Emma - Jane Austen - E-Book

Emma E-Book

Jane Austen.

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Beschreibung

Emma Woodhouse führt ein behütetes Leben im Haus ihres Vaters. Finanzielle und anders geartete Sorgen sind ihr fremd - romantische Gefühle ebenfalls. Niemals würde sie heiraten wollen. Dennoch glaubt sie zu wissen, was gut für andere ist und hat beschlossen, diese Gabe einzusetzen, um alleinstehende Menschen miteinander zu verkuppeln. Dabei stiftet sie jedoch mehr Missverständnisse als wahre Liebe und erkennt aufgrund der selbstverschuldeten Irrungen und Wirrungen beinahe zu spät, dass sie ihr eigenes Herz längst an den galanten Mr. Knightley verloren hat.

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Emma

Inhaltsverzeichnis
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBENTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
ZWÖLFTES KAPITEL
DREIZEHNTES KAPITEL
VIERZEHNTES KAPITEL
FÜNFZEHNTES KAPITEL
SECHZEHNTES KAPITEL
SIEBZEHNTES KAPITEL
ACHTZEHNTES KAPITEL
NEUNZEHNTES KAPITEL
ZWANZIGSTES KAPITEL
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DREISSIGSTES KAPITEL
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
VIERUNDDREISSIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDDREISSIGSTES KAPITEL
SECHSUNDDREISSIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL
ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL
NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL
VIERZIGSTES KAPITEL
EINUNDVIERZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDVIERZIGSTES KAPITEL
DREIUNDVIERZIGSTES KAPITEL
VIERUNDVIERZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDVIERZIGSTES KAPITEL
SECHSUNDVIERZIGSTES KAPITEL
SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL
ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL
NEUNUNDVIERZIGSTES KAPITEL
FÜNFZIGSTES KAPITEL
EINUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
ZWEIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
DREIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
VIERUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
FÜNFUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

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Impressum

Public Domain

(c) mehrbuch

Bild: Pixabay / Freie kommerzielle Nutzung

ERSTES KAPITEL

 

 

Emma Woodhouse, hübsch, klug und reich, mit einem behaglichen Zuhause und einem glücklichen Naturell ausgestattet, schien vom Schicksal in mancherlei Hinsicht begünstigt und hatte nun schon fast einundzwanzig Jahre auf dieser Welt verbracht, ohne großen Ärger oder Verdruß zu erfahren.
Sie war die jüngere der beiden Töchter eines sehr liebevollen, nachsichtigen Vaters und infolge der Heirat ihrer Schwester sehr frühzeitig Herrin seines Hauses geworden. Ihre Mutter war schon so lange tot, daß Emma sich nur noch dunkel an die von ihr genossenen Zärtlichkeiten erinnern konnte, und ihren Platz hatte eine ausgezeichnete Gouvernante eingenommen, die in ihrer Zuneigung einer Mutter kaum nachstand.
Sechzehn Jahre war Miss Taylor in Mr. Woodhouses Familie gewesen, weniger als Gouvernante denn als Freundin, und beiden Töchtern, vor allem aber Emma, sehr zugetan. Zwischen ihnen herrschte eine Vertrautheit, wie sie sonst eher zwischen Schwestern vorkommt. Schon als sie noch offiziell ihres Amtes waltete, hatte die sanftmütige Miss Taylor ihrem Zögling kaum je Beschränkungen aufzuerlegen vermocht; und da nun auch der Schatten von Autorität längst gewichen war, lebten sie wie enge Freundinnen miteinander, wobei Emma stets tat, was sie wollte; sie schätzte zwar Miss Taylors Urteil sehr, ließ sich aber hauptsächlich von ihrem eigenen leiten.
Das eigentlich Schlimme daran war, daß Emma etwas zu oft ihren Willen bekam und ein wenig zu Selbstherrlichkeit neigte, was sich auf ihr ansonsten so unbeschwertes Leben nachteilig auszuwirken drohte. Vorläufig jedoch ahnte sie noch nichts von dieser Gefahr, so daß sie in ihrer schrankenlosen Freiheit alles andere als ein Mißgeschick erblickte.
Da zogen düstere Wolken auf, nicht allzu düster und keineswegs in Gestalt bitterer Selbsterkenntnis: Miss Taylor heiratete. Der Verlust von Miss Taylor bescherte Emma die ersten kummervollen Stunden ihres Lebens. Am Tag, als ihre geliebte Freundin vor den Traualtar trat, versank sie zum erstenmal für längere Zeit in trübsinnige Gedanken. Die Hochzeitsfeier war vorüber und das Brautpaar fort, und ihr Vater und sie mußten sich allein zu Tisch setzen, ohne Aussicht auf eine dritte Person, die ihnen den langen Abend hätte aufheitern können. Wie immer legte sich ihr Vater nach dem Essen zu einem Nickerchen hin, und ihr blieb nichts anderes übrig, als herumzusitzen und darüber nachzudenken, was sie verloren hatte.
Ihrer Freundin versprach das Ereignis alles erdenkliche Glück. Mr. Weston war ein vermögender Mann von untadeligem Charakter, im passenden Alter und mit angenehmen Umgangsformen; und Emma empfand eine gewisse innere Befriedigung, als sie sich vor Augen führte, mit welch selbstloser, großmütiger Freundschaft sie diese Partie stets gewünscht und gefördert hatte; aber sie selbst hatte sich damit einen Bärendienst erwiesen. Miss Taylor würde ihr täglich, stündlich fehlen. Sie dachte an früher, daran, wie freundlich sie immer zu ihr gewesen war – wie freundlich und liebevoll in all den sechzehn Jahren, wie sie seit ihrem fünften Lebensjahr mit ihr gelernt und gespielt hatte – wie sie ihre ganze Kraft daran gesetzt hatte, sie zu gewinnen und bei Laune zu halten, wenn sie gesund war – und wie sie sie während ihrer verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Dafür war sie ihr zu großem Dank verpflichtet; aber das freundschaftliche Verhältnis, das sich bald nach Isabellas Heirat eingestellt hatte, als sie plötzlich allein aufeinander angewiesen waren, und in dem es keinen Rangunterschied und keine Geheimnisse zwischen ihnen gab, löste noch wehmütigere, zärtlichere Erinnerungen in ihr aus. Miss Taylor war eine Freundin und Gefährtin gewesen, wie wenige sie besaßen: intelligent, gebildet, hilfreich, sanft, mit den Gepflogenheiten der Familie bestens vertraut, an allen familiären Belangen und besonders an ihr interessiert, an all ihren Vergnügungen, all ihren Plänen Anteil nehmend; ein Mensch, mit dem sie über alles sprechen konnte, was ihr in den Sinn kam, und der eine solche Zuneigung für sie hegte, daß er nie etwas an ihr zu tadeln fand.
Wie sollte sie diese Trennung verwinden? Zwar zog ihre Freundin nur eine halbe Meile von ihnen weg, aber es war Emma klar, daß zwischen einer Mrs. Weston, die nur eine halbe Meile entfernt wohnte, und einer Miss Taylor im Haus ein gewaltiger Unterschied bestand; und bei all den Vorzügen, mit denen sie von der Natur und ihrer häuslichen Umgebung ausgestattet war, drohte sie nun vor lauter Alleinsein geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater von ganzem Herzen, aber er war kein Umgang für sie. Er konnte ihr in Gesprächen, egal ob ernster oder scherzhafter Art, nicht Paroli bieten.
Der Nachteil des beträchtlichen Altersunterschieds (und Mr. Woodhouse hatte nicht eben früh geheiratet) wurde durch seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten noch erheblich verstärkt; denn da er sein Leben lang ein Hypochonder und geistig wie körperlich unbeweglich gewesen war, wirkte er in seinem ganzen Gebaren viel älter, als er tatsächlich war; und wenn er auch überall wegen seiner von Herzen kommenden Freundlichkeit und liebenswerten Wesensart sehr gemocht wurde, durch seine Geistesgaben hatte er sich gewiß nie besonders hervorgetan.
Mit ihrer Schwester, die zwar nach ihrer Heirat nicht allzu weit weggezogen war, denn da sie in London lebte, bedeutete das nur eine Entfernung von sechzehn Meilen, konnte sie keinen täglichen Umgang pflegen; und viele lange Oktober- und Novemberabende mußten in Hartfield noch überstanden werden, ehe Isabella mit ihrem Mann und ihren Kinderchen an Weihnachten zu Besuch kommen, das Haus voll werden und Emma wieder angenehme Gesellschaft genießen würde.
Die Ortschaft Highbury, die man aufgrund ihrer Bevölkerungszahl fast schon eine Stadt nennen konnte und zu der Hartfield trotz seiner eingefriedeten Rasen- und Parkflächen und seines Namens eigentlich gehörte, bot ihr keinen ebenbürtigen Umgang. Die Woodhouses waren dort die angesehensten Leute. Alle blickten zu ihnen auf. Sie hatte viele Bekannte im Ort, denn ihr Vater war zu jedermann höflich und zuvorkommend, aber unter all diesen Leuten gab es niemand, den sie auch nur für einen halben Tag an Miss Taylors Stelle hätte akzeptieren wollen. Es war eine betrübliche Veränderung; und Emma konnte nur darüber seufzen und sich die alten Zeiten zurückwünschen, bis ihr Vater von seinem Schläfchen erwachte und sie eine fröhliche Miene aufsetzen mußte. Seine Lebensgeister bedurften des Zuspruchs. Er war ein nervöser, leicht depressiver Mensch, liebte alle, an die er sich einmal gewöhnt hatte, und trennte sich ungern von ihnen, da er jede Art von Veränderung haßte. Den Ehestand, als Quelle der Veränderung schlechthin, empfand er stets als unangenehm; und er hatte sich noch keineswegs mit der Heirat seiner Tochter abgefunden und verfiel unweigerlich in einen weinerlichen Ton, wenn er von ihr sprach, obwohl es wirklich eine Liebesheirat gewesen war, und nun mußte er sich auch noch von Miss Taylor trennen. Da er bei all seiner Liebenswürdigkeit einen Hang zum Egoismus hatte und sich nicht vorzustellen vermochte, daß andere Leute nicht unbedingt seine eigenen Empfindungen teilten, neigte er sehr zu der Auffassung, Miss Taylor habe sich mit diesem Schritt selbst ebenso geschadet wie ihm und seiner Tochter und wäre viel glücklicher geworden, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfield verbracht hätte. Um ihn von diesen Gedanken abzulenken, lächelte und plauderte Emma fröhlich drauflos; aber als der Tee serviert wurde, konnte er nicht umhin zu wiederholen, was er bereits beim Essen gesagt hatte.
»Die arme Miss Taylor! Ich wünschte, sie wäre wieder hier. Welch ein Jammer, daß Mr. Weston ausgerechnet auf sie verfallen ist!«
»Du weißt genau, daß ich dir nicht zustimmen kann, Papa, wirklich nicht. Mr. Weston ist ein so gutmütiger, netter, vortrefflicher Mann, daß er eine gute Ehefrau vollauf verdient; und du kannst doch nicht wollen, daß Miss Taylor bis ans Ende ihrer Tage bei uns bliebe und all meine verrückten Launen ertragen müßte, wenn sie ein eigenes Haus haben kann?«
»Ein eigenes Haus! Aber was hat sie denn schon von einem eigenen Haus? Dieses hier ist dreimal so groß. Und du hast niemals verrückte Launen, mein Liebes.«
»Wie oft werden wir uns gegenseitig besuchen! Wir werden uns doch laufend sehen! Wir müssen damit den Anfang machen, wir müssen ihnen recht bald unseren Hochzeitsbesuch abstatten.«
»Mein Liebes, wie soll ich so weit kommen? Nach Randalls ist es derartig weit. Ich könnte nicht halb so weit gehen.«
»Nein, Papa, niemand redet davon, daß du zu Fuß gehen sollst. Natürlich fahren wir mit der Kutsche.«
»Mit der Kutsche! Aber James wird für ein so kurzes Stück nur ungern die Pferde anspannen; und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir unseren Besuch abstatten?«
»Sie werden in Mr. Westons Stall eingestellt, Papa. Das haben wir doch schon alles abgesprochen. Gestern abend haben wir alles mit Mr. Weston ausgemacht. Und was James betrifft, so kannst du ganz sicher sein, daß er immer gern nach Randalls fährt, weil doch seine Tochter dort Hausmädchen ist. Zweifel habe ich allenfalls, ob er uns noch irgendwo anders hinfahren will. Das war dein Werk, Papa. Du hast Hannah diese gute Stelle verschafft. Niemand dachte an Hannah, bis du sie ins Gespräch gebracht hast – James ist dir so dankbar dafür!«
»Ich bin froh, daß ich an sie gedacht habe. Es war ein Glück, denn unter keinen Umständen hätte ich gewollt, daß sich der arme James übergangen fühlt; und ich bin sicher, aus ihr wird einmal ein sehr gutes Hausmädchen; sie ist ein höfliches Ding und weiß sich gut auszudrücken; ich halte viel von ihr. Wann immer ich sie sehe, macht sie jedesmal einen Knicks und fragt mich so nett, wie es mir geht; und wenn du sie zum Nähen hier hast, dreht sie, wie ich bemerkt habe, den Knauf richtig herum und schlägt die Tür niemals zu. Ich bin sicher, sie macht sich als Hausmädchen sehr gut; und für die arme Miss Taylor wird es ein großer Trost sein, ein vertrautes Gesicht um sich zu haben. Jedesmal, wenn James seine Tochter drüben besucht, hört sie ja auch von uns. Er kann ihr dann erzählen, wie es uns hier geht.«
Emma gab sich alle Mühe, diesen Strom heiterer Gedanken nicht versiegen zu lassen, und hoffte, mit Hilfe von Backgammon ihrem Vater die Stunden bis zum Schlafengehen einigermaßen verkürzen zu können und sich nur mit ihrem eigenen Kummer herumschlagen zu müssen. Der Backgammon-Tisch wurde aufgestellt; aber kurz darauf trat ein Besucher ein und machte ihn überflüssig.
Mr. Knightley, ein kluger, aufgeweckter Mann von etwa sieben- oder achtunddreißig Jahren war nicht nur ein alter und enger Freund der Familie, sondern als der ältere Bruder von Isabellas Mann ihr noch auf besondere Weise verbunden. Er wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt, war ein häufiger und stets willkommener Gast und diesmal willkommener denn je, da er direkt von ihren gemeinsamen Verwandten in London kam. Nach einer Reise von einigen Tagen war er zu einem späten Dinner nach Hause zurückgekehrt und nun nach Hartfield gelaufen, um zu berichten, daß es am Brunswick Square allen gutgehe.
Es war ein glücklicher Umstand, er brachte Mr. Woodhouse eine Weile auf fröhlichere Gedanken. Mr. Knightley hatte eine muntere Art, die dem alten Herrn immer guttat; und seine vielen Fragen nach der armen Isabella und ihren Kindern wurden zu seiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als dieses Thema abgehakt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar:
»Es ist sehr nett von Ihnen, Mr. Knightley, uns noch zu dieser späten Stunde aufzusuchen. Ich fürchte, Sie haben einen schrecklichen Spaziergang hinter sich.«
»Überhaupt nicht, Sir. Es ist eine wunderschöne Mondnacht und so mild, daß ich von Ihrem gewaltigen Feuer etwas wegrücken muß.«
»Aber auf dem Weg hierher war es doch bestimmt recht feucht und schmutzig. Ich hoffe, Sie holen sich keine Erkältung.«
»Schmutzig, Sir? Schauen Sie sich meine Stiefel an. Kein einziger Spritzer!«
»Nanu, das überrascht mich aber sehr, denn wir haben hier geradezu sintflutartigen Regen gehabt. Während wir beim Frühstück saßen, hat es eine halbe Stunde lang furchtbar geregnet. Ich wollte schon, daß sie die Hochzeit verschieben.«
»Übrigens – ich habe Ihnen noch gar nicht gratuliert. Da ich ja recht gut weiß, wie es um Ihre Freude bestellt ist, habe ich mich mit meinen Glückwünschen nicht sonderlich beeilt. Aber ich hoffe, es ist alles einigermaßen angenehm verlaufen. Wie ist es Ihnen denn allen ergangen? Wer hat am meisten geheult?«
»Ach! Die arme Miss Taylor! Es ist ein trauriges Kapitel.«
»Armer Mr. Woodhouse und arme Emma, wenn ich bitten darf, aber ›arme Miss Taylor‹ bringe ich beim besten Willen nicht über die Lippen. Ich schätze Sie und Emma ja außerordentlich, doch wenn es um die Alternative Abhängigkeit oder Unabhängigkeit geht! Auf jeden Fall ist es angenehmer, wenn man es nur einem Menschen recht machen muß als deren zwei.«
»Besonders, wenn einer der beiden ein so launisches, unleidliches Geschöpf ist!« entgegnete Emma neckisch. »Das hatten Sie doch dabei im Hinterkopf, ich weiß es – und sie würden es auch sagen, wenn mein Vater nicht dabei wäre.«
»Ich glaube, das stimmt auch, mein Liebes«, sagte Mr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich bin leider manchmal sehr launisch und unleidlich.«
»Liebster Papa! Du glaubst doch nicht etwa, ich meine dich oder Mr. Knightley hätte dich dabei im Auge gehabt? Welch entsetzlicher Gedanke! O nein! Ich meinte nur mich damit. Mr. Knightley findet so gern etwas an mir auszusetzen – im Spaß natürlich –, es ist ja alles nur Spaß. Wir sagen einander immer, wonach uns der Sinn steht.«
Tatsächlich gehörte Mr. Knightley zu den wenigen Menschen, die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten, und er war der einzige, der es ihr auch sagte. Emma fand das zwar nicht besonders angenehm, aber sie wußte, es würde ihrem Vater noch weitaus weniger angenehm sein, und deshalb wollte sie verhindern, daß er wirklich Verdacht schöpfte, es könnte sie jemand für nicht vollkommen halten. »Emma weiß, daß ich ihr niemals schmeichle«, sagte Mr. Knightley. »Aber ich wollte über niemanden abfällige Bemerkungen machen. Miss Taylor war daran gewöhnt, es zwei Leuten recht machen zu müssen; nun wird sie es nur noch einem recht machen müssen. Alles spricht doch dafür, daß sie dabei nur gewinnen kann.«
»Schön«, sagte Emma, durchaus willens, es dabei bewenden zu lassen, »Sie möchten etwas über die Hochzeit hören, und ich erzähle Ihnen liebend gern davon, denn wir haben uns alle entzückend benommen. Alle fanden sich pünktlich ein, sahen fabelhaft aus. Keine Träne und kaum ein langes Gesicht waren zu sehen. Oh! nein, wir wußten ja, daß wir nur eine halbe Meile voneinander entfernt leben und uns mit Sicherheit täglich sehen werden.«
»Die liebe Emma trägt alles so tapfer«, sagte ihr Vater. »Aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, bedauert sie es schon sehr, die arme Miss Taylor zu verlieren, und ich bin sicher, Emma wird sie noch mehr vermissen, als sie jetzt wahrhaben will.«
Halb weinend, halb lächelnd wandte Emma das Gesicht ab.
»Wie sollte Emma eine solche Gefährtin auch nicht vermissen!« sagte Mr.Knightley. »Wir würden sie doch nicht so gern haben, Sir, wenn wir das annehmen müßten. Aber sie weiß auch, wie viele Vorteile Miss Taylor diese Ehe bringt; sie weiß, wie überaus angenehm es in Miss Taylors Alter sein muß, ein richtiges Zuhause zu haben, und wie wichtig es für sie ist, wohlversorgt zu sein, und daher wird letztlich ihre Freude den Trennungsschmerz überwiegen. Jeder, der Miss Taylor freundschaftlich gesinnt ist, muß sich einfach freuen, sie so glücklich verheiratet zu wissen.«
»Und dabei haben Sie einen Grund, weshalb ich mich freuen muß, ganz vergessen«, sagte Emma, »und noch dazu einen wichtigen – daß nämlich ich die Partie zustande gebracht habe. Vor vier Jahren habe ich sie schon angebahnt; und die Tatsache, daß die Hochzeit stattgefunden hat und ich recht behalten habe, obwohl so viele Leute behaupteten, Mr. Weston werde nie wieder heiraten, mag mich über alles hinwegtrösten.«
Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater säuselte zärtlich: »Ach, mein Liebes, ich wünschte, du würdest keine Ehen mehr stiften und Dinge voraussagen, denn alles, was du sagst, trifft immer ein. Bitte, stifte keine Ehen mehr.«
»Was mich selbst betrifft, so verspreche ich es dir gern, Papa; aber für andere Leute muß ich es einfach tun. Es gibt nichts, was so viel Spaß macht! Und erst recht nach einem solchen Erfolg! Jedermann sagte, Mr. Weston werde nie mehr heiraten. Du liebe Güte, nein! Mr. Weston, der schon so lange Witwer war und der so gut ohne Frau zurechtzukommen schien, der aufging in seinem Beruf und ständig von seinen Freunden mit Beschlag belegt wurde, der überall gern gesehen war, wohin er auch ging, stets fröhlich – Mr. Weston brauchte keinen einzigen Abend im Jahr allein zu verbringen, wenn er nicht wollte. O nein! Mr. Weston würde gewiß nicht wieder heiraten. Einige Leute munkelten sogar von einem Versprechen, das er seiner Frau auf dem Totenbett gegeben habe, und andere sagten, der Sohn und der Onkel ließen eine neue Heirat nicht zu. Allerlei feierlicher Unsinn wurde zu diesem Thema verbreitet, aber ich habe kein Wort davon geglaubt. Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylor und ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil es zu nieseln anfing, vor lauter Ritterlichkeit davonschoß und beim Bauer Mitchell zwei Regenschirme für uns auslieh, da stand es für mich fest. Von Stund an habe ich diese Ehe geplant; und jetzt, wo mein Bemühen von solchem Erfolg gekrönt wurde, wirst du, liebster Papa, doch wohl nicht glauben, daß ich die Finger vom Ehestiften lasse.«
»Ich verstehe nicht, was Sie mit ›Erfolg‹ meinen«, sagte Mr. Knightley. »Erfolg setzt Anstrengung voraus. Sie haben Ihre Zeit wahrlich zweckmäßig und anständig verbracht, wenn sie sich in den letzten vier Jahren bemüht haben, diese Ehe zustande zu bringen. Ich muß schon sagen: eine würdige Beschäftigung für eine junge Dame! Aber wenn, was ich eher glaube, ihre Ehestifterei, wie Sie es nennen, nur bedeutet, daß Sie die Verbindung geplant haben, daß Sie eines müßigen Tages zu sich sagten: »Ich denke, es wäre eine feine Sache für Miss Taylor, wenn Mr. Weston sie heiraten würde«, und Sie sich das immer wieder eingeredet haben – wieso sprechen Sie dann von Erfolg? Wo liegt Ihr Verdienst? Worauf sind Sie stolz? Sie haben richtig geraten; und das ist alles, was man dazu sagen kann.«
»Haben Sie je erlebt, welch ein Vergnügen es macht und welch ein Triumphgefühl sich einstellt, wenn man ein Rätsel gelöst hat? Sie tun mir leid. – Ich hätte Sie für klüger gehalten – denn verlassen Sie sich darauf: ein richtig gelöstes Rätsel ist niemals nur Glückssache. Es ist immer etwas Talent mit im Spiel. Und was mein unglücklich gewähltes Wort ›Erfolg‹ angeht, an dem Sie so viel auszusetzen haben, nun, ich wüßte nicht, warum ich darauf so gar keinen Anspruch hätte. Sie haben so hübsch zwei Positionen skizziert – aber ich glaube, es gibt wohl noch eine dritte – etwas zwischen Nichtstun und Allestun. Wenn ich nicht Mr. Westons Besuche hier begünstigt und oft auch ermutigt und ihnen allerlei kleine Steine aus dem Weg geräumt hätte, wäre vielleicht am Ende nichts daraus geworden. Ich denke, Sie müßten Hartfield gut genug kennen, um das zu begreifen.«
»Einem geradlinigen, offenherzigen Mann wie Weston und einer klugen, unaffektierten Frau wie Miss Taylor darf man es doch getrost überlassen, ihre persönlichen Angelegenheiten selbst zu regeln. Durch Ihre Einmischung haben Sie sich wahrscheinlich mehr geschadet, als ihnen Gutes getan.«
»Emma denkt nie an sich, wenn sie anderen Gutes tun kann«, ließ sich Mr. Woodhouse vernehmen, der nur zum Teil verstand, was da gesprochen wurde. »Aber, mein Liebes, bitte, sei so gut, stifte keine weiteren Ehen mehr, das sind alberne Dinge, und sie bringen nur Kummer und zerstören den häuslichen Frieden.«
»Nur noch eine, Papa; nur für Mr. Elton. Der arme Mr. Elton! Du magst doch Mr. Elton, Papa – ich muß mich nach einer Frau für ihn umsehen. Es gibt keine in Highbury, die ihn verdient – und er ist jetzt schon ein ganzes Jahr hier und hat sein Haus so gemütlich eingerichtet, daß es ein Jammer wäre, wenn er noch länger allein bliebe –, und als er heute ihre Hände ineinanderlegte, sah er mir ganz danach aus, als würde er sich gern selbst diesen freundlichen Dienst erweisen lassen! Ich halte große Stücke auf Mr. Elton, und dies ist die einzige Möglichkeit, wie ich ihm etwas Gutes tun kann.«
»Mr. Elton ist gewiß ein recht hübscher junger Mann und ein sehr anständiger junger Mann, und ich habe viel für ihn übrig. Aber wenn du ihm etwas Gutes tun möchtest, mein Liebes, so bitte ihn doch, mal zu uns zum Essen zu kommen. Das ist doch viel besser. Ich darf wohl annehmen, Mr. Knightley wird die Güte haben, ihn abzuholen.«
»Jederzeit, mit dem größten Vergnügen, Sir«, sagte Mr. Knightley lachend; »und ich bin ganz Ihrer Meinung, daß das eine viel bessere Lösung ist. Laden Sie ihn zum Dinner ein, Emma, und legen Sie ihm die besten Stückchen von Fisch und Huhn vor, aber überlassen Sie es ihm, sich die richtige Frau zu suchen. Glauben Sie mir, ein Mann von sechs- oder siebenundzwanzig kann für sich selbst sorgen.«

ZWEITES KAPITEL

 

 

 

Mr. Weston, in Highbury geboren, entstammte einer angesehenen Familie, die in den letzten zwei oder drei Generationen zu Rang und Besitz gekommen war. Er hatte eine gute Erziehung genossen, aber da er schon in jungen Jahren zu einer gewissen finanziellen Unabhängigkeit gelangt war, verloren die bodenständigeren Tätigkeiten, denen seine Brüder nachgingen, für ihn an Reiz, und er hatte seine geistige Beweglichkeit, sein lebensfrohes Naturell und seine gesellige Art durch den Eintritt in die Bürgerwehr befriedigt, die damals gegründet wurde. Hauptmann Weston war allseits beliebt; und als er durch die Wechselfälle seines Soldatenlebens mit der einer einflußreichen Familie in Yorkshire entstammenden Miss Churchill Bekanntschaft geschlossen hatte und sich diese Miss Churchill in ihn verliebte, überraschte das niemanden bis auf ihren Bruder und dessen Frau, die ihn nie gesehen hatten und derart von Standesdünkel und Stolz durchdrungen waren, daß sie diese Verbindung als einen Affront empfinden mußten.
Miss Churchill allerdings, die volljährig war und über ihr Vermögen frei verfügen konnte – wenn auch ihr Vermögen in keinem Verhältnis zum Familienbesitz stand –, ließ sich nicht von der Heirat abbringen, und die Hochzeit fand statt zum unendlichen Verdruß von Mr. und Mrs. Churchill, die ihre Schwester unter Wahrung der äußeren Form fallenließen. Die Verbindung erwies sich als wenig harmonisch und nicht besonders glücklich. Dabei hätte Mrs. Weston durchaus zufrieden sein können, denn sie hatte einen Ehemann, der ihr in seiner Warmherzigkeit und Sanftmut alles zugestehen zu müssen glaubte, nur weil sie ihn liebte; es mangelte ihr zwar nicht an einer gewissen Charakterstärke, doch stand es mit ihrer Ausdauer nicht zum besten. Sie verfügte über genug Entschlossenheit, um ihren Willen gegen den ihres Bruders durchzusetzen, aber nicht genug, um sich des unsinnigen Bedauerns über den unsinnigen Zorn ihres Bruders zu entschlagen und den Luxus ihres früheren Zuhauses nicht zu vermissen. Sie lebten über ihre Verhältnisse, aber dennoch war das nichts im Vergleich zu Enscombe: Sie hörte zwar nicht auf, ihren Mann zu lieben, aber sie wollte gleichzeitig die Frau von Hauptmann Weston und Miss Churchill von Enscombe sein.
Es erwies sich, daß Hauptmann Weston, von dem alle Leute, besonders aber die Churchills, glaubten, er habe eine ganz fabelhafte Partie gemacht, bei dem Geschäft entschieden den kürzeren zog; denn als seine Frau nach drei Jahren Ehe starb, war er eher ärmer als zuvor und mußte noch dazu für ein Kind sorgen. Der Unterhaltskosten für das Kind wurde er allerdings bald enthoben. Über den Jungen war eine Art von Versöhnung zustande gekommen, zumal die langwierige Krankheit seiner Mutter selbst die Hartherzigsten erweichen mußte. Und da Mr. und Mrs. Churchill keine eigenen Kinder hatten und auch sonst für kein anderes Wesen aus der Verwandtschaft aufkommen mußten, erboten sie sich kurz nach Mrs. Westons Tod, den kleinen Frank ganz zu sich zu nehmen. Der verwitwete Vater mochte wohl einige Skrupel und einen gewissen Widerwillen verspürt haben, doch da sich andere Überlegungen als stärker erwiesen, wurde das Kind der Obhut der Churchills übergeben und ihres Wohlstands teilhaftig, und Mr. Weston brauchte sich nur noch um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern und seine finanzielle Lage zu verbessern, so gut es ging.
Ein beruflicher Neuanfang erschien angezeigt. Er quittierte den Dienst in der Bürgerwehr und verlegte sich auf den Handel, und der Umstand, daß sich seine Brüder bereits vorteilhaft in London etabliert hatten, ermöglichte ihm einen günstigen Start. Es war ein Handelsunternehmen, das ihm gerade genug zu tun gab. Er hatte noch ein kleines Haus in Highbury, wo er den größten Teil seiner Freizeit verbrachte; und so gingen die nächsten achtzehn oder zwanzig Jahre seines Lebens zwischen nützlicher Tätigkeit und gesellschaftlichen Vergnügungen fröhlich dahin. Unterdessen verfügte er über ein bequemes Auskommen, genug, um sich den kleinen Landsitz in der Nähe von Highbury leisten zu können, den er schon lange im Auge gehabt hatte – genug, um selbst eine Frau wie Miss Taylor, die über keine Mitgift verfügte, zu heiraten und ganz so zu leben, wie es seiner zwanglosen und geselligen Art entsprach.
Schon seit geraumer Zeit drehte sich alles in seiner Zukunftsplanung um Miss Taylor; aber da es sich dabei nicht um jene tyrannische Leidenschaft handelte, die junge Menschen zueinander treibt, war er in seinem Entschluß, nicht eher eine Familie zu gründen, als bis er Randalls erwerben konnte, nicht wankend geworden. Lange hatte er vergeblich gewartet, daß Randalls zum Verkauf angeboten würde, aber er hatte sein Ziel nie aus den Augen verloren und es beharrlich verfolgt, bis er es endlich erreichte. Er hatte sich sein Vermögen erarbeitet, sein Haus gekauft und seine Frau bekommen und begann nun einen neuen Lebensabschnitt, der glücklicher zu werden versprach als alle zurückliegenden. Zwar war er im Grunde nie unglücklich gewesen, davor hatte ihn sein heiteres Naturell selbst in seiner ersten Ehe bewahrt, aber in seiner zweiten würde er erfahren, wie wunderbar es ist, eine kluge und liebenswerte Frau um sich zu haben, und das würde ihm beweisen, daß es weitaus besser ist, zu wählen, als gewählt zu werden, Dankbarkeit zu erwecken, als zu schulden.
Bei seiner Wahl brauchte er auf niemanden Rücksicht zu nehmen: Über sein Vermögen konnte er nach Belieben verfügen, denn Frank war nicht nur stillschweigend zum Erben seines Onkels erzogen, sondern inzwischen auch definitiv adoptiert worden, und sollte nach Erreichen der Volljährigkeit den Namen Churchill annehmen. Infolgedessen war es höchst unwahrscheinlich, daß er jemals von seinem Vater finanziell unterstützt werden müsse. Sein Vater machte sich diesbezüglich keinerlei Sorgen. Die Tante war zwar eine launische Frau und beherrschte ihren Mann total; aber Mr. Weston vermochte es sich von seinem ganzen Wesen her einfach nicht vorzustellen, daß ein so geliebter Mensch und, wie er glaubte, zu Recht so geliebter Mensch, das Opfer solcher Launen werden könne, und seien sie noch so heftig. Er sah seinen Sohn jedes Jahr in London und war stolz auf ihn; und da er ihn voll väterlicher Liebe als einen prächtigen jungen Mann geschildert hatte, war ganz Highbury irgendwie stolz auf ihn. Er galt fast schon als Einheimischer, so daß seine Meriten und Zukunftsaussichten gewissermaßen Gegenstand des öffentlichen Interesses wurden.
Highbury rühmte sich, Mr. Frank Churchill zu den Seinen zählen zu dürfen, und alle brannten vor Neugier darauf, ihn endlich kennenzulernen, obwohl diese Ehre so wenig Resonanz fand, daß er noch nie in seinem Leben dort gewesen war. Oft hatte es wohl geheißen, er wolle seinen Vater besuchen kommen, aber daraus war nie etwas geworden.
Jetzt, nach der Hochzeit seines Vaters, ging man allgemein davon aus, daß der Besuch, schon als Akt geziemender Aufmerksamkeit, demnächst stattfinden werde. Darüber waren sich alle einig, egal, ob nun Mrs. Perry bei Mrs. und Miss Bates zum Tee saß oder ob Mrs. und Miss Bates den Besuch erwiderten. Nun war es für Mr. Frank Churchill Zeit, sich in ihrer Mitte blicken zu lassen; und die Hoffnung bekam Aufwind, als ruchbar wurde, daß er seiner neuen Mutter zur Hochzeit geschrieben habe. Einige Tage lang gehörte der schöne Brief, den Mrs. Weston bekommen hatte, bei jeder Vormittagsvisite in Highbury zum Gesprächsthema. »Ich vermute, Sie haben schon von dem schönen Brief gehört, den Mr. Frank Churchill Mrs. Weston geschrieben hat! Es soll wirklich ein sehr schöner Brief sein. Mr. Woodhouse hat mir davon erzählt. Mr. Woodhouse hat den Brief gesehen und sagt, daß er noch nie in seinem Leben einen so schönen Brief gesehen habe.«
Es war in der Tat ein unschätzbar wichtiger Brief. Mrs. Weston hatte sich von dem jungen Mann natürlich immer schon sehr schmeichelhafte Vorstellungen gemacht; und eine solch wohltuende Aufmerksamkeit war in ihren Augen ein unwiderlegbarer Beweis für seine hochherzige Gesinnung und eine höchst willkommene Ergänzung der vielen Glückwunschbekundungen, die bereits zur Hochzeit von allen Seiten eingegangen waren. Sie konnte ihr Glück kaum fassen und war alt genug, um zu wissen, wie glücklich sie sich schätzen durfte, kein anderes Bedauern empfinden zu müssen als das, nicht mehr andauernd mit Freunden zusammenzusein, deren Freundschaft für sie nie abgekühlt war und die sie nur schweren Herzens gehen ließen!
Sie wußte, daß sie bestimmt manchmal vermißt würde, und konnte nicht ohne Schmerz daran denken, daß Emma auch nur ein einziges Vergnügen entgehe oder sie auch nur eine Stunde Langeweile erleide, weil ihr die Gesellschaft ihrer Freundin fehle, aber die liebe Emma war ja kein schwacher Charakter und dieser Situation besser gewachsen, als es die meisten jungen Mädchen an ihrer Stelle gewesen wären, und sie hatte Verstand, Unternehmungsgeist und Esprit, die sie hoffentlich unbeschadet und glücklich durch die kleinen, nun auftretenden Schwierigkeiten und Entbehrungen hindurchmanövrieren würden. Ein wirklicher Trost lag auch darin, daß es von Randalls bis Hartfield ein Katzensprung war, so daß man sogar als Frau allein einen Spaziergang dorthin machen konnte, und zudem sprach aufgrund von Mr. Westons Naturell und Lebensumständen nichts dagegen, während der bevorstehenden Winterzeit jeden zweiten Abend gemeinsam mit den Woodhouses zu verbringen.
Den vielen Stunden, in denen Mrs. Weston voll Dankbarkeit über ihr neues Leben nachdachte, standen insgesamt gesehen nur wenige Minuten des Bedauerns gegenüber, und ihre Zufriedenheit – ja, mehr als nur Zufriedenheit – und ihre ungetrübte Freude waren so begründet und so offenkundig, daß Emma, so gut sie auch ihren Vater kannte, sich manchmal ganz verblüfft fragte, wie er die »arme Miss Taylor« noch immer bedauern konnte, wenn sie sie nach einem Besuch in Randalls in ihrem behaglichen Zuhause zurückließen oder sie abends am Arm ihres liebenswürdigen Ehemanns zur eigenen Kutsche gehen sahen. Aber jedesmal, wenn sie wegfuhr, gab Mr. Woodhouse einen leisen Seufzer von sich und sagte:
»Ach! Die arme Miss Taylor. Sie würde ja so gern hierbleiben.«
Nichts vermochte Miss Taylor zu ihnen zurückzubringen – und es bestand auch keine große Aussicht, daß er aufhören würde, sie zu bedauern: Aber nach einigen Wochen machte sich bei Mr. Woodhouse eine gewisse Erleichterung bemerkbar. Die Gratulationscour seiner Nachbarn war vorüber; er mußte sich nicht länger über die Glückwünsche zu einem so betrüblichen Ereignis ärgern; und der Hochzeitskuchen, der ihm großen Verdruß bereitet hatte, war aufgegessen. Sein Magen vertrug keine schwer verdaulichen Speisen, und er konnte einfach nicht glauben, daß es anderen Leuten nicht ebenso erging. Was ihm nicht bekam, betrachtete er als unzuträglich für jedermann; und er hatte ihnen daher ernsthaft auszureden versucht, überhaupt einen Hochzeitskuchen aufzutischen, und als das nicht verschlug, hatte er ebenso ernsthaft versucht, jedem vom Verzehr eines solchen abzuraten. Er hatte nicht einmal die Mühe gescheut, Mr. Perry, den Arzt, zu diesem Thema zu konsultieren. Mr. Perry war ein intelligenter, gebildeter Mann, dessen häufige Besuche zu den Lichtblicken in Mr. Woodhouses Leben gehörten; und hierzu befragt, mußte Mr. Perry zugeben (wenn es ihm auch gegen den Strich zu gehen schien), daß ein Hochzeitskuchen, wenn er nicht in Maßen genossen werde, vielen Leuten schlecht bekomme – vielleicht sogar den meisten. Mit diesem Urteil eines Fachmanns, durch das er sich voll und ganz bestätigt sah, hoffte Mr. Woodhouse, jeden Gast des frisch vermählten Paares überzeugen zu können; doch der Kuchen wurde trotzdem gegessen, und Mr. Woodhouses von Nächstenliebe aufgewühlte Nerven beruhigten sich erst wieder, als nichts mehr von dem fatalen Gebäck übrig war.
In Highbury kursierte das befremdliche Gerücht, daß man alle kleinen Perrys mit einem Stück von Mrs. Westons Hochzeitstorte in der Hand gesehen habe: Aber Mr. Woodhouse wollte es partout nicht glauben.

DRITTES KAPITEL

 

 

 

Auf seine Weise liebte Mr. Woodhouse gesellschaftlichen Umgang durchaus. Er hatte es sehr gern, wenn seine Freunde ihn besuchen kamen; und aufgrund verschiedener glücklicher Umstände, seiner langjährigen Ansässigkeit in Hartfield, seiner Gutmütigkeit, seines Vermögens, seines Hauses und seiner Tochter vermochte er die Besuche aus seinem kleinen Freundeskreis weitgehend so zu steuern, wie es ihm gefiel.
Mit Familien außerhalb dieses Kreises pflegte er kaum Umgang; da ihm spätes Nachhausekommen und große Dinner-Parties ein Graus waren, beschränkten sich seine Kontakte notgedrungen auf Leute, die sich bei ihren Besuchen ganz nach ihm richteten. Er hatte das Glück, daß daran in Highbury mit dem zum gleichen Pfarrbezirk gehörenden Randalls und in dem benachbarten Donwell Abbey, dem Wohnsitz von Mr. Knightley, kein Mangel herrschte. Nicht selten ließ er sich von Emma überreden, einige der Auserwählten und Besten zum Essen einzuladen, aber am liebsten war ihm ein Abend mit Freunden, und wenn er sich nicht gerade einbildete, überhaupt niemanden um sich haben zu können, verging kaum ein Abend in der Woche, an dem Emma nicht den Kartentisch für ihn herrichten konnte.
Echte, langjährige Freundschaft führte die Westons und Mr. Knightley ins Haus; und es bestand auch keine Gefahr, daß Mr. Elton, ein junger, keineswegs überzeugter Junggeselle, das Vorrecht verschmähen würde, an freien Abenden das langweilige Alleinsein in den eigenen vier Wänden gegen die Annehmlichkeiten und die Gesellschaft in Mr. Woodhouses Salon und das Lächeln seiner liebreizenden Tochter eintauschen zu dürfen.
Nach diesen kam ein zweiter Personenkreis, zu dessen geschätztesten Mitgliedern Mrs. und Miss Bates und Mrs. Goddard gehörten, drei Damen, bei denen eine Einladung aus Hartfield fast immer ein geneigtes Ohr fand, und die so oft abgeholt und heimgefahren wurden, daß es in Mr. Woodhouses Augen James und den Pferden kein Ungemach mehr bereitete. Wäre es nur einmal im Jahr vorgekommen, so hätte es gewiß seinen Groll erregt.
Mrs. Bates, die Witwe eines früheren Pfarrers von Highbury, war eine uralte Dame, schon fast jenseits von Gut und Böse, bis auf ihre Vorliebe für Tee und Kartenspiel. Sie lebte mit ihrer einzigen Tochter in sehr bescheidenen Verhältnissen und wurde mit all der Rücksicht und Achtung behandelt, die eine harmlose alte Dame in solch widrigen Lebensumständen nur erregen kann. Ihre Tochter erfreute sich einer ungewöhnlich hohen Beliebtheit für eine Frau, die weder jung noch hübsch, weder reich noch verheiratet war. Angesichts ihrer kläglichen Lage floß ihr erstaunlich viel Sympathie zu, und sie besaß auch nicht die geistige Überlegenheit, um ihre Mängel zu kompensieren oder jenen, die sie nicht mochten, zumindest nach außen hin Respekt einzuflößen. Besonderer Schönheit oder Klugheit hatte sie sich nie rühmen können. Ihre Jugend war sang- und klanglos dahingegangen, und ihre mittleren Jahre widmete sie der Pflege einer kränklichen Mutter und dem Bemühen, ein geringes Einkommen so gut wie möglich zu strecken. Und dennoch war sie eine glückliche Frau, und eine, von der niemand ohne Wohlwollen sprach. Ihre eigenes Wohlwollen gegenüber jedermann und ihre innere Zufriedenheit bewirkten solche Wunder. Sie mochte jeden, nahm an jedermanns Glück Anteil, sah in jedem Menschen grundsätzlich das Gute und hielt sich für ein vom Glück reich bedachtes Wesen, gesegnet mit einer so wunderbaren Mutter und so vielen guten Nachbarn und Freunden und einem Heim, in dem es an nichts fehlte. Ihre schlichte, fröhliche Wesensart, ihre innere Zufriedenheit und Dankbarkeit öffneten ihr die Herzen aller und waren ihr selbst eine Quelle des Glücks. Sie konnte endlos und anschaulich über Kleinigkeiten reden, womit sie genau Mr. Woodhouses Geschmack traf, und hatte immer belanglose Neuigkeiten und harmlosen Klatsch parat.
Mrs. Goddard war die Leiterin einer Schule – keines Seminars oder Instituts oder irgendeiner jener Einrichtungen, die in langen Sätzen voll gebildetem Unsinn vorgeben, fortschrittliche Wissensvermittlung mit weltläufiger Moral auf der Basis neuer Erziehungsgrundsätze und neuer Lehrsysteme zu verbinden, und in denen junge Damen gegen enorme Summen um ihre Gesundheit und auf dumme Gedanken gebracht werden –, sondern eines echten, ehrlichen, altmodischen Mädchenpensionats, wo ein vernünftiges Maß an Fertigkeiten zu einem vernünftigen Preis geboten wird und wohin man junge Mädchen schicken kann, damit sie aus dem Weg sind und sich ein wenig Bildung aneignen, ohne Gefahr zu laufen, als Wunderkinder zurückzukommen. Mrs. Goddards Schule genoß einen vorzüglichen Ruf – und das durchaus zu Recht; denn Highbury galt als ein besonders gesundes Fleckchen Erde. Mrs. Goddard hatte ein geräumiges Haus und einen weitläufigen Garten, verköstigte die Kinder reichlich und gesund, ließ sie im Sommer viel umhertollen und verband ihnen im Winter eigenhändig die Frostbeulen. Es war kein Wunder, daß ihr inzwischen eine Schar von vierzig Mädchen, paarweise geordnet, zur Kirche folgte. Sie war eine schlichte, mütterliche Frau, die in ihrer Jugend hart gearbeitet hatte und sich nun das Recht nahm, gelegentlich einen freien Nachmittag für einen Teebesuch einzulegen; und da sie Mr. Woodhouses Freundlichkeit von früher her viel zu verdanken hatte, fühlte sie sich ihm gegenüber besonders verpflichtet, ihr schmuckes Wohnzimmer mit den feinen Handarbeiten an den Wänden so oft sie konnte zu verlassen, um vor seinem Kaminfeuer ein paar Pfennige zu gewinnen oder zu verlieren.
Dies waren die Damen, die Emma recht häufig zusammenbekam, und sie freute sich darüber wegen ihres Vaters, denn ihr boten sie natürlich keinen Ersatz für die abwesende Mrs. Weston. Sie war froh und glücklich, wenn sie sah, daß sich ihr Vater wohl fühlte, und ein bißchen stolz auf sich, weil sie alles so schön hingekriegt hatte; aber wenn sie dann die drei Damen so eintönig und langatmig daherreden hörte, wurde ihr jedesmal aufs neue klar, daß das wieder einer der endlosen Abende war, die sie mit Schrecken hatte kommen sehen.
Als sie eines Morgens so dasaß und schon wußte, daß auch dieser Tag wieder so enden würde, brachte man ihr ein Briefchen von Mrs. Goddard, die in ehrerbietigsten Worten um die Erlaubnis bat, Miss Smith mitbringen zu dürfen, eine Emma höchst willkommene Bitte, denn Miss Smith war ein siebzehnjähriges Mädchen, das sie vom Sehen her gut kannte und das sie wegen seines bildhübschen Gesichts schon seit langem interessierte. Eine freundliche Einladung wurde zurückgeschickt, und der bevorstehende Abend löste in der holden Hausherrin kein Grauen mehr aus.
Harriet Smith war die uneheliche Tochter eines Unbekannten. Ein Unbekannter hatte sie vor mehreren Jahren in Mrs. Goddards Schule untergebracht, ein Unbekannter hatte vor kurzem bewirkt, daß aus der einfachen Pensionatsschülerin eine von Mrs. Goddards Günstlingen geworden war. Mehr wußte man nicht über sie. Außer den in Highbury erworbenen Freundinnen hatte sie offenbar keine weiteren und war soeben von einem längeren Aufenthalt bei einigen jungen Damen auf dem Lande zurückgekehrt, die mit ihr dort die Schule besucht hatten.
Sie war ein bildhübsches Mädchen und zufällig der Typ von Schönheit, den Emma besonders bewunderte. Sie war klein und mollig, hatte einen sehr hellen Teint und rosige Wangen, blaue Augen und blondes Haar, regelmäßige Gesichtszüge und einen schmelzenden Blick; und ehe sich der Abend neigte, war Emma von ihren Umgangsformen nicht weniger angetan als von ihrem Äußeren und fest entschlossen, die Bekanntschaft fortzusetzen.
An Miss Smiths Äußerungen im Gespräch war ihr zwar nichts besonders Geistreiches aufgefallen, aber insgesamt fand Emma sie doch sehr anziehend: nicht störend schüchtern, nicht auf den Mund gefallen, und doch alles andere als vorlaut, zollte sie der Gastgeberin die geziemende Hochachtung, gab auf so wohltuend offene Weise zu erkennen, wie dankbar sie sei, in Hartfield aufgenommen worden zu sein, und zeigte sich so ungekünstelt beeindruckt von dem eleganten, ihr völlig fremden Ambiente, daß sie gesunden Menschenverstand haben mußte und Förderung verdiente. Und die sollte sie erhalten. Solche sanften blauen Augen und solch natürliche Anmut durften nicht an die kleinbürgerlichen Kreise von Highbury und deren Anhang vergeudet werden. Die Bekanntschaften, die sie bereits geschlossen hatte, waren ihrer nicht würdig. Die Freunde, bei denen sie sich bis vor kurzem aufgehalten hatte, waren zwar durchaus anständige Leute, aber kein Umgang für sie. Es handelte sich bei ihnen um eine Familie Martin, die Emma vom Hörensagen kannte, denn sie hatten von Mr. Knightley einen großen Bauernhof gepachtet und wohnten in der Gemeinde von Donwell – ließen sich bestimmt nichts zuschulden kommen –, sie wußte, daß Mr. Knightley eine hohe Meinung von ihnen hatte – aber sie waren gewiß ungehobelt und ungebildet und ganz und gar ungeeignet als enge Freunde eines Mädchens, dem zur Vollkommenheit nur noch etwas mehr Bildung und Schliff fehlten. Sie würde sich ihrer annehmen, sie würde sie fördern; sie würde sie dem schlechten Einfluß ihrer Bekannten entziehen und sie in die gute Gesellschaft einführen; sie würde ihr vernünftige Ansichten und gute Manieren beibringen – ein reizvolles Unterfangen und gewiß auch ein gutes Werk, das sich bei ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihren vielen Mußestunden und ihren Fähigkeiten geradezu anbot.
Sie war so eifrig damit beschäftigt, diese sanften blauen Augen zu bewundern, sich zu unterhalten und zuzuhören und zwischendurch ihre Pläne zu schmieden, daß der Abend wie im Flug verging und, ehe sie sich’s versah, der Tisch mit dem Imbiß, der am Ende solcher Einladungen stets gereicht wurde und auf den sie sonst immer, wie ihr schien, endlos warten mußte, gedeckt und angerichtet vor dem Kamin bereitstand. Zwar ließ sie auch sonst nie den nötigen Eifer vermissen, eine gewandte und aufmerksame Gastgeberin zu sein, aber in der Begeisterung über das, was sie ausgeheckt hatte, gab sie sich diesmal noch viel beflissener dieser Aufgabe hin, legte vor und empfahl das Hühnerfrikassee und die überbackenen Austern so nachdrücklich, daß die Gäste angesichts der frühen Stunde ihre höflichen Skrupel überwanden.
Bei solchen Gelegenheiten befanden sich die Gefühle des armen Mr. Woodhouse in einem traurigen Kriegszustand. Er liebte es, wenn der Tisch gedeckt wurde, weil es in seiner Jugend so üblich gewesen war; aber da er sich nicht ausreden ließ, daß Mahlzeiten zu später Stunde sehr ungesund sind, sah er voll Bedauern, wenn die Schüsseln aufgetragen wurden; und während er in seiner Gastfreundschaft den Besuchern keinen Genuß verargen wollte, befürchtete er in seiner Sorge um ihre Gesundheit, daß sie zugreifen würden.
Ein Schälchen mit dünnem Haferschleim, wie es für ihn bereitstand, war das einzige, das er wirklich guten Gewissens empfehlen konnte, auch wenn es ihm nicht ganz leichtfiel, die Damen, die sich gerade genüßlich an den leckereren Dingen gütlich taten, mit seinen Ermahnungen zu behelligen:
»Mrs. Bates, ich möchte Ihnen vorschlagen, daß Sie sich an eines dieser Eier wagen. Ein weichgekochtes Ei ist leicht verdaulich. Keine versteht sich so gut aufs Eierkochen wie Serle. Ein Ei, das jemand anders gekocht hat, würde ich Ihnen gar nicht erst empfehlen – aber Sie brauchen keine Angst zu haben – die Eier sind sehr klein, sehen Sie –, eines von unseren kleinen Eiern wird Ihnen gewiß nicht schaden. Miss Bates, lassen Sie sich von Emma ein Stückchen Torte geben – ein ganz kleines Stückchen. Bei uns gibt es immer nur Apfeltorte. Sie brauchen hier keine Angst vor ungesundem Eingemachten zu haben. Von dem Rahmpudding rate ich Ihnen allerdings ab. Mrs. Goddard, wie wäre es mit einem halben Glas Wein? Ein halbes Gläschen – mit Wasser verdünnt? Ich denke, es wird Ihnen nicht schaden.«
Emma ließ ihren Vater reden – sorgte aber dafür, daß ihre Gäste nicht zu kurz kamen; und es machte ihr an diesem Abend besonders viel Freude, sie glücklich heimfahren zu sehen. Miss Smiths Glückseligkeit entschädigte sie vollkommen. Miss Woodhouse war in Highbury eine so bedeutende Persönlichkeit, daß die Aussicht, sie kennenzulernen, ebensoviel Panik wie Freude in Harriet ausgelöst hatte – aber das bescheidene, dankbare Mädchen verabschiedete sich, geschmeichelt und entzückt von der leutseligen Art, mit der Miss Woodhouse sie den ganzen Abend über behandelt und ihr am Schluß sogar noch die Hand gedrückt hatte!

VIERTES KAPITEL

 

 

 

Bald schon ging Harriet Smith in Hartfield ein und aus. Zupackend und entschieden, wie es ihre Art war, verlor Emma keine Zeit, sie einzuladen, zu ermuntern, ja zu beschwören, recht oft zu kommen; und je näher sie sich kennenlernten, desto mehr Gefallen fanden sie aneinander. Emma hatte gleich geahnt, wie nützlich ihr Harriet als Begleiterin auf ihren Spaziergängen sein würde. In dieser Hinsicht war der Verlust von Mrs. Weston besonders schmerzlich für sie gewesen. Ihr Vater ging nie weiter als bis in den Park, wo ihm, je nach Jahreszeit, ein längerer oder ein kurzer Rundgang genügten, und so fühlte sich Emma seit Mrs. Westons Heirat in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Einmal hatte sie sich allein bis nach Randalls gewagt, aber keinen Spaß dabei gehabt; und eine Harriet Smith, die sie jederzeit zu einem Spaziergang einbestellen konnte, fügte ihren anderen Privilegien deshalb noch ein weiteres wertvolles hinzu. Doch auch sonst war sie von ihr bei näherem Kennenlernen sehr angetan und sah sich in ihrem menschenfreundlichen Vorhaben bestätigt.
Harriet bestach gewiß nicht durch Klugheit, aber sie war von Natur aus freundlich, gelehrig, dankbar, nicht im mindesten von sich eingenommen und wollte nur von jemandem an der Hand genommen werden, zu dem sie aufschauen konnte. Die Anhänglichkeit, die sie Emma gegenüber so schnell an den Tag legte, bewies ein liebenswürdiges Naturell. Sie hatte eine Vorliebe für gute Gesellschaft und wußte feines Benehmen und geistreiche Konversation sehr wohl zu schätzen, was zeigte, daß es ihr nicht an Geschmack und Urteilskraft gebrach, wenn man auch von ihr wahrlich keine Geistesblitze erwarten durfte. Insgesamt war Emma durchaus überzeugt, daß Harriet Smith genau die junge Freundin sei, die sie brauchte – genau das, was ihr in Hartfield bisher gefehlt hatte. Eine Freundin wie Mrs. Weston kam nicht in Frage. Zwei solche Freundinnen waren einem im Leben nicht vergönnt. Eine zweite Mrs. Weston wollte sie auch gar nicht. Dies hier war eine ganz andere Beziehung – ihre Empfindungen für Harriet nicht mit denen für Mrs. Weston zu vergleichen. Ihre Zuneigung zu Mrs. Weston beruhte auf Dankbarkeit und Hochachtung. Harriet würde sie als einen Menschen lieben, dem sie nützlich sein konnte. Für Mrs. Weston blieb nichts mehr zu tun, für Harriet alles.
Ihre ersten Versuche, sich ihr nützlich zu machen, bestanden in dem Bemühen herauszufinden, wer ihre Eltern waren; aber Harriet hatte nicht die blasseste Ahnung. Bereitwillig erzählte sie zwar sonst alles, was sie wußte, aber bei diesem Thema erwies sich alles Fragen als vergeblich. Emma sah sich gezwungen, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen – konnte sich jedoch nicht vorstellen, daß sie in Harriets Lage nicht der Wahrheit auf die Spur gekommen wäre. Aber Harriet gehörte nicht zu den Menschen, die einer Sache auf den Grund gehen. Sie hatte sich mit dem zufriedengegeben, was Mrs. Goddard ihr zu erzählen für gut befand, daran geglaubt und nicht weiter nachgeforscht.
Naturgemäß ging es in den Unterhaltungen mit Harriet meistens um Mrs. Goddard, die Lehrer und die Mädchen und schulische Belange ganz allgemein – und wenn ihre Bekanntschaft mit den Martins von der Abbey-Mill-Farm nicht gewesen wäre, hätte sich wohl alles um dieses Thema gedreht. Aber die Martins beschäftigten ihr Denken sehr; sie hatte zwei ausgesprochen glückliche Monate bei ihnen verbracht und erzählte nun gern von den Vergnügungen während ihres Aufenthalts und schilderte die vielen Annehmlichkeiten und wunderbaren Dinge, die es dort gab. Emma ermunterte sie in ihrer Redseligkeit, amüsierte sie sich doch über dieses Bild, das Harriet von einem ihr fremden Kreis von Lebewesen entwarf, und ergötzte sich an der kindlichen Einfalt, die sich darüber begeistern konnte, daß Mrs. Martin zwei Wohnzimmer habe, ja, wirklich zwei sehr schöne Wohnzimmer, eines davon genauso groß wie Mrs. Goddards Salon; und daß Mrs. Martin eine Großmagd habe, die schon fünfundzwanzig Jahre bei ihr sei, und daß die Martins acht Kühe besäßen, zwei davon Alderneys und eine kleine Waliser Kuh, wirklich, eine ganz niedliche kleine Waliser Kuh, und weil sie so vernarrt in das Tierchen gewesen sei, habe Mrs. Martin gesagt, es solle in Zukunft als ihre Kuh gelten; und daß sie im Garten eine wunderhübsche Laube hätten, wo sie im nächsten Jahr einmal alle zusammen Tee trinken wollten: eine wunderhübsche Laube, groß genug für ein Dutzend Leute.
Eine Zeitlang amüsierte sich Emma einfach nur, ohne darüber hinausgehende Vermutungen anzustellen; aber als sie mehr über die Familie erfuhr, wurden doch andere Empfindungen in ihr wach. Fälschlicherweise hatte sie sich eingebildet, es handele sich um Mutter und Tochter, den Sohn und dessen Frau, die dort alle miteinander lebten; aber als ihr dämmerte, daß jener Mr. Martin, der in Harriets Schilderung mehrfach vorkam und dessen nette gefällige Art bei verschiedenen Gelegenheiten stets beifällig erwähnt wurde, Junggeselle war und es jedenfalls keine junge Mrs. Martin, keine Ehefrau, gab, witterte sie hinter all dieser Gastfreundschaft und Güte eine Gefahr für ihre arme kleine Freundin, die, wenn man nicht auf sie aufpaßte, womöglich in ihr Verderben rennen würde.
Solcherart hellhörig geworden, begann sie ihr nun etliche, gezieltere Fragen zu stellen; vor allem ließ sie sich von Harriet mehr über Mr. Martin erzählen, was diese offensichtlich nicht ungern tat. Bereitwillig schilderte Harriet, wie er an ihren Mondscheinspaziergängen und fröhlichen abendlichen Spielen teilgenommen habe, und wurde nicht müde zu betonen, wie ungeheuer nett und zuvorkommend er sei. Eines Tages sei er drei Meilen weit gelaufen, nur um ihr ein paar Walnüsse zu bringen, weil sie gesagt habe, wie gern sie die esse – und auch sonst sei er stets so gefällig! Eines Abends habe er den Sohn seines Schäfers ins Wohnzimmer gerufen, damit er ihr etwas vorsinge. Sie liebe den Gesang. Er könne auch ein bißchen singen. Sie halte ihn für sehr klug und tüchtig. Er besitze eine stattliche Schafherde, und während sie dort war, habe man ihm für seine Wolle ein besseres Angebot gemacht als allen anderen Schafzüchtern in der Gegend. Sie glaube, jedermann spreche nur gut über ihn. Seine Mutter und seine Schwestern hingen sehr an ihm. Mrs. Martin habe eines Tages zu ihr gesagt (und Harriet wurde bei diesen Worten ein wenig rot), daß es keinen besseren Sohn geben könne, und sie daher überzeugt sei, er werde, wenn er einmal heirate, einen guten Ehemann abgeben. Nicht daß sie ihn zum Heiraten drängen wolle. Sie habe überhaupt keine Eile damit.
»Bravo, Mrs. Martin!« dachte Emma. »Sie wissen, was Sie wollen.«
Und beim Abschied sei Mrs. Martin so gütig gewesen, ihr für Mrs. Goddard eine schöne Gans mitzugeben: die beste Gans, die Mrs. Goddard je untergekommen sei. Mrs. Goddard habe die Gans am Sonntag gebraten und alle drei Lehrerinnen, Miss Nash und Miss Price und Miss Richardson, zum Abendessen eingeladen.
»Über irgendwelche Bildung, die über sein Metier hinausgeht, verfügt Mr. Martin vermutlich nicht. Er liest doch bestimmt nicht, oder?«
»O doch! Das heißt, nein – ich weiß nicht – aber ich glaube, er liest eine ganze Menge – aber nicht das, was Sie interessiert. Er liest die Landwirtschaftlichen Berichte und einige andere Bücher, die in einer der Fensternischen liegen – aber die liest er für sich. Doch manchmal hat er uns abends vor dem Kartenspielen etwas aus den Eleganten Auszügen vorgelesen – sehr unterhaltsam. Und ich weiß, daß er den Pfarrer von Wakefield gelesen hat. Die Waldromanze kennt er zwar nicht und ebensowenig die Kinder der Abtei. Er hatte noch nie von diesen Büchern gehört, ehe ich sie erwähnte, aber jetzt will er sie sich beschaffen, sobald er dazu kommt.«
Die nächste Frage lautete:
»Wie sieht denn Mr. Martin überhaupt aus?«
»Oh! Eigentlich nicht sehr gut – nein, nicht sehr gut. Anfangs kam er mir recht unscheinbar vor, aber jetzt finde ich ihn nicht mehr so unscheinbar. Nach einiger Zeit geht einem das ja immer so. Aber haben Sie ihn denn noch nie gesehen? Er ist gelegentlich in Highbury; und auf dem Weg nach Kingston reitet er mit Sicherheit einmal in der Woche hier durch. Er ist schon oft an Ihnen vorbeigeritten.«
»Das mag wohl sein – und wenn ich ihn auch schon fünfzigmal gesehen hätte, würde ich ihn nicht erkennen. Ein junger Bauer, egal, ob zu Pferd oder zu Fuß, ist der letzte, der meine Neugier erregen könnte. Solche Pächter gehören zu der Sorte von Leuten, mit denen ich wirklich nichts im Sinn habe. Ein paar Stufen tiefer stehend mit einem passablen Aussehen, nun, solche Leute würden mich vielleicht interessieren, weil ich vielleicht ihren Familien in irgendeiner Weise nützlich sein könnte. Aber so ein Pächter braucht meine Hilfe wahrlich nicht und steht daher in dieser Hinsicht so weit über den Leuten, die meiner Zuwendung bedürfen, wie er in jeder anderen unter ihnen steht.«
»Gewiß. O ja, wahrscheinlich ist er Ihnen nie aufgefallen – aber er kennt Sie sehr gut – ich meine, vom Sehen.«
»Ich zweifle gar nicht daran, daß er ein recht achtbarer junger Mann ist. Ja, ich weiß, er ist es; und weil er das ist, wünsche ich ihm alles Gute. Wie alt schätzen Sie ihn?«
»Letztes Jahr ist er vierundzwanzig geworden, am achten Juni, und ich habe am dreiundzwanzigsten Geburtstag – genau zwei Wochen und einen Tag sind wir auseinander! Komisch, nicht wahr?«
»Erst vierundzwanzig. Das ist zu jung, um eine Familie zu gründen. Seine Mutter hat vollkommen recht damit, nichts zu überstürzen. Sie fühlen sich ja anscheinend auch so recht wohl, und wenn sie jetzt schon die Mühe auf sich nähme, ihn zu verheiraten, würde sie es wahrscheinlich hinterher bereuen. In sechs Jahren mag es durchaus angehen, wenn er bis dahin ein anständiges Mädchen aus seinen Kreisen findet, das auch etwas Geld hat.«
»In sechs Jahren! Liebe Miss Woodhouse, dann wäre er ja schon dreißig Jahre alt!«
»Na, früher können es sich die meisten Männer, denen kein Vermögen mit in die Wiege gelegt wurde, doch gar nicht leisten zu heiraten. Mr. Martin, denke ich mir, muß sich sein Vermögen erst erarbeiten – er kann es noch nicht weit gebracht haben. Wieviel Geld er auch geerbt haben mag, als sein Vater starb, wie hoch sein Anteil am Familienbesitz auch ist, er kann, wie ich wohl meinen möchte, darüber momentan nicht verfügen, steckt es doch alles in seinem Viehbestand und so weiter; und sollte er auch mit Fleiß und etwas Glück eines Tages ein reicher Mann werden, so ist es doch nahezu unmöglich, daß er jetzt schon etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt hat.«
»Gewiß. Aber sie leben recht gut. Sie haben zwar keinen Diener – aber sonst fehlt es ihnen an nichts; und Mrs. Martin spricht davon, daß sie nächstes Jahr einen jungen Burschen einstellen wollen.«
»Hoffentlich kommst du nicht in Verlegenheit, Harriet, wenn er eines Tages tatsächlich heiratet – ich meine, was den Umgang mit seiner Frau betrifft –, denn auch wenn gegen seine Schwestern aufgrund ihrer höheren Bildung nichts Gravierendes einzuwenden sein mag, folgt doch daraus noch lange nicht, daß er eine Person heiratet, die der geeignete Umgang für dich ist. Angesichts der mißlichen Umstände deiner Geburt solltest du in der Wahl deiner Bekannten besonders vorsichtig sein. Es steht wohl außer Zweifel, daß du die Tochter eines Gentleman bist, und du mußt deinen Anspruch auf den damit verbundenen Rang mit Zähnen und Klauen verteidigen, sonst werden sich etliche Leute einen Spaß daraus machen, dich herabzuwürdigen.«
»Ja, gewiß – das mag schon sein. Aber solange ich nach Hartfield kommen darf und Sie so gütig zu mir sind, Miss Woodhouse, habe ich vor nichts und niemandem Angst.«
»Du verstehst schon recht gut, wie wichtig einflußreiche Beziehungen sind, Harriet; aber ich möchte dich so fest in der guten Gesellschaft verankern, daß du nicht einmal mehr auf Hartfield und Miss Woodhouse angewiesen bist. Ich möchte dich auf Dauer in besseren Kreisen wissen – und zu diesem Zweck ist es ratsam, daß du so wenig wie möglich mit solch fragwürdigen Bekannten verkehrst; und falls du noch immer hier in der Gegend leben solltest, wenn Mr. Martin heiratet, würde ich mir deshalb wünschen, daß du dich durch deine Freundschaft mit seinen Schwestern nicht verleiten läßt, auch mit seiner Frau Umgang zu pflegen, die wahrscheinlich eine ganz gewöhnliche Bauerstochter ohne eine Spur von Bildung sein wird.«
»Gewiß. Ja. Zwar glaube ich eigentlich nicht, daß Mr. Martin jemals eine Frau heiraten würde, die nicht über eine gewisse Bildung verfügt – und gut erzogen ist. Ich will Ihnen jedoch nicht widersprechen – und auf die Bekanntschaft mit seiner Frau würde ich bestimmt keinen Wert legen. Mit den Misses Martin, besonders mit Elizabeth, werde ich wohl immer befreundet bleiben, und es täte mir leid, wenn ich diese Freundschaft aufgeben müßte, denn sie haben ja eine ebenso gute Erziehung genossen wie ich. Aber wenn er eine dumme, gewöhnliche Frau heiratet, werde ich sie lieber nicht besuchen, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt.«
Emma faßte Harriet bei diesen nicht immer ganz überzeugend klingenden Äußerungen scharf ins Auge, konnte aber an ihr keine alarmierenden Anzeichen von Verliebtheit entdecken. Der junge Mann war ihr erster Verehrer gewesen, aber sie vertraute fest darauf, daß er darüber hinaus keinen Einfluß auf sie ausübte und Harriet ihren eigenen in freundlicher Absicht ausgedachten Arrangements keinen ernsthaften Widerstand entgegensetzen würde.
Gleich am nächsten Tag begegnete ihnen Mr. Martin, als sie auf der Straße nach Donwell dahinliefen. Er war zu Fuß, und nachdem er Emma einen respektvollen Blick zugeworfen hatte, betrachtete er ihre Begleiterin mit unverhohlenem Wohlgefallen. Emma kam eine solche Gelegenheit, Harriet und ihn zusammen beobachten zu können, keineswegs ungelegen. Während sich die beiden unterhielten, ging sie ein paar Schritte weiter, nicht ohne sich durch ein paar Seitenblicke schnell ein Bild von Robert Martin gemacht zu haben. Er wirkte sehr gepflegt und durchaus wie ein verständiger junger Mann, aber ansonsten besaß er keine äußerlichen Vorzüge; und beim direkten Vergleich mit einem richtigen Gentleman würde er mit Sicherheit jedes Stückchen Boden verlieren, das er sich in Harriets Gunst erobert hatte. Harriet war für feine Umgangsformen sehr wohl empfänglich; von sich aus hatte sie mit Bewunderung und Staunen das vornehme Auftreten ihres Vaters konstatiert. Mr. Martin sah aus, als habe er noch nie etwas von Manieren gehört.
Da man Miss Woodhouse nicht warten lassen durfte, blieben Harriet und Mr. Martin nur wenige Minuten beieinander stehen, dann kam Harriet zu ihr gerannt, lächelnd und, wie es schien, vor freudiger Erregung ganz taumelig im Kopf, den ihr Miss Woodhouse allerdings recht bald zurechtzusetzen hoffte.
»Welch ein Zufall, daß wir ihm begegnet sind! – Wie merkwürdig! Es sei reiner Zufall, sagte er, daß er nicht über Randalls gegangen ist. Er hätte nie gedacht, daß wir diese Straße nehmen. Er dachte, wir gingen fast jeden Tag nach Randalls. Die Waldromanze hat er sich noch nicht besorgen können. Als er das letzte Mal in Kingston war, sei er so beschäftigt gewesen, daß er es ganz vergessen habe, aber morgen müsse er wieder hin. Wie seltsam, daß er uns ausgerechnet heute über den Weg laufen mußte! Nun, Miss Woodhouse, entspricht er Ihren Erwartungen? Was halten Sie von ihm? Finden Sie ihn sehr unscheinbar?«
»Er ist sehr unscheinbar, ohne Zweifel – erstaunlich unscheinbar: Aber gemessen an seinem völligen Mangel an Lebensart fällt das nicht weiter ins Gewicht. Ich durfte freilich nicht viel erwarten, und ich habe auch nicht viel erwartet, aber daß er ein solcher Flegel ist, so gar keine Art hat, das hätte ich denn doch nicht gedacht. Ein bißchen vornehmer hatte ich ihn mir schon vorgestellt, muß ich gestehen.«
»Gewiß«, sagte Harriet mit gekränkt klingender Stimme, »er ist nicht so vornehm wie ein echter Gentleman.«
»Ich denke, Harriet, seit wir uns kennen, bist du wiederholt mit echten Gentlemen zusammengetroffen, und der Unterschied zu Mr. Martin müßte dir eigentlich selbst klargeworden sein. In Hartfield hast du einige Musterbeispiele von gebildeten und tadellos auftretenden Männern vor Augen gehabt. Es sollte mich überraschen, wenn du nach dieser Erfahrung wieder mit Mr. Martin zusammensein könntest, ohne zu bemerken, wie tief er unter ihnen steht – und dich selbst zu wundern, daß du ihn überhaupt jemals sympathisch finden konntest. Fragst du dich das nicht jetzt schon beinah? Ist dir das nicht eben schon aufgefallen? Es muß dir doch aufgefallen sein, wie verlegen er dreinschaut, wie unbeholfen er sich benimmt, wie unschön seine Stimme klingt, die, wie ich von hier aus hören konnte, vollkommen ausdruckslos ist.«
»Sicher, er ist nicht wie Mr. Knightley. Er hat nicht die feine Art und den vornehmen Gang eines Mr. Knightley. Ich sehe den Unterschied deutlich genug. Aber Mr. Knightley ist halt auch ein sehr feiner Herr!«
»Mr. Knightleys Auftreten ist so fabelhaft, daß es nicht fair wäre, Mr. Martin ausgerechnet mit ihm zu vergleichen. Selbst unter hundert fändest du vielleicht keinen einzigen, dem der Gentleman