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"Ich werde dich über deine Grenzen hinausbringen, aber niemals ernsthaft in Gefahr." Finn Böhme, Oberarzt und Experte der Viszeralchirurgie, rettet nahezu täglich Menschenleben, doch dieser eine Tag, der sein komplettes Leben verändert, wird für immer eine Tragödie bleiben. Geplagt von seiner seelischen Pein, muss er Leonora von Tah, Schwester der Verstorbenen, Rede und Antwort stehen, sich professionell ihren Anschuldigungen stellen. Als die Rebellin ihren Job im Krankenhaus antritt, nimmt das Chaos seinen Lauf und Finn glaubt, von einem Wahnsinn befallen zu sein. Seinen Trieb, diese aufsässige Furie zu brechen, kann er nicht mehr im Zaum halten und macht sich zur Aufgabe, sie in eine neue Welt, geprägt von lustvollen Qualen, zu entführen. ElfUhrTermin enthält erotische Szenen, die der Umgangssprache angepasst sind – obszöne Worte sind garantiert zu finden. ***************************************************** Band 1: NeunUhrTermin – Vince Band 2: ZehnUhrTermin – Björn Band 3: ElfUhrTermin – Finn Band 4: ZwölfUhrTermin – Marc Alle Bücher sind unabhängig voneinander lesbar und in sich abgeschlossen.
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Seitenzahl: 310
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ElfUhrTermin
Roman
Nora Adams
Booklounge Verlag
Erstausgabe im Juli 2018
Copyright © 2018
Alle Rechte beim Booklounge Verlag
Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick
Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg
www.booklounge-verlag.de
Umschlagfoto: ©dundanim - Can Stock Photo Inc.
9783947115075
Unfallchirurgie
Onkologie
Psychosomatik
Gynäkologie
Radiologie
Intensivmedizin
Nephrologie
Endokrinologie
Laborchemie
Urologie
Cardiologie
Pulmologie
Herzchirurgie
Viszeralchirurgie
Plastische Chirurgie
Rheumatologie
Neurochirurgie
Thoraxchirurgie
Psychologie
Neurologie
Angiologie
Pathologie
Physiotherapie
Infektiologie
Geriatrie
Neonatologie
Diabetologie
Palliativmedizin
Schlaflabor
Fangirlgruppe
Zehn Minuten vor elf. Alles Kackbratzen, außer Hansi, Leonoras Kanarienvogel – das einzige männliche Wesen in ihrem Leben, welches eine Chance hatte, nicht in ihre Ungnade zu fallen. Warum das so war? Darüber sinnierte sie, als sie im menschenleeren Gang des Krankenhauses saß, in dem ihre Schwester vor einer Stunde eingeliefert worden war. Wenn man es im Leben nur mit Lügnern des anderen Geschlechts zu tun hatte, war es doch verständlich, dass Leonora so empfand. In den zwei Beziehungen, die sie mit ihren vierunddreißig Jahren verzeichnete, war sie stets als die Betrogene herausgegangen. Leonoras Vater hatte sie sitzen gelassen, als sie ein kleines Baby gewesen war. Der Mann ihrer Schwester, Florentina, bumste sich durch die Weltgeschichte, statt bei seiner Frau zu bleiben. Alle Männer waren Vollpfosten, Idioten und schwanzgesteuert. Das würde Leonora hier und jetzt unterschreiben. Die Welt war dem Verderben geweiht. Es beruhigte sie nicht minder, dass sich ihre Schwester aktuell in den Händen eines Arztes befand. Für Leonora war das ein Super-GAU, er vermochte zu scheitern, das war sicher. War zu hoffen, dass Florentina da unbeschadet herauskam. Bei Gott, sie liebte ihre Schwester, sie musste es schaffen. Schließlich war sie die einzige Person, die Leo hatte. Ihr war unbegreiflich, dass man sie in den OP geschoben hatte. Als ihr Nachbar sie aufgebracht angerufen hatte, sagte er, dass sie einen Kreislaufzusammenbruch erlitten hatte und bewusstlos vor ihrer Haustür lag. Aber mal ehrlich, wurde man deswegen operiert? In der Notaufnahme bekam sie keine genaue Auskunft, da sie sich momentan noch im OP befand. Der Doktor wollte sie aufsuchen, sobald man mehr wusste. Unterdessen saß sie da, geplagt von Kummer, und bangte darum, dass sie Florentina hoffentlich gleich in die Arme schließen konnte. Es setzte ihr fürchterlich zu, dass sie in dieser uferlosen Situation von einem Mann abhängig war. Eine Leonora van Tah brauchte keinen Kerl. Niemals! Dennoch waren ihr in diesem Moment die Hände gebunden.
Fünfzehn Minuten nach elf. Eine unfassbare Scheiße spielte sich hier ab. Gefühlte Stunden saß sie dämlich wartend im Flur herum, während sich ihr Zorn ins Unermessliche steigerte. Wenn ihr nicht gleich jemand eine Auskunft zukommen ließ, würde sie sich selbst Zutritt zu ihrer Schwester verschaffen. Dieses stumme Verharren war Gift für Leonoras aufbrausende und quirlige Seele. Lautstark schob sie ihren Stuhl nach hinten, stand auf und marschierte wie ein Soldat den Gang entlang. Beruhige dich, Florentina wird schon nichts geschehen, sprach sie sich zu. »Hey!«, schrie sie einer Pflegekraft unüberhörbar entgegen, die anstrebte, fluchtartig den Gang zu verlassen. Augenblicklich verharrte die Fluchtperson, als hätte man sie bei irgendetwas ertappt. »Stehen bleiben! Sofort!« Die Fachkraft sah sie wie das obligatorische Reh an, was dem herannahenden Scheinwerferlicht entgegenstarrte und sich in letzter Sekunde freiwillig vors Auto warf. Herrgott, waren denn heute alle zartbesaitet? »Warum, um alles in der Welt, bekomme ich keine verdammte Auskunft?«
»Ich habe leider keinerlei Informationen. Entschuldigen Sie«, woraufhin sie schnell in ein Zimmer flüchtete und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ. Dachten diese unfähigen Menschen, sie konnten Leonora an der Nase herumführen? Spätestens wenn Florentina wieder gesund war, würde sie bei der Krankenhausverwaltung Beschwerde einreichen. Ungeachtet dessen war sie nun alleine im Flur und zwang sich, tief durchzuatmen.
Zwanzig Minuten nach elf. Leonora musste sich beruhigen, sonst würde sie gleich vor Wut kollabieren. Schwunghaft setzte sie sich auf einen der billigen Plastikstühle und stützte ihren Kopf auf den Händen ab. Ihre Gedanken schweiften ab in ihre Kindheit. Zu jener Zeit, als Leonora glaubte, dass das Leben nur Schönes zu bieten hatte. Wie dumm sie doch war. Mit ihrer Mutter und Florentina wuchs sie in einem kleinen Haus, unweit eines wunderschönen Sees, am Kölner Stadtrand auf. Sie liebte es, wenn sie dort mit ihnen zusammen geschwommen war, was nicht oft vorkam, denn häufig waren ihrer Mutter derartige Unternehmungen zu anstrengend gewesen. Verständlich, wenn man bedachte, dass sie alleine mit den beiden Kindern klarkommen musste. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Leonora war sieben und ihre Schwester neun, als ihre Seifenblase zerplatzte und sie in einem riesengroßen Chaos zurückließ. Ihre Mutter starb an den Folgen ihrer Verletzungen, als sie nach einem Autounfall in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Der einzige Trost war, dass sie in dem Heim, in dem sie danach aufwuchsen, zusammenbleiben durften. In ihrem neuen Zuhause waren alle nett und zuvorkommend, was Leonoras Hass auf die gesamte Situation und das Leben an sich weiter vorantrieb. Wie konnten alle so scheinheilig sein, wenn zwei kleine Mädchen, die nicht mal das zehnte Lebensjahr erreicht hatten, durch die Hölle gegangen waren? Hätte der Arsch, der sich ihr Erzeuger nannte, seine Spermien das Klo runtergespült, wäre Leonora unfassbares Leid erspart geblieben.
»Sind Sie eine Angehörige von Florentina van Tah?« Weiße Schuhe schoben sich in ihr Blickfeld und rissen sie aus ihren zermürbenden Gedanken.
»Ja!« Sofort sprang sie auf. Lähmende Angst ergriff erneuten Besitz von ihr, während sie einem großen, breitschultrigen Mann gegenüberstand, der eine ernste Miene zutage trug. Das Unbehagen breitete sich aus wie ein Flächenbrand. »Ich bin die Schwester«, entgegnete sie knapp.
»Ich bin Doktor Böhme, der behandelnde Arzt von Frau Van Tah. Leider habe ich schlechte Nachrichten.« Kurz pausierte er, wandte seinen Blick allerdings nicht ab. »Ihre Schwester ist soeben verstorben. Ich drücke Ihnen mein Bedauern aus.« Scheinbar endlose Stille, die hingegen schrillend laut in ihrem Schädel widerhallte. »Gehen wir in mein Büro, dann erkläre ich Ihnen, wie es dazu kam.«
Nein.
In Leonoras Kopf herrschte Tumult. Sie versuchte zwanghaft, den Fehler zu finden, den dieser arrogante Typ in seine Aussage eingebaut hatte. »Sie wollen mich doch verarschen!« Eine Mischung aus Verwunderung und Überraschung legte sich auf seine Gesichtszüge, aber nur kurz, danach war es Leo unmöglich, weitere Emotionen zu erahnen, was sie noch mehr verärgerte. Das Gesagte bewirkte, dass sich ihr Magen zu einem schmerzhaften Kloß zusammenzog, der sich auf ihr Gemüt mit Wut äußerte. Selbstbewusst straffte sie ihre Schultern. »Ich will den Oberarzt sprechen. Ich lasse mir doch nicht von einem Würstchen wie Ihnen sagen, dass meine Schwester tot wäre!« Doktor Böhme zog seine Augenbrauen empor und trat einen Schritt näher.
»Der Oberarzt steht vor Ihnen«, sagte er mit tiefer Stimme, während er unerbittlich auf sie hinabblickte. Erstaunlicherweise schob er sie, eine Hand auf ihren Rücken gelegt, zu den Fahrstühlen, drückte einen Knopf, und blieb stumm seitlich von ihr stehen. Herrgott, unternimm was, lass dich nicht herumschubsen, Leonora!
»Dann will ich den verdammten Chefarzt sprechen! Nachdem ich das getan habe, möchte ich zu Florentina.«
»Bitte, beruhigen Sie sich«, sprach er auf sie ein, indes sie den Aufzug verließen und ein paar Türen weiter sein Büro betraten. »Nehmen Sie Platz«, wies er ihr den Stuhl vor einem protzigen Schreibtisch zu.
»Sind Sie schwer von Begriff? Den Chefarzt, und zwar sofort. Zack, zack, bewegen Sie Ihren Arsch!« Um das Ganze zu beschleunigen, klatschte sie zweimal laut in die Hände, aber der Möchtegernarzt lehnte sich nur in seinem Stuhl zurück und sah sie abwartend an, als hatte er alle Zeit der Welt gepachtet.
»Sind Sie fertig?«, fragte er ruhig. Viel zu ruhig.
»Scheiße«, quietschte Leonora, den Mut verlierend. »Sie meinen das tatsächlich ernst, oder?« Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Bitte, lass es ihn widerlegen. Florentina durfte nicht gestorben sein. Um Gottes willen, nicht ihre Schwester. Sie war die einzige Person, die Leonora wirklich kannte, alles was sie hatte, und war immer für sie da gewesen. Ein unnachgiebiger Griff um ihr Handgelenk führte sie endlich zu einem Stuhl, denn ihre Beine schienen gleich nachzugeben, was diesem Typ scheinbar nicht verborgen geblieben war. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass er unvermittelt neben ihr stand. Er drückte sie an ihren Schultern runter, sodass sie nicht anders konnte, als Platz zu nehmen. Erst als er wieder vor ihr saß, begann er zu sprechen: »Es tut mir leid, Frau?«
»Van Tah«, kam es nur leise, fast schon resignierend über ihre Lippen.
»Frau Van Tah, wussten Sie, dass Ihre Schwester schwanger war?« Wie bitte? Florentina war was? »Ihrem Blick nach zu urteilen, wussten Sie es nicht«, schlussfolgerte er. »Sie war erst im dritten Monat, aber es war eine Eileiterschwangerschaft.« Wieder ließ er ihr Zeit, damit sie realisieren konnte, was er erklärte. »Sie muss die Symptome rigoros ignoriert haben, denn das bleibt in den allerwenigsten Fällen bis zum dritten Monat unbemerkt. Es ist zu einer sogenannten Tubenruptur, das Platzen des Eileiters, gekommen. Durch den enormen Blutverlust mussten wir ihr Blutkonserven verabreichen, um sie aus der Lebensbedrohlichkeit zu bringen. Dabei traten schwere Komplikationen, in Form eines anaphylaktischen Schocks, auf. Da sie durch den hohen Blutverlust vorher kreislaufinstabil war, ist sie infolgedessen leider verstorben.«
Leonora hörte ihm zu, nahm jedes weitere niederschmetternde Detail über Florentinas Tod in sich auf. Es war offensichtlich die Wahrheit. Sie lebte nicht mehr. Einfach so. Mit offenstehendem Mund sah sie den Arzt sprechen, während ihre Gedanken ein Eigenleben entwickelten. Gott! Sie war erst sechsunddreißig Jahre alt, da stirbt es sich eigentlich nicht so schnell. Ihr Körper hätte dem Ganzen doch standhalten müssen. Sie war kerngesund.
»Frau Van Tah?« Der Arzt schnipste mit den Fingern vor ihren Augen.
»Warum haben Sie sie nicht gerettet?«, platzte es aus ihr heraus. »Es ist Ihre verdammte Pflicht, das zu tun. Sie haben meine Schwester operiert und hätten ihr helfen müssen! Stattdessen erzählen Sie mir irgendeinen Schwachsinn von einem Anal… irgendwas Schock!« Mechanisch griff Leonora nach dem Telefon, was rechter Hand vor ihr stand, und schmiss es mit aller Kraft in die Richtung des Arztes. Ihre Sicherungen brannten gerade durch. Genauso mussten sich Leute fühlen, die von einem Wahnsinn befallen waren.
»Frau van Tah!«, donnerte seine feste Stimme durch den Raum. Gerade so konnte er den Aufprall des Telefons abwehren. Ruhiger sprach er weiter: »Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind. Dennoch kann ich Ihnen mit Gewissheit sagen, dass wir im OP alles Menschenmögliche getan haben, um ihr Leben zu retten. Versuchen Sie, sich zu beruhigen. Diese körperliche Reaktion, die letztendlich zum Tode geführt hat, konnte man nicht voraussehen.« Shit! So wie er mit ihr sprach, hatte Leonora de facto ein bisschen Respekt vor ihm – was sonst nie bei jemandem der Fall war. Er klang unnachgiebig, vor allem, und das ängstigte sie am meisten, kompetent. »Setzen Sie sich vor die Tür, Sie werden gleich zu Ihrer Schwester gebracht, dann können Sie sich verabschieden«, fügte er abschließend hinzu. Sein Blick fixierte sie, hielt sie fest, und verbat es Leonoras Inneren, irgendwelche Widerworte zu geben. Das musste an der Überforderung liegen, denn normalerweise ließ sie sich von Männern nichts sagen. Immerhin hatte sie gerade Florentina verloren … O Gott! Nicht nur das, schwanger war sie auch noch. Ob sie es gewusst hatte? Bestimmt hätte sie ihr davon erzählt, oder etwa nicht? Leonora senkte ihren Blick, sie wollte ihn nicht mehr anschauen müssen. Wortlos gehorchte sie seiner Anweisung und verließ das Büro.
Wie betäubt saß sie im Flur, das Zeitgefühl völlig ausgeblendet, bis eine Schwester kam, die sie aufforderte, ihr zu folgen. Schweigend ging sie ihr nach, brachte eine Tür nach der anderen hinter sich und stoppte, bevor die Pflegerin ihr die Letzte aufhielt und sie mit traurigem Blick musterte. »Mein aufrichtiges Beileid.«
Unter Aufbringung all ihrer Kraft betrat sie den Raum. Die Umgebung nicht wahrnehmend, starrte Leo ausschließlich auf das Bett, in dem Florentina lag, als würde sie friedlich schlafen. Der Schein trügte so sehr, dass Leo für einen Moment dachte, der Arzt hatte sich geirrt. Ihre Haare hatte sie sich heute Morgen offenbar zu einem Zopf geflochten, den ihr jetzt jemand über die Schulter gelegt hatte. »Flo.« Ein Schluchzer bahnte sich tief aus ihrem Inneren hervor. »Warum lässt du mich alleine?«, fragte sie tränenerstickt. Ihre Hand, die sie vorsichtig berührte, fühlte sich kühl an. Leblos. Trotzdem wirkte sie auf eine perfide Art entspannt, als hätte man sie von einem Leid befreit. Hatte sie denn gelitten? Der Arzt hatte ihr zwar erklärt, warum sie gestorben war, aber das stellte Leonora keinesfalls zufrieden. Es war unmöglich, ohne ihre Schwester weiterzuleben. Gemeinsam wollte sie mit ihr alt werden und auch in Zukunft jeden zweiten Morgen bei ihr einen Kaffee trinken, wenn ihr Freund sich mal wieder mit anderen Weibern herumtrieb. Damit war jetzt Schluss? Flos lebloser Körper, dessen Anblick sich in ihr Gehirn gebrannt hatte und dort unwiederbringlich bleiben würde, war Antwort genug. Auf ewig. »Ich werde dich vermissen.« Mit dem Finger strich Leonora ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie hatten viel zusammen durchlebt. Ihr Dasein war geprägt von Niederschlägen, Enttäuschungen, Einsamkeit und doch gab es ebenso glückliche Momente. Für die Geschwister war es unerlässlich, einander zu haben. Keiner kannte die Geschichten der beiden wie sie selbst. Mit einem derartigen Werdegang war es schwer, anderen Menschen Vertrauen entgegenzubringen. Flo war da etwas offener, aber Leo zählte auf niemanden, ausgenommen auf ihre Schwester. Ihrer Seelenverwandten, ihrer besten Freundin, ihrer Mentorin. Sie beugte sich nach vorne, hielt sich an ihren Schultern fest, legte den Kopf an ihren. Leo versuchte, ihren unvergleichlichen Duft nach Vanille zu erkennen, den sie sich noch einmal einprägen wollte, bevor sie den Raum endgültig verlassen würde. Das Desinfektionsmittel, der typische Krankenhausduft war so dominant, dass es ihr unmöglich war, etwas davon wahrzunehmen. Die Last auf ihrem Herzen schien sie zu zerstören, als sie sich von ihr löste. Tröstlich drückte sie Flos Hand, wischte sich eine Träne weg. »Ich liebe dich, große Schwester«, murmelte sie und ließ sie zurück.
Jetzt war es so weit. Doktor Finn Böhme, den man als Experte der Viszeralchirurgie abstempelte, war eine Patientin auf dem Tisch verstorben. Die Dritte in seiner gesamten Medizinerlaufbahn. Selbst ein Großkotz wie er, vergaß das nicht. Seine Maske saß perfekt, während er die Gänge der Station entlanglief. Er spürte die bemitleidenswerten Blicke des Pflegepersonals genau, doch er würde darüber kein Wort verlieren. In ihm tobte ein Sturm der Emotionen, den er alleine mit sich ausmachte. Fuck! Sie war wirklich unter seinen Händen gestorben. Ihre Vitalzeichen waren plötzlich im Keller, sodass ihnen zu wenig Zeit zum Reagieren geblieben war.
»Bis morgen, Doktor Böhme«, rief ihm die Stationsschwester mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen hinterher.
Da er schon fast zur Tür raus war, betrachtete er es nicht für notwendig, ihr zu antworten. Sollten sie denken, was sie wollten, das taten sie ohnehin und Finn war es so was von scheißegal. Mit dem Funksender seines Autoschlüssels öffnete er die Tür des Sportwagens und ließ sich kurz darauf in den Sitz gleiten. Er hatte kaum die Ausfahrtsschranke der Mitarbeiterparkplätze hinter sich gelassen, als er die Musik bis zum Anschlag aufdrehte. Wie der Rest seines Tages verlaufen würde, wusste er genau. An der ersten großen Kreuzung, an der er an einer roten Ampel anhielt, nahm er sein Smartphone zur Hand und schrieb nur drei Worte: Mach dich fertig! Linda war sich im Klaren, dass sie keine Zeit vertrödeln durfte, das würde sich alles auf Finns Gemüt auswirken und bedeutete für sie im Umkehrschluss weniger Vergnügen. Zuvor blinkte er und befuhr die Autobahn, auf der er seinen Sportwagen auf Hochtouren brachte. Die Geschwindigkeit schaffte es, ihn den Umständen entsprechend runterzuholen. Immerzu musste er an seine Patientin denken, die so jung gewesen war, jetzt mit einem Zettel am Zeh in einem der Leichenfächer des Krankenhauses lag und auf die Abholung durch den Bestatter wartete. Fuck! Tief atmete er ein und wieder aus. Es belastete ihn mehr, als er sich jemals eingestehen würde. Wäre er fünf Minuten früher in den OP gekommen, dann hätten sie eher reagieren können. Weniger Blutverlust, eventuell keine Blutkonserven, kein anaphylaktischer Schock, vielleicht hätte sie es überlebt. Alles hätte und wäre, brachte überhaupt nichts, denn Fakt war, sie war tot!
Kurze Zeit später bog er in die Straße ein, in der Linda wohnte. Wie üblich wartete sie, in einen langen Mantel gehüllt, vorm Haus. Ihre schwarzen High Heels glänzten und trotzten dem desaströsen Tag. Ein kleiner Hoffnungsfunke breitete sich in Finn aus. Zumindest war sein Vergnügen für die nächsten Stunden gesichert. Artig blickte sie zu Boden, sodass es nach außen eher verträumt wirkte. Keiner außer ihm wusste, dass sie unter dem Mantel, der ihr bis zu den Knien reichte, nackt war. In seiner Lendengegend breitete sich ein sanftes Kribbeln aus. Erst als Finn vor ihr stehen blieb, zeigte sie Regung, öffnete die Tür und nahm neben ihm Platz, ohne ihn zu begrüßen. Ganz so, wie er es verlangte, denn sie saß mit Sicherheit nicht in seinem Auto, um ein Schwätzchen mit ihm zu halten.
Zuhause angekommen, parkte er das Auto in der Tiefgarage und lief voraus. Zunächst brauchte er eine Dusche. Linda wusste, was zu tun war, immerhin war sie nicht zum ersten Mal in seiner Wohnung. Um genau zu sein, trafen sie sich schon seit fünf Jahren zum Ficken. Kein Beziehungsscheiß, keine Gefühlsduseleien. Sie hatten eine Art Vereinbarung getroffen: Finn tobte sich sexuell an ihr aus, besorgte es ihr nicht nur, sondern dominierte und erniedrigte sie, während er ihr Lustschmerz bereitete, sie gelegentlich belohnte. Linda kam dabei stets auf ihre Kosten, stellte dieses grenzwertige Spiel über alles. Sie lebte Finns Abmachung aus, war jederzeit da, wenn er sie orderte und stand, insofern es ihr möglich war, ein paar Minuten später wartend vor ihrem Haus. Für den Fall, dass sie beruflich verhindert oder nicht zu Hause war, schickte sie ihm eine Abwesenheitsnotiz. Ihr war dennoch bewusst, solch eine Rechtfertigung nicht zu häufig anzuwenden, da es sich beachtlich auf Finns Laune, somit auch auf ihre Belohnungen, auswirkte.
Die Sache mit der festen, emotionalen Beziehung hatte er in seiner Studienzeit hinter sich gelassen, als seine damalige Freundin ihn monatelang mit Vincent Dahlmann, seinerzeit Erzfeind Nummer eins, betrogen hatte. Heute waren Vince und Finn unglaublicherweise beste Freunde, was sich durch einen, eher unglücklichen, Zufall ergeben hatte. Außerdem wusste er, dass er Vince wahrscheinlich dankbar sein sollte, denn er hatte sie damals dazu gezwungen, ihm reinen Wein einzuschenken, sonst würde sie ihn wohl immer noch betrügen. Alleine deswegen – und weil er das Risiko einer Verarschung keinesfalls eingehen wollte –, gab es keinerlei Bindungen in Finn Böhmes Leben.
Frisch geduscht, betrat er die Küche, öffnete sich ein Bier, nahm einen großzügigen Schluck und ging ins Schlafzimmer. Auf frische Klamotten hatte er gleich verzichtet, die hätte er eh nicht lange anbehalten. Linda saß, artig wie eh und je, auf der Kante seines Bettes und schwieg. Sie war eine Augenweide. Schlanke Figur, rosige Nippel, langes rotes Haar, immerzu gepflegt und kein einziges Schamhaar an ihrer äußerst appetitlichen Muschi. Die Kleine war ganz verrückt auf ihre gemeinsamen Treffen, dessen war er sich sicher. Sie war durch und durch devot, Finn das passende Gegenstück. Sie ergänzten sich ausgezeichnet, doch heute war er nicht richtig bei der Sache. Erschöpft setzte er sich neben sie, stützte seinen Kopf auf den Händen ab und starrte einfach nur unter sich. Frau van Tah, die Schwester der Verstorbenen, die ihn so unmöglich angegangen war, tat ihm irgendwie leid. Diese Furie wirkte auf ihn, als wäre sie mit dem Leben maßlos überfordert. Ob sie mit dem schweren Verlust klarkam? Eigentlich sollte es ihm egal sein, nachdem, was er sich von ihr anhören musste. Sie hatte es nur seiner knallharten Selbstbeherrschung zu verdanken, dass er sie nicht hochkant aus dem Krankenhaus geworfen hatte. Keiner redete so mit Finn Böhme – niemals!
»Finn?«
Finn? Normalerweise sprach Linda ihn nicht mit Namen an. Verwundert sah er zur Seite, begegnete ihrem nachdenklichen Blick. »Was ist los?« Besorgt legte sie die Hand auf seine Schulter. »Du starrst schon eine Viertelstunde zu Boden und schüttelst dabei den Kopf. Entschuldige, ich wollte nicht respektlos sein, aber du wirkst abwesend, ich mache mir Sorgen.« Schweigend betrachtete er Linda. »Wenn dir heute nicht danach ist, lass es uns verschieben.« Ein Nicken reichte ihr, um aufzustehen und sich den Mantel überzuziehen.
»Tut mir leid, dass du umsonst herkommen musstest. Ich mache es wieder gut«, bekräftigte er leise.
»Ich weiß«, antwortete sie nur, beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen, und verließ sein Schlafzimmer. Wenn er sie jetzt ziehen lassen würde, wäre er mit seinem Chaos im Kopf alleine, weswegen er sich im letzten Moment anders entschied.
»Stopp«, rief er, stellte sich hin und beobachtete, wie Linda abrupt innehielt. Ihren Rücken streckte sie gerade durch, drehte sich bedächtig um.
»Bist du sicher?«, fragte sie mit bebender Stimme, was ihm einmal mehr vor Augen führte, welche Macht er über sie hatte. Finn antwortete nicht, lediglich mit einem Blick gab er ihr zu verstehen, dass sie den Mantel abstreifen sollte. Langsam öffnete sie ihn, ließ ihn über ihre Schultern gleiten und wartete auf weitere Befehle.
»Komm her! Auf den Knien.« Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, während sie seiner Anweisung Folge leistete. Vor ihm angekommen, verharrte sie. Wie eine Katze, der man einen Platz zuwies, klopfte Finn auf sein Bett und beobachtete, wie sie aufreizend, auf allen vieren, neben ihn kroch. Ein Klaps auf ihren prachtvollen Arsch und sie korrigierte ihre Position so, wie Finn sie gerne hatte: Beine leicht gespreizt, gerader Rücken, den Kopf gesenkt. Ein Fest für seine Sinne. Ihre blasse Haut, das leichte Zittern ihrer Arme, ihre feucht glänzende Fotze, die ihn geradezu anbettelte.
Aus der Schublade seiner Kommode nahm er eine Tube Gleitgel und legte diese neben sie aufs Bett. Dass Linda nicht sah, was er tat, sie nervös zappelte, machte ihn nur geiler. Gezielt versetzte er ihr einen festen Schlag auf ihre Muschi, wodurch sie aufschrie. »Stillhalten«, maßregelte er sie. Finn ging zur anderen Seite des Bettes, hob ihr Kinn an und zeigte ihr provokant seine Hand, auf der feuchte Spuren, durch den Schlag verursacht, hafteten. »Schämst du dich nicht?«, fragte er und hielt seine Hand direkt vor ihren Mund. Die Röte schoss ihr in die Wangen, während sie stumm nickte. »Saubermachen«, befahl er und spürte sogleich ihre Zunge über seine Handfläche lecken. Der Anblick assoziierte ihm ein ganz anderes Bild, nämlich wie sich ihre weichen Lippen um seinen harten Schwanz legten. Dem ungeachtet, widmete er sich vorweg ihrem Hinterteil, seinen Schwanz konnte sie später lutschen. Das tat sie stets mit Vorliebe, musste es sich allerdings erst verdienen, das stand fest.
Finn trat hinter sie, zog ihre Backen mit beiden Händen auseinander und betrachtete die kleine Öffnung, die leicht zuckte, als er seinen Atem dagegen blies. Er schraubte die Tube auf, tröpfelte eine ordentliche Portion der schmierigen Flüssigkeit auf ihren After und verteilte sie mit dem Finger. Immer wieder drückte er sich sanft gegen ihren Schließmuskel, sodass sie sich entspannen konnte. Flott zog er sich ein Kondom über, denn sein Schwanz schien augenblicklich zu platzen, wenn er nicht gleich abspritzen durfte. Hingegen ihrer Erwartungen stieß er sich zuerst, ziemlich grob und ohne Vorwarnung, in ihre Pussy. Laut schrie sie auf, verlor den Halt und kippte nach vorne. Gegenwärtig versetzte er ihrem heißen Hinterteil einen Schlag, sodass er seinen Handabdruck auf dem hellen Fleisch begutachten konnte. Das war verdammt scharf. »Hoch mit dir«, forderte er unnachgiebig und zog sie an den Haaren, um das Ganze zu beschleunigen. Das Zucken um seinen Schwanz zeigte ihm, dass dieses Luder absolut genoss, was er tat. Als sie ihre Haltung wieder eingenommen hatte, streichelte er über ihre Taille, umfasste ihr Becken und schob sich einige Male gemütlich in sie. Als er spürte, dass sich ihr Atem beschleunigte, sich ihre Muskulatur um ihn zusammen zog, entfernte er sich. Ein enttäuschtes Keuchen war ihre Antwort darauf, was er jedoch ignorierte. Mit der flachen Hand drückte er jetzt ihren Rücken auf die Matratze, positionierte ihren Hintern genau so, dass er vor ihm in die Luft ragte und drückte seinen Schwanz an ihren Hintereingang. Eisern, dennoch lethargisch schob er sich in sie, stöhnte seine Lust hinaus und betrachtete die Stelle, an der sich ihre Körper verbanden. »Fuck«, keuchte er und schob sich weiter in sie. Er sah, wie sie sich bemühte, ihre Muskulatur zu entspannen. Ihr Gesicht, das zur Seite gewandt auf seinem Bett lag, war lustvoll verzogen. »Reib deinen Kitzler«, forderte Finn sie auf und intensivierte seine Bewegungen. Sie war so verdammt eng, er konnte sich nur schwerlich zurückhalten. Kaum hatte er diesen Gedanken beendet, brach ein Vulkan in ihm aus, der sich schubartig in ihrem Arsch entlud. Laut stöhnte er auf und war nicht verwundert, als Linda es ihm gleichtat.
So funktionierte das seit Jahren. Es waren sexuelle Treffen, die beide zelebrierten, nicht mehr und nicht weniger. Mit einem Griff entfernte er das vollgespritzte Kondom und legte sich aufs Bett. »Du darfst«, sagte er bloß und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Jetzt folgte der entspannte Teil. Irgendwann hatte es sich zu einem Ritual entwickelt, dass Linda sich nach jedem Fick zwischen seine Beine kniete und seinen Schwanz mit ihrem Mund säuberte. Zuerst leckte sie die Überreste seines Spermas ab, die sich um seine Eichel verteilt hatten, dann nahm sie ihn tief in den Mund, sodass Finn beinahe sofort erneut hart wurde. Ihr Anblick war göttlich. Die roten Haare fielen ihr seitlich über die Schulter, ihre Beine waren ein bisschen gespreizt, weil er es ganz einfach von ihr verlangte – freier Zugang und Selbstbedienung, wann auch immer ihm danach war. »Saug!« Das tat sie, während ihre Hände seine Eier fest umgriffen und mit ihnen spielten. Kurz bevor er abermals kam, griff er in ihr Haar, presste sie auf seinen Schwanz, sodass er das Würgen auf seiner Länge spürte. Genussvoll schloss er die Augen. Linda konnte blasen wie eine Königin. Ihre weichen Lippen, ihre Zunge, sie speichelte stets alles ordentlich ein. Ebendies war der Zeitpunkt, der ihn letztendlich zum Abspritzen brachte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis beide zur Besinnung fanden und Linda sich endlich ihre Klamotten schnappte. Er war ein verdammtes Arschloch, ja, aber er hasste es, wenn Frauen meinten, sich nach dem Sex an ihn zu kuscheln. Linda wusste das, weshalb sie keine Anstalten machte, sich freiwillig anzog und sich fortwährend mit einem Kuss auf seine Wange verabschiedete.
Sexuell gesättigt und müde schmiss er sich gleich nach einer erneuten Dusche in sein Bett und schloss die Augen. Der Versuch, endlich einzuschlafen, scheiterte jedoch, denn alles was er sah, waren blitzartig aufkommende Bilder des vollgebluteten Bauchraumes von Frau van Tah und dieser Furie, die ihn zur Schnecke gemacht hatte, weil ihre Schwester unter seinen Händen gestorben war. Fuck! Warum machte es ihn diesmal so fertig? Vielleicht weil es eine junge Frau war? Oder weil er nicht wusste, ob er sie mit einem schnelleren Erscheinen im OP hätte retten können? Fragen kreisten in seinem Kopf umher, die er zwanghaft versuchte, zu sortieren. Es war noch zu aktuell, um die Gedanken beiseitezuschieben. Hatte sie viele Freunde? War sie in ein großes Umfeld integriert? Welchen Beruf hatte sie ausgeübt? Er hatte sich mal mit Marc, seinem Freund, darüber unterhalten, der ihm versicherte, Außenstehende dachten niemals darüber nach, was in einem Arzt vorging, dem ein Patient auf dem OP-Tisch wegstarb. Er erklärte ihm daraufhin, was er jedem Assistenzarzt sagen würde: Es gab Ärzte, die ihren Kittel daraufhin an den Nagel hängten und sich beruflich umorientierten. Es war immer ein Schock, der allerdings zweitrangig sein musste. Maßgeblich galt es, die Kontrolle über die Situation zu bewahren, weiterhin zu reagieren und alles Mögliche zu versuchen. Erst, wenn der Tod unwiderruflich war, durfte den Schwestern grünes Licht zum Aufräumen des OPs oder des Schockraums gegeben werden. Seine Aufgabe war es, vor die Angehörigen zu treten, um ihnen selbstbewusst zu erklären, dass der Todesfall eingetreten war, auch wenn man sich gerne in das eigene Schneckenhaus zurückziehen würde – das kam erschwerend hinzu. Dabei ging es nicht um die Schuldfrage, denn gewissermaßen konnte man nicht jedem Menschen das Leben retten. Ja, es war eine Art Betroffensein, die ihn ergriff. Jedes Mal. Dennoch war es Finns verdammter Job und er musste sich vor Augen halten, wie viele Menschen er bereits durch seine medizinische Versorgung retten konnte. Das waren weitaus mehr und stand in keinem Verhältnis zueinander.
»Guten Tag, Frau van Tah.« Skeptisch betrachtete sie den zu klein geratenen, rundlichen Mann, der ihr geschäftig die Hand entgegenhielt.
»Tag«, antwortete sie einsilbig.
»Mein herzliches Beileid. Sie war so jung, dass es einem gleich viel schwerer fällt.«
»Sind wir hier, um Smalltalk zu halten, oder wollen Sie Ihre Arbeit ordentlich verrichten?« Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte sie den Mann in Grund und Boden. Es war sonnenklar, dass nichts nach Plan lief. Wobei dieser ja ursprünglich ganz anders aussah, denn eigentlich war heute ein Tag, an dem sich Flo und Leo immer zum Kaffeetrinken trafen. Andreas, der Freund ihrer Schwester, war noch nicht aufgetaucht. Erreichen konnte sie ihn auch nicht, weil sein Handy aus war. Dieser Pisser hatte eine so gütige Frau wie Flo gar nicht verdient, um das mal deutlich klarzustellen. Sollte er sich doch an seine Schlampen halten, die er nächtlich wechselte wie andere ihre Unterhose. Leonora war froh, dass sie dem männlichen Geschlecht schon vor fünf Jahren den Krieg erklärt hatte. Man konnte nur verlieren, wenn man sich mit der Gegenseite einließ.
»Ja«, stotterte der Bestatter. »Welche Art der …«
»Schlichte Urne, in Schwarz gehalten, am besten einen Platz unter einem Baum. Der Friedhof sollte in Köln sein, wo ist mir völlig Jacke!« Sie würde dort eh nicht oft sein, denn ihr gab dieser Ort nicht das, was es anderen Trauernden zu geben schien – so war es bereits bei ihrer Mutter. Dass das Grab ausgehoben wurde, hatte sie nur mitbekommen, weil Flo sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, was allerdings nicht hieß, dass sie nie an sie dachte. Flo war in Leonoras Herzen verankert und das konnte ihr kein behämmertes Grab der Welt geben. Dort war lediglich Asche drin, sozusagen nichts, was man nicht mit einem Windhauch beseitigen könnte. Es schmerzte so unfassbar derb, dass Leonora dachte, zugrunde gehen zu müssen. Ständig sah sie auf ihr Handy, in der Annahme, eine ihrer gefühlt tausend Nachrichten, die sie am Tag von Flo erreichte, könnte eingehen. Zeitweise hatte sie es genervt, doch was würde sie jetzt dafür tun, noch mal eine dieser Mitteilungen zu erhalten. Ihre dämlichen Küsschen, die sie überall ran hängte, obwohl Leo es verabscheute. Diese Herzchenkacke war einfach zu kitschig. »Wäre dann alles geklärt?«, fragte sie mit drohendem Blick.
»Jawohl, Frau van Tah«, antwortete er rasch, fast militärisch. Dass er nicht salutierte, wunderte sie.
»Alles Weitere per Mail«, sagte sie, drehte sich um und verließ das Café. In Windeseile machte sie sich auf den Heimweg, denn wenn sie schon ihre Fassung verlor, und sie spürte, dass sie es nicht mehr lange zurückhalten konnte, wollte sie ungestört sein. Leonora behielt in den meisten Fällen die Nerven. Selbst jetzt, einen Tag nach Florentinas Tod, konnte sie ihre Trauer astrein durch Wut kompensieren. Noch keine einzige Träne hatte sie verloren, während sie sich durch die Nacht kämpfte, ihre Wohnung bis zur Besinnungslosigkeit putzte und sich auf das Treffen mit dem Bestatter vorbereitete. Oh ja, ihr Gemütszustand war desaströs, bedenklicher als im Normalfall. Das würde sich auch auf unabsehbare Zeit nicht ändern.
Es dauerte höchstens zehn Minuten, bis sie endlich die Tür ihrer Wohnung hinter sich ließ und, mit dem Rücken dagegen gelehnt, zu Boden sank. Ein tiefer Schluchzer bahnte sich seinen unaufhaltsamen Weg, der sich schmerzlich ihre Kehle emporarbeitete. Die erste Träne nässte ihre Wange, mündete in ihrem dicken Schal, der ihr Kinn ebenfalls bedeckte. »Flo«, flüsterte sie. »Warum hast du mir das angetan?« Wahrscheinlich war es eine Art Suche nach einem Ventil, als sie plötzlich mit Schwung in den Stand kam. »Warum?«, schrie sie unmittelbar aus Leibeskräften. Das Erste, was ihr zwischen die Finger rutschte, nachdem sie blindlings ins Wohnzimmer gestürmt kam, war die scheißteure Stehlampe, die neben ihrem Sofa stand, was ihr für den Moment absolut egal war. Entschieden griff sie mit beiden Händen danach und warf sie mit Wucht, begleitet von einem lauten Schrei, auf den Glastisch, der mitten im Raum stand. Ihre Trauer schien sich nun den nötigen Weg zu bahnen, hatte einen Notausgang gefunden. Ein weiteres Mal fasste sie mit beiden Händen zu und stieß eine Glasvitrine um, sodass die Türen in tausend Splitter zerbarsten. Unkontrolliert schnappte Leonora sich alles, was sie in die Hände bekam und warf es zu Boden. Eine ganze Weile zertrümmerte sie ihre Einrichtung gedankenlos. Mühsam löste sich der neblige Schleier, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, und sie vor der leidvollen Realität wahrte. Zurück blieb ein Haufen zerstörter Möbel, in ihrem kleinen gemütlichen Zuhause, welches sie eigentlich mochte. Jetzt, wo Flo nicht mehr da war, hatte das alles keinen Sinn mehr. Wie siedendheißes Wasser fühlten sich die Tränen auf ihren Wangen an, hinterließen brennende Spuren, die sich bis zu ihrem Herzen hinab ausbreiteten. So echt und vernichtend, wie die Wirklichkeit eben war. Was würde jetzt passieren? Leonora war nun ganz alleine auf dieser grausamen Welt. Es war nicht so, dass sie von Natur aus ein glücklicher Mensch war. Zwar mochte sie die Einsamkeit, hatte aber immer ihre Schwester im Hinterkopf, die für sie da war, wenn Leonora sie brauchte. Ein schrilles Klingeln ließ sie zusammenzucken und einen tiefen Schluchzer ausstoßen. Ihr Handy.
Flo?
Eilig suchte sie ihre Tasche, die irgendwo hier liegen musste. Jetzt würde sich alles aufklären. Das war sicherlich Flo, die sie fragte, wo sie bleiben würde, denn der Kaffee war immerhin fertig. Hektisch schüttete sie den kompletten Inhalt ihrer gefundenen Tasche zu Boden. In einem Bruchteil von Sekunden merkte sie, dass ihr Gehirn ihr einen üblen Streich spielte. Spätestens jedoch, als sie den Namen ihres Vorgesetzten auf dem Display sah und das Gespräch entmutigt annahm. »Van Tah«, sagte sie gehetzt, versuchte, ihre Atmung zu regulieren, die von dem gedanklichen Irrtum regelrecht Purzelbäume schlug.
»Sie sind entlassen! Ihre unkollegiale Art sowie Ihr erneutes Zuspätkommen reichen aus, damit ich Ihnen endlich Ihre Kündigung aussprechen darf. Diesen Moment habe ich herbeigesehnt, Frau van Tah. Ich wünsche Ihnen alles Gu… Ach, lassen wir das. Hoffentlich verrotten Sie unter der Brücke! Tschüss!«
Langsam senkte sie den Arm. Ihre Mundschleimhaut war so trocken, dass sie nicht mal schlucken konnte. Das Telefon rutschte aus ihrer Hand und fiel zu Boden. Dieses Aas! Und wieder ein Mann! Ja, sie war nicht immer höflich zu ihm, aber sie hatte sich stets Mühe gegeben. Zählte das denn nicht? Außerdem kam sie erst ganze zwei verdammte Male zu spät zur Arbeit. Das war gestern, als Leo im Krankenhaus saß und vergessen hatte, sich abzumelden, und heute, weil sie gerade einen verfluchten Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Der eigentliche Plan war es, sich mit dem Bestatter zu treffen und dann zur Arbeit zu gehen. Ihr Blick fiel auf das Chaos. »Mist«, murmelte sie, als ihr das Ausmaß dessen, was sich ihr hier bot, realisierte. Leo war nicht mehr im Besitz ihrer geistigen Kräfte und … konnte kein Wohnzimmer mehr ihr Eigen nennen. Gut, mit viel Glück schaffte man es, die Scherben von der Couch zu entfernen, um sie irgendwann erneut zu nutzen – zumindest wenn die Flecken des Likörs, den sie vorhin darauf geworfen hatte, wieder getrocknet waren. Alles andere war hinüber. Flo war tot, Leonora hatte keinen Job und kein Wohnzimmer mehr, sie verlor die Kontrolle über ihr Leben. Das musste ein böser Traum sein, anders konnte sie sich das nicht erklären. Innerlich fragte sie sich, ob sie wirklich ein schlechter Mensch war, dass das Karma sich mit so einer unfassbar miesen Tour revanchierte.
Gedemütigt, traurig und kraftlos begab sie sich in ihr Bett, wo sie die kommenden Tage verbrachte. Sie versuchte erst gar nicht, dass Chaos zu beseitigen, verschloss die Tür und betrat das zertrümmerte Zimmer einfach nicht mehr – was sie nicht sah, würde sie auch nicht ärgern. An einem der Tage tätigte sie einen Anruf in eine Zeitarbeitsfirma. Ab Freitag konnte sie einen Job in einer Putzfirma antreten. Dass sie dafür vollkommen überqualifiziert war, interessierte sie nicht im Geringsten. Immerhin war sie als Gymnasiallehrerin für das Call Center ebenfalls mächtig aus dem Rahmen gefallen. Leo war in erster Linie Realistin, weshalb ihr ganz deutlich bewusst war, dass sie in zweiter Linie nicht menschenkompatibel war. Sie passte sich den Gegebenheiten an und arbeitete in Berufen, die ihr schlichtweg zuflogen. Leo wollte nur ihre Ruhe und keine Bewerbungsszenarien durchlaufen müssen, weshalb sie den Job als Putze spontan annahm.