wissen; und seine Hand glitt ins Innere seines Rockes – zu der Pistole hin, die er, wie Joseph wusste, dort aufbewahrte.

Joseph verspürte eine innere Anspannung. Er war sich bewusst, dass er wahrscheinlich versuchen sollte, Monsieur zu verteidigen, obwohl nur der Himmel wusste, was er gegen zwei Vampire auszurichten vermochte; aber de Courcis machte keine plötzlichen Bewegungen.

»Ich will damit sagen, dass Ihre Anwesenheit anderweitig ernsthaft benötigt wird und wir es einfach nicht zulassen können, dass Sie unserer Gesellschaft den Rücken kehren«, entgegnete de Courcis. »Glücklicherweise wird Ihr Platz auf dem Schiff nicht verfallen …«

Schritte kamen knarrend die Treppe hoch, und dann tauchten zwei weitere Gestalten im Korridor auf. Joseph starrte mit weit aufgerissenen Augen die Männer an, die dort standen. Der eine war nahezu ein Ebenbild von Monsieur, während der andere für Joseph hätte gehalten werden können – nun ja, wenn die Beleuchtung schummrig war und die betreffende Person nicht zu genau hinschaute. Joseph öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber Castleton, der sich irgendwie näher zu ihm hinbewegt hatte, während seine Aufmerksamkeit auf Monsieur und de Courcis gerichtet gewesen war, legte die Hand auf seine Schulter.

»Kein einziges Wort«, wies der Vampir ihn an.

Monsieur musterte die beiden Neuankömmlinge mit ungerührter Gelassenheit. »Ich nehme an, dass diese beiden Herren an unserer Stelle an Bord der William Penn gehen werden, oder?«

»Mit Ihrer Annahme haben Sie vollkommen recht«, pflichtete de Courcis ihm bei. »Und Sie werden mit Castleton und mir aufbrechen.«

»Und falls ich lautstark Unruhe stiften sollte?«

»Ich fürchte, dass niemand hier rechtzeitig einträfe, und das einzige Ergebnis wäre, dass Sie das Zimmer – anstatt auf Ihren eigenen Füßen – in eine Decke eingewickelt verlassen würden«, erwiderte de Courcis in heiterem Tonfall. »Kommen Sie jetzt, Monsieur Talleyrand! Ein alter Fuchs wie Sie weiß doch sicherlich, wie man auf eine spätere Gelegenheit wartet, nicht wahr?«

Monsieur nickte, als ob er diese Antwort erwartet hätte. »Ihre Manieren sind nicht besser als früher, aber Sie haben nicht unrecht. Also, wohin sollen wir gehen?«

»Das ist leider keine Angelegenheit, die wir vor Zeugen besprechen können.« De Courcis blickte zu Joseph. »Wie vernünftig bist du?«

Joseph schluckte. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet, obgleich er wusste, dass die Franzmänner mitunter gefährliche Leute waren. Monsieur war allerdings ein großzügiger Dienstherr gewesen, und er schuldete ihm etwas. Joseph kam plötzlich der Gedanke, dass die womöglich beste Vorgehensweise darin bestand, das Spiel dieser Vampire mitzumachen und ihnen zu schwören, dass er nichts sagen würde – um dann, sobald die beiden ihm den Rücken zukehrten, zur Bow Street zu gehen und die Beamten dort über die Vorkommnisse hier zu informieren. »Ich bin ein Mann, der hier lebend und unversehrt an einem Stück herauskommen will«, antwortete er. »Mylord.«

»Da, ich hab’s doch gewusst!« De Courcis steckte die Hand in eine Tasche und holte eine Guinee heraus. Er ließ sie zwischen zwei Fingern schnipsen, wobei das schwere Gold das Licht einfing, und warf sie dann Joseph zu. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass du eine Reise aufs Land antrittst. Mit dieser Münze solltest du für eine Weile deine Rechnungen bezahlen können. Du darfst nur nicht vergessen: Du weißt nichts, du hast nichts gesehen, du … äh … Castleton, fällt Ihnen noch etwas ein?«

»Nur, dass er tatsächlich nichts sagen wird«, verkündete Castleton, ließ die Schulter von Joseph los und trat von ihm weg. »Das kann man sich leicht merken.«

Joseph hielt die Guinee fest in der Hand und nickte eifrig. »Ich schwöre, Mylords, ich werde nichts sagen.«

»Sie erwecken bei Ihren Bediensteten offensichtlich die gleiche Loyalität wie immer«, sagte de Courcis zu Monsieur.

Monsieur zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht so grausam, unter diesen Umständen Loyalität zu verlangen. Joseph hat mir gegen Lohn gedient; und ich mache ihm keinen Vorwurf, dass er sich aus dieser Sache heraushalten will.« Der eisige Blick seiner Augen war einen Moment lang auf die von Joseph gerichtet.

Und Joseph sah tatsächlich keinen Vorwurf darin, keine Schuldzuweisung. Monsieur sprach die absolute Wahrheit.

»Das ist das Traurige«, sagte de Courcis bedauernd. »Castleton …«

»Nein!«, schrie Monsieur.

Und im selben Moment spürte Joseph einen wuchtigen Stoß, als hätte er einen Faustschlag in den Rücken bekommen. Er blickte nach unten und sah die Klinge eines langen Messers aus der Vorderseite seines Rocks ragen.

Sein Verstand teilte ihm mit, dass er in den Rücken gestochen worden war, und zwar mit solcher Kraft, dass das Messer ihn gänzlich durchbohrt hatte und die Klingenspitze vorne zwischen den Rippen wieder herausgekommen war. Das muss ja ein wahrhaft besonderer Anblick gewesen sein, dachte er benommen. Man muss schon Vampir sein, um so etwas zu tun – stark genug, um ein Messer ganz durch den Körper eines Menschen zu stoßen.

Der Boden kam ihm entgegen. Das Blut gurgelte in seiner Lunge.

»Ein Mann, der Geld nimmt, um den Mund zu halten, würde es hinterher auch nehmen, um zu reden«, erklärte de Courcis, und seine Worte schienen auf Joseph herabzuschweben, der unten auf dem Boden lag. »Bitte machen Sie deswegen kein Theater, Monsieur Talleyrand, ansonsten befürchte ich, dass es am Ende doch noch die Decke sein wird.«

Es gab einen gedämpften Ausruf von Monsieur.

»Ach, kommen Sie, er hat unsere Namen gehört. Geben Sie sich selbst die Schuld dafür, falls Sie jemandem die Schuld geben wollen. Beamish, kümmert euch um die Leiche, nachdem wir weggegangen sind – bevor ihr an Bord des Schiffes geht. Es muss hier in der Gegend Dutzende von Stellen geben, wo man einen Toten aus der Welt schaffen kann.«

»Und angesichts der Tatsache, dass wir so frei mit Namen umgehen …«, sagte Monsieur in einem kühlen Ton. »Für wen arbeiten Sie?«

»Oh, ich glaube nicht, dass Sie die Person kennen. Sie sind sich noch nie begegnet.« De Courcis’ Stimme entfernte sich mehr und mehr, wie ein Faden, der von einer Brise davongetragen wurde.

»Dennoch bestehe ich darauf.«

»Der Prinz von Paris …«

Josephs Augen schlossen sich, und er verschied.

Erstes Kapitel

Eleanors Tablett war schwer mit Gläsern beladen. Die Festgesellschaft war von Zimmer zu Zimmer durch das Herrenhaus der Blakeneys gewirbelt und hatte haufenweise verschmutzte Gegenstände und Müll hinterlassen – leere Teller und ausgetrunkene Gläser ebenso wie aufgegebene Kartensätze und Würfelpaare, die bei Glücksspielen zum Einsatz gekommen waren. Sobald der letzte Gast seine Abreise angetreten hatte, waren die Bediensteten aus der Küche hervorgekrochen und von den Dachböden herabgeschlichen, um die schlimmsten Abfälle wegzuräumen. Zumindest brannten in den Kaminen noch die Feuer; sie hatten genug Hitze ausgestrahlt, um sämtliche Besucherinnen trotz ihrer dünnen, eleganten Seidenroben in der Märzkälte warm zu halten. Alle, die heute Nacht am Fest teilgenommen hatten, waren Menschen gewesen – und keine Vampire –, und die Blakeneys hatten sich wie immer gastfreundlich gezeigt. Eleanor war dankbar dafür. Ihre frühere Herrin hatte mehr dazu tendiert, Vampire statt Menschen zu sich einzuladen; und auch wenn Lady Sophie es nicht zulassen würde, dass ihre Bediensteten regelrecht froren, so gab es doch einen spürbaren Unterschied, ob es kühl oder behaglich warm im Raum war.

Eleanor stellte ihr Tablett ab und streckte sich, dann rieb sie sich mit den Fingerknöcheln das Kreuz. An diesem Abend hatte sie nicht in den Wohn- und Repräsentationsräumen ihren Dienst versehen. Ein Fest für Personen von Rang und Namen wie das jüngst zu Ende gegangene bedeutete, dass ausschließlich die Lakaien der Blakeneys, die eine Körpergröße von mehr als einen Meter achtzig aufwiesen und genauso wie die Pferde von Kutschengespannen äußerlich zusammenpassten, die Aufgabe wahrnahmen, vor den Augen der Gäste die Getränke und Gerichte zu holen und zu reichen, während die weniger makellosen Bediensteten des Hauses sich in der Küche die Hacken abliefen. Wenigstens war es dort unten ebenfalls warm. In diesem Jahr war der Winter bitterkalt gewesen.

Was freilich nicht bedeutete, dass das Wetter oder die Temperatur oder irgendetwas anderes die Guillotine in Frankreich davon abgehalten hätte, ihr blutiges Werk zu verrichten.

Eleanor schauderte, als sie sich einen Moment lang vorstellte, wie es sich wohl anfühlte, wenn der kalte Stahl auf ihren Nacken herabstürzte. Natürlich befand sie sich in England, nicht in Frankreich. Und ganz gewiss würde keine Revolution wie die in Frankreich jemals auch nur ansatzweise im heutigen England stattfinden können. Den eigenen König und die eigene Königin sowie die Hälfte aller Personen von Rang ermorden? Im gesamten Land das Oberste zuunterst kehren, ein neues Parlament an die Macht bringen und sich zu einer Republik erklären? Alle Vampire auf die Guillotine schicken und sogar den Kalender umschreiben? England mochte ja vor hundertfünfzig Jahren seinen eigenen Bürgerkrieg erlebt haben: Eleanor kannte die wichtigsten historischen Tatsachen jener Epoche zumindest vage und wusste unter anderem auch von der Hinrichtung König Charles’ durch das Parlament. Es war jedoch lächerlich, zu glauben, dass etwas so Dramatisches wie die Französische Revolution hier, in ihrem Heimatland, geschehen könnte.

Allerdings gab es da ein Problem: Sie war im letzten Jahr in Frankreich gewesen und hatte gesehen, wie sehr Menschen eben nur Menschen waren, egal ob es sich um Franzosen oder Engländer handelte. Wenn man die Leute nur stark genug bedrängte, konnte es passieren, dass man irgendwann eine Revolution am Hals hatte; und wenn eine Revolution erst einmal ihren Anfang genommen hatte, konnte sich niemand sicher sein, wo sie aufhören würde. Zu Beginn einer solchen Entwicklung standen edle Prinzipien und vernünftige Forderungen – dass die Aristokraten einen Teil der Macht, der Lebensmittel und gesetzlichen Privilegien abgeben sollten. Das führte dann dazu, dass man die Bastille erstürmte, um zu Unrecht verhaftete Gefangene zu retten, oder dass man heldenhafte Protestmärsche unternahm, um die eigenen Rechte durchzusetzen, und sogar eine neue Staatsverfassung und ein neues Gesetzeswerk erstellte. Doch unerklärlicherweise ging man dann auf einmal von der Hinrichtung einiger weniger Schuldiger dazu über, jeden hinzurichten, der ein Aristokrat war oder für einen Aristokraten gearbeitet hatte – oder der sich zugunsten von Aristokraten geäußert oder gegen die Revolution ausgesprochen hatte. Oder der …

All das spielte natürlich nur dann eine Rolle, wenn es sich bei dem Betreffenden um einen Menschen handelte. Wenn man ein Vampir war, dann war keiner der oben genannten Schritte notwendig – die einzigen infrage kommenden Schritte waren die hinauf zum Schafott, wo die Guillotine stand. Schließlich waren Vampire in der Regel Aristokraten: altes Geld, alte Familien, altes Blut. Es gab keine armen Vampire, weshalb die letzten lebenden Exemplare, die sich gegenwärtig in Frankreich aufhielten, tief im Verborgenen weilten.

Die Revolution hatte auch noch andere Dinge über Vampire behauptet … doch Eleanor war bisher nicht zu einem abschließenden Urteil gekommen, ob sie dem Glauben schenken sollte oder nicht.

Das solltest du aber, weißt du, sprach eine Stimme in den Tiefen ihres Geistes. Sie sind vollkommen richtig. Und wenn du jetzt die Zeit hast, nur herumzustehen und nichts Besonderes zu tun – könnten wir uns da nicht noch einmal diese Bücherregale ansehen?

Ich muss meine Arbeit erledigen, antwortete Eleanor schnell und nahm ihr Tablett wieder in die Hand. Die Stimme gehörte – nun ja, sie behauptete dies jedenfalls – zu Anima, dem Gespenst einer uralten Zauberin, die vor mehr als fünfhundert Jahren gelebt hatte. Sie hatte Eleanor erzählt, dass sie das Opfer eines großen Krieges zwischen Vampiren und Magiern gewesen sei, der mit einem Sieg der Vampire geendet hatte, woraufhin die Magier vollkommen aus der Geschichtsschreibung getilgt worden waren. Während Eleanor hatte eingestehen müssen, dass Anima tatsächlich über die von ihr behaupteten magischen Kräfte verfügte – das uralte Gespenst hatte dies eindeutig unter Beweis gestellt –, war sie sich nicht ganz sicher, was den Wahrheitsgehalt der restlichen Ausführungen anbelangte. Außerdem hatte sie Anima versprochen, über deren Anwesenheit vorerst Stillschweigen zu bewahren.

Gerechterweise musste eingeräumt werden, dass dies nicht nur Animas Sicherheit, sondern auch ihrer eigenen diente. Denn sollte Eleanor behaupten, dass sie vom Gespenst einer Zauberin aus vergangenen Jahrhunderten besessen war, würde man sie ins Londoner Irrenhaus stecken, womit keinem von beiden gedient wäre.

Anima hatte keine Angst davor, als Wahnsinnige bezeichnet zu werden; sie hatte Angst davor, restlos vernichtet zu werden. Sie hatte Eleanor mehr als einmal gesagt, dass die Vampire – sollten sie vermuten, dass doch noch eine Magierin überlebt hatte – alles tun würden, um Anima für immer und ewig aus der Welt zu schaffen. Was folglich bedeuten würde, auch Eleanor aus der Welt zu schaffen. Anima behauptete ebenfalls, dass Vampire Menschen dazu bringen könnten, ihnen zu gehorchen, indem sie das eigene Blut an ihre Opfer »verfütterten«, und dass sie im Verborgenen die Fäden hinter allen Königen und Regierungen in ganz Europa zogen. (Sie hatte in dem Zusammenhang eingeräumt, nichts über Afrika oder den Orient zu wissen, geschweige denn über Amerika.)

Leider stimmten all diese wilden Behauptungen in keiner Weise mit dem überein, was Eleanor jemals in Erfahrung gebracht oder erlebt hatte. Vampire mochten zwar Macht und Einfluss in der Gesellschaft ausüben, aber das beruhte darauf, dass sie für gewöhnlich wohlhabende Grundbesitzer sowie Schiedsrichter in Modefragen waren. Es gab Gesetze – sie reichten bis zur Magna Charta zurück, wie Eleanor jedenfalls berichtet worden war –, die unterbanden, dass Vampire dem englischen Parlament angehörten, und die sie daran hinderten, militärische Ränge zu bekleiden. Eleanor selbst hatte die meiste Zeit ihres Lebens im Dienst einer Vampirin verbracht – Lady Sophie, der Baronin von Basing –, und es war nicht schlimmer gewesen, als für irgendeine andere Frau von Rang zu arbeiten. Nun ja, eine Zeit lang hatte sich Eleanor regelmäßig eine Ader öffnen müssen, aber Lady Sophie war immer eine gute Herrin gewesen, die einen angemessenen Lohn gezahlt hatte. Eleanor kannte andere Frauen, die als Dienstmädchen weit Schlimmeres zu erdulden gehabt hatten. Gäbe es da nicht ihren Widerwillen gegen Knoblauch, das Nichtvorhandensein von Spiegelbildern, ihren Hass auf Sonnenlicht, wenn sie älter wurden, und ein paar andere Details, wären Vampire das Gleiche wie gewöhnliche Menschen. Nur vielleicht reicher.

Doch andererseits … Als Eleanor in Frankreich gewesen war, hatte sie Leute davon reden gehört, wie die Vampire dort Menschen tatsächlich auf eine Weise kontrollierten, die man nur als mystisch oder übernatürlich bezeichnen konnte. Diese und zahlreiche andere Anschuldigungen hatten dazu geführt, dass Vampire unter den Ersten gewesen waren, die ihren Kopf durch die Guillotine verloren … Nachdem man ihnen einen Pflock durch das Herz gerammt hatte. (Sie hatte so etwas einmal gesehen und immer noch gelegentlich Albträume davon.) Solche Gerüchte hatten England nicht erreicht – vielleicht, weil die Franzosen in ihrem Gesetzbuch den Vampiren bereits jegliches Verbrechen und alle nur denkbaren unnatürlichen Verhaltensweisen anlasteten. Aber der Wohlfahrtsausschuss, der Frankreich jetzt regierte, behauptete, all das sei wahr …

Und das ist es auch, merkte Anima an, die Eleanors Gedankengang verfolgte.

Eleanor hatte in Frankreich selbst Vampire kennengelernt, die alles andere als liebenswürdig, hochanständig oder auch nur elegant waren. Einer hatte versucht, sie zu töten. Andere hatten den Versuch unternommen, den Dauphin zu entführen, kurz nachdem er vom Scarlet Pimpernel – unter tätiger Hilfe von Eleanor – gerettet worden war. Wahrscheinlich war es nicht fair, zu erwarten, dass Vampire, nach denen beharrlich gefahndet wurde, um sie hinzurichten, sich an anständige Verhaltensregeln gebunden fühlten. Aber Eleanor war sich da nicht mehr ganz so sicher, wie sie es einmal gewesen war.

Sicher in welcher Hinsicht?, wollte Anima wissen. Es war, als hätte sie eine ältere Tante um sich, die ihr beim Nähen zuschaute und jeden Stich kommentierte.

In jeglicher Hinsicht, antwortete Eleanor. Im letzten Jahr hatte sie nichts mehr von ihrem Leben erwartet, als noch viele Jahre lang als Dienstmädchen zu arbeiten und in ihrer wenigen freien Zeit zu nähen und zu sticken. Und vielleicht – wenn sie sehr großes Glück haben sollte – eine von Lady Sophies Kammerzofen zu werden oder sogar eine Anstellung im Geschäft einer Modistin zu bekommen. Aber jetzt? Jetzt war sie ein Mitglied der Liga des Scarlet Pimpernel und hatte geholfen, den Dauphin aus dem Pariser Temple-Gefängnis zu befreien. Der Pimpernel höchstpersönlich hatte versprochen, ihr zu einer Anstellung als Modistin zu verhelfen. Sobald das alles hier vorüber war …

Die hintere Tür schwenkte auf, und Sir Percy Blakeney schlenderte in die Bibliothek. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war seine Krawatte immer noch perfekt gebunden: ein Schmuckstück an seinem Hals, so klar und formschön wie nur irgendein Berg in den Alpen. Er war heute Abend dunkelgrün gekleidet, und die Goldstickereien auf Rock und Weste schimmerten im hellen Licht der neumodischen Argand-Lampen an den Wänden. Trotz seiner Größe und der ausgeprägten Muskulatur, die sein Rock allerdings gut verbarg, sah er wie ein perfekter Dandy aus, der sich mit nichts anderem befasste als mit seiner äußeren Erscheinung, seiner Kleidung und seinem Publikum.

Niemand hätte je geahnt, dass er das heimliche Superhirn war, das Hunderte von unschuldigen französischen Bürgern – sowohl Menschen als auch Vampire – vor der Guillotine gerettet und den wütenden Wohlfahrtsausschuss an der Nase herumgeführt hatte und für die Revolution einen leibhaftigen Albtraum darstellte. Nein, das hier war nur Sir Percy Blakeney, ein Mann von adligem Blut und uneingeschränkter Bequemlichkeit, dessen Hauptinteressen seiner Garderobe und Pferden galten.

Und niemand würde jemals glauben, dass Eleanor selbst ein Mitglied der Liga des Scarlet Pimpernel sein könnte – ein gewöhnliches Dienstmädchen, dessen einzige bemerkenswerte Eigenschaften eine Begabung für das Nähen und Sticken waren und die zudem eine große Ähnlichkeit mit Marie Antoinette besaß, der verstorbenen Königin von Frankreich.

Eleanor machte automatisch einen Knicks und senkte ihren Blick. Sie hatte keine Ahnung, wer alles zur Liga von Sir Percy gehörte; und es wussten zwar einige bestimmte Personen hier im Haushalt von seinem Geheimnis, aber es waren nicht alle. Fairerweise musste gesagt werden, dass praktisch alle den Mund halten würden, was auch immer er im Schilde führen sollte. Die Angehörigen des Blakeney-Haushalts waren loyal, bildeten eine sehr enge Gemeinschaft – und wurden gut bezahlt. Sie selbst war schon seit Monaten hier, und dennoch wurde sie nur langsam von den anderen Bediensteten akzeptiert.

»Bist du immer noch mit dem Aufräumen beschäftigt, Eleanor?«, fragte Sir Percy, schloss die Tür hinter sich und ließ sich in einen Sessel fallen. »Zum Teufel noch mal, diese raubgierigen Aasgeier, die sich die feine Gesellschaft nennen, haben mir regelrecht die Haare vom Kopf gefressen.«

»Ich bin sicher, dass die Bediensteten sich eher bis zum eigenen Tod kasteien würden, als Sie hungern zu sehen, Mylord«, antwortete Eleanor, die sich gewiss sein konnte, dass sie beide in diesem Raum ungestört waren. »Und es gibt immer noch die Trauben aus den Treibhäusern, falls Sie die Diät ausprobieren wollen, die Sir Andrew vor Kurzem empfohlen hat.«

Sir Percy schnaubte. »Er hat sie seiner Schwiegermutter empfohlen, nicht mir! Und was trödelst du hier so herum?«

Zur Erklärung hob Eleanor ihr Tablett hoch. »Ich arbeite, Mylord. Ihre Freunde mögen zwar der feinen Gesellschaft angehören, aber wie es scheint, hat eine beträchtliche Anzahl von ihnen ihre Getränke hier hereingebracht – in Ihre Bibliothek.«

»Unter denen gibt es nur einen, der hereinkommen würde, um wirklich die Nähe von Büchern zu suchen.«

Eleanor wagte einen Scherz. »Niemand würde glauben, was Sie über sich selbst sagen, sollte er sich tatsächlich Ihre Bücherregale anschauen, Mylord.« Im Hinterstübchen von Eleanors Kopf hatte Anima schon des Öfteren darüber geschimpft, dass sie beide weder Zeit noch Zutritt für die Bibliothek besaßen. Durch diesen Umstand wurde die uralte Magierin davon abgehalten, Sir Percys Bücher zu studieren, um herauszufinden, wie sehr sich die Welt verändert hatte. Die bloße Tatsache, dass Eleanor als Dienerin wohl kaum ihre Pflichten aufgeben konnte, nur um unerlaubt in den Büchern ihres Arbeitgebers nachzuschlagen, war für Anima vollkommen unerheblich.

»Ojemine! Ich würde dem Betreffenden einfach sagen, dass ich meine Regale meterweise in modischen Farben kaufe, meine Liebe.« Er winkte sie zu sich. »Lass mich einen Moment lang das Tablett sehen, ja?«

Er inspizierte die Gläser darauf. »Der Armagnac – den dürfte Ffoulkes getrunken haben, und Grimms und Arthur waren bei ihm. Und der Lippenstift auf diesem Glas muss von Madame de Chagny stammen; ich erkenne den Farbton wieder. Und sie war in Begleitung von de Berthand. Bei den beiden letzten Gläsern bin ich mir nicht sicher, wem sie gehört haben mögen. Das ist das Problem bei großen Festen.«

»War dieses Fest ein … besonderes, Chef?« Eleanor benutzte absichtlich diese Form der Anrede, die sie und der Rest der Liga für ihren Anführer, den Scarlet Pimpernel, verwenden durften.

Sir Percy schüttelte seinen Kopf und gähnte. »Nichts als die üblichen gesellschaftlichen Vergnügungen, meine Liebe. Wenn ich mir Informationen erhofft habe, dann betreffen sie eher Angelegenheiten hier in England als drüben in Frankreich.«

»Betreffen sie den Krieg?« Bislang hatte der Krieg Frankreichs gegen England – ganz zu schweigen von dem der Franzosen gegen Österreich, Preußen und Spanien – Eleanors Alltagsleben nicht merklich beeinträchtigt. Niemand, den sie kannte, war als Soldat in den Kampf gezogen, und die Liga des Scarlet Pimpernel achtete darauf, sich von den Gefechtslinien fernzuhalten, wo immer das möglich war. Getarnt als Trupp reisender Soldaten, war es allerdings einfacher, durch Frankreich zu ziehen, ohne dass einem zu viele Fragen gestellt wurden …

»In gewisser Hinsicht.« Er runzelte die Stirn, und sein Gesicht, dessen Züge er rasch zu verändern vermochte, nahm eine ungewöhnlich ernste Miene an, die vollkommen anders war als der gewohnheitsmäßige Ausdruck von Langeweile und Dummheit. »Sagen dir die Worte Habeas Corpus etwas, Eleanor?«

Sie bedeuten, dass man jemandem den Körper lassen soll, erklärte Anima lautlos. Offensichtlich war es vor Jahrhunderten für Magier erforderlich gewesen, dass sie Latein lernten – ebenso wie die Fächer Astrologie, Kräuterkunde und Anatomie. Einige dieser Fachgebiete waren für Eleanors alltägliches Leben nützlicher als andere. Für gewöhnlich meldete sich Anima allerdings nicht zu Wort, wenn Eleanor mit Sir Percy redete. Die Zauberin wollte nicht, dass er – oder irgendjemand anders – ahnte, ein Wesen wie sie würde in Eleanor existieren, weil Letztere sich merkwürdig verhielt oder etwas wusste, was sie als Dienstmädchen eigentlich nicht wissen konnte.

Eleanor legte ihre Stirn in Falten. »Geht es irgendwie darum, dass man einen Körper hat, Chef?«, deutete sie an. Sie wusste, dass Sir Percy nicht wirklich damit rechnete, dass sie einen lateinischen Ausdruck verstand.

»Nicht schlecht, meine Liebe«, lobte er sie. »In diesem Fall handelt es sich um einen juristischen Begriff. Im Wesentlichen bedeutet er, dass die Gerichte – oder die Regierung – einen Menschen nicht einfach verhaften und ohne Anklage oder Zeugen ins Gefängnis stecken können. Nicht einmal der König oder der Kronrat kämen mit so etwas durch. Es gibt Parlamentsgesetze dazu; ich habe allerdings gehört, dass diese Sache noch weiter zurückreicht.«

»Was – das soll für jeden gelten?«, fragte Eleanor verwundert. Dieses Konzept stimmte nicht gerade mit dem überein, was sie über die Vorgehensweise von Gerichten und die Behandlung von Gefangenen wusste. Zumindest was jene betraf, die kein Geld besaßen.

Sir Percy vollführte eine unbestimmte Handbewegung mit seinen langen weißen Fingern. »Nun ja, manchmal existiert etwas mehr als Prinzip denn in der Wirklichkeit, aber es ist ein verdammt wichtiges Prinzip. Und es ist genau das, was die Menschen in Frankreich momentan nicht haben, wie du weißt.«

Seine Augen begegneten ihren, und sie unterdrückte ein Schaudern. Sie hatte höchstpersönlich erfahren, wie leicht in Frankreich eine Anschuldigung zur Inhaftierung und vom Gefängnis direkt zur Guillotine führen konnte – ohne auch nur die geringste Hoffnung auf ein gerechtes Gerichtsverfahren.

»Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »im Moment wird viel über Spione gesprochen.«

»Oh, also über Leute wie uns«, sagte Eleanor trocken. Sie hatte das Einsammeln der Gläser beendet und stellte das Tablett ab. »Versuchen die immer noch, Sie zu finden, Chef?«

»Ohne Zweifel. Aber die englische Regierung macht sich mehr Sorgen um Spionage, die in entgegengesetzter Richtung stattfindet. Pitt … Du kennst Pitt, oder besser gesagt – du kennst ihn zweifellos, nicht wahr? Dünner Bursche, sehr überzeugend, Premierminister, traurige Neigung zur Gicht. Hat in Cambridge studiert, im Gegensatz zu unserem Freund Charles, der in Oxford war. Jedenfalls macht er sich Sorgen über Spione aus Frankreich und wegen des aktuellen Geredes zugunsten eines politischen Wandels. Seltsam, aber sobald ein Mann in die Regierung aufgenommen wird, ist er nicht mehr allzu sehr von Veränderungen begeistert, was auch immer er zuvor gesagt haben mag.«

Eleanor nickte. Sie war sich nicht ganz sicher, worauf das hinauslief, und hatte den Verdacht, dass er eher sprach, um seine eigenen Gedanken zu ordnen, als dem Wunsch nachzukommen, sie über aktuelle Ereignisse zu informieren. Dennoch hatte sie nicht die Absicht, ihren Mund zu öffnen und diesen Fluss an Informationen zu beenden. Die anderen Mitglieder der Liga, alles Aristokraten, wohlhabend und mit Ausnahme von Lady Marguerite männlich, konnten Informationen dieser Art in ihren Zeitungen lesen oder bei Diskussionen in ihren Clubs aufschnappen. Eleanor, die eine Frau und arm war, musste sich mit den Informationsbrocken über das Zeitgeschehen begnügen, die bei Gesprächen von Angehörigen der Oberschicht in ihrer Nähe beiläufig fallen gelassen wurden.

Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie diesen Umstand einfach hingenommen. Doch in jüngerer Zeit – vielleicht sowohl wegen ihrer Aufenthalte in Frankreich als auch infolge des Gespensts in ihrem Kopf – hatte sie begonnen, ihren Platz in der Welt sowie die eigene Zukunft infrage zu stellen.

»Es steht in allen Zeitungen …«, fuhr Sir Percy versonnen fort. »Ordnung gegen Anarchie. Eine ordnungsgemäße Gesellschaft wie die unsere wird unterwandert … Beachte das Wort ›unterwandert‹, Eleanor! Bei ihm schwingt eine subtile Hinterhältigkeit mit, die jeden anständigen Engländer in Wut versetzt, wenn es auf seine eigene Nation angewendet wird, sosehr er es auch beim Rest der Welt für angemessen hält. Jede radikale Versammlung wird als Beispiel für den verderblichen Einfluss aus Frankreich und das Wirken ausländischer Spione hervorgehoben. Das Wort ›denunzieren‹ ist ebenfalls ins Spiel gekommen. Wann haben wir das zuletzt gehört?«

»In Frankreich, wie ich mir vorstellen kann.« Die hintere Tür schwang auf und gab den Blick auf Lady Marguerite Blakeney frei. Das Licht fiel auf ihre schimmernden rotgoldenen Locken – ein Farbton, der Eleanor in Anbetracht ihres eigenen flachsblonden Haars insgeheim vor Neid aufseufzen ließ, als sie einen Knicks machte. Lady Marguerites hellgrüne Seidenrobe zeichnete sich durch den allerneuesten Schnitt aus, bei dem man auf einen Reifrock verzichtete, und war aufgrund des geringen Volumens sowie fehlender Verzierungen praktisch unanständig. Und dass Lady Marguerite sich entschieden hatte, ihr Haar ungepudert zu lassen, stellte geradezu eine Verhöhnung der herrschenden Mode dar. Ihre Halskette und die Armbänder an ihren Handgelenken waren mit Beryll-Schmucksteinen besetzt, die dasselbe dunkle Grün aufwiesen wie die Kleidung ihres Mannes. Man hätte meinen können, Lady Marguerite wäre direkt aus den Seiten einer Zeitschrift für vornehme Damen hervorgetreten, doch im Vergleich zu den darin abgebildeten Frauen leuchteten ihre Augen mehr, und ihr Lächeln war viel freundlicher.

»Unsere Gäste sind allesamt wohlbehalten fortgegangen, Percy«, teilte sie mit. »Soeben habe ich Tony und Yvonne verabschiedet. Ich habe ihnen angeboten, bei uns über Nacht zu bleiben, aber ich glaube, er dürfte sich eher an einer Nachtfahrt mit seiner neuen Gattin erfreuen – selbst bei diesem Wetter.« Sie hielt ihre Hände ans Feuer, um sie zu wärmen.

»Ach ja, Frischvermählte.« Sir Percy lächelte, und seine Augen wurden weich. »Mein teures Herz, du musst ihnen etwas Zeit miteinander gönnen. Seit ihrer Heirat ist erst ein Monat vergangen.«

»Das hat dich nicht davon abgehalten, gleich nach dem Jahreswechsel mit ihm nach Frankreich davonzueilen«, neckte Lady Marguerite.

»Und ich bin mit einer Schar geretteter Aristokraten zurückgekommen, wie ich vorzuweisen vermag«, entgegnete Sir Percy. »Eine glückliche kleine Reise hin und zurück, wie Eleanor dir erzählen kann.«

Eleanor war in Sir Percys Kielwasser mitgerissen worden – ihre dritte Mission für die Liga und ihr dritter Aufenthalt in Frankreich. Dieses Mal hatte man nichts besonders Gefährliches von ihr verlangt: Sie war einfach nach Charenton-le-Pont gekommen, hatte sich als arbeitssuchende Frau ausgegeben und in den Haushalt des Bürgermeisters einschleusen lassen, um einige Informationen zu gewinnen. Ein mittelloses Mädchen, das Arbeit suchte, wurde von den meisten Leuten nicht beachtet, und ihr Französisch war inzwischen gut genug, um keinerlei Verdacht zu erregen. »Glücklich ist, wer in der Lage ist, sich selbst glücklich zu machen, Chef«, antwortete sie ein wenig vorwitzig, »und ich für meinen Teil mag es nicht, durch Januarstürme zu segeln.«

Anima allerdings hatte genau das gefallen. Sie hatte aufmerksam zugeschaut, wie das Sankt-Elms-Feuer – so nannten es die Seeleute – auf den Masten und der Takelage tanzte, und den immer stärker werdenden Sturm in einer Weise eingeatmet, als würde sie gleich in einen Gesang ausbrechen. Durch Animas besonderes Sehvermögen hatte Eleanor die verschlungenen Strukturen der Winde wie ein Stickmuster wahrgenommen. Außerdem war ihr dabei nicht entgangen, wie sehr sie sich nach den Tagen ihres einstigen Lebens und ihrer Macht zurücksehnte, in denen sie einen einzelnen Strang des Windes hatte herauspflücken und nach ihrem Gutdünken bändigen können. Manchmal, ganz tief in ihrem Inneren – und wenn sie sicher war, dass Anima ihre Gedanken nicht mitbekommen konnte –, fragte sich Eleanor, wie lange wohl die uralte Zauberin damit zufrieden sein würde, als Gespenst in ihrem Kopf zu bleiben.

»Die Stürme haben die Verfolger vertrieben«, erwiderte Sir Percy, »und das ist das Wichtigste.« Er zuckte mit den Schultern: Die Sache war für ihn erledigt, und über dieses Thema gab es nichts mehr zu sagen.

Er kann das nicht ewig weitermachen, merkte Anima lautlos an. Die Risiken, die er eingeht – die ihr alle eingeht! –, werden zunehmend größer.

Der Chef weiß, was er tut, entgegnete Eleanor mit starrsinniger Loyalität und unterdrückte alle verräterischen Gedanken, die sie gelegentlich in Betracht gezogen haben mochte. Außerdem steht nicht nur unser Leben auf dem Spiel, sondern auch das der Leute in Frankreich, die wir vor der Guillotine retten.

Mein Leben steht ebenfalls auf dem Spiel, solange ich an dich gebunden bin, erwiderte Anima.

Dann nennen Sie mir einen guten Grund zum Aufhören, den ich dem Chef nennen kann! Oder reden Sie selbst mit ihm!

Ich spreche nicht mit ihm, und ich verbiete dir, ihm von mir zu erzählen, sagte Anima kalt. Der Mann steht einigen der Vampire hier in England viel zu nahe, und seine Frau ist noch schlimmer.

Es war äußerst ärgerlich. Es gab so viel, was Anima tun könnte, um die Operationen der Liga zu unterstützen – sie besaß die Fähigkeit, das Wetter zu verändern, und sie hatte durchblicken lassen, dass sie noch mehr vermochte. Aber sie weigerte sich immer noch strikt, Eleanor zu gestatten, Sir Percy über ihre Anwesenheit zu informieren. Falls aber tatsächlich in irgendeiner Form eine unerwartete Gefahr von den Vampiren ausging, dann musste Eleanor unbedingt mit Sir Percy darüber sprechen. Oder mit Lady Marguerite oder einem der anderen Mitglieder der Liga, wie Sir Andrew Ffoulkes, Lord Tony Dewhurst – oder mit Lord Charles Bathurst, dem einzigen Menschen hier, den sie tatsächlich als Freund bezeichnen würde …

Eleanor unterdrückte einen Seufzer und drehte sich in Richtung der Tür um, als Lady Marguerite sich neben ihrem Mann in einen Sessel sinken ließ. Offenbar wollten sie sich unter vier Augen unterhalten.

Zu Eleanors Überraschung hob Sir Percy eine Hand, um sie zum Warten aufzufordern. »Hast du in letzter Zeit etwas von Charles gehört, Eleanor?«, fragte er.

»Nicht seit dem Neujahrsfest, Chef«, antwortete sie und konnte sich bei der Erinnerung an jene Feier ein Lächeln nicht verkneifen. Charles hatte ihr tatsächlich ein Weihnachtsgeschenk überreicht: ein Skizzenbuch voller Zeichnungen von Stickmustern aus dem Stammsitz seiner Familie. Im Augenblick besaß sie weder ausreichend freie Zeit noch die notwendigen Mittel, um auch nur entsprechend einer dieser Vorlagen eine Stickerei anzufertigen; aber sie hatte es voller Freude für spätere Arbeiten zur Seite gelegt.

Im Vergleich zu den anderen Mitgliedern der Liga war Lord Charles Bathurst vielleicht nicht der Stärkste, der Schnellste oder derjenige, dem in einer Notsituation am raschesten eine Lüge einfiel; aber er war den Idealen der Organisation hingebungsvoll verbunden, und sein künstlerisches Talent machte ihn zu einem geschickten Urkundenfälscher. Im Moment wurde Frankreich mit offiziellen Papieren überschwemmt – Ausweisen, Genehmigungen, Aufenthaltsbescheinigungen, Kopien von Befehlen und vielem mehr –, sodass es eine absolute Notwendigkeit darstellte, jemanden zu haben, der solche Dokumente für die Liga bereitstellen konnte. Eleanor und Charles standen … nun ja, nicht ganz in bestem Einvernehmen miteinander, denn für einen Aristokraten wäre es undenkbar, in bestem Einvernehmen mit einem gewöhnlichen Dienstmädchen zu stehen. Aber sie hatten beide mit Sicherheit ein Interesse an einer engeren Bekanntschaft und wussten die Gesellschaft des anderen sehr zu schätzen. Auch wenn daraus niemals etwas anderes werden konnte, wie Eleanor sich immer wieder in Erinnerung bringen musste, so war diese Art von Beziehung doch eine Freude, solange sie Bestand hatte.

Eleanor sah, wie angesichts ihres Lächelns Lord Percy und Lady Marguerite einen wissenden Blick austauschten, und sie errötete vor Verlegenheit und mehr als nur ein wenig vor Ärger. Wenn die zwei schon Vermutungen anstellten, dann konnte sie auch dabei mitspielen. »Es ist immer schön, ihn zu sehen«, fügte sie so unschuldig wie möglich hinzu und gab ihr Bestes, um rehäugig und bewundernd auszusehen. »Er ist ein so freundlicher junger Mann – und so hilfsbereit und sympathisch.«

Die Blakeneys schauten sich an, und dann lachten sie. Lady Marguerites Lachen klang so lieblich wie ihre Stimme, während das von Sir Percy als eher enervierendes Kreischen hervorkam, das perfekt zu seinem Image als hirnloser Dandy passte.

»Es ist nicht so, dass wir versuchen würden, euch beide zu drängen zusammenzukommen, liebe Eleanor«, sagte Lady Marguerite. »Aber ihr seid solch ein süßes Paar, und ihr versteht einander perfekt. Verzeih uns! Glückliche Ehepaare wie wir wollen halt sehen, dass alle anderen ebenso gut wie wir zueinander passen. Wer weiß schon, was womöglich passieren wird? Die Welt befindet sich in einem Gärungsprozess, der ständige Veränderungen mit sich bringt, und wenngleich die Umstände kompliziert sein mögen, kann vielleicht eine Lösung gefunden werden. Ich bin sicher, dass Charles stets dein Freund sein wird, was auch immer die Zukunft bringen mag.«

Sir Percy küsste seine Fingerspitzen und streckte sie Lady Marguerite entgegen. »Es werden noch viele weitere Jahre sein, wie ich hoffe.«

Eleanor verzichtete darauf, ihre Augen zu verdrehen. Wirklich, die beiden waren manchmal unerträglich süß. Man hätte nicht gedacht, dass sie seit Jahren verheiratet waren; sie zeigten so viel Hingebung füreinander wie ein junges Liebespaar. »Bei allem Respekt, Sir, Mylady, ich sollte mich wieder meinen Aufgaben zuwenden. Wenn ich mich noch viel länger mit Ihnen unterhalte, wird Mrs Bann dazu ein paar Bemerkungen machen.« Die Haushälterin der Blakeneys war eine vernünftige und verständnisvolle Frau, die jedoch keinerlei Faulheit duldete. Es war bekannt, dass Eleanor aufgrund ihrer Geschicklichkeit beim Nähen und Sticken ein Liebling von Lady Marguerite war, aber dadurch erwarb sich die junge Frau keinerlei Begünstigungen beim Rest des Haushalts. Sie putzte und schrubbte genau wie alle anderen Dienstmädchen.

»Bevor du gehst …«, sagte Sir Percy, der plötzlich ernst wurde. »Ich möchte, dass du deine Ohren besonders offen hältst, Eleanor, und auf alle Gerüchte achtest, die du womöglich über Verschwörungen hörst, auch wenn du sie noch so albern findest. Sei es bei Gesprächen von anderen Bediensteten oder unter den Gästen in diesem Haus – und sogar seitens der Leute, die wir aus Frankreich mitgebracht haben. Pitt mag ja recht haben oder nicht … Und möglicherweise ist mehr im Gange, als selbst er weiß.«

»Du meinst die Nachricht aus Frankreich, oder?«, hakte Lady Marguerite nach. »Armand hat gesagt, es wäre nur vom Hörensagen, als er letzten Monat hier war …«

»Meine Liebe, dein Bruder ist ein guter Mann, aber bemerkenswert schlecht darin, die eigene Sicherheit oder sein Geschwätz einzuschätzen. Einige der Kreise, in denen er sich bewegt, sprechen von einer niederträchtigen Verschwörung hier in England, Eleanor.«

»Wir befinden uns bereits im Krieg mit Frankreich, Sir«, stellte Eleanor fest. Vor Kurzem war sie Lady Marguerites Bruder Armand vorgestellt worden, und zwar für den Fall, dass sie irgendwann in der Zukunft sein Gesicht würde kennen müssen. Er hatte die üblichen Bemerkungen über ihre Ähnlichkeit mit Marie Antoinette gemacht und sie dann nicht weiter beachtet. »Zu was sonst noch könnten wir uns verschwören?«

»Nun, genau das ist das Interessante an der Sache, nicht wahr?« Sir Percy lehnte sich zurück und zeigte dabei die Miene eines Mannes, der ein unanfechtbares Argument vorgetragen hatte.

»Ist das der Grund, weshalb du nicht wolltest, dass ich Thomas Walsingham heute Abend einlade?«, fragte Lady Marguerite scharfsinnig.

Lord Percy nickte. »Der Bursche hat schon immer alles seinem Großonkel weitergetragen. Und seit er sich in einen Vampir verwandelt hat, geht er noch begeisterter zur Sache, wenn die Möglichkeit besteht, zufälligen Tratsch aufzuschnappen. Da gibt es Klatschgeschichten, die ich andernorts lieber noch nicht mitteilen möchte. Und nun, wo Talleyrand befohlen wurde, England zu verlassen …«

Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Vielleicht muss ich bald eine weitere Reise nach Frankreich unternehmen, aber vorher brauchen wir mehr Informationen. Wenigstens ist dieser Bursche Chauvelin nicht hier, um uns Sorgen zu bereiten.« Er tätschelte Lady Marguerites Hand, die ihre Lippen voller Abneigung aufeinanderpresste. »Eleanor, wenn Mrs Bann Einwände hat, was deine Arbeit anbelangt, dann kannst du ihr ruhig erwidern, dass ich von dir verlangte, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen, während ich mich über meine Weste beschwert habe. Ich werde später mehr sagen können, wenn Andrew und einige der anderen Bericht erstattet haben. Pass auf dich auf, meine Liebe, und bleib nicht zu lange auf! Du arbeitest schließlich nicht mehr für eine Vampirin.«

Eleanor nickte, vollführte einen Knicks – die Blakeneys mochten die vertraulichen Keckheiten eines anderen Mitglieds der Liga tolerieren, aber es wäre eine schlechte Idee, die gewohnten Verhaltensregeln des Respekts aufzugeben – und verließ den Raum.

Als sie zu ihren Pflichten zurückkehrte, musste sie unwillkürlich daran denken, wie zwanglos die Gäste und die Blakeneys den Abend mit Trinken, Tanzen und Glücksspielen verbracht hatten, während in Frankreich englische Soldaten kämpften und französische Aristokraten sowie Bürgerliche gleichermaßen unter der Guillotine starben. In gewisser Weise empfand sie das als … unanständig. Die Reisen nach Frankreich und die Arbeit für die Liga hatten sie verändert: Sie hatte angefangen, sich zu fragen, ob alles immer so bliebe, wie es gewesen war. Und ob alles überhaupt immer so sein sollte, wie es gewesen war.

Doch die Leute in Frankreich hatten genauso gefühlt, nicht wahr? Und man konnte wohl kaum behaupten, dass die Revolution ein zufriedenstellendes Resultat erbracht hatte. Sie hatte mit Mut und Brüderlichkeit und Zorn begonnen, und jetzt war sie von Blut überschwemmt worden.

Manchmal gibt es keine gute Antwort, murmelte Anima, deren Stimme einfühlsamer als üblich klang. Manchmal hat man keine andere Wahl, als zu handeln und dann die Konsequenzen anzunehmen. Unter meinen Brüdern und Schwestern gab es jene, die dafür eintraten, unsere besondere Kunst aufzugeben und keine neuen Lehrlinge mehr auszubilden – in der Hoffnung, dass die Vampire uns in Ruhe lassen würden.Ich glaube allerdings nicht, dass das funktioniert hätte. Vampire sind ebenso machthungrig wie blutdürstig. Sie hätten uns niemals erlaubt, weiterhin zu existieren, egal wie oft wir behaupteten, dass wir harmlos seien. Es war besser, die Chancen zu nutzen, die wir hatten … was immer es auch gekostet hat.

Vielleicht haben sich die Vampire geändert, antwortete Eleanor. Es ist schon mehr als fünfhundert Jahre her.

Anima schnaubte. Die Menschheit hat sich nicht geändert, und somit auch nicht die Vampire.

Als was bezeichnen Sie dann die Revolution in Frankreich, wenn nicht als eine Änderung bei den Menschen? Eleanor erinnerte sich an zerstörte Schlösser, leere Räume, zertrümmerte Möbel – und über alldem der sich drohend abzeichnende Schatten der Guillotine. Was, wenn sich gerade die ganze Welt ändert?

Dann müssen wir uns mit ihr ändern, entgegnete Anima ausdruckslos. Auf der Welle schwimmen – oder ertrinken.

Zweites Kapitel

Als Alice auf der Treppe ausrutschte und stürzte, war das Gepolter – in einem metaphorischen Sinne – im gesamten Haus zu hören. Normalerweise war es eine unbedeutende Angelegenheit, wenn sich jemand von den Bediensteten den Knöchel verstauchte, und hätte den ordnungsgemäßen Ablauf des Haushalts der Blakeneys nicht durcheinanderbringen sollen. Alice war jedoch Lady Marguerites persönliche Zofe und trug als solche die Verantwortung für zahlreiche Aufgaben: Sie brachte ihrer Herrin die Morgenschokolade, half ihr beim Anziehen und stand ihr für alles und jedes, was erforderlich sein könnte, stets zur Verfügung. Das Leben einer vornehmen Dame war ein sehr geschäftiges, weshalb Gott – oder ihr Ehemann – Dienstmädchen zur Verfügung stellte, um das Herumlaufen und andere Tätigkeiten für sie zu erledigen.

Die Situation wurde noch dadurch verschlimmert, dass Lady Marguerite für diesen Abend eine Einladung zu einem Salon angenommen hatte und hierbei die Anwesenheit eines Dienstmädchens benötigte, weil ihr Gatte nicht mitkommen konnte – er befand sich auf einer Geschäftsreise (zumindest war das die allgemeine Erklärung für alle, die nicht der Liga angehörten) – und auch keine andere angemessene Begleitperson zur Verfügung stand. Und offensichtlich war Alice nicht in der Lage, das geziemende Maß an Aufmerksamkeit aufzubringen, da ihr Knöchel verbunden war und sie vor Schmerzen aufkeuchte, wann immer sie den verletzten Fuß belastete.

Eleanor war sich nicht ganz sicher, warum man ausgerechnet sie ausgewählt hatte, Alices Platz einzunehmen. Sie war sich jedoch bewusst, dass andere Dienstmädchen, die schon viel länger im Haushalt der Blakeneys dienten, sich zurückgesetzt fühlten, weil sie diese Aufgabe nicht übertragen bekommen hatten. Eleanor würde später dafür bezahlen müssen … Aber hier und jetzt freute sie sich sehr über die Möglichkeit, etwas mehr von London zu sehen als bisher.

Zuvor allerdings war sie von Alice in eine Ecke gedrängt worden, als Eleanor eine Besorgung auf dem Dachboden gemacht hatte, wo die Bediensteten schliefen.

»Es gibt einige Dinge, die du verstehen musst«, erklärte Alice in unheilvollem Ton.

»Ja, ganz bestimmt, Alice«, pflichtete Eleanor ihr bei und nickte begeistert. Sie konnte sich nur schwer davon abhalten, vor lauter Vorfreude auf den Zehen auf- und abzuhüpfen. »Ich bin ganz Ohr. Oh, möchtest du dich nicht erst einmal hinsetzen?«

»Nett von dir, dass du daran denkst.« Mit einem Ächzen ließ sich Alice auf einen Stuhl sinken. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Vorhin war ihr eine Dosis irgendeines Medikaments gegeben worden, aber augenscheinlich hatte es nicht viel geholfen. »Ich sage das jetzt für Mylady. Sie versteht, dass ich mindestens eine weitere Woche oder noch länger nicht mit einem Fuß wie dem hier herumlaufen kann … Doch wie dem auch sei, es ist Mylady, über die ich sprechen möchte. Du musst begreifen, dass es deine Pflicht ist, heute Abend auf sie achtzugeben.«

Eleanor blinzelte. »Mylady ist eine erwachsene Frau«, wagte sie zu erwidern. Und als vollwertiges Mitglied der Liga ihres Mannes war Lady Marguerite kaum die Art von Frau, auf die man »achtgeben« musste. Alice war jedoch nicht dumm. Sie wollte doch gewiss nicht andeuten, dass Sir Percy nichts von dem Salon hielt, oder?

»Du bist noch nie bei einer dieser Veranstaltungen gewesen«, stellte Alice in einem Tonfall tiefster Verachtung fest. »Voller Leute aus allen Schichten der Gesellschaft. Zwar gehöre ich nicht zu der Sorte Mensch, die zu sagen pflegt, dass jeder seinen Platz kennen muss und niemals versuchen sollte, ihn zu verlassen, doch meine liebe Mutter hätte das nicht befürwortet. Also, ich behaupte auch nicht, es sei falsch, dass Mylady an so etwas teilnimmt. Aber weil sie aus Frankreich kommt, weiß sie zweifellos nicht immer, wie Derartiges in England möglicherweise aufgenommen wird. Die Leute könnten gewisse Dinge über sie sagen.«

»Die Sorte von Leuten, die nicht zu so einem Salon gehen würden, ja?«, wagte Eleanor nachzuhaken.

»Ich wusste, du würdest es verstehen.« Alice beugte sich in einer Geste des Vertrauens näher zu ihr. »Es gibt da draußen einige Lords und Ladys, die ihre Nase so hoch tragen, dass sie jeden, der nicht von Adel ist, auf der Straße wie Luft behandeln. Auch wenn diese Menschen, falls sie knapp bei Kasse sind, selbst die widerwärtigste, aus niedrigsten Verhältnissen stammende Person heiraten würden, sofern diese Eheschließung ihnen Geld einbringt. Nun, Mylords Familie reicht so weit zurück, wie es nur geht, und sein Vater … Also, dessen Frau, Mylords Mutter, war zwar von edlem Blut, aber mit ihr hat es nicht gut geendet, unter uns beiden gesagt. Und dann Mylord selbst: Er heiratete eine Dame, die auf der Theaterbühne gestanden hatte! Er bezahlte nicht nur eine Wohnung für sie – wenn du weißt, was ich damit meine –, sondern er vermählte sich tatsächlich mit ihr. Und ich weiß zwar, dass Mylady aus einer guten Familie drüben in Frankreich stammt – aber trotzdem! Es gibt Leute, die sie liebend gerne als schockierend schlechtes Beispiel vorführen würden, wenn sie hierfür nur irgendeine Möglichkeit finden könnten. Und da sie Französin ist, versuchen sie möglicherweise, ihr eine Falle zu stellen und sie dazu zu verleiten, etwas zu machen, das …« – sie winkte vage mit einer Hand – »anstößig wirken könnte.«

Dies war das erste Mal, dass Eleanor zu einer so hohen Ebene des Haushaltsklatschs Zugang gewährt wurde. Sie war fest entschlossen, sich dessen würdig zu erweisen. »Du glaubst, dass Mylord und Mylady Feinde haben?«

Alice schürzte die Lippen. »Also, nicht in der Weise, wie man bei all jenen von Feinden sprechen würde, die sich als junge Satansbraten der Gesellschaft erweisen und sich reihum gegenseitig duellieren. Es ist ja ganz nett, dass Mylord und seine Freunde sich nicht so zügellos benehmen, auch wenn sie ihre Köpfe die Hälfte der Zeit in den Wolken und die andere Hälfte in ihren Kleiderschränken haben. Ein Mann kann Schlimmeres tun, als sich um sein äußeres Erscheinungsbild zu kümmern, wenn du verstehst, was ich meine. Doch nein, es ist eher so, dass es Lords und Ladys und ehrenwerte Leute und wen auch immer gibt, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als ihren Zeitgenossen Nadelstiche zu versetzen oder sie herabzusetzen. Und am Sonntag gehen sie dann in die Kirche«, fügte sie noch empört hinzu. »Schande über sie!«

»Ich habe solche Leute schon kennengelernt«, stimmte Eleanor ein. »Sie fühlen sich nicht glücklich, solange sie nicht jemand anderen schlechtmachen.«

»Genau!« Alice klatschte mit der Hand auf die Armlehne ihres Stuhls. »Da ich es nicht vermag, ist es also deine Pflicht, Mylady zu begleiten und sicherzustellen, dass sie nichts sagt oder tut, was gegen sie verwendet werden könnte. Achte darauf, dass sie nicht zu viel Zeit damit verbringt, Gespräche mit diesen Anhängern der Sklavenbefreiung und Freidenkern zu führen. Wenn da jemand aus Frankreich ist, der dem revolutionären Gerede allzu sehr zuneigt, dann musst du sie von ihm ablenken, bevor sie in aller Öffentlichkeit dem zustimmt, was auch immer der Betreffende sagt. Wenn diese Wollstonecraft-Frau dort ist … Nein, Augenblick, die ist jetzt in Frankreich; du brauchst dir wegen ihr keine Sorgen zu machen.« Dann fügte sie in einem huldvollen Tonfall hinzu: »Du kannst Mylady über Romane reden lassen, wenn du möchtest. Oder vielleicht über all das, was derzeit im Theater aufgeführt wird. Da sie Schauspielerin war, ist es nicht so schlimm, wenn sie darüber spricht, wie es bei einer jungen Dame aus einem dezenteren Haushalt der Fall wäre.«

»Aber …« Eleanor konnte erkennen, dass es bei dieser Vorgehensweise ein offenkundiges Problem gab. »Ich werde selbstverständlich mein Bestes tun … Doch wie genau werde ich Mylady davon abbringen, irgendetwas zu machen, was sie will?«

Es folgte ein unbehagliches Schweigen.

»Das, Eleanor, ist der knifflige Teil bei der Sache«, gab Alice schließlich zu. »Aber wenn du einfach direkt neben ihr bleibst, dann kann nicht viel schiefgehen.«

*

»Und das hier ist Eleanor Dalton, eine meiner Angestellten«, stellte Lady Marguerite Eleanor der Gastgeberin vor. »Möglicherweise wird sie uns bald verlassen, um sich der Belegschaft von Madame Elise anzuschließen, aber für den Moment nehmen wir ihre Dienste gerne in Anspruch. Ich habe sie mitgebracht, weil sie ein großes Interesse am aufgeklärten Zeitgeist hat. Wie du mir immer sagst, meine Liebe, ist hier jeder willkommen, der gewillt ist, Konversation zu machen und zu denken.«