Emile Verhaeren - Stefan Zweig - E-Book

Emile Verhaeren E-Book

Zweig Stefan

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Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der belgische Dichter Emile Verhaeren (1855–1916) gilt mit seiner Intensität der Sprache und seiner Lebensbejahung in der modernen, technisierten Zeit als europäischer Walt Whitman. Nach einer Begegnung im Sommer 1902 freundschaftlich mit ihm verbunden, schrieb Stefan Zweig 1904 einen ersten Aufsatz über Verhaeren. Seine Biographie »Darstellung Verhaerens« erschien im Rahmen der ersten deutschen Werkausgabe 1910. Als der Dichter 1916 in Frankreich tödlich verunglückte, hatten die Ereignisse des Ersten Weltkriegs die Freunde entzweit, dennoch veröffentlichte Stefan Zweig seine ›Erinnerungen an Emile Verhaeren‹ als Privatdruck. Diese Ausgabe der Biographie versammelt alle drei Texte, Aufsatz und Erinnerungen liegen hier erstmals in Buchform vor.

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Stefan Zweig

Emile Verhaeren

Fischer e-books

Mit einem Nachwort von Knut Beck.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

1904

Emile Verhaeren

Was weinst Du, Sturm? – Hinab Erinnerungen!

Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!

Es grollt ein Schrei von Millionen Zungen

Nach Glück und Frieden: Wurm, was will Dein Schmerz?

Richard Dehmel

»Von allen französischen Dichtern unserer Tage, diesen Narzissen, die sich über die Ufer spiegelnd niederbeugen, ist Emile Verhaeren am wenigsten geneigt, sich bewundern zu lassen.« So sagt Remy de Gourmont in seinem ›Livre des Masques‹ von dem großen flandrischen Dichter. Und alle die Franzosen, die über ihn schreiben, beginnen ähnlich. Ein dunkles Gefühl lehrt sie, daß er nicht zu ihnen gehört, er, den sie so ungern aus ihrer Reihe missen wollen. Und doch: er ist ihnen zu groß. Seine starke und unbändige Vitalität, sein intensives und qualvolles Ringen um eine Weltanschauung – die spezifisch germanisch ist und jenen monistisch-pantheistischen Gottesbegriff mit der Idee immanenter Entwicklung vereint – schließlich die sinfonische Gestaltung seines dichterischen Werkes haben ihnen noch zu sehr den bitteren Nachgeschmack des Barbarentums, als daß sie seine intellektuelle Überlegenheit voll anerkennen könnten und sie der lauen Weisheit eines Sully Prudhomme, der matten Anmut François Coppées und dem Schatten des tönenden Erzes Victor Hugo wuchtig entgegenstellten. Nach Jahren hat er sich nun eine vorsichtige Achtung erzwungen. Man hat ihm eine zu nichts verpflichtende Rubrizierung gegeben, die der Notwendigkeit enthebt, sich mit ihm intensiv zu befassen: er heißt offiziell »le poète de demain« – der Dichter von morgen.

 

Wer einmal objektiv die Geschichte der »Symbolistes« und »Décadents« und ihrer erstaunlich schnellen Erfolge darstellen wird, dem kann die eigentliche Ursache dieser Bewegungen – die man in Frankreich unterschlägt – nicht verborgen bleiben. Daß der »vers libre« – der freie Vers – Nebensache ist und die jetzt schon sehr erbitterte Zänkerei um seine »Entdeckung« eine Farce, müßte er allerdings zur Voraussetzung nehmen. Die Grundtatsache ist, daß einfach fremdnationale Elemente in die französische Dichtung einsickerten. Paul Verlaine, der Elsässer, hat die musikalischen Elemente des deutschen Liedes gebracht. Maurice Maeterlinck, Emile Verhaeren, Max Elscamp, Albert Mockel sind Vlamen, François Vielé-Griffin ist Amerikaner, Stuart Merrill Engländer, Jean Moréas Grieche und der offizielle Initiator Gustave Kahn – da man ja jetzt auch in Frankreich die Unterscheidung zu machen beliebt – ein Jude. Oder kurz gesagt: die moderne französische Kunst, die auch gegenüber Wagner und Nietzsche sich ungemein aufnahmefähig erwies, hat das spezifisch Französische abgestreift und dadurch ungleich an Lebendigkeit und Farbe gewonnen. Und so allein konnte es unbemerkt bleiben, ein wie deutscher Dichter in ihrer Mitte schuf, wie er unbewußt die Fremdsprache umhämmerte, bis sie sich seiner gedanklichen Wucht gefügig erwies und eigentlich eine fremde war. An die grandiose Entwicklung des Lyrikers Emile Verhaeren, die durch ein fremdes Element hindurch heimatliche Denkweise in ihrem Kulminationspunkte erreichte, ließe sich vielleicht ein Sprachgesetz angliedern, das zu streng nationalen Konsequenzen führte, obwohl dieser Aufschwung in seiner Vollendung eher einen Ausnahmefall als eine Regel bedeutet.

Emile Verhaeren – die Aussprache ist Verhaaren, ebenso wie Maaterlinck – ist im Jahre 1855 zu St. Amand, nahe bei Antwerpen, geboren. Zu Gent drückte er zusammen mit Georges Rodenbach die Schulbank, um gleich nach der Befreiung vom Lyceum eine Revue ›La semaine‹ zu gründen, gemeinsam mit Van Dyk, dem berühmten Wagner-Sänger. 1883 erscheint sein erstes Versbuch ›Les Flamandes‹ (›Die Fläminnen‹). Verhaeren ist hier absoluter Naturalist, Schüler Emile Zolas und des ihm näherstehenden Camille Lemonnier. Es ist ein Buch robuster Gesundheit, mit starkem Erdgeruch und bunten, stark aufgetragenen Farben. Fast ausschließlich bilden national-charakteristische Genrebilder die Motive. Die Ebenen mit ihrem wechselnden Farbenspiel, leere Speicher, das Brotbacken, das Melken, die Kuh selbst, die schläfrig und graß im Grünen liegt, die Ernten, die Sonntagsstube, die Kirmessen und die Liebesnächte. Die ganze flandrische Heimat ist mit der Sorgsamkeit der alten Holländer gezeichnet, vielleicht auch mit ihrer leisen Hölzernheit in den Empfindungen: es weht kein Atem durch das Buch, alles ist Kälte und Ruhe. Die Form ist komplementär: Verhaeren ist noch absoluter Parnassien. Und ebenso im nächsten Buche ›Les moines‹ (›Die Mönche‹), das mit programmatischer Regelmäßigkeit das Leben der Mönche nachzeichnet, die in den alten wundersamen Klöstern Belgiens leben. Nur daß hier schon die Motive selbst leise seelische Schwingungen loslösen, daß die Mystik dieser frommen Seelen selbst schon mit geheimnisvollem Dufte die Verse übersprengt.

Plötzlich erfolgt ein jäher und folgenschwerer Umschwung. Nach diesen zwei Büchern sicherer Beobachtung und strotzenden Lebensgefühls erscheint die Trilogie ›Les soirs‹ (›Die Abende‹), ›Les débâcles‹ (Die Niederlagen), ›Les flambeaux noirs‹ (»Die schwarzen Fackeln‹), ein maniakalisches, quälerisches, neurotisches Werk, das beispiellos ist in seiner seelischen Exaltation und seiner flagellantischen Selbstzerfleischung. Wie Vielé-Griffin mitteilt, entspricht es einer physischen Nervenkrise im Leben Verhaerens. Aus Traurigkeiten und Müdigkeiten wächst es empor. Tatsächlich ist Maeterlincks trüber Vers das Leitmotiv: »Et la tristesse de tout cela, o mon âme, et la tristesse de tout cela.« (»Und die Traurigkeit von alldem, o meine Seele, und die Traurigkeit von alldem.«) Ein trüber, gottleerer Himmel wacht über öden Flächen. Und Angst zuckt auf: vor einem ewigen Winter, vor einem eisigen, kalten Gotte, vor dem Schweigen, das mit seinen Messern das Herz zerschneidet. Und näher rückt der Wahnsinn und die Verzweiflung: »L’absurdité grandit comme une fleur fatale.« (»Das Widersinnige wächst wie eine verderbliche Blume.«) Bittere Schmerzen erwachen. Aber mit ihnen auch die perverse Wollust, sie zu erhöhen, sich selbst zu foltern.

»Sois ton bourreau toi même!

N’abandonne l’amour de te martyriser

A personne, jamais.«

(»Sei selbst dein Henker! Gib

An niemanden die Lust, dich zu mißhandeln,

An keinen, nie und nimmer!«)

[S. Z.]

 

Aus der erstickten Stille erwachen jähe Schreie. Alle Wünsche sind tot. Nur absurde Träume flackern auf: die eherne Götzenfratze im Tempel zu Benares zu sein und in eigener Ohnmacht die Gläubigen zu verlachen. Oder im Grabe zu liegen und die Würmer zu belauschen, die den müden Leib zerfressen. Oder eine Dornenkrone zu tragen, deren Spitzen die Nerven zerstechen, in denen die bösen Gedanken nagen. Schmerz, unglaublicher Schmerz durchflutet diese Seele und brandet gegen die Enge des verzweifelt hämmernden Herzens. Gleichsam zu einem Siedepunkt sind die fiebernden Gefühle aufgepeitscht und drohen das schwanke Gefäß zu zersprengen.

Jede Steigerung in dieser solipsistischen Richtung wäre Wahnsinn gewesen. Aber der Paroxysmus löst die Seele aus dem Krampfe. Gleichsam ein Ventil öffnet sich. Die ganze ungeheure Wucht dieser exaltierten und in subjektives Erleben komprimierten Gefühle ergießt sich in die Welt. Und solche Fülle ist in ihnen, daß alle Objekte aus ihnen ein erträumtes und mächtiges Leben gewinnen, daß gleichsam die ganze Welt dem Dichter durchflutet scheint von diesen schmerzlichen Erregungen und fiebernden Schauern. »Exalter la vie!« ist jetzt Verhaerens Bemühen, das ganze Leben mit Empfindungen zu durchtränken und sich selbst mitzuwerfen in diesen wirbelnden Strom der Allwelt. Die verhängnisvolle Fieberglut wird zu einer gesunden beseelenden Flamme, in deren Schein sich nun vielfältiges Leben spiegelt. Verhaeren projiziert sein eigenes Empfinden in erlesene symbolische Gestalten. Vorerst noch in einzelne. In den Büchern ›Les villages illusoires‹ (›Die trügenden Dörfer‹) und ›Les vignes de ma muraille‹ (›Die Weinberge an meiner Stadtmauer‹) erfüllt er fremde Seelen mit den schmerzlichen und angstvollen Gefühlen der eigenen. Seine fieberische Angst ist es, die in der Gestalt des einsamen Schiffers bebt, der steuerlos in das mörderische Dunkel treibt, seine fieberische Erregung, die den Glöckner im brennenden Turme weithin ins Land die wahnsinnigen Glockenrufe schleudern läßt. Seine heiße Seele erschafft die grandiose Vision der Fischer, die an ihren schwarzen Netzen nur ihr eigenes Leid rastlos schleppen, sie erträumt den Sträfling, der all seinen Zorn in Arbeit umhämmert, den alten Müller, der einsam in seiner Mühle lebt, den Totengräber, die erschreckten Menschen der jäh aufflammenden Scheunen – dieses ganze Land grauer Regentage und leidenschaftbewegter Gestalten. Aber die fiebrige Kraft in ihm sehnt sich noch nach vielfacheren Belebungen, nach wilderen, größeren Gewalten. Die Horizonte wachsen unter der Wucht dieser aufschäumenden Gefühle. Nicht mehr der einzelne ist groß genug, daß sich diese wilde Seele in ihn ergießen könne, sondern nur die Vielheit befriedigt die Halluzinationen.

»[Comme une vague en des fleuves perdue,

Comme une aile effacée au fond de l’étendue,]

Engouffre-toi

Mon cœur, en ces foules battant les capitales

De leurs fureurs et de leurs rages triomphales;

Vois s’irriter et s’exalter

Chaque clameur, chaque folie et chaque effroi;

Fais un faisceau de ces milliers de fibres;

Muscles tendus et nerfs qui vibrent;

Aimante et réunis tous ces courants

Et prends

Si large part à ces brusques métamorphoses

D’hommes et de choses,

Que tu sentes l’obscure et formidable loi

Qui les domine et les opprime

Soudainement, à coups d’éclairs, s’inscrire en toi.«

([»Wie eine Welle im Strom sich verliert,

Eine Schwinge im Äther unsichtbar wird,]

So verliere auch du,

O mein Herz, dich in diesen unzählbaren Mengen,

Die die Städte mit Schrei und mit Jubel durchdrängen!

Sieh zu, oh, sieh zu,

Wie sich Angst und Triumph und Wahnsinn dort schärfen,

Wie sie sich steigern und jäh sich entladen

In zuckenden Flammen,

Und schmiede die tausend Fibern und Adern,

Die springenden Muskeln, die zuckenden Nerven

Dir dann in eine Einheit zusammen!

Vereine, umfasse

Liebend in dir die zerstückelte Masse

Und nimm immer so sehr

Teil an diesem Verändern und Wandeln

Der Menschen und Dinge,

Bis dich dann plötzlich das tiefste Gebot,

Nach dem sie alle ahnungslos handeln,

Jäh wie ein blendender Blitz durchloht!«)

[S. Z.]

 

In den brausenden Tumulten der großen Städte, in dem wirren Trieb ekstatischer Massen formt er die Wirklichkeit nach seinem eigenen Herzen, gibt ihr eine wilde, hinreißende Schönheitslinie und suggeriert ihr eine wunderbare ideelle Wucht. Eine soziale Idee flutet mit: der Gedanke des modernen Industrialismus, die Vorherrschaft der Riesenstädte über das verarmende Land.

Aus dieser Vereinung wachsen die beiden monumentalen Bücher ›Les campagnes hallucinés‹ (›Die täuschenden Felder‹) und ›Les villes tentaculaires‹ (›Die Städte mit Polypenarmen‹), Werke, die meinem Empfinden nach der Weltliteratur angehören. Es ist Großstadtpoesie in dionysischem Stile, die Verhaeren hier geschaffen hat, ein glühendes Bild mit überreizten, aber grandiosen Farben. Die Exaltation des Lebens ist hier eine vollkommene: die Armut und das endlose Elend des leeren Landes einerseits, das nur noch von sinnlosen Vaganten durchirrt ist, wächst zu ungeahnten schaurigen Dimensionen. Und andererseits wird die Stadt ein grandioser Zauberkessel brodelnder Leidenschaften und tobender Gewalten. Häfen und Märkte, Lupanare und Schaubühnen, Stuben und Gassen, Börsen und Kathedralen, Revolten und Feste, Maklerplätze und Kirchhöfe – alles flammt auf in einem tumultuarischen und wirbelnden Chaos. Es ist die Stadt mit den Polypenarmen, die alle Kraft und Leidenschaft des Landes in sich gesogen hat und nun aufschäumt in den Krisen ihres kochenden Blutes. Ein unendlicher sozialer Pessimismus entströmt diesem Dichtwerk, wiewohl das utopische Drama ›Les Aubes‹ (›Die Morgendämmerungen‹), das die Triologie vervollständigt, eine Wendung gegen die harmonische Vereinung der Gegensätze bezweckt. Diese Triologie gehört zum Größten, was die französische Literatur geschaffen: sie ist geschweißt wie rotglühendes Eisen und hat Unbiegsamkeit und Unvergänglichkeit in sich.

In den nächsten Werken ist Verhaerens Gesundungsprozeß weiter vorgeschritten, er hat die lange vergeblich ersehnte Stabilität aus dem Schwanken zwischen halluzinatorischen Fieberträumen und bewußter Wirklichkeit. Aus dem Chaotischen gliedert sich das Sinfonische, aus dem Dionysischen das Apollinische. Nicht mehr das Materielle wird das Bewußte, sondern das Wirkende: die ewigen Gesetze. Die Gewalten des Lebens klären sich, aus dem trunkenen Chaos heben sich klare, reine Linien, aus der zuckenden Fülle die »ewigen Gefühle«. Eine pantheistische Philosophie mit einer sehr bewußten wissenschaftlichen Note vereint sich mit dem mystischen Unendlichkeitsgefühl, ohne seine dunkle Gewalt zu trüben. In ›Les visages de la vie‹ (›Die Gesichter des Lebens‹), dem von der belgischen Regierung mit dem großen Staatspreis bedachten Buche, hat diese Wandlung zu gedanklicher Klärung begonnen. Verhaeren hat darin die treibenden Kräfte von ihren Effekten losgeschält und eine ethisch-künstlerische Wertung unternommen. Noch ist der Pessimismus nicht überwunden – »hélas, vivre et souffrir sont un« (ach, Leben und Leiden sind eins«) –, aber der Weltschmerz kann für den Dichter nicht mehr grenzenlos sein, der die Welt selbst überbrückt, um sich ins ewige Spiel der Kräfte suggestiv einzuleben und so die Schauer der Unendlichkeit schöpferisch zu genießen. In ›Les forces tumultueuses‹ (›Die lärmenden Kräfte‹) mengt sich das Element des »Modernismus« ein – wie es Beaunier in seiner klaren und klugen Studie nennt –, die Idee des Fortschritts moderner Wissenschaft, die fieberische Glut der Entdeckung und der rastlosen Forschung. Es ist jener große Gedanke, den Johannes Schlaf bei uns gleichzeitig in seinem Roman ›Das dritte Reich‹ gesteigerte Form gewinnen ließ: daß alles fertig und vollendet sei; Verhaeren sagt mit ähnlichen Worten die nahe Vollendung alles Erkennens voraus, er fühlt einen Rausch neuer Gedanken die Welt bezwingen – »Oh dans le monde entier ces tempêtes d’idées« (»Oh, in der ganzen Welt diese Gedankenstürme«) – und fühlt nur die Angst, nicht alles erfassen zu können. Der Schlußgedanke seiner Dichtung ist die Steigerung eigenen Lebens ins Unendliche, die Auflösung individueller Leidenschaft in die Triebe des Alls: die Vervielfältigung der Existenz in die universelle kosmische Gestaltung.

Zwischen den Pfeilern dieser frappanten und grandiosen Persönlichkeitsentwicklung stehen noch ein paar einzelne Gedichtwerke. ›Les heures claires‹ (›Die hellen Stunden‹), Strophen milder Zärtlichkeit und bildkräftiger Gestaltung, ›Petites Légendes‹ (›Kleine Legenden‹), eine Sammlung herber und kraftvoller epischer Gedichte, die sich trotz ihrer freien Form dem Begriff unserer taktfesten deutschen Ballade sehr nähern. Ferner zwei sehr bedeutende Dramen ›Le cloitre‹ (›Das Kloster‹), das in Brüssel und Paris mit viel Erfolg gespielt wurde, und ›Philippe II‹ (›Philipp II.‹), ein Don Carlosdrama in starken packenden Versen. ›Le cloitre‹ ist wie ein altdeutscher Holzschnitt so derbe und gewaltig: von Liebe spricht darin kein Wort, nur die Stimmen der Sünde, der Kasteiung und des Ehrgeizes ringen miteinander. Keine Frauengestalt bringt Helle in die düstere Klosterhallenschwere, nur die wundersame Gestalt eines schlichten, naiv-gütigen Mönchs inmitten dieser harten leidenschaftlichen Menschen überleuchtet die letzten Szenen, die in ihrer Wucht und Dramatik unübertrefflich sind. Zwei kleine kunstkritische Studien, sowie ein früher, heute vom Dichter zurückgezogener Novellenband ›Contes de minuit‹ (›Mitternachtsgeschichten‹) ergänzen das reiche Lebenswerk Emile Verhaerens.

Ich konnte hier nur ein reproduktives Referat seiner Werke geben, ohne die vielfältigen Ausblicke zu versuchen, die seine Schöpfung sowohl in ethnischer als auch technischer Beziehung für die Weltliteratur gewährt. Was er uns für Deutschland sein kann, habe ich mich bestrebt, durch eine Nachdichtung seiner ›Ausgewählten Gedichte‹ aufzuzeigen; und ich war nicht der erste, der ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte. Agathe Doerck hat den dritten Band seiner Gedichte übertragen, Otto Hauser, Rudolf Komadina u.a. haben ausführliche Studien mit Übersetzungen publiziert. So wird auch uns ein großer Dichter nahe werden, der durch seine nationale Zugehörigkeit schon beinahe ein Deutscher ist und einer unserer größten; denn vielleicht nur Richard Dehmel hat eine ähnliche Steigerungsfähigkeit der Gefühle durchmessen, eine so schmerzhafte und qualvolle Entwicklung erlebt wie Verhaeren, dem überdies noch die leichte Trübung durch die überreizte Sexualität fehlt, die bei Dehmel lange das Weltbild umschleierte.

Gigantisch steht er zwischen den Franzosen von heute; wie Aeolus ist er, der starke Herr der Winde. Er birgt die sanften Zephyre, die zärtlich geschwellten Lüfte stillruhender Trifte, aber er hält auch die großen Stürme in seinen Armen, die den Erdball umkreisen, die Schmerz und Stimmen aller Dinge mitreißen und selbst wie der Atem der Unendlichkeit sind.

1910 / 1913

Emile Verhaeren

Son tempérament, son caractère, sa vie, tout conspire à nous montrer son art tel que nous avons essayé de la définir. Une profonde unité les scelle. Et n’est-ce pas vers la découverte de cette unité-là qui groupe en un faisceau solide les gestes, les pensées et les travaux d’un génie sur la terre que la critique, revenue enfin de tant d’erreurs, devait tendre uniquement?

(Sein Temperament, sein Charakter und sein Leben, sie alle drei wirken zusammen, um seine Kunst so erscheinen zu lassen, wie wir versucht haben, sie darzustellen. Eine tiefe Einheit bindet sie zusammen. Und muß nicht die moderne Kritik, die endlich von so vielen Irrtümern befreite, einzig sich um die Entdeckung dieser Einheit bemühen, die in ein einziges Bündel aller Gedanken, Gesten und Werke eines irdischen Genies zusammenfaßt?)

[S. Z.]

Verhaeren, Rembrandt

Erster TeilEntscheidungen

Les Flamandes / Les Moines / Les Soirs / Les Débâcles / Les Flambeaux noirs / Aux Bords de la Route / Les Apparus dans mes Chemins

(Die Fläminnen / Die Mönche / Die Abende / Die Niederlagen / Die schwarzen Fackeln / Am Wegrand / Die Erscheinungen auf meinen Wegen)

1883 – 1893

Die neue Zeit

Tout bouge – on dirait, des horizons en marche.

(Alles bewegt sich – man könnte sagen, wallende Horizonte.)

E. V.

Anders ist unsere Zeit, anders das Empfinden dieses unsres Augenblickes in der Ewigkeit, als das Lebensgefühl all unserer Ahnen. Unbewegt und alterslos ist nur die ewige Erde geblieben, das dunkle Feld, auf dem der eintönige Schein der Jahreszeiten Blüte und Welken in regelmäßigem Reigen abteilt, unveränderlich nur das Wirken der Elemente und das rastlose Überschwingen vom Tag zur Nacht. Aber anders ist ihr geistiges Antlitz geworden, alles das, was dem Werke des Menschen unterliegt. Ist anders geworden, um wieder anders zu werden. Immer schneller scheint sich dieser Wandel der kulturellen Phänomene zu vollziehen, nie war die Spanne von hundert Jahren so groß, so inhaltsreich wie die bis zur Schwelle dieser unserer Tage. Städte sind jäh aufgewachsen, so groß und verwirrend, so undurchdringlich und so endlos, wie es einst nur die Urwälder waren, die nun schwinden und bebautes Land werden. Immer mehr gewinnt das menschliche Werk die Grandiosität und das Elementare, das einst nur Geheimnis der Natur war. Der Blitz ist in ihren Händen und der Schutz vor den Plötzlichkeiten des Wetters; Länder, die einst auseinanderklafften, sind zusammengeschmiedet durch den eisernen Reifen, den man der Meerenge überwölbte; Meere sind wieder vereinigt, die sich seit Jahrtausenden vergeblich suchten; in der Luft baut sich nun ein neuer Weg von Land zu Land. Alles ist anders geworden.

»Tout a changé: les ténèbres et les flambeaux,

Les droits et les devoirs ont fait d’autres faisceaux,

Du sol jusqu’au soleil, une neuve énergie

Diverge un sang torride en la vie élargie. –

Des usines de fonte ouvrent, sous le ciel bleu,

Des cratères en flamme et des fleuves en feu;

Des rapides vaisseaux, sans rameurs et sans voiles,

La nuit sur les flots bleus, étonnent les étoiles;

Tout peuple reveillé, se forge une autre loi,

Autre est le crime, autre l’orgueil, autre est l’exploit.«

(»Alles hat sich verändert: Finsternis und Fackeln,

Rechte und Pflichten haben andere Lichtbündel hervorgebracht,

Von der Erde zur Sonne gießt eine neue Kraft

Heißes Blut in das erweiterte Leben. –

Schmelzflüsse unter dem blauen Himmel

Öffnen Flammenkrater und Feuerströme;

Flinke Schiffe, ohne Ruderer noch Segel,

Bestürzen nachts auf blauen Fluten die Sterne;

Jedes erweckte Volk schmiedet sich ein anderes Gesetz,

Anders ist das Verbrechen, der Ehrgeiz, die Tat.«)

Anders ist das Verhältnis des Einzelnen zum Einzelnen, des Einzelnen zur Gesamtheit geworden, schwerer und wieder leichter das Netz der sozialen Gesetze, schwerer und wieder leichter unser ganzes Leben.

Aber noch ein Größeres ist geschehen. Nicht nur die wirklichen Formen, die vergänglichen Tatsächlichkeiten des Lebens sind verwandelt, wir wohnen nicht nur in andern Städten, andern Häusern, gehen in andern Kleidern, sondern auch das Unendliche über uns, das scheinbar Unerschütterliche ist anders geworden als für Eltern und Voreltern. Wo sich Tatsächliches ändert, ändert sich auch das Relative. Die elementarsten Formen unseres Begreifens, Raum und Zeit, sind verschoben. Anders ist der Raum geworden, denn wir messen ihn mit neuen Geschwindigkeiten. Wege, die unsere Vorväter noch in Tagen machten, führt nun eine einzige rasche Stunde; zu warmen blühenden Ländern, die einst getrennt waren durch langwierige Mühsale und Reisen, trägt uns eine einzige flüchtige Nacht. Die abenteuerlichen Wälder der Tropen mit ihren fremden Sternenhimmeln, die zu sehen die Früheren mit einem Jahre ihres Lebens bezahlten, sind uns plötzlich nahe und erreichbar. Anders messen wir mit diesen anderen Geschwindigkeiten das Leben. Siegreicher wird die Zeit über den Raum. Andere Distanzen hat auch der Blick gelernt, der in kalten Sternbildern plötzlich versteinerte Formen der Urlandschaften erkennt, tausendfach stärker scheint die menschliche Stimme zu sein, seit sie über Tausende Kilometer hin freundschaftliche Gespräche führen kann. Anders empfinden wir die Umspannung der Erde in diesem neuen Verhältnis der Kräfte, und neu wird auch für uns der Rhythmus des Lebens, seit sein Takt heller und schleuniger schlägt. Mehr und doch weniger wird uns die Spanne von Frühling zu Frühling, mehr und weniger die Einzelne Stunde, mehr und weniger unser ganzes Leben.

Und mit neuen Gefühlen müssen wir darum auch diese neue Zeit begreifen. Denn wir empfinden alle, daß wir nicht mit den alten Vorvätermaßen das Neue messen dürfen, nicht mit verbrauchtem Gefühl das Neue erleben, daß wir uns ein anderes Distanzgefühl, ein anderes Zeitgefühl, ein anderes Raumgefühl entdecken müssen, daß wir zu diesem nervösen, fiebernden Takt rings um uns eine neue Musik finden müssen. Dieses neugeborene menschliche Bedingtsein heischt eine andere Moral, das neue Beisammensein eine neue Schönheit, das neue Untereinandersein eine neue Ethik. Und dieses andere Gegenüberstehen einer anderen erneuten Welt, einem anderen Unbekannten, will eine neue Religion, einen neuen Gott. Dumpf quillt in uns allen ein neues Weltgefühl.

Ein Neues aber will in neue Worte geprägt sein. Eine andere Zeit will andere Dichter, Dichter, deren Anschauungen an ihren Raumverhältnissen entstanden sind, Dichter, die, um dieses neue Verhältnis auszudrücken, mitschwingen in diesem fiebernden Kreislauf des Lebens. Aber die meisten unserer Dichter sind zag. Sie fühlen den Mißton ihrer eigenen Stimme mit dem der Wirklichkeiten, fühlen sich noch nicht eins, noch nicht selbstverständlich in dem neuen Organismus, sie ahnen dumpf, daß ihre Sprache noch nicht die unserer Lebensstunde ist. Wie Fremde, wie Verschlagene stehen sie in den großen Städten. Schreckhaft und fremdartig sind ihnen die großen rauschenden Ströme der neuen Gefühle. Willig nehmen sie all den Luxus und allen Komfort des modernen Lebens hin, gern nützen sie die Bequemlichkeit der Technik und der Organisation aus, aber poetisch lehnen sie alle diese Phänomene ab, weil sie sie nicht bewältigen können. Sie schrecken vor der Aufgabe zurück, eine Umwertung des Poetischen vorzunehmen, das dichterisch Neue in den neuen Dingen zu empfinden. Und so gehen sie abseits. Sie flüchten vor dem Wirklichen, vor dem Zeitgenössischen zu dem Ewigen zurück, zu dem, was unberührt blieb vom ewigen Wandel, besingen die Sterne, den Frühling, das ewig gleiche Rauschen der Quellen, den Mythos der Liebe, flüchten zu den alten Symbolen, den alten Göttern. Nicht aus dem Augenblick, aus der feurig fließenden Masse greifen und formen sie das Ewige, sondern graben seine Symbole immer noch aus der kühlen Erde der Vergangenheit, wie alte griechische Statuen. Sie sind darum nicht wertlos, aber sie geben im besten Fall ein Wichtiges, nie ein Notwendiges.

Denn ein Dichter, der unserer Zeit notwendig sein will, kann nur derjenige werden, der selbst wieder alles in dieser Zeit als notwendig und darum als schön empfindet. Einer, dessen ganzes dichterisches und menschliches Bemühen es wäre, einen Gleichtakt des eigenen Gefühles mit den zeitgenössischen Gefühlen zu erstreben, den Rhythmus seines Gedichtes nichts anderes sein zu lassen, als Nachhall vom Rhythmus der lebendingen Dinge, das Tempo sich lehren zu lassen vom Takt unserer Tage und in seine zuckenden Adern das Blut unserer Zeit einströmen zu lassen. Er muß darum den alten Idealen nicht fremd sein, wenn er neue zu schaffen sucht, denn jeder wahre Fortschritt ruht auf tiefstem Verständnis der Vergangenheit. Der Fortschritt muß für ihn im Sinne Guyaus die Fähigkeit sein, »le pouvoir lorsqu’on est arrivé à un état supérieur d’éprouver les sensations et les émotions nouvelles, sans cesser d’être encore accessible à ce que contenaient de grand ou de beau ses précédantes émotions« (»sobald man einmal auf ein höheres Niveau gelangt ist, die neuen Empfindungen und Emotionen zu erleben, ohne aber das Gefühl dafür zu verlieren, was die vorausgegangenen Emotionen an Großem oder an Schönem enthielten«). Groß kann ein Dichter in unserer Zeit nur werden, wenn er sie in seinen Gefühlen als groß begreift. Was seine Zeit beschäftigt, muß ihn beschäftigen, ihr soziales Problem muß seine persönliche Angelegenheit werden. In einem solchen Dichter würden die späteren Generationen dann erkennen, wie der Mensch aus der Vergangenheit her sich den Übergang zu ihr erkämpft hat, wie man in jener schon verloschenen Minute um die seelische Identität des eigenen Gefühles mit dem Weltgefühle gerungen hat. Und selbst wenn die großen Werke eines solchen Dichters im einzelnen schon zersplittert sind, seine Gedichte veraltet, seine Bilder verblaßt, bleibt noch das Wertvollere, das Unsichtbare seiner Absicht, die Melodie, der Atem, der Rhythmus seiner Zeit, gleichsam in graphischem Bilde bewahrt. Solche Dichter, die der zukünftigen Generation Wegweiser werden, sind im tieferen Sinne auch die Bedeutungsvollsten der eigenen Epoche. Und darum ist es heute an der Zeit, von Emile Verhaeren zu reden, dem Größten und vielleicht dem Einzigen der Modernen, die das bewußte Gefühl des Zeitgenössischen dichterisch empfunden, dichterisch gestaltet haben, dem Ersten, der mit unvergleichlicher Begeisterung und unvergleichlicher Kunst unsere Zeit zum Gedichte versteinert hat.

Im Werke Verhaerens spiegelt sich unsere Epoche. Die neuen Landschaften sind darin, die finsteren Silhouetten der großen Städte, die drohende Brandung der demokratischen Masse, die unterirdischen Schächte der Bergwerke, die letzten schweren Schatten der schweigsamen sterbenden Klöster. Alle geistigen Gewalten unserer Zeit, ihre Ideologie ist hier Gedicht geworden, die neuen sozialen Ideen, der Kampf des Industrialismus mit dem Agrariertum, die vampirische Gewalt, die das Landvolk von den gesunden Feldern in die brennenden Steinbrüche der Großstadt lockt, die Tragik der Auswanderer, die finanziellen Krisen, die blendenden Resultate der Wissenschaft, die Synthesen der Philosophie, die Errungenschaften der Technik, die neuen Farben der Impressionisten. Alle Manifestationen der Neuzeit sind hier im Dichterischen, im Seelischen reflektiert in ihrer Wirkung auf das zuerst verwirrte, dann verständnisvolle und dann begeisterte Gefühl des neuen Europäers. Wie dieses Werk entstanden ist, aus welchen Widerständen und Krisen sich hier ein Dichter das Gefühl von der Notwendigkeit und dann von der Schönheit der neuen Weltform erzwungen hat, wird nun zu sagen sein. Will man heute Verhaeren einreihen, so wird man seinen Platz nicht so sehr unter den Dichtern finden. Er steht nicht so sehr neben ihnen oder über ihnen, die Kunstschmiede geworden sind, Kunsthandwerker, Musiker und Maler, sondern neben den großen Organisatoren, jenen, die die neuen sozialen Ströme in Dämme gepreßt haben, neben den Gesetzgebern, die den Zusammenstoß der aufflammenden Energien zu ordnen und zu vermeiden suchen, neben den Philosophen, die in genialer Synthese all diese tausendfach verwirrten Triebe ordnen und vereinen wollen. Seine Dichtung ist der Versuch einer dichterischen Weltschöpfung, ist ein Wille zu neuen Formen, neuer Ästhetik und neuer Begeisterung. Er ist nicht nur der Dichter, auch der Prediger unserer Zeit. Als Erster hat er sie als schön empfunden, nicht aber wie die Schönfärber, die geflissentlich das Dunkle wegretuschieren und das Helle verstärken, sondern er hat sie – und es wird zu zeigen sein, mit wie schmerzlicher und intensiver Anspannung – nach ursprünglicher hartnäckigster Ablehnung endlich als notwendig begriffen und den Begriff ihrer Notwendigkeit, ihrer Absicht zur Schönheit gewandelt. Er hat nach vorn und nicht mehr nach rückwärts geschaut. Als den Gipfel alles Vergangenen und als Wendung gegen die Zukunft hin, ganz im Sinne der Entwicklung, im Sinne Nietzsches, empfindet er unser Zeitalter hoch über den Vergangenheiten. Manchen wird dies vielleicht zuviel erscheinen, die unser Zeitalter gern ein armes, ein kleines nennen, als ob sie innerlich von Größe oder Kleinheit der Früheren wüßten. Denn jedes Zeitalter wird nur groß durch die Menschen, die nicht an ihm verzweifeln, wird nur groß durch seine Dichter, die es als groß empfinden, durch Staatenlenker, die ihm ein Gewaltiges zutrauen. Von Shakespeare und Hugo sagt Verhaeren: »ils grandissaient leur siècle« (»sie haben ihr Jahrhundert erhoben«). Sie schilderten es nicht mit der Perspektive der anderen, sondern aus ihrer eigenen Größe heraus. »Si plus tard, dans l’éloignement des siècles, ils semblent traduire mieux que personne leur temps c’est qu’ils l’ont recréé d’après leur cerveau et qu’ils l’ont imposé non pas tel qu’il était, mais tel qu’ils l’ont déformé.« (»Wenn es später, nach Jahrhunderten, scheint, sie hätten ihre Zeit besser als irgend jemand sonst wiedergegeben, so kommt das daher, daß sie sie in ihrem Kopf neu geschaffen haben und daß sie sie nicht so darstellen, wie sie gewesen ist, sondern so, wie sie selbst sie umgeformt haben.«) Aber indem sie es erhoben, indem sie selbst flüchtige Geschehnisse ihrer Tage in eine weite Perspektive emporführten, sind sie selbst groß geworden. Während die Verkleinerer und die Gleichgültigen selbst immer kleiner werden mit der Entfernung der Jahrhunderte, während sie in sich zusammensinken und zersplittern, kann man an solchen Dichtern so wie an den leuchtenden Uhren der Türme die Stunde der Zeit einmal aus großer Ferne lesen. Bleibt von den andern kleiner Besitz, ein paar Gedichte, Sprüche und vielleicht ein Buch, so bleibt von diesen ein wichtigeres: die große Anschauung, die große Idee einer Zeit, jene Musik des Lebens, nach der die Zagen und Kleinen der nächsten Epoche wieder sehnsüchtig zurücklauschen werden, weil sie wieder nicht imstande sein werden, den Rhythmus ihrer eigenen zu verstehen. Durch diese Art der begeisterten Vision ist Verhaeren der große Dichter unserer Zeit geworden, dadurch, daß er sie nicht nur schilderte, sondern sie bejahte, daß er die neuen Dinge nicht in ihrer Tatsächlichkeit betrachtete, sondern feierte als eine neue Schönheit. Er hat alles Seiende unserer Epoche bejaht, alles und selbst den Widerstand, den er nur als willkommene Mehrung des kämpfenden Lebensgefühles empfunden hat. Die ganze Luft unserer Zeit scheint eingepreßt in die dichterische Orgel seines Werkes, und wenn er an die hellen oder dunklen Tasten rührt, wenn er laut oder leise ein Gefühl zum Anschwingen bringt, immer schwingt ihre rauschende Gewalt in seinen Gedichten mit. Während die andern Dichter immer matter und leiser wurden, immer abgesonderter und verzagter, ist die Stimme Verhaerens immer lauter und lebendiger geworden, wirklich wie eine Orgel, voll von priesterlichen Klängen und der mystischen Gewalt des großen Gebetes. Eine geradezu religiöse Gewalt, aber nicht eine des Verzagens, sondern eine des Vertrauens und der Freude geht von ihr aus. Rascher, heller, frischer fühlt man das Blut in den Adern kreisen, liest man seine Gedichte, farbiger, belebter, schenkender und schöner erscheint einem unsere Welt, reicher, männlicher und jünger lodert, befeuert vom Fieber seiner Verse, unser Lebensgefühl.

Weil aber unser Leben gerade heute nichts notwendiger braucht als Erfrischung und Verjüngung des Lebensgefühles, darum müssen wir – weit über alle literarische Bewunderung hinaus – seine Bücher lieben, darum muß von diesem Dichter gesprochen werden mit all jener freudigen Begeisterung, die wir erst aus seinem Werke für unser Leben gelernt haben.

Das neue Belgien

Entre la France ardente et la grave Allemagne.

(Zwischen dem feurigen Frankreich und dem ernsten Deutschland).

E. V.

Belgien ist eine Wegkreuzung Europas. Wenige Stunden führen von Brüssel, dem Herzen des eisernen Geäders, nach Deutschland, Frankreich, Holland und England und dann von der Küste hin auf der pfadlosen Ebene des Meeres zu allen Ländern und allen Rassen. Klein ist die Fläche des Landes und spiegelt so übersichtlich in charakteristischer Verkürzung unendliche Vielfalt. Alle Gegensätze stehen sich knapp und scharfkonturiert Stirn an Stirn gegenüber. Der Zug braust durch: jetzt vorbei an den Kohlengruben, an den Hochöfen, die in den aschfarbenen Himmel das feurige Wort der Arbeit schreiben, jetzt durch gelbe Felder oder grüne Wiesen, wo schön gefleckte Kühe grasen, jetzt durch die großen Städte, die mit vielen Schornsteinen zum Himmel weisen, und schließlich ans Meer, den Rialto des Nordens, wo Berge von Frachten kommen und gehen und der Handel mit tausend Händen schaltet. Belgien ist Agrarland und Industrieland, zugleich konservativ katholisch und sozialistisch, gleichzeitig arm und reich. Immense Vermögen sind aufgestapelt in den Riesenstädten, und zwei Stunden davon fristet bitterste Armut in Minen und Scheunen erbärmliches Leben. Und in den Städten wieder stehen sich größere Gewalten ringend gegenüber: Tod und Leben, Vergangenheit und Zukunft. Mönchisch vereinsamte Städte, mit schweren mittelalterlichen Wällen gegürtet, wo auf den schwarzen versumpften Kanälen einsame Schwäne wie helle Gondeln hinziehen, Städte, die wie Traum sind, kraftlos und von ewigem Schlaf umfangen. Daneben glitzern die modernen Residenzen, Brüssel mit seinen grellen Boulevards, wo funkelnde Schriftzeichen die Fassaden elektrisch auf- und niederstürzen, wo die Automobile sausen, die Straßen dröhnen und mit fiebernden Nerven das moderne Leben zuckt. Gegensätze an Gegensätze. Von rechts schlägt die germanische Flut herein, der protestantische Glaube, von links der romanische, strenggläubige, prunkvolle Katholizismus. Und die Rasse selbst ist rastlos ringendes Produkt zweier Rassen, der flandrischen und der wallonischen. Nackt, klar, unvermittelt und wundervoll übersichtlich trotzen sich hier die Gegensätze.

Aber so stark, so unablässig ist der von beiden Seiten lastende Druck der nachbarlichen Rassen, daß diese Mischung nun schon ein neues Ferment, eine neue Rasse geworden ist. Unkennbar vermischt sind die einstigen Gegensätze in ein Werdendes und Neues. Germanen sprechen französisch, Romanen fühlen flandrisch. Pol de Mont ist trotz seines gallischen Namens ein flämischer Dichter, Verhaeren, Maeterlinck und van Lerberghe, trotzdem kein Franzose ihren Namen richtig aussprechen kann, französische. Und diese neue belgische Rasse ist eine starke Rasse, eine der tüchtigsten Europas. Die Berührung mit so viel fremden Kulturen, die Nähe so kontradiktorischer Nationen hat sie befruchtet, gesunde ländliche Arbeit ihren Körper gestählt, die Nähe des Meeres ihren Blick zu den Fernen aufgetan. Es ist noch nicht lange, daß sie ihrer selbst bewußt wurde, hundert Jahre vielleicht seit der Unabhängigkeit ihres Landes. Hundert Jahre, so jung wie Amerika, ist ihre Nation, sie lebt ihre Jünglingsjahre jetzt und freut sich der neuen, unversuchten Kraft. Und wie in Amerika hat hier die Mischung der Rassen und ein fruchtbares, gesundes Land starke Menschen gezeugt. Denn die belgische Rasse ist eine Rasse der Vitalität. Nirgends in Europa vielleicht wird das Leben so intensiv, so freudig genossen wie in Flandern, nirgends ist Sinnlichkeit und die Lust am Übermaß so sehr das Maß der Kraft. Gerade im Sinnlichen muß man sie sehen, muß sehen, wie in Flandern genossen wird, mit welcher Gier, welcher bewußten Freude und gesunden Ausdauer. Dort fand Jordaens die Modelle seiner Freßorgien, bei jeder Kirmes, jedem Totenschmaus wären sie noch heute zu sehen. Statistisch ist nachgewiesen, daß im Verbrauch von Alkohol Belgien heute an der Spitze Europas steht. Jedes zweite Haus ist ein Kabarett, ein Estaminet, jede Stadt, jedes Dorf hat seine Brauerei, und die Brauherren sind hier die Reichsten im Lande. Nirgends sind so laute, lärmende, zügellose Feste, nirgends wird so überschwenglich, so glühend das Leben geliebt und gelebt. Belgien ist das Land der gesteigerten Vitalität, war es von je. Für dieses Lebensgefühl, dieses volle, satte Genießen haben sie gerungen. Ihre heroische Tat, der große Krieg gegen die Spanier, war nur ein Ringen nicht so sehr um die Religion, als um die sensuelle Freiheit. Diese verzweifelten Revolten, diese ungeheure Anspannung war eigentlich nicht gegen den Katholizismus gerichtet, sondern gegen seine Moral, gegen die Askese, nicht so sehr gegen Spanien als gegen die finstere Tücke der Inquisition, gegen die verschlossene, herbe, hinterlistige Art, die den Genuß verkürzen wollte, gegen den schweigsamen, kalten, mürrischen Philipp II. Sie wollten damals nichts als ihr helles, heiteres Leben beibehalten, den freien dionysischen Genuß, das Imperium der begehrlichen Sinne, wollten ihr Übermaß als Maß sich wahren. Und das Leben hat mit ihnen gesiegt. Gesundheit, Kraft und Fruchtbarkeit spürt man heute noch überall in Stadt und Land. Selbst die Armut ist hier nicht hohlwangig und entknöchert. Rotwangige, pausbäckige Kinder spielen in den Straßen, straff und stramm stehen die Bauern bei ihrem Werke, die Arbeiter selbst sind muskulös und stark wie die Bronzen des Constantin Meunier, die vielen fruchtbaren Frauen, die einem begegnen, künden schöpferische Kraft, und die ungebrochene Kraft der Greise ein lang andauerndes, sicheres Lebensgefühl. Mit fünfzig Jahren hat hier Constantin Meunier sein Lebenswerk begonnen, mit sechzig erst stehen Künstler wie Verhaeren und Lemonnier auf der Höhe ihrer schöpferischen Leistung. Unersättlich scheint die Kraft dieser Rasse, deren tiefstes Gefühl Verhaeren in ein paar stolze Strophen gemeißelt hat:

»Je suis le fils de cette race,

Dont les cerveaux plus que les dents

Sont solides, et sont ardents,

Et sont voraces.

Je suis le fils de cette race

Tenace,

Qui veut, après avoir voulu

Encore, encore et encore plus.«

(»Ich bin der Sohn dieser Rasse,

Deren Köpfe, mehr als die Zähne,

Stark und heiß sind,

Und gefräßig.

Ich bin der Sohn dieser

Zähen Rasse,

Die, nachdem sie schon mehr wollte,

Immer noch mehr und mehr will.«)

Diese ungeheure Anspannung ist nicht vergeblich gewesen. Belgien ist heute verhältnismäßig das reichste Land Europas. Die Kongokolonie ist zehnmal so groß wie das Mutterland. Kaum wissen sie, wohin mit ihrem Kapital; in Rußland, in China, in Japan ist belgisches Geld investiert, an allen Unternehmungen sind sie beteiligt, ihre Finanziers beherrschen die Konsortien der großen Länder. Und auch der Mittelstand ist gesund, stark und zufrieden.

Solches gutes und gesundes Blut ist mehr als jedes andere befähigt, gute und vor allem lebensfreudige Kunst zu erzeugen. Denn der Drang zu künstlerischer Betätigung ist am größten in Ländern mit geringen Expansionsmöglichkeiten. Große Nationen absorbieren die Phantasie hauptsächlich für die praktische Betätigung ihrer Entwicklung. Dort drängt die Auslese der Kraft in die Politik, in die Verwaltung, zu militärischer Berufung, hier aber, wo die Politik notwendigerweise kleinlich, die Verwaltungsprobleme begrenzt sein müssen, sind geniale Naturen in ihrer Betätigung fast ausschließlich auf künstlerische Probleme angewiesen. Skandinavien ist das eine Beispiel, Belgien das andere, wo die Rückdrängung der geistigen Auslese auf Kunst und Wissenschaft die höchsten Resultate erzielt hat. Und bei solchen jugendlichen Rassen muß der Lebenstrieb jedwede künstlerische Betätigung von vornherein stark und gesund machen, und selbst wenn sie Dekadenz hervorbringen, so ist diese Abkehr, diese Verneinung so entschieden und konsequent, daß in ihrer Schwäche wieder eine Stärke liegt. Denn nur ein starkes Licht kann starken Schatten, nur eine starke sinnliche Rasse kann die wirklich großen und ernsten Mystiker erzeugen, weil eine entschiedene und zielbewußte Abkehr ebensoviel Energie erfordert wie eine Tätigkeit.

Auf breitem Fundament ruht der hochtürmige Bau der belgischen Kunst. Fünfzig Jahre galten der Vorbereitung, dem Wachsen unter der Scholle, und dann erst wurde sie in fünfzig Jahren von einer Jugend geschaffen, einer einzigen Generation. Denn jede gesunde Entwicklung ist langsam, am meisten bei germanischen Rassen, die nicht so flink, geschmeidig und geschickt sind wie die romanischen, bei denen Erkenntnis Erleben ist und nicht Erlernen. Wie ein Baum Ring an Ring, so ist diese Literatur gewachsen, tief mit ihren Wurzeln in den gesunden Boden greifend, der von jahrhundertelanger unnachgiebiger Ausdauer genährt war. Wie jedes Bekenntnis hat diese Literatur ihre Heiligen, ihre Märtyrer, ihre Meister und ihre Schüler. Der erste der Schöpfer, der Verkünder war Charles de Coster, und sein großes Epos ›Till Uylenspiegel‹ [›La légende et les aventures héroïques,joyeuses etglorieuses d’Ulenspiegel et de Lamme Goedzak au pays de Flandres et ailleurs‹ – ›Uylenspiegel‹ war eine von Coster mit herausgegebene Zeitschrift] ist das Evangelium dieser neuen Literatur. Sein Schicksal ist traurig wie das aller Beginner. In ihm ist die heimatliche Mischung plastischer veranschaulicht wie in allen anderen späteren. Germanischen Ursprungs, war er in München geboren, schrieb französisch und fühlte als erster belgisch. Mühsam fristete er als Lektor der Kriegsschule sein Leben. Und als sein großer Roman erschien, war es schwer, einen Verleger zu finden, und noch schwerer, die Anerkennung oder überhaupt nur Beachtung. Und doch ist dieses Werk mit seiner wunderbaren Gegenüberstellung Ulenspiegels als des Erlösers Flanderns und Philipps II. als des Antichrists noch immer das schönste Symbol des Kampfes von Licht und Dunkel, Lust und Entsagung, ein ewiges Stück Weltliteratur, weil das Epos einer ganzen Nation. Mit einem solchen weitausblickenden Werk hat die belgische Literatur begonnen, wie die ›Ilias‹ steht es mit seinen heroischen Kämpfen stolz und urweltlich am Beginne einer feineren, kultivierten, aber mehr zersplitterten Literatur. An die Stelle dieses früh Verstorbenen trat Camille Lemonnier, der mit der großen Verpflichtung auch die traurige Erbschaft der Vorkämpfer, den Undank und die Enttäuschung auf sich nahm. Auch von diesem stolzen und schönen Charakter muß man wie von einem Heros reden. Seit vierzig Jahren hat er, ein Kämpfer und ein Soldat vom ersten bis zum letzten Tage, für Belgien unermüdlich gekämpft, hat Buch an Buch gereiht, hat geschaffen, geschrieben, gerufen, gesammelt und nicht früher gerastet, bis das Adjektiv »belgisch« in Paris und Europa nicht mehr mit der Mißachtung des Provinziellen ausgesprochen wurde, bis es, wie einst der Name der Geusen, ein Ehrentitel wurde aus einer anfänglichen Schmach. Unerschrocken, durch keinen Mißerfolg entmutigt, hat dieser Prachtvolle das Land besungen, die Felder, die Minen, die Städte, die Menschen, das zornige, hitzige Blut der Burschen und der Mägde und darüber die brennende Sehnsucht nach einer helleren, freieren, größeren Religion, nach einer seligen Vereinigung mit der großen Natur. Mit der ekstatischen Farbenfreude seines erlauchten Ahnherrn Rubens, der in froher Sinnlichkeit alle Dinge des Lebens zum Feste versammelte, hat er als Wiedergenießer die Farben verschwendet, seine Freude am Grellen, Glühenden und Satten gehabt und die Kunst, wie jeder Echte, als eine Steigerung, als einen Rausch des Lebens empfunden. Vierzig Jahre hat er so geschaffen, und wunderbar, ganz wie die Männer dieses Landes, wie die Bauern, die er schilderte, so ist er stärker geworden von Jahr zu Jahr, von Ernte zu Ernte, immer heißer, lebenstrunkener und glühender seine Bücher, immer heller und zuversichtlicher sein Lebensglaube. Er war der erste, der mit bewußtem Stolz die Kraft des jungen Landes empfand, und er hat gerufen und die Stimme erhoben, bis er nicht mehr allein stand, bis eine Schar von anderen Künstlern sich um ihn reihte. Jeden von diesen hat er unterstützt und gefestigt, mit starkem Griff hat er sie in den Kampf gestellt und hat neidlos und sogar freudig den Triumph erlebt, sein eigenes Werk von erfolgreicheren Schöpfungen der Jüngeren überschattet zu sehen. Freudig, weil vielleicht nicht sein Roman, sondern dieses Erschaffen einer Literatur sein größtes und dauerndstes Werk war. Denn es war, als ob in diesen Jahren das ganze Land lebendig geworden wäre, als ob jede Stadt, jeder Beruf, jeder Stand einen Dichter oder Maler entsendet hätte, der ihn verewigen sollte, als ob dieses ganze Belgien sich in Kunstwerken einzeln hätte symbolisieren wollen, bis dann der kam, der alle Städte und Stände, die geeinte Seele des Landes umschuf zum Gedicht. Die alten germanischen Städte Brügge, Courtrai und Ypern, sind sie nicht vergeistigt in den Strophen des Rodenbach, in den Pastellen des Fernand Khnopff, den mystischen Statuen des Georges Minne? Sind die Säemänner und Minenarbeiter nicht Stein geworden in den Büsten des Constantin Meunier, glüht die große Trunkenheit nicht in den Schilderungen des Georges Eekhoud? Die mystische Kunst Maeterlincks und Huysmans’ trinkt ihre tiefste Kraft aus den alten Klöstern und Béguinagen, die Sonne der flandrischen Felder glüht auf den Bildern des Theo van Rysselberghe und Claus. Das zarte Schreiten der Mädchen und das Singen der Glockenspiele ist Musik geworden in den Strophen des sanften Charles van Lerberghe, die ungestüme Sinnlichkeit einer wilden Rasse hat sich vergeistigt in der raffinierten Erotik des Félicien Rops. Die Wallonen haben in Albert Mockel ihren Vertreter, und wie viele andere wären noch zu nennen von den großen Schöpfern: van der Stappen, der Bildhauer, Hymans, Stevens, des Ombiaux, Demolder, Glesener, Crommelynck, die alle sich in sicherem, unentwegtem Vordringen die Achtung Frankreichs und Bewunderung Europas erworben haben. Denn sie gerade waren befähigt, das große komplexe und erst im Werden begriffene europäische Gefühl durchleuchten zu lassen, weil sie im Begriff der Heimat nicht nur das begrenzte belgische Land, sondern alle die Nachbarländer empfanden, weil sie Heimatliche und Weltfahrer zugleich waren: die Wegkreuzung, zu der nicht nur alte Wege führen, sondern von der auch alle ihren Ausgang haben.

Jeder von diesen hatte aus seinem Gesichtswinkel die Heimat gestaltet, eine ganze Phalanx von Künstlern Bild an Bild gereiht. Bis dann dieser Größte kam, Verhaeren, der alles in Flandern sah, fühlte und liebte, »toute la Flandre«. Und erst in seinem Werke ist es Einheit geworden, denn er hat alles besungen, Land und Meer, Städte und Fabriken, die vergangenen und erstehenden Residenzen. Nicht vereinzelt hat er dieses Flandern gefühlt als eine Provinz, sondern als das Herz Europas, hat Blutkraft von außen nach innen und von innen nach außen strömen lassen, die Horizonte hinter den Grenzen aufgetan und so lange erhöht, verbunden und in gleicher Begeisterung das Einzelne zusammengeglüht, bis aus seinem Werke ein Lebenswerk wurde: das lyrische Epos der flandrischen Welt. Was de Coster vor einem halben Jahrhundert aus dem Gegenwärtigen nicht zu bilden wagte, wo er verzagte, Stolz, Kraft und Heroismus des Lebens zu finden, da hat Verhaeren eingesetzt und ist so der »carilloneur de la Flandre« geworden, der Glöckner, der wie einst vom Wachtturme das ganze Land zur Verteidigung seines Lebenswillens und das Volk zum Stolze und zum Bewußtsein seiner Kraft aufruft.

Dies konnte Verhaeren nur schaffen, weil er selbst alle Kontraste, alle Vorzüge der belgischen Rasse darstellt. Auch er ist ein Ferment von Gegensätzen, ein zu einem Neuen überwundener Zwiespalt divergenter Kräfte. Von den Franzosen hat er die Sprache, die Form, von den Deutschen jenes Gottsuchertum, den Ernst und die Wucht, das metaphysische Bedürfnis und den pantheistischen Drang. Die politischen Triebe, die religiösen, Katholizismus und Sozialismus, haben in ihm gerungen, Großstädter ist er zugleich und Bewohner der heimatlichen Scholle, und der tiefste Trieb seines Volkes, das Unmaß und die Lebensgier, das Fieber des Wollens ist im letzten seine dichterische Kunstmaxime. Nur daß aus der Freude am Rausch hier Freude an edler Trunkenheit, an der Ekstase geworden ist, aus der Freude am blühenden Fleisch die Lust an den Farben, aus dem Toben und Tollen die Lust am donnernden, lärmenden, überschäumenden Rhythmus. Das Tiefste seiner Rasse, eine unbeugsame, durch keine Krisen und Katastrophen zu erschütternde Vitalität, ist hier Weltgesetz geworden, bewußte, gesteigerte Lebensfreude. Denn wenn ein Land stark geworden ist und sich seiner Stärke freut, braucht es wie jeder Überschwang einen Schrei, einen Jubel. Walt Whitman war der Jubel des erstarkten Amerikas, Verhaeren ist der Triumph der belgischen und auch der europäischen Rasse. Denn so stark, so glühend, so männlich ist dieses freudige Bekenntnis des Lebens, daß man fühlt, es bricht nicht aus der Brust eines Einzelnen, sondern hier freut sich ein neues, junges Volk seiner schönen und noch unerkannten Kraft.

Jugend in Flandern

Seize, dix-sept et dix-huit ans!

O ce désir d’être avant l’âge et le vrai temps,

Celui

Dont chacun dit

Il boit à larges brocs et met à mal les filles.

(Sechzehn, siebzehn und achtzehn Jahre!

O dieser Drang, seinem Alter und seiner wahren Zeit zuvorzukommen,

Dieser,

Von dem jeder sagt,

Er trinkt in großen Zügen und verführt die Mädchen.)

E. V.

Die Geschichte der modernen belgischen Literatur beginnt durch ein Spiel des Zufalls im selben Hause. In Gent, der Lieblingsstadt Kaiser Karls, der alten, schweren, wallumgürteten flandrischen Stadt, steht abseits von den lauten Straßen St. Barbe, das graue Kloster der Jesuiten. Ein Kloster mit dicken, kühlen, abwehrenden Mauern, stummen Gängen, schweigsamen Refektorien, ein wenig erinnernd an die schönen Colleges in Oxford, nur daß hier den Wänden die heitere Ranke des Efeus fehlt und den begrünten Höfen der buntgestickte Teppich der Blumen. Dort begegnen sich auf der Schulbank zwei seltsame Knabenpaare in den siebziger Jahren, vier Namen finden sich unter den Tausenden, die später der Stolz ihres Landes sein sollten. Zuerst Georges Rodenbach und Emile Verhaeren, dann Maeterlinck und Charles van Lerberghe. Zwei Freundschaftspaare, die beide heute durch den Tod zerrissen sind. Die Schwächeren, die Zarteren, Georges Rodenbach und Charles van Lerberghe, sind gestorben, Emil Verhaeren und Maeterlinck, die beiden Heroen Flanderns, sind mit ihrem Ruhm und ihrer Kunst noch mitten in einem unabsehbaren Wachstum. Alle diese aber haben in dem alten Kloster den Anfang genommen. Bei den Jesuitenpatres empfingen sie ihre humanistische Bildung, lernten sogar Gedichte schreiben, vorerst allerdings in lateinischer Sprache, wobei merkwürdigerweise Maeterlinck abfiel gegen den formbewußteren van Lerberghe, Verhaeren gegen den geschmeidigeren Georges Rodenbach. Mit Ernst und Nachdruck erzogen sie die Patres, Vergangenes zu bewahren, Gewohntes zu glauben, in alten Regeln zu denken und Neues zu hassen. Nicht nur dem Katholizismus, auch dem Priestertum sollten sie gewonnen werden, diese Klostermauern sie beschützen vor dem feindlichen Atem der neuen Welt, die in Flandern wie überall stark und stärker ihre Stimme zur Jugend wandte.

Aber es ist anders gekommen bei allen diesen, und besonders bei Verhaeren, vielleicht ebendarum, weil er als Schößling einer strenggläubigen Familie der Geeignetste war, ein Priester zu werden, weil er jede Überzeugung nicht geistig aufnahm, sondern tätig lebte, weil sein innerstes Wesen Hingebung und glühender Glaube an große Ideen war. Aber in ihm war die Stimme des freien Landes, in dem er aufgewachsen war, zu stark, der Ruf des Lebens in seinem Blut noch zu laut, um sich so früh schon von allem abzuwenden, zu unbändig sein Sinn, als daß er sich mit Gegebenem und Althergebrachtem begnügt hätte. Die Eindrücke der Kindheit waren lebendiger als die Lehren der Scholastiker. Denn Verhaeren ist am Lande geboren, in St. Amand an der Schelde (am 21. Mai 1855