Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Leg dich auf den Küchentisch. Hände hinter den Kopf, Beine aufstellen und spreizen – so weit wie möglich." Björn Wissmann, Zahnarzt mit Leib und Seele, liebt nicht nur seinen Job, auch Frauen stehen auf seiner Prioritätenliste ganz oben. Sein Leben ist nahezu perfekt – bis zu diesem einen Tag, der ihn völlig aus der Bahn wirft. Begleitet von Schuldgefühlen, gefangen in einem Strudel tiefster Trauer, kämpft er sich durch den Alltag. Als er Jule Winter, seine Auszubildende, bei einem Absacker mit den Jungs in seiner Stammkneipe begegnet, bewahrt er sie vor dem womöglich größten Fehler ihres Lebens. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, welche Auswirkung sein selbstloses Eingreifen auf seine Zukunft haben wird. ZehnUhrTermin enthält erotische Szenen, die der Umgangssprache angepasst sind – obszöne Worte sind garantiert zu finden. ***************************************************** Band 1: NeunUhrTermin – Vince Band 2: ZehnUhrTermin – Björn Band 3: ElfUhrTermin – Finn Band 4: ZwölfUhrTermin – Marc Alle Bücher sind unabhängig voneinander lesbar und in sich abgeschlossen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 259
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ZehnUhrTermin
Roman
Nora Adams
Erstausgabe im Dezember 2017
Copyright © 2017
Alle Rechte beim Booklounge Verlag
Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick
Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg
www.booklounge-verlag.de
978-3947115-05-1
Spiegel
Sonde
Pinzette
Matrize
Handscaler
Kürette
Scharfer Löffel
Heidemann-Spatel
Kugelstopfer
Excavator
Speichelsauger
Nadelhalter
Raspatorium
Zahnfleischschere
Klemmpinzette
Parodontometer
Kofferdam Bügel
Dappenglas
Skalpell
Aspirationsspritze
Tamponstopfer
Plombenheber
Teleskopzange
Wurzelheber
Hohlmeißelzange
Bonuskapitel
Fangirlgruppe
Björn starrte in das dunkle Loch im Boden, und doch blickte er ins Leere. Warum hatte es nicht ihn erwischt? Wieso war es seine Schwester gewesen, die ihr Leben lassen musste? All das nur, weil ein übernächtigter LKW-Fahrer ihnen die Vorfahrt gestohlen hatte. Angesichts der Ausweglosigkeit, die ihn seit Tagen gefangen hielt, strich er mit den Fingern durch sein verstrubbeltes Haar. Seine Schwester hinterließ einen liebenden Ehemann sowie eine sechsjährige Tochter, die sich Nacht für Nacht in den Schlaf weinte, seitdem ihre Mama gestorben war. Die Kleine tat ihm leid. Verdammte Scheiße! Wenn sie ein paar Sekunden später losgefahren wären, dann hätte dieser Drecksunfall nie stattgefunden. Wie vereinbart, wären sie pünktlich um zehn Uhr bei Tante Milli angekommen, um ihren Geburtstag zu feiern. Sie hätten Häppchen zu sich genommen und ein paar Champagner geschlürft – der jährliche Pflichtbesuch eben. Auf der Heimfahrt hätten sie über ihre ganze Verwandtschaft hergezogen, wie es immer der Fall gewesen war. Tränen hatten sie ständig vergossen, beim Lachen bezüglich ihrer durchgeknallten Tante. Sie hatte regelmäßig fürstlich – wie die Queen höchstpersönlich – von ihren wöchentlichen Teatime-Partys berichtet, die fast schon legendär waren, und das mitten in Köln. Stattdessen stand er nun am offenen Grab. An dem Grab, in das der Pfarrer gleich die Urne mit Lenas Asche herablassen sollte. Ziellos starrte Björn in die Gesichter, die sich rundherum verteilt hatten. Immer wieder hoffte er, bald aus diesem perfiden Traum aufzuwachen. Das durfte alles nicht wahr sein.
Sechs Tage waren seit dem Unfall vergangen. Sechs Tage, an denen Björn nicht mehr richtig gegessen hatte, er schlief kaum noch, konnte außerdem niemandem direkt in die Augen blicken. Zwar trug der LKW-Fahrer die Schuld an Lenas Tod, doch waren wir mal ehrlich: Björn hatte am Lenkrad des verschissenen Autos gesessen. Irgendwie wäre der Unfall bestimmt zu vermeiden gewesen. Hätte er bloß das Lenkrad schneller herumgerissen oder besser von vornherein eine andere Route gewählt. Doch alles hätte und wenn brachte ihn nicht weiter. Fakt war, von Lena existierte nur noch ein kleiner Haufen Asche, der trostlos in dieser Urne steckte, die gerade zu Grabe gelassen wurde.
»Mama«, vernahm er Jasmins Schluchzer. Die Kleine stand neben ihrem Papa und Björns Eltern. Ihre Wangen waren vom Weinen mit roten Flecken übersät und ihre Augen fürchterlich geschwollen. Björns Herz zerriss im Sekundentakt ein Stückchen weiter. Verfluchte Scheiße! Warum musste das nur geschehen?
Tief atmete er die lauwarme Luft ein, um seine Tränen zu unterdrücken. Seine Gefühle waren im Augenblick zweitrangig. Er musste jetzt funktionieren. Wichtig war ausschließlich, für seine Nichte da zu sein, seine Eltern zu stützen, die ja auch ihr Kind verloren hatten, und Lukas beizustehen, der seit sechs Tagen verwitwet war. Bei der Vorstellung an seine Zukunft überkam ihn die blanke Panik. Meine Fresse! Jasmin durfte niemals mehr mit ihrer Mama zusammen in die Schule gehen. Lena durfte der Kleinen nicht mehr zum Geburtstag gratulieren. Sie durfte zu keiner Zeit mehr ihren Smartiekuchen backen, den Jasmin vergötterte.
Damit war Schluss.
Einfach Schluss.
Einfach so.
Endlich war das Begräbnis vorbei. Der Pastor hatte den Friedhof verlassen, um den trauernden Gästen den Weg freizumachen. Nacheinander traten alle Leute näher, bekundeten ihr Beileid, indem sie seinen Eltern, Lukas und Jasmin die Hand schüttelten. Sogar Björns Freunde waren erschienen, die jedoch von Beileidsbekundungen am Grab absahen. Der Letzte in der Reihe drängelte sich vorbei, warf eine Rose auf die Urne und verabschiedete sich. Seine Eltern traten gemeinsam mit Jasmin und Lukas zu dem mit Blumen umrandeten Loch in der Erde. Ein Anblick, der sich direkt und deutlich fühlbar in seine Iris brannte. Schmerzen der Trauer ließen ihn erzittern, als er Jasmin beobachtete, die um ihre Mama weinte. Sie klammerte an Lukas’ Bein, der ebenfalls um seine Fassung kämpfte. Dieser große, stolze Mann war bloß noch ein Schatten seiner selbst. Man merkte ihm an, dass er einzig für seine Tochter stark blieb und alles daran setzte, ihr Rückhalt zu bieten.
»Björn, kommst du?« Sein Vater legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihn auffordernd an.
Erst jetzt begriff er, dass sie bereits auf dem Weg waren, den Friedhof zu verlassen. »Ich bleibe noch kurz«, antwortete er mit bebender Stimme.
Vorsichtig musterte Hans Wissmann seinen Sohn. »Du darfst dir nicht die Schuld geben. Es war ein Unfall.« Es folgte ein stummer Blickkontakt, den es nur zwischen Vater und Sohn gab. Dann drehte er sich um, ließ Björn alleine zurück.
Es war ein Unfall!
Das hatte er sich mittlerweile tausendmal anhören müssen. Verstand denn keiner, dass ihn dieser ausgeleierte Satz nicht im Geringsten besänftigte? Im Gegenteil. Diese Aussage schürte seine Wut. Hätte er doch eher umgelenkt. Fuck! Jetzt, wo alle gegangen waren, hielt er seine Tränen nicht mehr zurück. Lena war tot! Er liebte seine Schwester, sie konnte doch nicht weg sein. Nachdem er einen Schritt näher getreten war, ging er in die Hocke. In seiner Brust bebte es, als die unterdrückte Trauer sich ihren Weg bahnte. Es schmerzte so gewaltig. Er hatte noch genau vor Augen, wie sie mit ihrem ockergelben Sommerkleid in das Auto gestiegen war. Ihr langes schwarzes Haar war glatt über ihre schmalen Schultern gefallen. »Hi, großer Bruder«, hatte Lena ihn begrüßt. Ihre Stimme klang in seinen Ohren nach. Mit der Hand wischte er sich die verräterischen Tränen von der Wange. Langsam beugte er sich nach vorne, legte seine Rose ab. »Du warst die beste Schwester, die man sich wünschen kann.« Kurz hielt er inne, betrachtete das glänzende Schwarz der Urne. »Ciao, Lena.« Seine Stimme brach und es fühlte sich an, als brachen tausend Dämme. Einige Minuten verweilte er in dieser Position, bis er wieder einigermaßen normal atmete. Mit wackeligen Beinen drückte er sich in den Stand. Immer noch hafteten seine Augen auf Lenas Grab. Schließlich entschloss er sich dazu, umzudrehen, um den langen steinigen Weg bis zum großen Tor des Friedhofs entlangzugehen. Noch einmal blickte er hinter sich, dann trat er hinaus. Während er sich die Sonnenbrille aufsetzte, überquerte er die Straße, geradewegs auf den etwas abgelegenen Parkplatz zu, wo er zwei Stunden zuvor sein Fahrzeug geparkt hatte. Mit einer Hand öffnete er sein Jackett, welches er für die Fahrt auszog. Tief inhalierte er frische Luft in seine Lungen, hielt sein Gesicht gen Sonne und versuchte immer noch, das Unmögliche zu realisieren. Erst kurz bevor er sein Ziel erreichte, blickte er auf … und erstarrte.
Da war sie – seine Zweitfamilie, die ihm immer Halt geboten hatte. Verdiente er das überhaupt? Rein rechtlich gesehen, war dieser beschissene Unfall nicht seine Schuld gewesen. Sein Inneres sagte ihm allerdings etwas anderes, und genau das war auch sein größtes Problem. Björn war ein intelligenter Mann und wusste, dass er sich mit diesen Selbstvorwürfen das Leben erschwerte.
Links wartete Marc. Seine Hand steckte lässig in seiner Anzughose. Neben ihm stand Vince, der seine Freundin Vani an der Hand hielt, dessen Augen ebenfalls von einer Sonnenbrille verdeckt waren. Tom lehnte an seinem Auto. Genauso wie Finn, der erst seit Kurzem zu seinem engeren Freundeskreis zählte. Fuck! Björn kämpfte um seine Fassung. Sein Herz schwoll an. In den schwärzesten Stunden seines Lebens waren sie alle an seiner Seite. Vani war die Erste, die einen Schritt auf ihn zuging, ihre Arme um ihn schlang und ihm so, dass keiner sonst es hörte, ihr Beileid bekundete. »Ich bin für dich da, Björn, wie alle anderen.« Daraufhin drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und machte Platz für Vince. »Mann, Alter, komm her!« Auch er zog ihn in eine feste Umarmung. Nacheinander kamen Tom, Finn und Marc zu ihm, wechselten ein paar Worte. Es war eine Schande, dennoch musste er sich eingestehen, dass es ihm guttat, seine Freunde um sich zu haben. Keiner konnte den Riss in seinem Herzen reparieren. Diese Lücke würde immer schmerzhaft wie eine offene Wunde klaffen und ihn an das erinnern, was geschehen war – dessen war er sich sicher. Seine Freunde schafften es trotzdem mit ihrer bloßen Anwesenheit, dieses Leid wenigsten etwas zu lindern. Doch genau das war das besagte Problem. Er durfte sich nicht besser fühlen, rief er sich in Gedanken – gerade erst hatte er schließlich seine Schwester zu Grabe getragen. Gott, steh ihm bei! Die Schuldgefühle schienen ihn augenblicklich zu zerfressen. »Tut mir leid, Leute. Ich muss …« Weiter kam er nicht, ohne vor seinen Kumpels zusammenzubrechen.
Prompt ließ er sich in sein Auto gleiten, schnallte sich an und raste vom Parkplatz. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, fuhr er die Straßen entlang. Er brauchte ungefähr zwanzig Minuten, bis er seine Garage in Kölns attraktivem Stadtteil Seeberg erreichte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppen zu seiner Dachgeschosswohnung hinauf. Die Tür fiel ins Schloss, da knöpfte er bereits sein Hemd auf, zog sich aus und verschwand im Bad.
Wasserdampf füllte den ganzen Raum. Das große Dachfenster und der Spiegel waren vollkommen beschlagen. Gegen die Glastür der Dusche prasselte das heiße Wasser ebenso wie auf Björns Rücken. Regungslos stand er minutenlang da. Er seifte sich nicht ein, stemmte sich ausschließlich mit beiden Händen an den Fliesen ab und ging ungeniert seiner Trauer nach. Björn weinte unaufhörlich, lehnte seinen Kopf dabei auf seinen muskulösen rechten Arm ab, und begriff die Welt nicht mehr. Erst als sich das Wasser etwas herunterkühlte, wurde ihm bewusst, dass er schon ziemlich lange gedankenverloren unter der Dusche stand. Er entschied sich dazu, das Brausebad abzustellen.
Nachdem er sich abgetrocknet und angezogen hatte, griff er sich eine Flasche Jack Daniels, ein Glas und ging auf seine Dachterrasse. Es war an der Zeit, sich die Kante zu geben. Heute musste das einfach sein. Anders überstand er diesen saumäßigen Tag nicht. Sein Gedankenkarussell brachte ihn sonst noch ins Irrenhaus. Das Glas ignorierend, setzte er die Flasche an und trank gut einen Viertel in einem Zug weg. »Scheiße, ist das abartig«, fluchte er, während er die Flasche etwas zu kräftig auf den Tisch knallte. Der berauschende Effekt setzte unverzüglich ein.
In seinem Stuhl lehnte er sich nach hinten, beobachtete die Wolken, wie sie viel zu langsam von dannen zogen. Kurz nahm er sein Handy zur Hand, scrollte sich durch die Facebook Timeline, was ihn nur noch mehr herunterzog. Lena war sehr beliebt gewesen, jeder hatte sie gemocht, weshalb ihr Tod im Netz eine gähnende Leere und unendliche R.I.P.-Posts mit sich brachten. Selbst in seiner Chronik fanden sich einige Beiträge mit Beileidsbekundungen, die er aber bewusst ignorierte. Björn konnte sich das auf keinen Fall antun, daher öffnete er den Chat mit seinen Kumpels.
Björn: Werde mich vorerst zurückziehen. Sorry, Leute!
Es dauerte nicht lange, bis er Antwort bekam.
Marc: Kein Ding, Alter. Wenn was ist, melde dich!
Tom: Verständlich.
Vince: Du kannst dich jederzeit melden, wenn dir nach einem Gespräch ist, oder auch nur, wenn du Ablenkung brauchst.
Finn: Schließe mich den anderen an.
Die Flasche fand wieder den Weg zu seinem Mund, indes er sein Smartphone in der Hosentasche verstaute. Die Füße legte er auf dem Tisch ab. »Ist das eine verfickte Scheiße«, brummte er in die Stille der abendlichen Dämmerung und gab sich seinen quälenden Schuldgefühlen und der Trauer um seine Schwester hin.
»Guck, dass du heute ausnahmsweise mal keine Scheiße baust. Der Chef hat am Wochenende seine Schwester beerdigt. Er ist nicht gut gelaunt.« Elke, Jules Arbeitskollegin, sah sie vorwurfsvoll an, als wäre sie dafür verantwortlich. Vor sechs Wochen hatte sie ihre Ausbildung zur Zahnmedizinischen Fachangestellten in der Zahnarztpraxis Wissmann begonnen. Bisher war allerdings kaum ein Tag vergangen, an dem Jule keinen Anschiss bekommen hatte. Nicht von Doktor Wissmann, sondern von dem Hausdrachen – Elke Münch. Sie war so etwas Ähnliches wie die rechte Hand des Chefs, regelte den ganzen Abrechnungskram, der Jule noch fremd war, und war ein Ass darin, ihr den Tag zu vermiesen. Sie schaffte es wahrscheinlich nie, ihr gerecht zu werden, das hatte sie schon am ersten Tag gemerkt, als Elke hinterfragt hatte, woher sie stammte. Ihre demütigende Reaktion war ein herablassendes Augenrollen gewesen. Sie hatte ihr zu verstehen gegeben, dass sie genau wusste, wie es in Chorweiler vonstattenging. Womit sie auch leider recht hatte. Jule kam aus den Tiefen des Abschaums, das war ihr bewusst. Weshalb sie umso dankbarer war, dass Doktor Wissmann ihr die Chance gegeben hatte, eine Ausbildung bei ihm zu absolvieren. Immerhin war das der Grundstein für eine Perspektive, die sie aus Chorweiler herausbrachte. Umso mehr störten sie Elkes ständige Anfeindungen.
Keinesfalls wollte sie so enden wie ihre Eltern, das war ihr tägliches Mantra. Jules Mutter war im letzten Jahr gestorben. Ihr von Alkohol geschädigtes Herz und ihre Nieren hatten versagt. Es war nicht so, als hatte sie mit ihrem Ableben das Weihnachtsfest versaut – Weihnachten hieß bei Familie Winter bloß, dass mehr gesoffen wurde als üblich. Vielleicht gönnten sie sich zur Krönung des Tages auch einen Joint oder zogen etwas Speed. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis einer ihrer Elternteile den Löffel abgab. Einem derartigen Lebensstil hielt sogar ein kerngesunder Körper nur bedingt stand. Sie erinnerte sich, wie die erbärmlichen Freunde ihrer Mutter zu deren Beerdigung gekommen waren. So unfassbar respektlos, sich bereits vorher zu betrinken. Aber was sollte man von solchen Menschen erwarten. Es war eben genau das, was ihre Mutter mit ihren Leuten verbunden hatte. Wahrscheinlich dauerte es nicht lange, bis der Nächste von ihnen ins Gras beißen würde. Was Jule jedoch sehr verunsicherte, und ihr zudem eine unterschwellige Angst einjagte, waren die schlimmer werdenden Aussetzer ihres Vaters. Er forderte das Geld, was sie verdiente, immer öfter ein.
Ab ihrem sechszehnten Lebensjahr, direkt nach ihrem Realschulabschluss, war Jule dazu verdonnert worden, in der allerletzten Kneipe ihres Viertels zu arbeiten – Besoffenen Bier und Schnaps servieren. So etwas wie Jugendschutz hatte man erfolgreich ignoriert. Heimlich hatte sie sich stets etwas Geld zur Seite gelegt, sodass sie sich einmal im Jahr neue Klamotten leisten konnte. Wenn sie es selbst nicht getan hätte, wäre keiner so gnädig gewesen, ihr etwas zum Anziehen zu besorgen. Es gab Gott sei Dank Discounter, dort bekam man eine Jeanshose schon für zehn Euro. Das waren ihre Anlaufstellen gewesen und genau dort hatte sie auch ein Handy entdeckt, welches im Angebot gewesen war, für siebzig Euro. Lange hatte sie nachgedacht und abgewägt, entschied sich letztendlich dafür. Ihr hart Erspartes dafür auszugeben, hatte ihr dennoch in der Seele wehgetan. Rückblickend betrachtet, bereute sie diese Anschaffung nicht. So verschaffte sie sich wenigstens diverse Accounts auf Social-Media-Plattformen. In solch einer Anonymität lebte es sich viel besser. Dort gab es niemanden, der sie aufgrund ihrer schlechten Kleidung oder ihrer Herkunft abwertend anstarrte, gar musterte. Das waren nämlich die üblichen Reaktionen auf ihre Person. Du kommst aus Chorweiler? Naserümpfen, als stank sie deswegen, war nur ein Teil der oberflächlichen Eindrücke. Na gut, wenn sie ihr Umfeld so betrachtete, dann war das teilweise gerechtfertigt. Sobald Jule ihrem Vater gegenüberstand, kämpfte sie ebenfalls mit ihrer Beherrschung, damit sie sich aufgrund der Gerüche nicht übergeben musste. Er war in ständiger Begleitung einer Alkoholfahne, eines zornigen Blickes und einer qualmenden Kippe. Widerwärtig. Seine Saufkumpanen feierten ihn als wahren Helden, da er immer etwas Trinkbares und meistens auch Drogen in seinem Drecksloch – ihrem zu Hause – hatte. Dass er seiner Tochter das hart verdiente Geld wegnahm, wollte keiner wahrhaben, oder es war ihnen schlichtweg egal.
»Was ist? Geh abends früher ins Bett, wenn du morgens so müde dreinschaust.« Elke verließ augenrollend den Aufenthaltsraum. Jule durfte sich von ihr nicht ständig aus dem Konzept bringen lassen. Sie wollte schließlich ihren Job nicht riskieren, immerhin legte sie all ihre Hoffnung in diese Ausbildung. Sobald sie diese beenden und übernommen werden sollte, reichte ihr Gehalt für eine kleine Wohnung und ihren Lebensunterhalt. Jule war bescheiden. Sie benötigte bloß ein bis zwei Mal am Tag ein Stück Brot, damit ihr Körper Energie hatte. Das Wasser aus dem Wasserhahn reichte ihr als Flüssigkeitszufuhr. Das konnte sie sich mit ihrem Verdienst allemal leisten, sofern Elke Münch sie nicht rausekelte. Nein! Jule hatte in ihrem Leben schon weitaus Schlimmeres überstanden, da war es doch wohl eine Leichtigkeit, mit so einer gefrusteten älteren Dame fertig zu werden.
Jule begab sich in den Sterilisationsraum, in dem am Morgen die Desinfektionsbäder für die benutzten Instrumente vorbereitet wurden. Sie beeilte sich, weil der erste Patient bereits im Zimmer wartete. Seit einiger Zeit durfte sie am Stuhl assistieren, was ihr sehr viel Spaß machte. Damit sie immer Hilfe hatte, die sie oft in Anspruch nahm, sie war ja noch nicht lange hier, kam Sonja, ihre andere Arbeitskollegin, stets mit ins Zimmer. Sie blieb hinter ihr stehen, schrieb Befunde auf und reichte ihr die Instrumente oder Füllungsmaterialien an.
»Hallo, Jule«, begrüßte Sonja sie flüsternd, während sich Doktor Wissmann schon der Patientin widmete. Herrgott, er sah wirklich mitgenommen aus. Was durchaus verständlich war, wenn man bedachte, welchen Schicksalsschlag er in der vergangenen Woche erlitten hatte.
Stumm setzte sie sich auf den Stuhl und lauschte dem Gespräch. »Ein klopfender Schmerz?«, fragte ihr Chef mit seiner typisch tiefen Stimme. Wie alle anderen hatte er eine weiße Hose, weiße Turnschuhe und ein türkises Polohemd an. Ein Mundschutz verhüllte sein halbes Gesicht und seine Hände steckten in Gummihandschuhen.
»Es fängt immer an, wenn ich zubeiße.«
»Ich schaue mir das mal an. Vorher nehme ich aber schnell ihren Befund auf.«
Frau Meier lehnte ihren Kopf an die Stütze, während Doktor Wissmann den Stuhl in eine liegende Position fuhr, sodass sich die Patientin zwischen Jule und ihm befand. Sie stellte das Licht so ein, dass der Strahl den Mund der Patientin erhellte. Doktor Wissmann griff nach dem kleinen runden Spiegel und dem spitzen Instrument – hier sagte man Sonde dazu. Dann begann er, ihre Zähne zu untersuchen. »Rechts oben, 1 bis 7, ohne Befund. Alle 8er fehlen«, zählte er auf. »Links oben – 1, 2 überkront. 3 Brückenglied. 4 Krone. Der Rest ist ohne Befund.« Mit der Sonde tastete er den Zahn ab. »Hier haben Sie allerdings eine Karies. Das ist auch der Zahn, der Ihnen Schmerzen bereitet, stimmts?« Die Patientin gab ein zustimmendes Geräusch von sich. Doktor Wissmann sah Jule an, winkte sie näher zu sich. »Sehen Sie, Frau Winter. Hier bleibe ich mit der Sonde hängen. Dort ist eine Karies. Wenn ich über das gesunde Dentin kratze …« Er machte es vor. »Hört sich das so an.« Eine Gänsehaut überkam sie, denn das Geräusch hörte sich fast so an, als zog jemand seine Fingernägel an einer Schultafel herunter. »Karies ist eine weiche Substanz«, erklärte er weiter. Ab und zu vergewisserte er sich mit einem Blick, ob Jule ihm folgen konnte. Das tat sie, denn sie interessierte das alles wirklich sehr. Mit großen Augen lugte sie in den Mund der Patientin. Doktor Wissmann war ein kompetenter Vorgesetzter. Er erklärte viel und ausführlich, war äußerst geduldig, obwohl er sonst eher zurückhaltend war.
Nachdem der Chef den Zahn wurzelbehandelt hatte, verließ Sonja mit Frau Meier das Zimmer. Doktor Wissmann saß am Computer, tippte den Befund unter das Röntgenbild ein.
»Doktor Wissmann?«
»Hm?«, brummte er konzentriert.
»Mein Beileid«, sagte sie, während sie die Bohrer von den Winkelstücken entfernte. Das gehörte sich doch so, oder etwa nicht? Ein kaum erkennbares, aber doch offensichtliches Zucken erreichte seinen Körper. Ein paar Sekunden starrte er auf den Bildschirm, ohne sich zu bewegen. Daraufhin stand er auf, murmelte ein leises »Danke«, ohne sie anzublicken, und verließ das Zimmer. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Sie hatte keine Zeit, sich weiter damit zu befassen, denn kurz darauf trat Elke ein. »Warum bist du noch nicht fertig? Du wirst hier nicht fürs Rumstehen bezahlt. Der nächste Patient wartet. Hopp, hopp!« Ihr dämliches Gehoppe untermalte sie, indem sie schallend in die Hände klatschte. Was für eine blöde Kuh! Jule musste sich beherrschen, damit sie nicht wie ein trotziges Kind auf den Boden stampfte, sie war schließlich schon fünfundzwanzig Jahre alt. Reiß dich zusammen, Jule Winter! Diese Furie wird dich nicht unterkriegen. Niemals!
Der restliche Tag war einfach nur katastrophal gewesen, ihr wollte nichts gelingen. Elke hatte sie auf dem Kieker gehabt und ihr Chef hatte eine Laune, die zum Himmel stank – verständlich. Schnell flitzte sie durch die Straßen Chorweilers, betrat nach einigen Minuten den miefenden Flur des Hochhauses, in dem sie seit ihrer Geburt lebte. Stufe um Stufe kam sie ihrer persönlichen Hölle näher. Beiläufig kickte sie eine leere Coladose die Treppen hinab, die sich scheppernd zu dem anderen Dreck im Hauseingang gesellte. Ihre Hand zitterte lange nicht mehr, als sie die Tür aufschloss, denn sie hatte inzwischen gelernt, mit den tätlichen und verbalen Angriffen ihres Vaters umzugehen. Auf leisen Sohlen schlich sie durch den Flur, machte große Schritte, um nicht über Klamotten oder alte Zeitungen zu stolpern, die hemmungslos verstreut auf dem Boden lagen. Fassungslos sah sie sich um – Müllberg an Müllberg. Bevor sie heute Morgen zur Arbeit gegangen war, hatte sie den Flur sowie das Wohnzimmer aufgeräumt. Jule war es satt! Es kotzte sie regelrecht an, ihm immer alles hinterhertragen zu müssen, nur weil er sich so dermaßen wegballerte, dass er nicht mehr geradeaus laufen konnte. Wie es zu dem jämmerlichen Absturz ihrer Eltern gekommen war? Da war Jule unsicher, eine richtige Antwort hatte sie nicht parat. Immerhin waren ihre Eltern immer so gewesen, sie kannte sie nicht anders. Schon in deren Jugend hatten sie Drogen konsumiert. Jule war ein Unfall, so wie ihre Mutter stets zu sagen gepflegt hatte. Sie waren auch nie verheiratet gewesen, lebten das jugendliche verkümmerte Dasein gemeinsam bis zu ihrem Tod — nur mit dieser hässlichen Last am Bein, namens Jule —, was ihr Vater nun im Alleingang erfolgreich weiterführte. Zu ihren Großeltern hatte sie nie Kontakt. Wenn sie ehrlich war, wusste sie ohnehin nicht, wo deren Heimat gewesen war. Kein Wunder, dass sie sich von ihren Kindern, Jules Eltern, losgesagt hatten.
»Lu… Lu… Juule?«, ertönte es lallend vom Sofa. Herbert hustete den festsitzenden Schleim der vier Millionen Kippen, die er mit Sicherheit in seinem Leben gequalmt hatte, heraus. Dann stand er auf, öffnete das Fenster und rotzte in hohem Bogen aus dem dritten Stock. Er sah nicht mal hinaus, ob er jemanden getroffen hatte. Gleichgültig drehte er sich um, kratzte sich an seinen Eiern und furzte, als würde in Cattenom das Atomkraftwerk in die Luft fliegen. Himmel! Jule kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, damit sie sich nicht übergeben musste. Es gab keine Steigerung für das Ekelgefühl, welches sie für diesen Menschen empfand. Wenn er den Mund öffnete, wurde das Ganze nicht besser. Ihm fehlten in der Front drei Zähne und alle anderen waren verfault. Ihr Chef hätte bei ihm viel Arbeit, sollte er sich in seine Praxis begeben. Gott sei Dank kam ihr Erzeuger niemals auf diesen absurden Gedanken, etwas für seine Gesundheit zu tun. Sein Lebensinhalt bestand vielmehr darin, sich zu vernichten. Sei es nun der Alkohol oder die Drogen. Hauptsache es knallte!
Fluchtartig wollte sie den Raum verlassen, der sie nahe an den Erstickungstod brachte, doch ihr Vater hielt sie auf. »Ich brauche Geld!« Seine Finger fuhren reibend über seine Kopfhaut, was das fettige Haar in alle Himmelsrichtungen abstehen ließ.
Das konnte nicht wahr sein. »Du hast mein komplettes erstes Gehalt bekommen. Ich kriege erst in zwei Wochen wieder Geld. Es ist nichts da, was ich dir geben könnte.« Außer sich vor Entsetzen wütete sie ihn an.
»Schlag einen anderen Ton an, du undankbares Stück Scheiße.« Mit schleichenden Schritten kam er ihr gefährlich nahe.
Jule wich ihm aus. Vielleicht war ihr Ton tatsächlich unangebracht, doch woher sollte sie jetzt Geld bekommen? Das war verrückt! »Ich habe kein Geld.«
»Du hättest deinen Job in Willys Kneipe behalten sollen. Aber nein, du musstest ja alles hinschmeißen. Du treibst mich in den Ruin.«
Jule verkniff sich ein bitteres Auflachen. Sie trieb ihn in den Ruin? So etwas Schwachsinniges hatte sie lange nicht mehr gehört. »Ich versuche, im Gegensatz zu dir, etwas aus meinem Leben zu machen«, brachte sie ihm mutig entgegen.
»Mir ist scheißegal, was du versuchst. Du bringst keinen Schotter heim, das ist hier das Problem.«
»Ich habe nichts mehr!« Es war die Wahrheit. Woher sollte sie das Geld nehmen? Verflucht!
»Du bringst mir nächste Woche dreitausendfünfhundert Euro. Hast du mich verstanden?« Bedrohlich ragte er vor ihr auf, schüchterte sie so sehr ein, dass ihre Knie zu zittern begonnen hatten.
»Wofür brauchst du so viel Geld?« Jule war entsetzt, wusste langsam nicht mehr, wo vorne und hinten war. Er verlangte immer mehr von ihr, sodass sie nichts mehr abliefern konnte, weil sie niemals so viel verdiente. Er war sich darüber auch im Klaren, so hoffte sie zumindest. Fraglich war allerdings, warum er es überhaupt forderte. Egal, wie sie es drehte und wendete, sie verstand ihn nicht mehr. Kein Vater ging so mit seiner Tochter um. Keiner!
»Jo kommt vorbei.«
»Du willst das Geld für Drogen haben? Das kannst du nicht machen. Was soll das?«
»Nein! Ich brauche das Geld nicht für Drogen, sondern um meine Schulden zu begleichen.«
»Dann gib den Stoff zurück.« Ihr war bekannt, dass Jo sein Dealer war, deswegen konnte es sich hierbei nur um Drogenschuldgeld handeln.
»Der Stoff existiert nicht mehr.«
»Du hast Drogen im Wert von dreitausendfünfhundert Euro verballert? Bist du verrückt?«
In diesem Moment schritt Herbert auf sie zu, holte weit aus und schlug ihr mit voller Wucht gegen den Kopf, sodass sie zur Seite fiel. »So sprichst du nicht mit mir. Verstanden?« Seine stinkende Hand ergriff ihren Pferdeschwanz, riss so sehr daran, dass ihre Kopfhaut brannte. »Nächste Woche ist das Geld da. Sonst werde ich Jo mit seinen Schlägertypen zu dir schicken.«
Ihr Überlebensinstinkt brachte sie jetzt nur noch dazu, sich von ihm zu reißen und in ihr Zimmer zu kriechen. Kaum war die Tür hinter ihr verschlossen, schob sie mit aller Kraft, die sie noch irgendwie aufbrachte, ihren Kleiderschrank ein Stück vor, sodass dieser die Tür blockierte. Das wiederum war nur machbar, weil sich nicht viel in ihrem Schrank befand. Sie hoffte, das Sperrige verwehrte ihrem Erzeuger den Zutritt, falls er auf die Idee käme, sie noch einmal aufzusuchen.
Das war es wohl mit ihrem neuen Job. Unter keinen Umständen konnte sie um einen Vorschuss betteln, zumal das sowieso der Lohn von gleich fünf Monaten war. Immerhin bekam sie das Ausbildungsgehalt eines ersten Lehrjahres. Selbst wenn sie hinschmiss und wieder in der Kneipe anfing, zusätzlich des ganzen Trinkgeldes, war es nicht machbar, diesen Betrag bis nächste Woche aufzutreiben. Verzweiflung breitete sich in ihr aus.
Das Unfassbare: Ihr Vater hatte mehrmals versucht, sie zu ermutigen, etwas Spaß mit seinen Freunden zu haben. Er war der Meinung, sie war mittlerweile alt genug, um endlich die Beine breitzumachen. Die Bezahlung stimmte, beharrte er. Herbert verlangte, dass sie sich für ihn prostituierte, um das auf den Punkt zu bringen. Jule war noch Jungfrau. Daraus machte auch ihr Vater keinen Hehl und bot ebendies an. Mit Gewissheit konnte das Ekelpaket nicht mal sagen, dass sie noch unberührt war – eigentlich kannte er sie gar nicht. Ihr Vater war ein Arschloch.
Sie hasste ihn!
Wie so oft spielte sie mit dem Gedanken, alles hinter sich zu lassen und irgendwo komplett von vorne anzufangen. Was sie zurückhielt, und ja, sie wusste selbst, es war feige, war die Angst, durch ihre Mittellosigkeit genauso zu enden wie ihre Eltern. Hier lief sie niemals Gefahr, in ihre Fußstapfen zu treten. Zu sehr verabscheute sie das Leben mit diesem Monster unter einem Dach. Täglich führte er ihr vor Augen, wie sie nicht werden wollte. Ihre Zukunft war allerdings bereits perfekt durchgeplant. Sogar so perfekt, dass sie schon mehrmals davon geträumt hatte: Jule beendete ihre Ausbildung erfolgreich und ein geregeltes Einkommen war vorhanden. Sie suchte sich eine Wohnung und lebte wie ein normaler Mensch ihr zufriedenes Leben. Dabei war sie immer darauf bedacht, ihrem Vater keine Gelegenheit zu gewähren, um herauszufinden, wo sie wohnte. Die Möglichkeit, er könnte wieder und wieder Geld von ihr verlangen, war zu riskant. Er hatte letztlich Freunde, die er sonst mit Jules Geld durchfütterte, die ihm wichtiger waren als seine eigene Tochter. Möglicherweise verstand er dann, wer diese angeblichen Freunde wirklich waren – Freunde, die ihn nur ausnutzten.
Ein absurder Gedanke kroch in ihr empor: ihre Jungfräulichkeit! Vielleicht sollte sie diese wahrhaftig anbieten, wenn sie sich dadurch die Schläger vom Hals halten konnte. Es war denkbar, so aus der ganzen Situation zu fliehen. Shit! Das war doch völlig verrückt! Jule drehte bald durch, dessen war sie sich sicher.
»Hi, Schwesterherz«, murmelte Björn, als er atemlos den Friedhof erreichte. Seine Joggingrunden nahmen ein immer größer werdendes Ausmaß an. Es tat ihm gut, sich zu verausgaben. Mit dem Adrenalin, was durch seinen Körper jagte, betäubte er seine Schuldgefühle, die er wegen Lenas Tod hatte. »Ich vermisse dich«, flüsterte er. »Es tut mir so leid.« Mit dem Finger strich er über das edle Holzkreuz, auf dem ihr Name schwungvoll prangte.
So verliefen seine Besuche jedes Mal. Er schaffte es einfach nicht, in die Normalität zurückzukehren und so zu tun, als wäre nie etwas vorgefallen. Er kauerte in der Hocke und starrte auf das Grab seiner Schwester, die er so sehr vermisste. Lena und Björn hatten sich zwar nicht täglich gesehen, dennoch war der Telefonkontakt rege ausgeprägt gewesen – vor allem via Messenger. Alleine diese seltendämlichen Spaßbildchen, die sie so sehr geliebt hatte, hatten ihn manchmal mehrmals täglich erreicht. Sie war eben eine Frohnatur gewesen, hatte viel gelacht und pure Lebensfreude ausgestrahlt. Die Betonung lag jedoch auf war!