Ellen Lang - Tanja Lippuner - E-Book

Ellen Lang E-Book

Tanja Lippuner

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Beschreibung

Ellen ist als frischgebackene Heilpraktikerin für Psychotherapie erfolgreich. Doch plötzlich erkennt sie nicht nur bei den Patienten erschreckende Symptome. Als dann noch einer ihrer besten Freunde aus mysteriösen Gründen in ihre Wohnung einbricht, wird offensichtlich, dass hier Übermächtiges die Hand im Spiel hat. Obwohl es kein Zurück mehr geben könnte, nimmt Ellen das Schicksal in die Hand. Gemeinsam mit ihrem rollstuhlfahrenden Freund Arnt macht sie sich auf den Weg, um nicht nur dem kriegslüsternen und herrschsüchtigen Kethamarr in Anderland entgegenzutreten, sondern auch, um ihre verlorene Liebe zu retten.

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Durch Hoffnung werden Träume wahr.

Lasst sie uns stets im Herzen tragen.

Für René, Céline und Luca

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Große Rat

Der Einbruch

Im Holler

Auf dem Revier

Feuer im Abrissviertel

Das Auge

Auf dem Markt

Leah

Puder im Fell

Gespräch am Brunnen

Salbeitee

Triamese

Der Springer

Besuch bei Runa

Nachricht am Fenster

Orekla

Aufbruch

Glutmondfest

Der glitzernde See

Ort ohne Namen

Die Schlacht

Rasante Flucht

Susan

Krankenbettgespräche

Kethamarr

Jesias

Scherbe am Teich

Charlotte

Das halbe Haus

Wege kreuzen sich

Radin

Maureen

Zerbrochene Scherben

Antiquitätenschuppen

Jarosch

Blaue Rose

Im Verlies

Der Pfeil

Das tränende Auge

Gefangene Hoffnung

Sieg und Niederlage

Kraft der Gedanken

Lucia

Treffen im Wald

Die Hochzeit

Im CUT

Tilo

Onkel Tobs

Neuer Start

Die handelnden Personen

Charaktere und sonstige Wesen aus Anderland

Danksagung

Die Autorin

Von der Autorin erschienen

Prolog

Ellen erklomm den Hang. Feines Geröll löste sich aus dem Gestein, und der Wind trug das Klickern über den Fels. Schritt für Schritt arbeitete sie sich den schmalen Pfad hinauf, bis sie die Spitze des Kreuzes erblickte. Noch verschmolz es mit den Farben des Berges auf der anderen Seite des Tales. Kurz hielt sie inne, rang nach Luft. Wie oft war sie hier hochgestiegen, um unter dem Schutz des Kreuzes ihre Gedanken zu ordnen, Kraft zu schöpfen und ihrem Vater näher zu sein. Doch in letzter Zeit war es nicht nur der Tod ihres Vaters, der sie auf den Gipfel führte. Es war auch der Ort, an dem sie glaubte, Jesias zu spüren. Wider aller Vernunft, das war ihr klar. Dennoch setzte sie einen Fuß vor den anderen, drückte sich den Hang hinauf, zermahlte mit jedem Schritt die Zweifel in dem Gestein. Keuchend blieb sie stehen, tastete kurz mit den Fingern nach dem Glas des ovalen Spiegels, der in ihrer Jackentasche steckte. Ein Windstoß packte sie an den Haaren, riss sie nach vorn, trieb sie auf das Holzkreuz zu, das sich mit jedem Schritt weiter in den Himmel reckte. Kurz hob sie den Blick zu den verschränkten Balken, dann wandte sie sich ab, trat an die steil abfallende Felskante, um auf den Fluss zu sehen, der sich einer Schlange gleich durch das Tal wand. Der Fluss, der ihr den Vater genommen hatte. Geröll sprang in die Tiefe – und wieder ein Windstoß. Ellen trat zurück, sank an dem Kreuz nieder, schloss die Augen – und wartete. Haarsträhnen schlugen ihr ins Gesicht. Und dann, einer sanften Böe gleich, strich etwas über ihre Stirn, fing die Strähnen ein, um ihren Blick freizugeben. Sie öffnete allmählich die Augen, und eine Welle der Sehnsucht durchfuhr ihren Körper, gleichsam eines prickelnden Schmerzes. Und sie wünschte sich, dass Jesias es war, der sie so berührte. Ihre Finger tasteten in der Tasche. Sie zog den Spiegel heraus und legte ihn auf den Fels. Der Wind streichelte ihren Hals, strich über ihre Lippen und legte sich wie ein zarter Kuss auf ihre Wangen. Ellen erschauderte und kämpfte gegen das Verlangen, den Spiegel in die Hand zu nehmen, um zu sehen, ob er es wirklich war. Nur der Schmerz, der dem kurzen Glück folgen würde, hielt sie davon ab. Ihre Augen bohrten sich in das Holz des Spiegelrückens, und einmal mehr wünschte sie sich, er würde ihr die Entscheidung abnehmen. Würde den Spiegel erheben, um sich ihr zu offenbaren – doch nichts passierte. Erneut schloss sie die Augen und senkte ihren Hinterkopf an das Holzkreuz. Ein sanfter Hauch strich über ihre Stirn, liebkoste ein letztes Mal ihre Wange, dann lösten sich die Haare und peitschten ihr ins Gesicht.

____________________

Die handelnden Personen sind ab Seite → aufgelistet und kurz vorgestellt.

Der Große Rat

Die Katze saß erhobenen Hauptes auf dem vordersten Absatz einer Mauer. Ihr anthrazitfarbenes Fell unterschied sich nur durch seinen Glanz vom Farbton der Steine. Regungslos starrten ihre orangefarbenen Augen auf einen Punkt, als wolle sie etwas heraufbeschwören, was dort nicht war.

Ein Mädchen näherte sich. Der Schulranzen beugte seinen jungen Körper. Es erblickte die Katze, und seine Augen weiteten sich. Eine Weile sah es das Tier an, als könne es nicht glauben, was es da vor sich hatte, dann näherte es sich mit zögernden Schritten. Vorsichtig streckte die Kleine den Finger aus, um zu prüfen, ob die Katze lebendig sei. Da verschob das Tier die Schlitze seiner Pupillen durch das leuchtende Orange, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Ein Schrei entfuhr dem Kind, es stolperte rückwärts über die eigenen Füße und wurde von dem Gewicht des Schulranzens zu Boden gerissen. Schnell rappelte es sich auf und war kurz darauf in einer Gasse verschwunden.

»Meine Teuerste, seit wann ereifern Sie sich daran, kleine Kinder in die Flucht zu schlagen?«, ertönte eine tiefe Stimme.

Nun kam Bewegung in den Kopf der Katze, und sie fixierte den Mann, der vor ihr aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie hob eine Pfote und begutachtete sie von allen Seiten. »Das war lediglich zum Zeitvertreib. Und gleichzeitig stelle ich einmal mehr fest, dass meine äußerst anziehende Erscheinung ihre Wirkung nicht verfehlt.«

»Das kann ich nur bestätigen, meine Liebe. Sie sind immer wieder umwerfend.« Der Mann lächelte kurz, dann wurde seine Miene ernst. »Ich weiß, dass Sie sich gerne von Ihrer besten Seite zeigen, liebe Charlotte. Dennoch sollten Sie Ihr Erscheinen auf Anderland beschränken und nicht in beiden Welten gleichzeitig sichtbar sein. Wir wollen in der jetzigen Situation keinerlei Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«

Die Katze hob ruckartig den Kopf. »Selbst wenn meine Person Aufmerksamkeit erregt, dürfte kaum einer der Menschen meine Anwesenheit hinterfragen«, schnupfte sie. »Außerdem haben Sie an Reisegeschwindigkeit eingebüßt, wenn ich das bemerken darf. Ich sitze hier schon eine zweifache Ewigkeit.«

»Mitnichten, meine Liebe. Es kann sich nur um ein paar Minuten handeln. Und erzählte ich Ihnen, was ich unterwegs alles erledigt habe, würden Sie Ihre Worte mit mehr Bedacht wählen.« Der Mann räusperte sich. »Aber Sie haben recht. Es gab Zeiten, da wäre ich schneller gewesen. Nur ist die Einladung zu diesem Treffen nicht unbedingt das, was mich beflügelt.« Er warf einen undeutbaren Blick auf das Gebäude, das sich hinter der Katze erhob. Die Front verschmolz so einheitlich mit dem Gestein des Berges, dass man es nur an der Holztür erkannte, die in den Fels eingelassen war. Oberhalb der Tür, zwischen den Felsen, befand sich ein kleines Fenster, das sich nur durch die Spiegelung der Sonne verriet. Der Mann seufzte. Es musste fast zwei Jahrzehnte her sein, dass er hier gewesen war. Damals wie heute hatte er die Einladung des Großen Rates angenommen. Nur war er seinerzeit mit seiner Familie gekommen. Sein Blick wurde starr.

»Radin, lassen Sie uns gehen. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in der Vergangenheit festzuhängen«, riss Charlotte ihn aus seinen Gedanken und trippelte hin und her.

»Wie gut Sie mich doch kennen, meine liebe Charlotte«, entgegnete Radin mit einem erneuten Seufzer. »Doch hänge ich nicht in ihr fest. Die Vergangenheit hat lediglich die Gunst des Moments genutzt und sich in meine Gegenwart gestohlen. Doch wie dem auch sei, es läuft uns nichts davon.«

»Da wäre ich nicht so sicher. Der Große Rat ist längst versammelt.«Charlotte stampfte mit den Pfoten.

»Der Große Rat ist dann versammelt, wenn ich anwesend bin. Ich bitte um ein wenig mehr Gelassenheit, meine Teuerste. Forceas Einladung hat ebenfalls keine Rücksicht auf unsere Zeit genommen.«

»Ja, und eben diese Kurzfristigkeit deutet darauf hin, wie dringend die Angelegenheit ist. Einem dieser Treffen folgte ein jahrzehntelanger Krieg. Das spricht nicht gerade für Gelassenheit, meinen Sie nicht?«, erwiderte Charlotte, die sich nicht beruhigen ließ.

»Das ist zwei Jahrhunderte her, demzufolge werden die paar Minuten früher oder später nicht am Rad des Geschehens drehen. Aber gut, lassen Sie uns gehen, damit wir erfahren, was der Grund für diesen Anlass ist, auch wenn ich mir zweifellos denken kann, um was es hier geht.« Radin stieg die Steinstufen hinauf. Charlotte sprang mit leichten Sätzen hinter ihm her. Sie erreichten den obersten Treppenabsatz, und die Tür öffnete sich, ohne dass Radin klopfte. Ein langes, spitzes Kinn schob sich durch den Türspalt.

»Sir, Sie werden sehnsüchtig erwartet«, grüßte ein Mann freundlich. Dann fiel sein Blick auf Charlotte, und er verzog das Gesicht, dass sich sein Kinn noch mehr in die Länge streckte. »Katzen sind hier nicht gestattet.« Er senkte die Nase in den Kragen seines Hemdes.

Charlottes Augen funkelten ihn wütend an. »Ich bin nicht nur eine Katze!«, brauste sie auf, und ihr Fell schwoll merklich an. »Vor Ihnen steht eine Hygiella! Diese Spezies ist …«

»Und ebendiese Hygiella wird als meine persönliche Begleitung dieses Gebäude betreten«, unterbrach Radin mit freundlicher Stimme und einer knappen Handbewegung, die den Mann zur Seite drängte, ohne ihn berührt zu haben. Dann trat er an dem erstarrten Bediensteten vorbei, gefolgt von Charlotte, die Schnauze und Schwanz steil nach oben reckte.

Sie folgten dem Raunen von Stimmen, das sie eine gewendelte Treppe hinaufführte, bis sie ganz oben den Eingang eines Saals erreichten. Er war in warmes Licht getaucht, das durch ein einziges Fenster den Raum flutete. Es war nach innen gewölbt und schien die Sonnenstrahlen zu bündeln, um sie gleichmäßig über die Gesellschaft zu verteilen. Um einen ovalen Tisch herum saßen etliche Gestalten verschiedenster Herkunft. Sie alle waren Mitglieder des Großen Rates. Dieser bestand aus 13 Köpfen, doch Radin war sich sicher gewesen, dass sie nur zu zwölft sein würden. Sein Blick huschte über die Frauen und Männer, deren Aussehen nicht unterschiedlicher hätte sein können, und einmal mehr erfreute er sich an der bunten Vielfalt, die sein Land zu bieten hatte.

Von hinten hörten sie eilige Schritte. Der Bedienstete hatte sich aus der Erstarrung erholt. Laut fluchend hastete er an ihnen vorbei, hielt vor der Versammlung inne, bevor er mit der Rückseite eines Speeres auf den Boden stampfte und dabei dreimal kräftig nieste. Sofort verstummte das Gemurmel.

»Radin, Hüter der Grenzen«, rief er außer Atem und mit verstopfter Nase, wobei er einen scharfen Blick auf Charlotte warf, die ihm das Hinterteil zugewandt hatte.

»Als ob diese Herrschaften nicht wüssten, wer Sie sind«, monierte die Katze.

»Und dennoch hört es sich gut an, oder etwa nicht?« Radin zwinkerte Charlotte zu und betrat den Saal. »Ich grüße euch, meine Freunde«, sagte er mit einer knappen Verneigung zu den Gesichtern, die allesamt auf ihn gerichtet waren. Sein Blick heftete sich auf eine Frau an der linken Seite des Tisches. Sie blickte ihm entgegen, und Radin spürte sofort die Wärme, die ihn durchflutete. Maureens zartes Gesicht war eingefasst in silbernes Haar, das ihr bis zu den Hüften floss. Das einfallende Licht schien sich darin zu sammeln, und kurz überlegte Radin, ob sie es war, die den Raum so erleuchtete. Ihre silberblauen Augen waren glasklar, und ihr Blick von einer Tiefe, die das Wissen vieler Jahrhunderte darin verwahrte. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht, doch Radin erkannte, dass ihre Augen das Lächeln nicht weitergaben.

»Radin, wir sind erfreut, dich zu sehen.« Eine Frau an der Spitze des Ovals erhob sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Ihr durchtrainierter Körper steckte in einem eng anliegenden, schwarzen Anzug mit grünglänzender Verzierung. An der rechten Seite ihres Kopfes hing ein geflochtener Zopf, der sich nur durch schimmernde goldene Perlen von ihrer Kleidung abhob. Ihr Gesicht trug hoch angesetzte Wangenknochen und einen dunklen Teint.

Wie jedes Mal, wenn Radin sie antraf, überkam ihn ein beklemmendes Gefühl. Die Frau stammte aus dem Tal Panthera, das für seine Kriegerinnen bekannt war, die nicht nur in der Kampftechnik äußerst bewandert waren, sondern manchen Gegner nicht zuletzt mit weiblichen Waffen überforderten.

Die Frau deutete auf den freien Stuhl am anderen Ende des Tisches. »Wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet, Radin. Bitte setze dich.«

»Danke, Forcea«, nickte Radin und trat an den zugewiesenen Platz. Charlotte schlüpfte zwischen die Stuhlbeine und rollte sich zusammen. Nur ihre Ohren stachen aus dem Fell, gespitzt wie kleine Wachtürme.

Inzwischen machte der Bedienstete mit einer Karaffe voll Wein die Runde. »Möchten Sie auch etwas?«, fragte er Radin, der sofort eifrig nickte. Der Mann trat an Radin heran, um den Becher zu füllen, als er plötzlich heftig zusammenzuckte. Fluchend beäugte er die Kratzspuren an seinem Bein, wobei er erneut kräftig niesen musste.

Aus Radins Mund erklang ein leises Glucksen.

»Er hat mich getreten!«, fauchte es unter seinem Gesäß.

»Ich danke euch, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid.« Forcea erhob ihren Becher. »Ihr seid alle erschienen. Alle bis auf einen. Kethamarr wurde von unserer Runde ausgeschlossen, denn wie ihr bestimmt vermutet, ist er der Grund für diesen Anlass.«

Lautes Gemurmel erhob sich. Forcea hob beschwichtigend die Hände, dann fuhr sie fort: »Ich möchte sogleich auf dem Punkt kommen. Anderland ist in Gefahr. Kethamarr stellt eine Armee zusammen, deren Zahl alles je Dagewesene übersteigt. Anhänger aus verschiedensten Teilen unseres Landes, und über die Grenzen hinaus strömen in seine Gefolgschaft, und noch nie gab es so viele Morthoren.« Sie machte eine Pause und blickte in die versteinerten Gesichter. »Schon seit Langem versucht Kethamarr, Anderland sowie die Welt der Menschen in seine Gewalt zu bekommen. Wenn wir ihm nicht Einhalt gebieten, wird es nicht mehr lange dauern, bis er das Zepter übernimmt. In seiner Allmacht wird er über uns herrschen. Über uns und auch über die Menschen. Die Trennung beider Welten wird fallen.« Sie sah Radin an. »Du bist der Hüter der Grenzen, Radin, doch selbst dir wird es nicht möglich sein, das zu verhindern.«

Raunen erfüllte den Saal.

»Niemals werde ich mich Kethamarr unterwerfen!« Eine Frau mit pfirsichfarbenem Gesicht hatte sich erhoben, die Hand auf ihren Bauch gelegt. »Niemals werde ich die Kinder meines Tals unter der Herrschaft Kethamarrs heranwachsen lassen.«

Forcea wandte sich ihr zu und lächelte. »Glückwunsch, Flora. Wie es aussieht, wird es nicht mehr lange dauern.«

»Auch mein Tal wird sich Kethamarr nicht unterordnen!« Ein kräftiger, schlitzäugiger Mann, der es offenbar eilig hatte, seine Worte anzubringen, unterbrach das Gespräch. In seinen Augenbrauen und in der Nase steckten goldene Ringe, und an seinen Ohren baumelten schwarze Steine, welche die Lappen in die Länge zogen wie dünne Zungen. »Wenn Kethamarr eine Armee zusammenstellt, können wir das ebenfalls. Auch ich werde nicht zulassen, dass die Bewohner meines Tals in seine Hände fallen. Und wenn es Krieg bedeutet, dann sei es so!«

Zustimmendes Gemurmel entbrannte.

»Halt!« Die Frau mit den silberfarbenen Haaren erhob sich. »Dem schließe ich mich nicht an, Pir Sing. Krieg ist keine Lösung.« Die Stimme der Frau klang nicht laut, doch war sie glasklar. Augenblicklich wurde es still im Saal. »Wir alle wissen, was das bedeuten würde. Die meisten von uns haben es durchlebt. Unendlich viele Tote, unendliches Leid. Ihr alle kennt die Prophezeiung. Nur durch sie wird es dauerhaften Frieden geben. Nur durch sie wird es eine Herrschaft über die Welten geben, die allen gut gesonnen ist. Sowohl der Welt der Menschen als auch Anderland. Der Preis dafür ist der Verzicht auf jegliche Kampfhandlung. Ein Jahrhundert des Friedens muss erfüllt sein, um uns die Erlösung zu bringen. Und die Einhaltung dieser Frist haben wir in drei Monaten erreicht. Doch brechen wir den Pakt vor Ablauf der Zeit, werden wir im Sumpf des Krieges untergehen. So steht es geschrieben in unserem Heiligen Buch der Staben.« Sie schwieg einen Moment, dann fuhr sie bedächtig fort: »Kethamarr weiß um das alles. Er wird keine Herrschaft dulden, der er sich unterjochen muss. Er wird nichts unversucht lassen, um die Prophezeiung zu vereiteln. Schon einmal wäre es ihm fast gelungen. Er beansprucht die Allmacht für sich. Und die Zeit zwingt ihn, zu handeln.«

»Gut gesprochen, Maureen. Aber wie gedenkst du, Kethamarr Einhalt zu gebieten? Schöne Worte werden ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen«, setzte ihr der Mann mit dem Gesichtschmuck entgegen. »In drei Monaten ist das Jahrhundert vorbei, und nirgends zeichnet sich eine Erfüllung der Prophezeiung ab. Wollen wir trotzdem auf sie setzen?« Er sah in die Runde. »Das Schicksal der Welten hängt von dem Kopf einer Schlange ab. Was hindert uns daran, diesen Kopf zu entfernen, um den Frieden zu erlangen?«

Maureen erhob die Hand. »Das Ungute ist über die Welten verteilt, gebändigt durch den Kopf dieser Schlange. Entfernst du ihn, werden sich weitere Köpfe erheben, werden ihre Chance wittern, Kethamarrs Platz einzunehmen, und wir werden es mit einer Hydra zu tun bekommen«, entgegnete sie scharf. »Gewalt bringt mehr Gewalt hervor. Und dieses Mal wird Anderland daran zu Grunde gehen. Du bist noch jung, Pir Sing, der Krieg war lange vor deiner Zeit.« Jetzt senkte Maureen die Stimme. »Meine Aufgabe ist es, Verstorbene in Empfang zu nehmen und ins Jenseits zu geleiten. Ich habe die Opfer des Krieges gesehen. Jedes einzelne. Kinder, die niemals erfahren durften, was das Leben für sie bereithielt. Gute Männer und Frauen, deren Bestimmung es war, Anderland zu bereichern, Freude zu bringen, Leben zu erschaffen. Ihr Leben zu leben. Doch der Krieg schickte sie zu mir, gezeichnet von nichts anderem als Schmerz und Leid.« Sie holte kurz Luft, bevor sie mit Nachdruck fortfuhr. »Wir sind in der Lage, diesem Schicksal entgegenzuwirken. Die stärkste und wirkungsvollste Waffe trägt jeder von uns in seinem Herzen. Es ist die Liebe. Nur durch sie werden wir den Sieg erringen.«

Forcea wandte sich Maureen zu. »Deine Worte sind wie immer weise und wahr. Und vielleicht gibt es tatsächlich einen anderen Weg als den des Krieges.« Sie machte eine ausschweifende Geste. »Wir alle vertrauen fest auf die Prophezeiung, und nichts wäre uns lieber, als dass sie sich im Sinne des Friedens erfüllt.« Jetzt hielt sie inne und blickte in die Runde, als wolle sie sichergehen, dass jeder ihre Worte vernahm. »Auch ich habe mich mit den Schriften befasst, habe sie studiert. Mit einer grundlegenden Frage habe ich mich sogar direkt an die Staben gewandt …« Sie machte bewusst eine Pause, um dem ungläubigen Gemurmel Raum zu geben, dann fuhr sie fort. »Ja, vor geraumer Zeit habe ich Zugang zu dem heiligen Ort erbeten, und habe ihn erhalten. Die Prophezeiung verspricht uns einen König oder auch eine Königin des Friedens. Ich wollte erfahren, wer von uns dieses Amt bekleiden könnte.«

Im Saal war es nun totenstill.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Forceas Lippen, bevor sie fortfuhr: »Die Antwort lautete: Hohes Blut und Blut aller Welten – vereint im Zeichen von Frieden und Liebe.« Sie nahm einen Schluck Wein. »Für mich bedeutete das: Die Vereinigung des Blutes von Anderland mit dem Blut der Menschen. Das freute mich, denn wie ihr alle wisst, bin ich von hohem Blut – und der Vater meiner Töchter ist menschlich. Die Voraussetzungen waren also erfüllt. Dennoch scheint sich die Prophezeiung auf keine meiner Töchter bezogen zu haben, was ich zutiefst bedauere.« Sie ließ ihren Blick durch die Runde gleiten. »Doch bin ich nicht die Einzige, die die Zuneigung über die Grenzen greifen ließ.« Ihre Augen richteten sich auf Radin. »Du trägst das höchste und reinste Blut in dir und bist der Älteste in unseren Reihen. Und du hast zwei Söhne, deren Mutter der menschlichen Seite entspringt.«

Radin zuckte zusammen. Forceas Worte drangen auf ihn ein, als trügen sie Dornen. Es stimmte. Er war die Verbindung auf menschlicher Seite eingegangen. Die Mischung der beiden Blutlinien war ihm wichtig gewesen, da ihm der Schutz der Grenzen beider Welten unterlag. Und obwohl er über das, was Forcea gerade offenbart hatte, längst im Bilde war, hatte die Prophezeiung für ihn nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Sein Bestreben galt in erster Linie einem Nachfolger, der seines Amtes würdig war. Er hatte sich unter die Menschen gemischt, und es hatte nicht lange gedauert, bis er fündig wurde. Eine junge Frau hatte sich in ihn verliebt und ihm Zwillingssöhne geschenkt. Doch keiner der beiden hatte sich als befähigt erwiesen. Weder für die Übernahme seines Amtes noch für die Erfüllung der Prophezeiung. Seine Enttäuschung über diese Gegebenheit hatte die Familie zerbrochen. Radins Herz krampfte sich zusammen.

»Nun, Radin, wie steht es um deine Söhne?«, rissen Forceas Worte ihn aus seinen Gedanken.

Radin räusperte sich. »Nun, bis jetzt gibt es keinen Hinweis darauf, dass einer von ihnen die Prophezeiung erfüllt.«

»Und was ist mit Jesias? Ist er vergeben?«, fragte Forcea und hob eine Augenbraue.

Die unerwartete Frage überraschte Radin. »Nein«, gab er zur Antwort und hoffte, dass sie richtig war. Eine Hochzeit von einem seiner Söhne hätte sich herumgesprochen und wäre ihm sicher zu Ohren gekommen.

»Wunderbar«, lächelte Forcea. »Nun, wenn wir uns nicht auf einen Krieg einigen können, so könnten wir es doch noch einmal mit der Liebe versuchen, ganz im Sinne unserer weisen Maureen.«

Wieder erfüllte ein Raunen den Saal, und die Köpfe wandten sich ihr neugierig zu, als sie fortfuhr: »Radin, erinnerst du dich an meine Tochter Cora? «

»Das tue ich.« Die Erinnerung an das selbstbewusste Mädchen lag Radin nur zu deutlich vor Augen. Er verzog unmerklich das Gesicht. Mehr und mehr verfestigte sich der Eindruck, dass Forcea den Verlauf der Diskussion bis ins kleinste Detail geplant hatte.

Forcea nahm erneut einen Schluck Wein. »Cora steht in Verbindung zu deinem Sohn Gerold. Sie verstehen sich gut, und ich bin mir sicher, er wäre ihr gegenüber nicht abgeneigt, doch ist es sein Zwillingsbruder Jesias, der ihr Herz erobert hat. Wenn Cora und er zusammenkämen, wären alle erforderlichen Bedingungen erfüllt. Und nicht nur das. In Jesias fließt das hohe Blut Anderlands sowie auch menschliches Blut. Gleiches gilt für Cora. Es wären die perfekten Voraussetzungen – und auch die letzte Chance auf die Erfüllung der Prophezeiung.« Sie ließ ihre Worte wirken, bevor sie sich erhob, einen Arm in die Höhe reckte und rief. »Und sollte sie sich nicht erfüllen, werden wir zu den Waffen greifen.«

»Das alles funktioniert so nicht«, fuhr ein dunkelhäutiger Mann mit Zwirbelschnauz dazwischen. »Kethamarr wird die drei Monate nicht abwarten. Er wird vorher zuschlagen, und zwar so bald wie möglich. Zudem müsste die Geburt eines Kindes vor dem Ablauf der Frist erfolgen, was schwierig werden dürfte. Wir müssen handeln! Jetzt!«

»Oh, das lasst mal meine Sache sein«, mischte sich eine Frau ein, deren Aussehen sich fortwährend veränderte. Mal schien sie jung wie ein Schulmädchen, dann wieder alt wie eine Hundertjährige. Ihr dicker Zopf baumelte über ihrem Rücken hin und her. Als sie sprach, hatte sie den Zustand ausgereifter Weisheit gewählt. »Ich bin für eine friedliche Lösung. Sobald das Kind gezeugt ist, können wir Cora nach Tempora nehmen. Sie könnte die Schwangerschaft in einer Zeitschneise verbringen, die sie das Kind zur Welt bringen lässt, ohne dass wir Zeit verlieren.«

»Eine gute Idee, Horela. Aber ist es nicht sehr gefährlich, die Zeit auf diese Weise zu missbrauchen?«, gab die Frau mit den pfirsichfarbenen Wangen zu bedenken.

»Es ist verboten, in der Zeit zurückzugehen. Doch sie an ausgewählten Orten zu stoppen oder zu beschleunigen stellt keine Gefahr dar, solange man sich an die Regeln hält«, warf Maureen ein, die ebenfalls die Gabe besaß, sich der Zeitschneisen zu bedienen, um jedem Sterbenden gebührend beizustehen.

»Nichts spricht gegen deinen Plan, Forcea«, meldete sich Radin zu Wort. »Aber ich gebe zu bedenken, dass sich die Erfüllung der Prophezeiung nicht erzwingen lässt, genauso wenig wie die Liebe. Wenn Jesias deiner Tochter keine Gefühle entgegenbringt, wird alles nichts nützen. Du sagtest, Gerold hätte Gefallen an Cora gefunden? Wie wäre es, wenn sie sich für ihn erwärmen könnte?«

Forcea beugte sich vor. »Du kennst meine Tochter nicht. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann will sie es so. Und sei versichert, Jesias sitzt in ihrem Kopf. Cora hat sich in den letzten Jahren verändert.« Ein aufreizender Laut entsprang ihrer Kehle, bevor sie anfügte: »Glaube mir, Radin. Er wird ihr nicht widerstehen können.« Sie erhob sich und ließ ihren Blick über die Runde schweifen. »Cora hat sich in Anderland einen Namen gemacht, ebenso Jesias. Das Volk wird einer Verbindung der beiden mit Stolz, Freude und Hoffnung entgegenblicken. Dennoch werden wir uns wappnen. Ab morgen stellt jedes Tal seine Kämpfer zusammen. Sollte Kethamarr angreifen, werden wir vorbereitet sein. Und sollte er es nicht tun, verhalten wir uns ruhig, bis die Zeit abgelaufen ist.« Sie reckte die Faust. »Wer dafür ist, hebe die Hand.«

Der Arm eines Mannes mit bunt schillerndem Gewand fuhr in die Höhe. »Das Volk aus dem Schwerme-Tal hat bereits begonnen, sich zu wappnen. Nichts kann den Waffen mit den geschliffenen Diamanten etwas anhaben, die in unserem Tal gefertigt werden. Wie auch immer es kommt. Wir sind bereit.« Er reckte das Kinn in die Höhe.

»Das freut mich, zu hören, Tantal«, sagte Forcea lächelnd. »Und wie steht es mit den anderen?«

Radin, Flora, Pir Sing und der Mann mit dem Zwirbelschnauz hoben ihre Hand. Celsus, das Oberhaupt aus dem Tal der Kelvaner, schien sich nicht entscheiden zu können. Seine Hand fuhr hoch und runter wie die eines unentschlossenen Schülers. Schweißperlen glänzten auf seinem Gesicht, dann entschied er, sie oben zu lassen. »Wir werden mit dem Klima zu kämpfen haben, doch ich werde mein Möglichstes tun«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

»Remedius?« Forcea wandte sich an das männliche Oberhaupt aus dem Tal der Mediten, der seine Hand im Schoß hielt. »Ich spreche mich gegen eine Vorbereitung zum Krieg aus. Unsere Aufgabe ist es, Leben zu retten und nicht, sie auszulöschen. Aber selbstverständlich werden die Heiler meines Tals zur Verfügung stehen. Ihr wisst, unsere Fähigkeiten sind einzigartig.«

»Das ist gut«, nickte Forcea. »Hünesto?«, wandte sie sich dem Oberhaupt der Cavernas zu, der auf dem Boden saß und seinen Nachbarn um Haupteslänge überragte.

»Ihr dürft euch meiner Loyalität gewiss sein«, entgegnete Hünesto und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust. »Doch kann ich nicht stellvertretend für alle Bewohner meines Tals sprechen. In den unzähligen Grotten der Cavernas gibt es versteckte Anhänger Kethamarrs. Ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass einige von ihnen unser Vorhaben unterwandern, indem sie insgeheim auf der anderen Seite kämpfen. Daher werde ich mich enthalten.«

»Dem schließe ich mich an«, rief eine kleinwüchsige Frau mit leuchtend rotem Haarschopf und erhob sich, wodurch sie nicht merklich größer wurde. »Das Volk aus dem Tal der Minitauren ist zwiegespalten, ich kann nicht für alle sprechen.«

»In Ordnung, Rubina«, nickte Forcea. »Und wie steht es mit dem Tal der Silberfeen?«

Maureen hob den bedächtig den Kopf. Ihre silberblauen Augen schweiften traurig durch die Runde »Niemals werde ich einem Krieg zustimmen. Wir Silberfeen sind Wesen der Liebe, nicht der Gewalt. Ich glaube fest daran, dass sich die Prophezeiung durch den Verzicht auf Waffen erfüllen wird. Doch nichts spricht gegen den Versuch, den Frieden durch eine Verbindung zwischen Cora und Jesias zu erlangen, sofern beide einverstanden sind.«

»Das wollen wir hoffen«, entgegnete Forcea und hob den Becher. »Damit ist es besiegelt. Stoßen wir an, auf Cora und Jesias, auf die Erfüllung der Prophezeiung für den Frieden in Anderland und auch in der Welt der Menschen. Ich danke dem Großen Rat für seinen weisen Entschluss.«

»Ihr habt Forceas Vorschlag überraschend schnell zugestimmt«, bemerkte Charlotte, während sie die Treppe hinuntertrippelte.

»In der Tat«, entgegnete Radin.

»Welche Armee könntet Ihr schicken?«, fragte die Katze, wohlwissend, dass er kein Tal hatte, auf dessen Leute er zurückgreifen konnte.

Radin blieb stehen und beugte sich Charlotte entgegen. »Die Armee, meine Teuerste steht genau vor Ihnen. Dennoch beabsichtige ich nicht, mich an diesem Krieg zu beteiligen. Vielmehr glaube ich, dass Forcea die Lage nutzt, um ihn heraufzubeschwören. Ihr Begehren ist es, die Machtposition ihres Tals zu stärken, das liegt ihr im Blut. Dazu braucht sie Verbündete. Doch wusste sie genau, dass es schwierig sein würde, diese zu finden, ohne die Alternative einer friedlichen Lösung zu bieten. Als Deckmantel wählte sie die Beziehung zwischen Cora und Jesias, doch weiß sie genau, dass es nicht funktionieren wird.«

»Aber wenn Ihr Euch nicht an diesem Krieg beteiligt, habt Ihr gelogen«, sagte die Katze entrüstet und sprang elegant auf die Mauer.

»Als gelogen würde ich es nicht bezeichnen.« Radin seufzte tief. »Vielmehr würde ich es nennen, den eigenen Weg einzuschlagen. Auch er wird seine Opfer fordern. Doch werden es Opfer sein, die viele Leben verschonen.«

»Gehört Euer Sohn Jesias zu diesen Opfern?«, bohrte Charlotte weiter, wobei sie sich den schnippischen Unterton in ihrer Stimme nicht verkneifen konnte.

»Der Junge ist erwachsen. Er wird seine eigenen Entscheidungen treffen. Doch aus Cora und ihm kann niemals die Zukunft der Welten entspringen. Das Blut mag stimmen, aber die Liebe nicht«, erklärte Radin forsch.

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Da dürfen Sie sich auf die Erfahrung und Weisheit vieler Jahrhunderte verlassen, meine Teure. Selbst wenn ich Jesias nicht gut kenne, so reicht es doch aus, diese Behauptung zu wagen.« Radin hielt inne und blickte Charlotte in die Augen. Die Fragen, die darin lagen, funkelten in tiefem Orange. Er lächelte sanft und tippte der Katze mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Vertrauen Sie mir, Charlotte. Wir werden einen Weg finden, auch wenn er steinig sein wird. Und Sie, meine Liebe, werden mich dabei unterstützen. Sie und eine weitere Person, die Sie sehr gut kennen.«

»Sie meinen …«, Charlotte hielt inne. Der Ausdruck, der in Radins Augen lag, ließ sie die weiteren Worte verschlucken.

»Ja, genau, Charlotte, die meine ich.«

Der Einbruch

EIn Hauch kalter Luft kroch über Ellens Haut und ließ sie erstarren. Im Bruchteil einer Sekunde war ihr klar, dass etwas nicht stimmte. Mit angehaltenem Atem starrte sie in ihren Praxisraum, der im Dämmerlicht kaum mehr als schummrige Konturen preisgab. Das Rascheln aufeinanderreibenden Stoffes erfüllte die Luft. Zögernd trat Ellen vor und kämpfte gegen die Gewissheit an, die sich wie eine unheilvolle Woge über ihren Körper ergoss. Dieser Luftzug konnte nur von einem geöffneten Fenster stammen. Und sie verließ das Haus nie, ohne die Fenster zu schließen. Ihre Finger tasteten nach dem Lichtschalter, und sie betrat den Raum. Hellgelbe Gardinen reckten sich ihr entgegen, winkten ihr zu, als wollten sie ein Zeichen geben. Jemand war hier gewesen. Ellens Magen zog sich zusammen, und Übelkeit stieg in ihr auf. Die Praxis war mit ihrer Wohnung verbunden. War etwa jemand dort drin? Sie spitzte die Ohren. Nur das Geräusch des Windes, der mit dem Vorhang spielte, war vernehmbar. Auf Zehenspitzen durchquerte sie den Raum. Dann hielt sie an, lauschte kurz und presste langsam die Klinke herunter. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, taumelte sie zurück. Ein Schrei entglitt ihrer Kehle. Wie gelähmt starrte sie auf das Chaos, das vor ihr lag. Schränke standen offen, der Inhalt herausgerissen, achtlos zu Boden geworfen. Ellen schnappte nach Luft. Was in aller Welt konnte jemand bei ihr suchen? Geld? Schmuck? Das war lächerlich. Mit dem, was sie als Psychotherapeutin verdiente, konnte sie sich kein Meissener Porzellan leisten. Sie besaß nichts, was für Diebe interessant sein könnte.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie allein in der Wohnung war, verwandelte sich die Angst in Wut. Wut auf denjenigen, der es gewagt hatte, ihre Privatsphäre zu beschmutzen. Ellen ballte die Faust und durchkämmte die Zimmer. Der Boden war übersät mit Scherben und Kleidern, die Matratze hing schräg über dem Bettrost, kein Buch stand mehr im Regal. Sogar im Bad lagen Handtücher kreuz und quer. Nicht mal ihr selbst war jemals solch ein Chaos gelungen. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Faust. Ihre Fingernägel hatten tiefe Kerben hinterlassen. Doch das war nichts, verglichen mit dem Schmerz, den sie in ihrer Brust verspürte. Langsam wandte sie sich um, bändigte die Gardinen und versuchte, das Fenster zu schließen. Es wollte nicht halten, die Bolzen waren ausgebrochen. Wie in Trance holte sie eins der herumliegenden Bücher, um den Rahmen zu verkeilen. Dann sah sie sich um. Hier, in ihrer Praxis, schien alles unberührt. Der Notizblock, in dem sie einige Gesprächsfetzen notiert hatte, lag auf dem Tisch. Die Vitrine mit den antiken Stücken war ungeöffnet, und auch die Bücher standen hier im Regal. Vielleicht ist der Dieb gestört worden, ging es Ellen durch den Kopf. Oder aber – er hatte gefunden, was er suchte. Aber was konnte das sein? Hilflos wanderten ihre Blicke umher. Schon griff sie nach dem Telefon, um die Polizei zu informieren, da hielt sie inne. Ihre Mutter! Ellen wirbelte herum. Der schreckliche Gedanke, ihr könnte etwas zugestoßen sein, ließ sie frösteln. Ellen hastete die knarrenden Stufen hinauf. Noch bevor sie oben ankam, öffnete sich die Tür.

»Du meine Güte Ellen, was ist los?« Ruth trat heraus und sah in das blasse Gesicht ihrer Tochter.

»Es – es war jemand in meiner Wohnung«, keuchte Ellen.

»Gott sei Dank ist dir nichts passiert.«

Ruth riss die Augen auf. »Ein Einbruch? Hier bei uns?«

»Das Fenster in der Praxis war offen, meine Wohnung ist ein einziges Chaos. Ich werde die Polizei rufen.« Ellen machte kehrt und stolperte wieder nach unten.

»Und Sie haben wirklich nichts gefunden, was Ihnen fehlt?«

Der Polizeibeamte warf einen scharfen Blick über die dunkelblaue Kante seiner Brille.

»Nein, das habe ich doch schon hundertmal gesagt. Außerdem ist es nicht so einfach, etwas zu finden, was nicht mehr da ist.« Ellen war genervt. Sie hatte gehofft, Onkel Tobs, der das örtliche Revier leitete, würde den Fall übernehmen, doch er hatte freigehabt. Schon seit Stunden, wie es ihr schien, suchten zwei Polizeibeamte nach Spuren, hatten etliche Fingerabdrücke genommen und immer wieder die gleichen Fragen gestellt. Ja, sie hatte das Fenster verschlossen, sonst wäre es nicht aufgebrochen worden. Nein, es gab niemanden, den sie verdächtigen konnte, und sie hatte auch keine Ahnung, warum jemand bei ihr eindringen sollte. Ellen wollte nur noch eins. Schlafen. Der Tag war anstrengend gewesen, sie hatte vier Therapiestunden abgehalten, und obwohl sie die Patienten schon mehrere Monate betreute, hatte sie bei drei von ihnen das Gefühl gehabt, wieder von vorne anfangen zu müssen. Nach der letzten Sitzung hatte sie laut aufgestöhnt und sich gefragt, ob es an ihr läge, oder ob sich die Probleme ihrer Patienten tatsächlich so drastisch verändert hätten. Anschließend hatte sie sich mit ihrer Freundin Leah im Holler getroffen. Und so sehr sie Leah auch mochte, nach einer Stunde musste sie an die frische Luft. Ihre Probleme zu entschärfen hatte Ellen das letzte Quäntchen Energie geraubt.

»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie es uns wissen.« Die Polizeibeamten hatten das Fenster notdürftig verriegelt, packten ihre Sachen zusammen und verließen das Haus.

Mit einem lauten Seufzer ließ Ellen sich neben ihrer Mutter auf die Couch fallen. »Darf ich bei dir auf dem Sofa schlafen?«

»Natürlich. Du kannst auch bei mir im Bett schlafen, wenn du willst, es hat einen Platz frei«, bot die Mutter an und nahm Ellens Hände in die ihren.

»Danke Mum«, nickte Ellen erleichtert und wurde sich gleichzeitig bewusst, dass sie das erste Mal in dem Bett schlafen würde, in das sich ihr Vater immer gelegt hatte, bevor er nach einem Unfall mit dem Auto in einen Fluss gestürzt – und ertrunken war. Ellen war damals mit im Wagen gewesen und war dem Tod nur mit knapper Not entkommen. Ihren Vater hatte sie nie wiedergesehen.

Kurze Zeit später schlupfte sie neben ihrer Mutter ins Bett, und als sie auf dem Rücken liegend an die Decke starrte, verdrängte die Nähe ihres Vaters die Ereignisse der letzten Stunden. Doch im Vergleich zu früher war der Gedanke an ihn kein lähmendes Gefühl mehr, sie hatte den Schmerz über seinen Tod – im Gegensatz zu ihrer Mutter – überwinden können.

In dieser Nacht schlief Ellen unruhig, immer wieder wachte sie auf, weil sie meinte, Geräusche zu vernehmen, und immer wieder fragte sie sich, was zur Hölle der Eindringling bei ihr gesucht haben könnte.

Im Holler

Das Türglöckchen der Gaststube Zum Schwarzen Holler bimmelte lauthals, als Ellens Freundin Susan hereinstürmte. Sie sah sich überrascht um. Normalerweise war der Holler um diese Zeit gut besucht. Die Steilbacher Einwohner schätzten das üppige Frühstücksbuffet. Sie fand Ellen auf ihrem Stammplatz unter dem ausgestopften Erpel.

»Du meine Güte Ellen, du siehst ja aus wie eine wandelnde Leiche.« Susan schälte sich aus mehreren Schichten Stoff und stapelte sie auf der Rückenlehne des Stuhls.

»Ich sehe nicht nur so aus, ich fühle mich auch so«, entgegnete Ellen und nahm einen Schluck ihres Kaffees.

»Was ist so dringend, dass du aufs Joggen verzichtest und mit mir in dieser Herrgottsfrühe reden willst?« Susan nahm sich nicht die Mühe, ihre Neugier zu verbergen.

»Es ist bereits zehn Uhr – und woher willst du wissen, dass ich nicht joggen war?«, stellte Ellen die Gegenfrage.

»Bewegung regt den Kreislauf an, fördert die ganzheitliche Durchblutung und färbt das Gesicht nachhaltig rot. Deins ist weiß wie Kreide. Man muss nicht unbedingt Krankenschwester sein, um das zu erkennen.« Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und befreite die Tischplatte von einigen Krümeln, die Ellen auch bei ganz genauem Hinschauen nicht ausmachen konnte. »Außerdem sehen deine Augen aus, als wärst du erst vor zwei Minuten aus dem Tiefschlaf erwacht«, fuhr Susan fort und bugsierte das Taschentuch mit spitzen Fingern an den Tischrand. »Also los, was ist passiert?«

»Bei mir wurde eingebrochen«, sagte Ellen geradeheraus.

»Ist nicht wahr!« Susan starrte sie an, und ihr Gesicht verlor nun ebenfalls an Farbe. »Was wurde gestohlen? Geld?«

»Eben nicht, das ist es ja. Ich hatte einige Scheine offen neben dem Spiegel im Flur liegen, die sind alle noch da. Auch von dem Schmuck fehlt nichts. Zumindest der vergoldete Ring, den Martin mir mal zum Geburtstag geschenkt hat, wäre was wert gewesen.« Ellen nippte an ihrem Kaffee. »Bis auf die Praxis waren alle Räume durchwühlt. Es sah danach aus, als hätte der Täter etwas Spezielles gesucht. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was das gewesen sein könnte.« Ellen stellte die Tasse ab und ließ den Kopf auf ihre Handrücken sinken. Ein Schütteln durchfuhr ihren Körper.

»Hast du die Polizei informiert?«, fragte Susan.

»Natürlich. Sie haben Fingerabdrücke gefunden, die gleichen sie mit ihrer Datenbank ab.«

»Dann kann es kein Profi gewesen sein – danke Larissa«, murmelte Susan und nahm das Glas Holundersirup entgegen, das ihr die Bedienung reichte.

»Vermutlich nicht«, stimmte Ellen zu und seufzte erneut. »Aber das macht die Sache nicht einfacher.«

»Vielleicht doch? Jetzt lass den Kopf nicht so hängen, es wird sich aufklären.«

»Hoffentlich hast du recht.« Ellen rollte das Röhrchen mit dem ungebrauchten Zucker zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Irgendwie möchte ich gar nicht mehr heim, alles fühlt sich so beschmutzt an.«

»Für Einbrecher sollte Handschuhpflicht bestehen«, sagte Susan und meinte es ernst. »Am Ende begrabschen sie noch die Wäsche mit bloßen Fingern, wie ekelhaft«, sie rümpfte die Nase.

»Ja«, entgegnete Ellen spitz. »Und gleich noch eine Listenpflicht, auf der all die Sachen aufgeführt sind, die sie gestohlen haben – und am besten auch die, die sie nicht gefunden haben.« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Angenommen, der Täter kommt zurück? Was, wenn er nicht erfolgreich war und es noch einmal probiert? Ich darf gar nicht daran denken.«

»Dann überlass das Denken anderen. Die Polizei hat Erfahrung in solchen Sachen, du machst dich nur verrückt.« Susan sah sie ernst an, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Wie wäre es mit einer Partie Billard? Ein vorprogrammiertes Erfolgserlebnis bringt dich bestimmt auf andere Gedanken?«

»Heute nicht.« Ellen schüttelte träge den Kopf. »Ich würde keine Kugel treffen.«

»Dann hat es dich wirklich mitgenommen. Aber ich kann es verstehen, ginge mir nicht anders.« Susan starrte auf den staubigen Erpel über Ellens Kopf. »Gestern ist einer vom Tränensteg gesprungen«, wechselt sie abrupt das Thema.

»Schon wieder?« Ellen zuckte zusammen. Sofort kam ihr Leah in den Sinn, die sich ein Jahr zuvor ebenfalls um Haaresbreite in die Tiefe gestürzt hätte.

»Hast du das nicht mitbekommen?«, fragte Susan erstaunt. »In den letzten Tagen sind drei Leute gesprungen. Die Polizei hatte sogar schon einen Wachdienst eingerichtet, aber die Springer haben es trotzdem geschafft. Einer hat überlebt, er wurde bei uns eingeliefert. Sie haben etliche Stunden gebraucht, um ihn zusammenzuflicken.«

»Es ist seltsam. Irgendwie geht alles an mir vorbei. Ich habe gar keine Zeit mehr, mich um das Leben um mich herum zu kümmern.« Ellen tauchte ihren Blick in den erkalteten Kaffee, als suche sie nach den Tagen der letzten Woche. »Und seit ich aufgehört habe, für das Steilbacher Wochenblatt zu schreiben, bekomme ich keine Gratis-Zeitung mehr zugeschickt.« Sie seufzte. »Und mein Terminkalender platzt aus allen Nähten.«

»Du bist eine gute Psychologin, das spricht sich herum«, sagte Susan aufmunternd.

»Psychotherapeutin«, korrigierte Ellen. »Danke für die Blumen, aber ich glaube, das ist nicht der einzige Grund.« Sie wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger und betrachtete die Kuppe, die sich blutlos hell färbte, während sie sprach: »Ich habe das Gefühl, dass der Bedarf gestiegen ist. Ich hatte noch nie so viele Patienten. Vor zwei Wochen habe ich sogar jemand am Wochenende angenommen. Die Frau war total am Ende. Am Schluss musste ich den Arzt rufen, ich konnte die Verantwortung nicht übernehmen, dass sie lebend nach Hause kommt.« Sie riss den Finger aus der Strähne. »Susan, ich habe schon eine Weile das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Und jetzt auch noch diese Springer …«

»Vielleicht haben wir eine ungewöhnliche Konstellation in den Sternen?«, überlegte Susan laut.

»Seit wann liest du in den Sternen?« Ellen blickte sie skeptisch an.

»Ich suche nur nach einer Erklärung«, winkte Susan ab. »Aber jetzt muss ich los, die Arbeit ruft.« Sie zückte den Geldbeutel.

»Schon wieder Wochenenddienst?«, fragte Ellen.

»Ja, leider. Eigentlich wollte ich mit Tilo ins Kino, aber es ist zu viel los und wir sind unterbesetzt.«

»Lass stecken«, sagte Ellen und winkte Larissa zum Zahlen.

Gemeinsam überquerten sie den Kirchplatz. Von weitem sahen sie Laila, die wie jeden Tag ihren Wollkorb mit den selbst gestrickten Socken neben den Löwenkopfbrunnen gestellt hatte und mit einem der steinernen Köpfe zu reden schien. So wie es aussah, hatte der Löwe einen Scherz gemacht, denn Laila lachte.

»Die ist schon recht durchgeknallt«, bemerkte Susan.

»Sie redet mit den Kelvinkindern, das weißt du doch«, sagte Ellen, etwas schärfer als gewollt.

»Natürlich weiß ich das. Sie sieht Dinge, die wir nicht sehen können. Und sie macht keinen Hehl daraus, es ist ihr absolut egal, was die Leute dieser Stadt über sie denken. Und dieser lila Löcherlumpen, den sie da trägt …« Susan schüttelte angewidert den Kopf.

Ellen ließ es auf sich beruhen. Ihre Freundin sprach nicht gerne über Anderland. Ihr war die Existenz einer Welt, die parallel verlief, mehr als suspekt. Von der Tatsache, dass es Wesen gab, die sich unter die Menschen mischen konnten, ohne gesehen zu werden, wollte sie nichts wissen. Dennoch war Susan klar, warum sich Laila so verhielt. Die alte Frau war in beiden Welten gleichzeitig zu Hause. Ungehemmt unterhielt sie sich mit den Bewohnern Anderlands, was in der Welt der Menschen ein äußerst kurioses Bild abgab, da niemand sehen konnte, mit wem Laila sprach. So gehörte sie mittlerweile fest zum Steilbacher Stadtbild – und war für die Leute die Durchgeknallte vom Löwenbrunnen. Laila unternahm nichts gegen diesen unschönen Ruf, im Gegenteil. Sie setzte alles dran, ihm gerecht zu werden. Denn nur mit der Tarnung, absonderlich zu sein, konnte sie sich die Fender vom Hals halten, Kethamarrs widerwärtige Kreaturen, die die Grenze zwischen Anderland und der Menschenwelt bewachten und intakt hielten. Ellen erschauderte bei dem Gedanken an die trichterförmigen Wesen, die anstelle eines Kopfes einen abscheulichen Napf trugen, der sie einst verschluckt und wieder ausgespien hatte.

Susan zuliebe machten sie einen Bogen um Laila. Im Grunde genommen war es Ellen recht, denn bereits der Anblick dieser Frau lenkte ihre Gedanken unweigerlich zu ihrem Sohn, Jesias! Ihr Herz zog sich zusammen. Die Wunde, ihn für immer verloren zu haben, wollte einfach nicht heilen. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht an ihn dachte.

Auf dem Revier

N achdem sich Ellen von Susan verabschiedet hatte, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie wollte die Spuren des Einbruchs so schnell wie möglich loswerden. Doch das Soschnell-wie-möglich zog sich bis zum Abend des nächsten Tages. Obwohl ihre Mutter sie unterstützte, schien das Einräumen länger zu dauern, als es bei ihrem Umzug vor einem Jahr der Fall gewesen war. Ellen verspürte den Drang, den gesamten Haushalt waschen und schrubben zu müssen und fragte sich, ob Susan langsam auf sie abfärbte.

Am folgenden Tag hatte sie einige Sprechstunden, doch als sie nach dem Mittagessen auf ihren Patienten wartete, kam dieser nicht. Stattdessen klingelte das Telefon. Ellen erwartete eine Entschuldigung über sein Ausbleiben, doch zu ihrer Überraschung war es die Polizei.

»Wir haben den Einbruch aufgeklärt, Frau Lang. Könnten Sie kurz vorbeikommen?«

Ellen schluckte und sah auf die Uhr. »Ist gut, ich bin in zehn Minuten da.« Mit gemischten Gefühlen hastete sie zu ihrem Auto, schob den Kindersitz unter ihr Gesäß, damit das Lenkrad ihr Blickfeld nicht halbierte, und startete den Motor. Ihr Golf gab ungesunde Geräusche von sich. Ich muss dringend in die Werkstatt, dachte Ellen und lenkte den Wagen mit rasselndem Crescendo in Richtung Polizeirevier. Eine Parklücke vor dem Gebäude wäre vorhanden gewesen, doch der Gedanke, beim Einparken eines der Fahrzeuge zu rammen, noch dazu direkt vor den Augen des Gesetzes, ließ sie die Seitenstraße wählen. Mit flauem Gefühl im Magen öffnete sie die Tür zu dem Gebäude des Reviers.

»Ah, Frau Lang.« Der Polizist, der in Ellens Wohnung den Tatbestand aufgenommen hatte, lächelte ihr entgegen. »Wir konnten den Täter dingfest machen. Durch den Hinweis einer Nachbarin und den Fingerabdrücken des Täters scheint der Fall klar zu sein. Auch fehlt ihm ein Alibi für den Zeitraum, in dem der Einbruch stattfand«, erklärte er ohne Umschweife und mit etwas zu weit vorgeschobener Brust. Die Blicke, die er über die Brillenränder warf, fischten eindeutig nach Komplimenten.

»Das ist ja wunderbar«, sagte Ellen pflichtbewusst und rang sich ein anerkennendes Lächeln ab. »Wissen Sie auch, was er bei mir gesucht hat?«

»Nein. Aber das können Sie ihn gleich selbst fragen.« Der Polizeibeamte winkte, ihm zu folgen.

»Selbst fragen?« Ein schwammiges Gefühl durchzog Ellens Knie. »Sie meinen – er ist hier?«

»Er ist hier und behauptet, Sie zu kennen.«

»Mich – kennen? Aber …« Der Schwamm erklomm ihre Magengegend. Die Vorstellung, dass jemand, den sie kannte, durch ihr Fenster kletterte und ihre Wohnung durchwühlte, ließ sie erschaudern.

Vor einer Tür mit milchigem Glas hielt der Beamte an.

»Wenn Sie bitte eintreten wollen?«

Ellen zögerte und durchforstete gedanklich ihren Freundeskreis. Nicht einer war dabei, den sie in der Einsteigerliga sehen würde. Mit bangem Gefühl trat sie ein – und öffnete erstaunt den Mund. Neben einem Polizisten, der wie eine Bulldogge über seine Wurst wachte, saß Susans Freund, Tilo, dessen Augen aufgebracht unter der neongrünen Schildkappe hervorblitzten.

»Ellen, es ist nicht, wie du denkst«, sprudelte er los.

»Tilo – du?«Mehr konnte Ellen nicht sagen.

»Ich war das nicht, Ellen. Bitte sag diesen Hirneseln, dass ich so etwas nie tun würde, das ist doch absoluter Schwachsinn.«

Ein drohendes Knurren erhob sich. »Reiß dich zusammen, Bursche, sonst hast du ein zweites Problem am Hals.«

»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist«, fuhr Tilo fort. »Plötzlich stehen die vor meiner Haustür, behaupten, ich hätte bei dir eingebrochen und schleppen mich mit.«

»Und wie erklären Sie sich die Übereinstimmung der Fingerabdrücke?«, fragte der Beamte und hob drohend die Lefzen.

»Keine Ahnung. Aber meine Fingerabdrücke können nicht auf dem Fenster gewesen sein, denn ich war nicht dort!« Tilo schleuderte die letzten Worte in den Raum.

»Moment«, mischte sich Ellen ein. »Tilo spricht die Wahrheit. Er würde so etwas niemals tun, warum sollte er auch?«

»Nun, alle Tatsachen sprechen gegen ihn. Die Beweislage ist erdrückend. Er hat nicht einmal ein Alibi, um…«

»Warum sollte Tilo durch das Fenster steigen, wenn er durch die Tür gehen könnte? Seine Freundin hat meinen Hausschlüssel«, unterbrach Ellen.

»Dann hat er vielleicht nicht gewusst, dass seine Freundin im Besitz des Schlüssels ist?«

»Natürlich weiß ich das. Hinter der Eingangstür im Schlüsselkasten hängt er. Rufen Sie Susan an, sie wird es bestätigen.«

»Eventuell war es ein spontaner Entschluss und die Freundin war nicht zu Hause?«, forschte der Beamte weiter, doch erstmals lag ein Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme.

»Ich habe auch ihren Schlüssel.« Tilo stocherte mit seiner Hand in der Jackentasche, was die Bulldogge aufzucken ließ.

»Immer langsam, Junge, keine schnellen Bewegungen.«

Tilo rollte mit den Augen, zog einen Schlüsselbund aus seiner Tasche und warf ihn vor sich auf das Pult. »Der Silberne mit der viereckigen Form. Probieren Sie ihn aus.« Er drehte den Schild seiner Kappe nach hinten. »Damit können wir hier abbrechen. Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun!«

»Moment, Moment, nicht so eilig«, unterbrach der Beamte gereizt. »Es gibt noch einiges zu klären.«

»Wenn Tilo der Einzige ist, den Sie mir als Täter vorweisen können, ziehe ich hiermit die Anzeige zurück«, erklärte Ellen barsch. »Er war es nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Dann werden Sie sich ordentlich die Finger verbrennen. So einfach läuft das nicht!«, knurrte einer der Beamten.

»So?«, zischte Ellen und erhob sich. »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich mal telefoniere.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum. Als sie kurze Zeit später zurückkehrte, streckte sie dem Polizisten ihr Handy entgegen. »Bestimmt kennen Sie Theobald Vomrecht. Er ist am Apparat.«

»Wir werden den Mann entlassen. Auf Bewährung versteht sich«, erklärte der Beamte kurz darauf zähneknirschend und gab Ellen das Handy zurück. »Ich werde den Kollegen von der Streife Bescheid sagen, dass sie ihn nach Hause bringen sollen.«

»Ich werde Tilo mitnehmen«, sagte Ellen und sprach Onkel Tobs ein gedankliches Danke aus. Dann zwinkerte sie Susans Freund zu, dem die Erleichterung deutlich anzusehen war.

»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, sagte Tilo und verlangte seinen Schlüsselbund zurück. »Aber ich bin mir hundertprozentig sicher, Sie werden den Richtigen finden. Schönen Tag auch.« Er tippte mit dem Finger an seine Schildkappe und folgte Ellen nach draußen.

»Ich habe meinen Wagen irgendwo in einer Seitenstraße geparkt.« Ellen blieb stehen und versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, wir müssen …« Sie hielt inne und starrte Tilo ins Gesicht. »Ich zweifele nicht an der Wahrheit deiner Worte, falls es das sein sollte, das dich so triesetümplig dreinblicken lässt.«

Tilo seufzte. »Aber ich habe an meiner Aussage so meine Zweifel – und genau das ist mein Problem«, entgegnete er leise.

»Mach dir keinen Kopf, es muss sich um ein Missverständnis handeln«, versuchte Ellen ihn aufzumuntern und wandte sich zum Gehen. Ihr war eingefallen, wo sie geparkt hatte.

»Das ist es nicht.«Tilo fasste Ellen an der Schulter.

Sie stoppte. »Was ist es denn dann?«

»Ellen ich … verdammt …«

»Jetzt rück schon raus!«

Tilo biss sich auf die Unterlippe, dann holte er tief Luft. »Ich habe keine Ahnung, was letzten Abend los war. Es ist wie verhext! Ich war zu Hause und habe ferngesehen. Gans und Gar, diese Sendung mit den Kochtipps.«

»Bist du eingeschlafen?«

»Das habe ich zuerst auch gedacht, aber Susan hat mich in dieser Zeit mehrmals angerufen. Sie hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen.«

»Dann hast du vielleicht Gans und Gar tief geschlafen?«, fragte Ellen mit einem Seitenblick.

»Unmöglich, das Telefon lag genau neben mir. Ich hätte es gehört.« Tilo riss sich die Schildkappe vom Kopf und fuhr sich durch die Haare. »Es ist, als ob mir ein Teil des Abends fehlt. Als hätte ich einen Blackout gehabt. Und genau in dieser Zeit fand bei dir der Einbruch statt.«

»Und deine Fingerabdrücke befinden sich an meinem Fensterrahmen«, ergänzte Ellen stirnrunzelnd. »Hattest du vielleicht was getrunken?«

»Selbst im Vollsuff käme es mir nie in den Sinn, bei dir einzusteigen«, bemerkte Tilo und zog sich die Schildkappe wieder über den Kopf. »Ich kann mir das alles nicht erklären, und das macht mich ziemlich fertig. Wenn Susan das erfährt …«

Ellen legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Das mit Susan ist deine Sache. Aber was die Polizei anbelangt – Tilo, ich weiß, dass du so etwas niemals tun würdest. Ich halte zu dir, egal was kommt.«

»Danke, Ellen, ich schätze das sehr«, erwiderte Tilo und drückte ihre Finger.

Feuer im Abrissviertel

Ellen hatte Tilo zu Hause abgesetzt und musste sie sich beeilen, um ihren nächsten Termin nicht zu verpassen. Als sie das Auto abstellte, stand ihr Patient bereits vor der Haustür.

»Ich habe schon ein paar Mal geklingelt. Jetzt wollte ich gerade wieder gehen, weil ich dachte, Sie hätten mich vergessen«, rief er ihr zu.

»Es tut mir leid, ich hatte etwas zu erledigen und es dauerte länger als erwartet.« Ellen kramte in der Handtasche.

»Sie halten den Schlüssel in der Hand.«

»Oh, danke.« Ellen spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie musste sich erst beruhigen und war froh, dass dieser Patient ein unkomplizierter Fall war, der im Grunde genommen keine Therapiestunden mehr benötigte. Da der Mann allein lebte, hatte sie den Verdacht, dass er einfach gerne plauderte. Momentan könnte ich die Zeit für dringendere Fälle gebrauchen, dachte sie leise und sagte laut:

»Ich mache uns erst mal einen guten Kaffee. Wie immer mit Milch, ohne Zucker, Herr Sprichfreud?«

»Sie lesen mir wie immer die Wünsche von den Augen ab, liebe Frau Lang. Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, dass die Besuche bei Ihnen mein Wochenlichtblick sind?«

»Das freut mich«, sagte Ellen und seufzte innerlich. Ihre Gedanken schweiften ungewollt zu Tilo.

»Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass sich die Menschen in unserer Stadt verändert haben?«, fragte Herr Sprichfreud und nahm auf der Couch Platz.

Ellen servierte den Kaffee und ließ sich dann in dem alten Ohrensessel ihres Vaters nieder. »Wie meinen Sie das?« Ihre Aufmerksamkeit war jetzt ungeteilt.

»Na ja, so genau lässt es sich gar nicht beschreiben.« Er strich sich mit dem Rücken seiner Hand über den grauen Bart, um einen Tropfen Kaffee abzufangen. »Wenn ich nur an den Markt denke. Sonst ist er ein Ort, an dem geredet und gelacht wird. Aber in letzter Zeit hat es kaum Menschen auf demKirchplatz und die, die kommen, sind oft schlechter Laune.« Er schwieg kurz. »Oder habe ich da eine falsche Wahrnehmung? Bin ich etwa rückfällig geworden?«, seine Stimme klang gequält.

»Keine Sorge, Herr Sprichfreud. Soweit ich das beurteilen kann, sind Sie stabil. Aber was glauben Sie, könnte der Grund dafür sein, dass sich die Menschen verändert haben?«

»Wenn ich das nur wüsste.« Er rollte mit den Augen und beugte sich zu Ellen, als ob er Angst hätte, gehört zu werden. »Vielleicht hängt es ja mit den Todesfällen auf dem Tränensteg zusammen. Stellen Sie sich vor, es gab schon wieder drei.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Ellen und lehnte sich zurück, um dem kaffeegeschwängerten Atem zu entkommen.

»Und ich bin mir sicher, sie alle wären noch am Leben, hätten sie vorher mit Ihnen gesprochen«, er schenkte Ellen ein bewunderndes Lächeln.

Ellen fühlte sich ebenso bedrängt wie geehrt, behielt aber beides für sich. Stattdessen packte sie das Thema beim Schopf, um den Mann aus ihrer Kartei zu bugsieren.

»Ich gebe Ihnen vollkommen recht, Herr Sprichfreud. Auch ich habe das Gefühl, dass die Menschen meine Hilfe in diesen schweren Zeiten gut gebrauchen könnten. An Anfragen mangelt es nicht, nur leider habe ich kein Kontingent frei und wäre daher froh…«

»Na, welch ein Glück, dass ich meinen festen Platz in Ihrem Terminkalender habe«, sagte der Mann zufrieden und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

»Ja, welch ein Glück.« Ellen seufzte und rollte innerlich mit den Augen. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass er ihre Zeit nicht mehr nötig hatte.

Nachdem er sich dreimal verabschiedet hatte, lehnte sich Ellen mit dem Rücken an die Tür und schloss die Augen. Sie fühlte sich völlig erschlagen, und das wollte auch nicht besser werden, als sie ihre blitzblank geputzte Wohnung betrat. Irgendetwas braute sich zusammen, und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass der Einbruch nur der Vorbote eines Sturms war, dessen Ausmaße sie sich nicht vorzustellen wagte.

Grübelnd zog sie ihr Handy aus der Tasche. Auf der Rückseite befand sich noch immer der Klebestreifen mit der Aufschrift Uwe. Sie hatte es nach wie vor nicht übers Herz gebracht, ihrem Handy den Namen zu nehmen. Als hätte Uwe auf ihre Berührung gewartet, krähte er lauthals los.

»Leah?«, rief Ellen in das Telefon.

»Hier ist nicht Leah«, meldete sich eine kantige Männerstimme, und Ellen verkrampfte innerlich. Diese Stimme gehörte Kain Frömmler, dem Allzeit-Rekordhalter unter Leahs Liebschaften. Unglücklicherweise war ausgerechnet er es, mit dem Ellen am wenigsten anfangen konnte. Kain kam aus demAbrissviertel, und obwohl die farbigen Stacheln, die er früher auf dem Kopf getragen hatte, gekappt waren, mied Ellen ihn, wo immer es ging.

»Kannst’e vorbeikommen?«, fragte er.

»Warum? Ist was mit Leah passiert?« Ellen wurde auf einmal nervös.

»Und ob. Die spinnt total. Du bist doch auf so Psychozeug eingeschossen.«

Auf so Psychozeug eingeschossen! Ellens Nackenhaare schossen gen Himmel.

»Was ist mit Leah?«, fragte sie schroff.

»Die rastet voll im Dreieck, keine Ahnung, was mit der los is. Kannst se dir mal anschauen?«

Er spricht von ihr, als handele es sich um ein Stück Vieh, dachte Ellen und unterdrückte den Wunsch, ins Telefon zu spucken.

»Bin gleich da«, sagte sie stattdessen und schlüpfte in ihre Jacke.

Ein paar Minuten später knatterte ihr Golf durch das Abrissviertel, wich herumliegenden Mülltonnen aus und hielt direkt vor Leahs Wohnung, die am Rande des Viertels lag. Eigentlich hatte Leah längst umziehen wollen, doch ihre finanzielle Lage durch den unerwarteten Verlust ihres gerade erst angetretenen Jobs knebelten sie weiter an diesen ungastlichen Ort.

Kains Kopf erschien hinter der halb geöffneten Tür. »Die Tuss hat se nich’ mehr alle. Die is nich’ ganz gebacken«, schleuderte er Ellen entgegen.

»Was ist passiert?«, fragte Ellen, bemüht, sich nicht auf Kains Sprachniveau herabzulassen.

»Keine Ahnung, was mit der los ist. Wollte nich’ mit zu meinen Kumpels. Wollte daheim hocken, wie immer.« Er rammte sich eine Zigarette zwischen die Zähne. »Ich hab gesagt, dass ich das nich’ mehr mitmache. Dann is se heulend ins Bad gerannt und – als se wieder rauskam, is se komplett ausgetickt, hat alles rumgeschossen. Sogar meine Briefe hat se mir vor die Füße geschmissen und is darauf rumgetrampelt wie ’ne durchgeknallte Kuh.« Er nahm einen tiefen Zug.

Ach, du kannst schreiben?, dachte Ellen, doch sie verkniff sich die Worte. »Ich werde nach ihr schauen«, sagte sie.

»Viel Spaß auch. Ich zieh Leine, und die soll mich verdammt nochmal in Ruhe lassen!« Er warf die halb gerauchte Zigarette auf den Boden und drehte seinen Absatz darauf, als wolle er sie in den Beton schrauben.

Ellen betrat das Wohnzimmer – und schnappte nach Luft. Nicht nur, weil es nach abgestandenem Zigarettenrauch stank, es sah auch aus, als habe hier vor Kurzem ein Kampf stattgefunden. Bilder waren von den Wänden gerissen und lagen zersplittert am Boden, als wären sie quer durch den Raum geschleudert worden. Überall waren Hefte, Zeitungen und Briefe verstreut. Auf einem zerknüllten Kuvert konnte Ellen An Lea lesen. Nicht mal Leahs Namen kann der Typ richtig schreiben, ging es Ellen durch den Kopf, während sie auf den zerbrochenen Aschenbecher starrte. Daneben lag ein Feuerzeug mit den eingravierten Initialen KF inmitten von herumliegenden Kippen.

»Um Himmels willen, Leah, was ist hier passiert?«, fragte Ellen bestürzt.

Leah antwortete nicht. Wie versteinert saß sie in der Ecke ihrer Couch. Nur das rasche Heben und Senken ihrer Brust verriet, dass sie sich kurz zuvor heftig bewegt haben musste. »Leah, bitte. Erzähle mir, was passiert ist.« Ellen setzte sich zu ihr.

Ihre Freundin schien eine Weile mit sich zu ringen, dann flüsterte sie. »Alles in Ordnung.«

»Alles in Ordnung? Und warum dann das Chaos?«

»Es ist kein Chaos«, widersprach Leah leise, als wolle sie ihre Stimme verbergen und verschob den Blick auf ihre Handrücken. Ihr Atem hatte sich beruhigt.

»Wie war dein Tag? Was hast du heute gemacht?«, änderte Ellen die Strategie.

Leah schwieg erneut, dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite und blickte Ellen durch die rote Fassung ihrer Brille an.

»Warum willst du das wissen?«, stellte sie die Gegenfrage.

»Vielleicht … weil es mich interessiert?«, entgegnete Ellen verwirrt. So hatte sie Leah noch nie erlebt.

Es folgte erneutes Schweigen.

»Leah, was ist hier geschehen? Warum ist dieses Zimmer so verwüstet?«

»Es ist nicht aufgeräumt.«

»Nicht aufgeräumt? Es sieht aus, als hätte hier eine Schlacht stattgefunden.«

»Es ist nicht aufgeräumt. Es ist alles in Ordnung«, beharrte Leah.

»Das Gefühl habe ich nicht, Leah, bitte sieh mich an.« Schweigen.

Ellen starrte in Leahs abgewandtes Gesicht. Je länger, desto mehr hatte sie das Gefühl, die Verantwortung für diese Situation nicht übernehmen zu können. Schon einmal hatte sich ihre Freundin das Leben nehmen wollen. Und in dem Zustand, in dem sie sich jetzt befand, schien sie zu allem fähig. Behutsam legte Ellen eine Hand auf Leahs Schulter. »Ich habe das Gefühl, dass du dringend Hilfe brauchst. Ich werde jemandem Bescheid sagen.«

»Neeein!!!«