Emmi und Karoline - Hella Westphal - E-Book

Emmi und Karoline E-Book

Hella Westphal

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Beschreibung

Ein geruhsames Leben in Pommern gerät durch den zweiten Weltkrieg in Aufruhr. Die Menschen entschließen sich im Winter1944/45 zu fliehen. Sie lassen alles was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat schweren Herzens zurück. In Schleswig-Holstein erst in Lagern zusammengepfercht, dann verteilt bei Familien, die Räume für Flüchtlinge abgeben müssen. Sie rücken zusammen, was nicht immer ohne Konflikte abgeht. Trotzdem wird hier ein positives Bild von starken Menschen gezeichnet, die ihr Schicksal bestens gemeistert haben. Emmi und Karoline zwei junge Mädchen, erleben diese Zeit nach der Flucht überwiegend positiv. Die Ältere ist durch ihren Beruf autark und kann sich als Schneiderin schnell etablieren. Später entwirft sie ihre eigene Mode und wird als Modemacherin bekannt. Karoline steht als Hauswirtschafterin ihren Mann. Krankheit, Liebe und ein schreckliches Verbrechen begleiten meine Protagonisten.

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Inhalt

Vorwort

Gestrandet

Pommern

Der rote Drache

Politischer Wandel

Flucht

Hoffnung

Ein kleines Stück vom Glück

Vermisst in Berlin

Emmis Hochzeit

Der Tischlermeister

Heißes Wasser

Und plötzlich ist nichts mehr wie es war

Verlorenes Leben

Wanda

Der Landstreicher

Die große Liebe

Emmi und die Kleinstadt

Hochzeit

Besuch in Berlin

Strandleben

Freude und Trauer

Das Leben geht weiter

Gustav und Klaus

Annas Gummistiefel

Tagespläne

Gustav und Emmi

Jochen und Karoline

Der Hoferbe

Die Wahrheit

Laufen lernen

Durchbruch

Der Tote im Rinnstein

Gute Zusammenarbeit

Klassik im Kuhstall

Hanna und Thea

Familienzuwachs

Nachwort

Natalie Karsten (Tochter der Autorin)

Vorwort

Die Geschichte spielt in Schleswig-Holstein, genauer gesagt in Ostholstein, direkt am Meer. Hier, wo die Leute wortkarg sind und, wenn es doch einmal etwas zu sagen gibt, plattdeutsch sprechen. In einem kleinen verschlafenen Nest und der näheren Umgebung ist sie angesiedelt. Diese schöne Gegend gibt es tatsächlich und mancher Urlauber hat hier schon herrliche Zeiten verlebt, mit Schwimmen, Segeln, Wandern oder einfach am Strand in der Sonne liegend und träumend. Das Meer, die Steilküste in Richtung Weißenhaus, die Nähe zu Hohwacht, nur durch den Bröck, eine Verbindung von der Ostsee zum kleinen Binnensee, getrennt, die unberührte Natur, und nicht zuletzt das Klima, das im Herbst und im Winter ziemlich rau, im Frühjahr und Sommer meistens sehr mild ist, veranlasst viele Urlauber hierher zu kommen. Von diesen soll aber weniger die Rede sein, sondern hier geht es um die Menschen, die Ende des zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat im Osten flüchten mussten, und die in dieser ländlichen Idylle gestrandet sind.

Die Landschaft ist geprägt von einzelnen Bauernhöfen, von Äckern und saftigen Salzwiesen, auf denen gemütlich die schwarzbunten Kühe weiden. Die Knicks entlang der Felder und der Wege, wie sie in Holstein typisch sind, aber vor allem die Nähe der Ostsee macht diese Gegend besonders reizvoll. Nicht zu vergessen die Heckenrosen, die den Sandweg entlang des Binnensees zum Strand begrenzen. Im Sommer bilden sie ein unvergleichliches rosa und weisses Blütenmeer, das sich im Herbst zu roten Hagebuttenbüscheln verwandelt. Auf dem Weg hinunter zum Wasser hört man schon die Wellen, die leise und unermüdlich im ewigen Auf und Ab an den feinen, weißen Sand plätschern.

Einige der öffentlichen Einrichtungen, die in meiner Geschichte vorkommen, gab und gibt es heute noch. Die Daten unserer jüngeren deutschen Geschichte können überall nachgelesen werden, doch die Menschen, deren Schicksal ich beschreibe, sind meiner Phantasie entsprungen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Wir begeben uns in eine Zeit, in der die Welt in Schutt und Asche zerfällt und kaum jemand Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft hat. Menschen, die mehr oder weniger zufrieden lebten, sind von heute auf morgen entwurzelt, sie müssen alles stehen und liegen lassen, um ihr nacktes Leben zu retten. Schleswig-Holstein wird von einer Flüchtlingswelle unvergleichlichen Ausmaßes überschwemmt.

1944/45, im kältesten Winter seit Jahren, kommen die ersten Flüchtlinge aus Pommern und Westpreußen. Bis 1946 werden es mit den Ostpreußen und den Vertriebenen aus den Ostgebieten 12 Millionen sein, die im zerstörten Deutschland ein neues Zuhause suchen. Sie werden nicht immer freundlich aufgenommen, denn Arbeitslosigkeit und extreme Wohnungsnot belasten die Menschen ohnehin.

Es entstehen mehrere Flüchtlingslager, aus denen die Vertriebenen mit Glück bald weiter in andere Unterkünfte vermittelt werden können. Manche müssen aber jahrelang in diesen unzulänglichen Verhältnissen ausharren.

Es wird eng im Westen, auch in Ostholstein. Jeder, der ein Haus oder eine Wohnung besitzt, muss Räume zur Verfügung stellen, in denen die zugewiesenen Leute untergebracht werden. Es wird versucht Familien möglichst nicht auseinander zu reißen, was leider nicht immer gelingt. Wo die Unterkünfte nicht reichen werden Nissenhütten aufgestellt. Diese einfachen, schnell installierten Wellblechbauten, nach ihrem Konstrukteur Nissen benannt, sind im Sommer unerträglich heiß und im Winter sehr kalt. Dennoch ist jeder froh ein Dach über dem Kopf zu haben.

Es gibt im Ort einige Tagelöhnerwohnungen. Sie gehören zum Gut und befinden sich in flachen, langgezogenen Gebäuden. Es ist die Kaserne mitten im Dorf und das Kloster gegenüber der alten Schule.

Die Fremden merken, das die Einheimischen, das Pack aus dem Osten, wie sie von einigen bezeichnet werden, lieber heute als morgen wieder loswerden möchte. Wie gerne würden sie wieder zurück gehen, doch die durch den Krieg geschaffenen Umstände erlauben es nicht.

Die Flüchtlinge bleiben hier, weil es nicht anders geht, traumatisiert, trauernd, heimatlos, halb verhungert und dennoch froh am Leben zu sein. Und einige von ihnen werden zu Überlebenskünstler.

1

Gestrandet

Karoline, Karoline komm doch mal rein! Kannst du mir helfen?“

Sophia Ulldahl beugt sich aus dem Fenster, das in den Hof zeigt. Ihre Tochter ist gerade dabei in einer alten Zinkwanne, die auf zwei alten Holzböcken steht, die Wäsche zu spülen. Sie schaut hoch, wischt sich erst die nassen Hände an der bunten Schürze ab, um sich dann die widerspenstigen roten Locken aus der erhitzten Stirn zu streichen. Karoline ist nachdenklich, denn sie wird nun schon zum wiederholten Male von ihrer Mutter von der Arbeit abgehalten. Doch sie macht gute Miene zum bösen Spiel und lächelt nach oben.

„Ja Mama, bin schon unterwegs!“

Sie geht durch die niedrige Klöntür, bei der sich die obere Hälfte öffnen lässt, um bequem mit der Nachbarin einen kleinen Schnack abhalten zu können, in die winzige Küche, die mit einem kleinen Kohleherd, einem abgeschabten schmalen Schrank, einem Tisch und drei wackeligen Hockern ausgestattet ist, und begibt sich in das angrenzende Wohnzimmer.

Nicht viel größer als die Küche, mit einem zerschlissenen Sofa, das nachts als Schlafstelle dient und einem alten Bett darin, ein Tisch und zwei Stühle ergänzen die Einrichtung des sehr beengten Raumes. Durch die zwei kleinen Sprossenfenster zur Strasse fällt etwas Licht hinein. Karoline findet ihre Mutter auf dem Sofa sitzend, vor sich einen der alten Stühle, über dessen Lehne ein Wirrwarr von Wolle hängt, aus dem sie ein Knäuel zu formen versucht.

„Ach Mama, was machst du denn? Jetzt ist es ja noch schlimmer als vorhin!“

Karo, wie sie oft genannt wird, ist bemüht ein fröhliches Gesicht zu machen, dennoch muss sie daran denken, das die Wäsche nicht von allein fertig wird und sie nachher noch mit Emmi verabredet ist.

Sophia versucht eifrig die Wolle zu entwirren, was ihr allein allerdings nicht gelingt.

Sie schaut auf; „Ich wollte gern noch ein wenig stricken, aber die Wolle hat sich so verheddert, dass ich nicht weiter komme. Ich brauche diese Farbe unbedingt noch für das Muster.“

Nun versuchen sie beide zu retten, was noch zu retten ist. Sophia, die eine Künstlerin ist was das Stricken anbelangt, fertigt die schönsten Sachen, mit und ohne Muster, Kleider, Röcke, Pullover, Westen und andere Kunstwerke, alles ohne Vorlage. Sie strickt für ein paar Mark auf Bestellung, und hat so eine Aufgabe, bei der sie nur zählen muss um die Muster perfekt hinzukriegen, statt nachzudenken. Sie kann dabei bestens alles verdrängen, was sie nicht wahrhaben will.

Karoline macht sich große Sorgen um ihre Mutter. Sophia ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, sie ist sehr dünn geworden, und die Kleider schlottern nur so um ihre dürre Gestalt. Das Schlimmste ist jedoch, das ihre ehemals schönen lebhaften Augen den Glanz verloren haben. Sie blicken traurig aus dem blassen Gesicht. Seit Sophia die Nachricht von Max Tod erhalten hat, ist auch in ihr etwas gestorben. Nicht nur, dass sie ihre Heimat verlassen musste und nichts retten konnte, nun ist sie auch noch Witwe. Sie hätte alles ertragen, wenn nur ihr geliebter Mann aus dem Krieg zurückgekehrt wäre. Ihre Tochter und auch ihre Schwiegermutter können nichts an ihrer Verzweiflung ändern. So sehr sie auch hoffen, das Sophia mit der Zeit ihre Trauer überwindet, sie wird nie wieder so sein, wie sie mal war.

Doch Karoline braucht ihre Mutter, als Vertraute, als Beraterin, und noch mehr als Freundin, mit der man auch mal herzlich lachen kann.

Es ist alles so entsetzlich trostlos und ihr fehlt der Vater, der in Russland gefallen ist.

Sie hört immer noch die Geräusche der großen Maschinen in der familieneigenen Tischlerei, sie riecht das würzige Holz, schmeckt die warme Milch, die auf dem Spanofen erhitzt wird, sieht ihren Vater, Jochen und den Lehrling Martin Koller die Hölzer zuschneiden und bearbeiten. Jetzt aber müssen sie ohne männlichen Schutz in einer fremden Umgebung ihr schwieriges Leben bestreiten.

Zum Glück hat Karoline ihre Großmutter, Minna Ulldahl, die sich so leicht nicht aus dem Gleichgewicht bringen lässt, die gut zuhören kann und für jeden einen guten Rat parat hat. Manchmal, wenn alles zu viel wird und die Verzweiflung Karoline übermannt, ist Minna ihr ein Trost. „Ach Karolinchen, was ist denn los?“ Minna nimmt ihre Enkelin, die wie ein Häufchen Elend am Küchentisch sitzt und heult, in den Arm. „Ach Omi, ich weiß gar nicht mehr was ich machen soll mit Mama. Nie ist sie ansprechbar, sie hört einfach nicht zu, wenn ich ihr was erzählen will. Ich möchte gerne Tischler lernen, irgendwas muss ich doch machen nach der Schule, aber sie redet nicht mit mir.“ Ihre Großmutter schaut sie lächelnd an; „Meinst du nicht, dass es etwas schwierig für ein Mädchen sein wird so einen Männerberuf zu erlernen, meine Kleine? Nicht das ich es dir nicht zutrauen würde, aber wo willst du eine Lehrstelle finden? Vielleicht wäre es besser für dich Hauswirtschafterin zu werden, dabei könnte ich dir sogar helfen. Denk doch mal darüber nach.“ Karo ist schon ein bisschen getröstet, denn Minna hat recht. „Omi, vielleicht kann ich ja sogar bei dir lernen, dazu hätte ich auch Lust.“

2

Pommern

Karoline läuft über eine Blumenwiese und lässt sich jauchzend vor Übermut in einen duftenden Grashaufen fallen. Sie ist in ihrem Element, sie liebt die ländliche Umgebung, die Freiheit über Felder zu toben, in Ställe zu gehen und die ländlichen Gerüche einzuatmen. Der liebliche Duft eines Blumengartens oder der typische Geruch frischgemähten Grases einer Wiese, aber auch die Gerüche des Pferde- und Kuhstalles, oder eines Misthaufens, in dem sich Kuh- und Pferdemist vereinigen, sind für sie Lebenselixier. Vor allem hat sich das wunderbare, unverkennbare Aroma des Holzes früh bei Karoline eingeprägt. Dies liegt natürlich daran, dass ihr Vater Tischler ist. Auch später als sie erwachsen ist, sind diese Gerüche für sie immer mit Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit in Waldhausen verbunden.

Es gibt in ihrer Vorstellung nichts Schöneres als sich im Winter bei ihrem Vater und seinen Leuten, in der nur wenige Minuten von zu Hause befindlichen Werkstatt aufzuhalten.

In der Werkstatt, die von außen einer Scheune und von innen, wegen ihrer Größe, einer Halle ähnelt, nehmen die Kreissäge, die Fräse, der Abrichter, die Lochfräse, der Dickenhobel und der Sägespanofen die Hälfte des großen Raumes ein. Die übrige Hälfte ist mit drei Hobelbänken bestückt, die unter den großen Fenstern, die viel Licht hereinlassen, ihren Platz gefunden haben. Daneben eine Furnierpresse und noch ein viereckiger Ofen, der durch eine Klappe an der Seite wie eine Lok beheizt wird, nur dass man hier die anfallende Hobelspäne verwendet. Hier ist auch der Ort für die Pausen, die sich die Männer von Zeit zu Zeit gönnen. Oft darf Karoline mit ihnen das zweite Frühstück einnehmen. Dann sitzen sie alle um den warmen bollernden Ofen herum, während in dem alten Topf die frische Milch erhitzt wird, die ihre Mutter morgens gemolken hat.

Ihr Vater, ein großer, schlanker Mann mit schmalem, gütigem Gesicht unter dichten, dunklen Locken, gießt die heiße Milch in Becher und gibt ihr aus seiner Frühstücksdose ein wenig von seinem Brot ab. Es wird nicht viel geredet, und wenn, dann hauptsächlich über die Arbeit.

Es ist warm, der Staub tanzt im Licht der Fenster, es duftet nach Holz, Leim, Lasur und nicht zuletzt nach dem Schweiß arbeitender Männer.

Ihre Mutter braucht sich keine Sorgen zu machen, denn bei ihrem Vater und seinen Leuten ist Karoline gut aufgehoben.

Ihre Eltern sind ein schönes Paar, Max mit seinen schwarzen Locken, dem markanten Gesicht und seinem dunklen Teint und im Kontrast dazu die hübsche Sophia, ihre rote, unbändige Haarpracht, die helle, zarte Haut mit ein paar Sommersprossen auf der Nase, die sich bei Sonneneinstrahlung sichtbar vermehren. Überall fallen die beiden auf.

Karoline sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, was auch häufig erwähnt wird, wenn Leute sie zusammen sehen. Auch wenn sie ihre Mutter für die schönste Frau der Welt hält, hat sie sich über den Ausspruch; „Ach, du sieht ja genauso aus wie deine Mama!“, immer ziemlich aufgeregt.

„Jochen, Jochen, guck doch mal, ich habe dir ein Bild gemalt!“ Karo stürzt in die Werkstatt und rennt zu dem jungen Mann, den ihr Vater vor einiger Zeit als Gesellen eingestellt hat. Es hat ihn von Schleswig-Holstein in östliche Regionen hierher nach Pommern verschlagen. Sie haben sich gegenseitig ins Herz geschlossen. Er bearbeitet gerade ein Brett auf der Hobelbank und schaut auf. Er lächelt als er innehält und die kleine Person erblickt. „Na, mien Lütten!“ „Ich bin nicht klein.“ Kommt es prompt zurück; „Ich komme nämlich Ostern schon in die Schule!“ Nun muss er sich ein Lachen verkneifen. „Na, dann zeig’ mir doch mal dein Gemälde.“ Er spricht mal platt- und mal hochdeutsch, gerade so wie es ihm in den Kram passt. Er guckt sich das Bild intensiv an und überlegt was es darstellen soll. “Och, dat is ober schön wurrn, wer sünd denn die Lüüd dor op?“ „Das sieht doch jeder, das bist du und Papa und Martin, und das Kind bin ich!“ Er grinst, nimmt das Blatt und hängt es zu den anderen kindlichen Gemälden an die Werkstattwand. Danach geht er wieder an seine Arbeit. Karoline setzt sich zufrieden auf einen kleinen Hocker, den ihr Vater extra für sie gebaut hat, etwas abseits der Hobelbänke, damit sie die Leute nicht bei ihrer Arbeit stört. Sie hört das Sägen, Hobeln und Schleifen, nimmt deutlich alle Geräusche wahr und freut sich über die Männer, die bei ihrer Arbeit fröhlich singen oder pfeifen.

Auch sie summt leise vor sich hin und denkt daran wie es wohl in der Schule sein wird. Den Ranzen hat sie schon zu Weihnachten bekommen. Er lag versteckt unter einigen bunten Päckchen, unter dem schön geschmückten Tannenbaum. Stolz hat sie ihn sich mit Hilfe ihrer Mutter auf den Rücken geschnallt und ist den ganzen Abend damit herumgetollt. Erst als es ins Bett gehen soll muss sie ihn abnehmen, aber auch nur weil ihre Mutter darauf besteht. „Mutti, wie lange dauert es denn noch bis ich in die Schule komme?“ „Nicht mehr lange meine Kleine, bald ist es so weit und du kannst lesen und schreiben lernen. Jetzt singen wir beide noch ein Weihnachtslied und dann wirst du schön schlafen.“ Karoline schlingt die Arme um den Hals ihrer Mutter und drückt sie ganz fest und flüstert ihr ins Ohr „Danke liebste Mutti für den schönsten Ranzen der Welt!“ Ihre Mutter muss lachen über so viel Überschwang.

Max und Sophia lieben ihrem kleinen Wildfang. Karoline ist ihr einziges Kind, denn bei der Geburt gab es Komplikationen, weshalb sie auf weitere Kinder verzichtet haben. Sie versuchen Karoline nicht gar zu sehr zu verwöhnen, was natürlich nicht immer gelingt.

Karo erlebt eine unbeschwerte Kindheit, auch wenn sie ab und zu in die Pflicht genommen wird und kleine Arbeiten verrichten muss, die sie immer mit Freude ausführt. Denn sie hilft gerne beim Füttern des kleinen Viehbestandes, der ihnen die nötigsten Lebensmittel sichert.

Auch in dem kleinen Garten gibt es genug zu tun und sie erntet mit ihrer fröhlichen, immer gut aufgelegten Mutter das reife Gemüse, sammelt Kartoffeln oder Fallobst ein. Mit ihren bunten Schürzen, die nur Sonntags oder an Feiertagen am Haken hängen bleiben, den schwarzen Galoschen, die ausschließlich im Garten und im Stall getragen werden, den roten Haaren, die mit Tüchern zurückgebunden sind, sind sie unverkennbar Mutter und Tochter.

Je nach Jahreszeit hacken, graben, pflanzen oder jäten sie, und ihre Hände sind pechschwarz vom Wühlen in der Erde. Sie schauen sich nach vollbrachter Arbeit zufrieden an, bringen ihre Gerätschaften in den Schuppen, und Sophia sagt lächelnd: „Karo, wenn du mir nicht so toll geholfen hättest, wäre ich noch lange nicht fertig.“

Karoline wächst über sich hinaus vor Stolz. Sie hüpft vor ihrer Mutter her, zur Pumpe auf dem kleinen Hofplatz, wo sie sich erst mal den gröbsten Dreck von den Händen waschen.

Sophia Ulldahl hat eine Menge zu tun, denn Max ist in der Tischlerei unabkömmlich. So ist sie für die Tiere, den Garten, den kleinen Acker und natürlich den Haushalt verantwortlich. Das Haus muss geputzt, die Mahlzeiten für sechs bis acht Leute zubereitet werden, wobei sie von einer jungen Frau aus der Nachbarschaft unterstützt wird, die für Essen und ein geringes Entgelt eine riesige Hilfe ist.

Anna Paulsen ist dankbar hier arbeiten zu dürfen, denn seit ihr Mann Rudolf bei dem schweren Unfall im Wald ums Leben kam, muss sie allein für sich und ihre Tochter Emmi sorgen. Als man ihr die schreckliche Nachricht überbringt, bricht eine Woge der Verzweiflung über ihr zusammen. Durch ihre hilfsbereiten Nachbarn und deren Zuwendung übersteht sie die Beerdigung und die schreckliche Zeit danach. Allmählich schafft sie es ihr Schicksal zu akzeptieren und den Kampf mit der Realität aufzunehmen. Dazu hat auch ihre inzwischen 12jährige Tochter Emmi beigetragen. Sie hilft ihrer Mutter gerne das kleine Haus zu putzen und die Pflege des kleinen Gartens zu übernehmen. So ergänzen die beiden sich prima.

Emmi liebt Karoline wie eine kleine Schwester und sie passt gern auf sie auf, oder spielt mit ihr. Anna hat schon früher hin und wieder bei Sophia und Max die Wäsche gewaschen, doch jetzt bieten ihr Max und Sophia an, auch die anderen im Haushalt anfallenden Arbeiten zu verrichten.

An Waschtagen kommt sie schon sehr früh zu ihnen, um rechtzeitig den Waschkessel anzuheizen, sogar so früh, dass Karoline noch verschlafen in ihrem Kinderbett liegt. Ist die Kleine dann endlich aufgestanden, rennt sie erst mal in die Waschküche.

„Guten Morgen, da kommt ja schon meine Hilfe.“ Anna erwartet sie schon, sie hat die kleine aufgeweckte Person in ihr Herz geschlossen. „Hast du auch richtig ausgeschlafen? Sicher hast du noch gar nicht gefrühstückt, und wenn man nicht ordentlich gegessen hat, kann man auch nicht ordentlich arbeiten!“

Da gibt es für Karo kein Halten mehr, sie läuft über den Vorplatz zur Küche, nicht ohne ihr, „bis später Tante Anna“, zu zurufen.

In der Küche knistert es in dem Herd, der schon eine gemütliche Wärme ausstrahlt. „Da bist du ja mein Schatz, warst du schon bei Frau Paulsen?“ Sie nickt. Ihre Mutter hat schon ihre einzige Kuh Selma gemolken und die Männer mit Frühstück versorgt.

Ihr Vater, Jochen und Martin sind bereits in der Werkstatt. Jochen bewohnt ein Zimmer unter dem Dach und Martin kommt nur zu den Mahlzeiten, er wohnt weiterhin bei seinen Eltern im Dorf.

„Setz dich bitte an den Tisch, ich habe dir deine warme Milch schon hingestellt.“ Ihre Mutter drückt sie kurz an sich, bevor sie sich auch auf einen Hocker an den langen, weißgescheuerten Holztisch setzt.

Die beiden geben ein schönes Bild ab, wie sie da einträchtig nebeneinander sitzen und ausgiebig frühstücken. Sophias Blick ruht wohlgefällig auf ihrer kleinen Tochter, die wie eine Miniaturausgabe von ihr wirkt, nur das Karolines Augen eine Spur dunkler sind. Nachdem sie gegessen und getrunken haben, rutscht die Kleine vom Hocker. Heute darf sie Anna Paulsen bei der großen Wäsche helfen. Ausnahmsweise übernimmt ihre Mutter ihre kleinen Aufgaben, morgen wird sie wieder selbst die Enten und Hühner füttern.

Die Waschküche ist so in Dampf gehüllt, dass Karo sich erst mal daran gewöhnen muss. Sie lacht „Tante Anna, ich kann dich ja gar nicht sehen!“ Anna ist gerade dabei die weiße Wäsche, die in dem großen Kessel kocht, mit einem gewaltigen Holzlöffel durchzuwalken. Danach balanciert sie damit die Wäschestücke in den Waschzuber, der auf zwei alten Hockern daneben steht. Jetzt wird so viel kaltes Wasser zugefüllt, das man die Wäsche gerade anfassen kann. Anna hat schon das Waschbrett in den Zuber gestellt. „Guck mal ich hab’ dir schon den Schemel hingeschoben.“ „Und wo ist mein Waschbrett?“ Anna holt aus der Ecke ein kleines Riffelbrett, das Max für seine Tochter gebaut hat. Nun rubbeln die beiden die Wäsche so lange bis sie ganz sauber ist und ihnen die Finger wehtun. Es ist heiß und feucht in der Waschküche, so dass ihnen bei der schweren Arbeit der Schweiß von der Stirn läuft.

Den ganzen Tag sind sie damit beschäftigt erst die weiße, dann die bunte Wäsche zu rubbeln, zu spülen und zu wringen. Zum Wringen benutzen sie die Mangel, wobei Anna das Rad dreht und Karo die nasse Wäsche vor die beiden großen Rollen legt. Das Wasser gelangt vorne in die Wanne und hinten erscheint das ausgewrungene Wäschestück. Unterbrochen nur von den Mahlzeiten, die Sophia zubereitet hat, vergeht der Tag wie im Fluge.

Die weiße Wäsche, die sie vor Stunden auf den Wäscheplatz gehängt haben, flattert schon trocken im Wind. Zum Schluss hängen sie den Rest der Buntwäsche im Trockenraum auf. Anna wischt noch die Waschküche auf und danach reiben sie sich die ausgelaugten Waschfrauenhände mit Melkfett ein. „Geschafft!“ Anna schaut Karo an und lächelt: „Was würde ich bloß ohne dich machen. Du hast ganz prima mitgeholfen.“ „Ich bin ja auch schon groß und komme bald in die Schule.“ „Ja, ja, ich weiß.“ Anna streicht ihr über das Haar. Mit geröteten Wangen rennt Karoline ins Haus zu ihrer Mutter. „Mama, wir sind fertig!“

3

Der rote Drache

Die Sommer sind lang und warm und laden zu Ausflügen in die Natur ein. Das kleine Flüsschen, ganz in der Nähe des Dorfes, wird häufig zum Baden aufgesucht. Es gibt dort eine idyllische Stelle, mit einem Streifen feinen Kies, der immer dann zum Vorschein kommt, wenn Niedrigwasser ist, was meistens im Sommer der Fall ist. Das Ufer ist mit Weiden bewachsen, deren Zweige bei Hochwasser in den Fluss hineinhängen. Man kann sich auch wunderbar unter den alten Bäumen verstecken. Hierher darf Karoline nur in Begleitung ihrer großen Freundin Emmi gehen. Nur wenn der Fluss wenig Wasser führt, treffen sich hier am Ufer auch die kleineren Kinder des landwirtschaftlich geprägten Ortes.

In der Erntezeit müssen einige größere Jungen auch schon mal auf den Feldern des Gutes Waldhausen mithelfen, bei deren Herrschaften ihre Väter als Tagelöhner arbeiten. Sie kommen dann in den Abendstunden, wenn die Kleinen schon wieder zu Hause sind, und erfrischen sich nach der schweren Arbeit in dem kühlen Nass.

Karoline genießt die Stunden mit den anderen, sie spielen Fangen oder sie malen Himmel und Hölle in den Sand und hüpfen um die Wette. Wenn sie genug getobt haben bespritzen sie sich zum Abkühlen gegenseitig mit Wasser.

Die Jungen spielen mit dem Ball, oder das beliebte Kippel - Kappel, wobei eine einigermaßen ebene Fläche, die sie ein kleines Stück vom Ufer entfernt auf dem festen Weg zum Fluss finden, als Spielfeld dient. Man benötigt einen Knüppel aus einem geraden, schlanken Ast geschnitten und einen kleinen, runden Stock an beiden Enden angespitzt. Diesen legt ein Mitspieler quer auf eine Längsrille, die in den harten Boden gekratzt wurde. Er schleudert nun mit dem Knüppel, der als Schlagstock eingesetzt wird, den kleinen Stock so weit wie möglich weg, und je nach dem wie sie die Spielregeln festgelegt haben, wird er von der Art wie er gefangen wird, mit einer Hand, mit beiden, oder lässig zwischen zwei Fingern, die sogenannte Zigarre, von den Mitspielern mit Punkten bewertet. Der Fänger versucht mit dem kleinen Stock, den großen, der jetzt auf der Rille liegt, zu treffen. Hat er Erfolg gibt es weitere Punkte.

Das Gekreische und Gejohle ist weit über die Feldmark zu hören. Manchmal sagt ihre Mutter im Scherz: „Ihr macht ja einen Lärm am Fluss, das kann man ja bis Danzig hören.“

Sie wächst fröhlich inmitten der Dorfkinder auf. Nur die ständigen Hänseleien wegen ihrer roten Haare stören sie sehr.

„Hallo Hexe, wie heiß ist es in der Hölle?“ Walli Koller, an einen Baumstamm gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt, die Unterlippe ein wenig vorgeschoben, die kleinen schwarzen Augen blitzen unter braunen zerzausten Haaren hervor, guckt Karoline herausfordernd an. Er ist der jüngste von fünf Brüdern, einer davon ist Martin, der Tischlerlehrling, der recht unauffällig und still alles macht, was man von einem Stift im ersten Lehrjahr erwartet. Ganz anders Walli, der eigentlich Waldemar heißt, der laut und rüpelhaft ist und keinem Streit aus dem Wege geht. Vielleicht liegt es ja daran, dass er sich seinen älteren Geschwistern ständig unterordnen muss, denn sonst setzt es Prügel. So gibt er seine miese Erfahrung weiter und unterdrückt selbst auch gerne Schwächere. Selten trifft er jemanden, der ihm Paroli bieten kann.

Karo die gar nicht versteht, was der Rüpel mit Hexe und Hölle meint, schaut Emmi Hilfe suchend an, denn dass das nichts Nettes war, kommt sogar ihr in den Sinn. Emmi nimmt sie an die Hand, und da sie so lang ist, beugt sie sich zu ihr nieder und flüstert ihr zu: „Du musst gar nichts dazu sagen, denn dann ärgert er sich am meisten. Und weinen wirst du auch nicht!“ Karo schluckt ihre Tränen krampfhaft runter. Sie schaut zu Walli herüber und sieht wie er schadenfroh grinst.

Der warme, lange Sommer geht langsam dem Ende zu und für die großen Kinder in Waldhausen beginnt wieder der Schulalltag, den Karo und die anderen in ihrem Alter noch nicht kennen.

Nach oft schwülen August- und heiteren Septembertagen, die Felder sind längst abgeerntet, kündigt sich unweigerlich der Herbst mit Stürmen an, und die großen Dorfkinder bauen eifrig Drachen aus Packpapier, dünnen Leisten und Mehlkleister. Anschließend versuchen sie die bunt angemalten Ungetüme an einem langen Band in die Luft zu bekommen. Die Jungen rennen gegen den Wind über die Stoppelfelder, den Drachen kurz hinter sich, und wenn er sich auf dem Luftstrom hält geben sie Leine. Wenn sie Glück haben und er oben bleibt, hin und her pendelt und mit dem langen Schwanz wedelt, sieht es aus als wolle er sich ausschütten vor Lachen.

Karo stürzt in die Werkstatt „Papa, Papa, die großen Jungs haben alle Drachen gebaut, ich möchte auch soo gerne einen haben!“ „Nun mal langsam kleines Fräulein, wer soll den denn bauen, und wer soll ihn in die Luft bringen?“ „Na du, oder Jochen!“ Max und Jochen sehen sich verstohlen an. „Dazu haben wir im Moment gar keine Zeit.“ „Och, wie schade, ich hätte solche Lust Drachen fliegen zu lassen.“ Dabei bleibt es erst einmal und Karo ist ein bisschen enttäuscht.

Doch ein paar Tage später an einem Sonnabendmorgen, sie hat gerade ausgeschlafen und will aus ihrem Bett springen, sieht sie neben der Tür einen ganz besonderen Drachen, der bestimmt von einem talentierten Bastler gebaut wurde. So einen schönen Drachen hat sie noch nie im Leben gesehen. Er ist ganz aus rotem Papier und hat, sie muss erst mal nachzählen, sechs Ecken und einen enorm langen Schwanz. Die Augen, die Nase, der lachende Mund sind mit weißer Farbe darauf gemalt.

„Juhu, juhu, ich hab’ einen Drachen! Papa, Papa wann lassen wir ihn fliegen?“ Das ganze Wochenende haben Karoline, Jochen und ihre Eltern Spaß mit dem urigen Gefährten.

Die Jahreszeiten reihen sich aneinander. Nach dem schönen Sommer, dem kühlen stürmischen Herbst folgt zur Freude der Kinder ein langer, eisiger Winter, mit viel, viel Schnee. Oft schon im November, wenn der erste Frost den Nebel zu Raureif erstarren lässt und die Natur in eine Zauberlandschaft verwandelt, ziehen bald die dunklen Schneewolken herbei, aus denen große Flocken lautlos zur Erde fallen. Die Kinder aus Waldhausen hocken hinter den Fenstern und starren in freudiger Erwartung hinaus auf die Straße oder in den Garten. Der Schnee rieselt und rieselt, Frau Holle schüttelt fleißig ihre Betten aus. Bald ist alles mit einer dicken weißen Schneedecke überzogen und man kann nur noch ahnen was sich darunter verbirgt. Nach tagelangem, stetigem Schneefall ist es oft nicht mehr möglich in die Dorfschule zu kommen, dann wird jeder Mann im Dorf und auf dem Gut zum Schnee schaufeln gebraucht. Vielleicht kommt dann auch hin und wieder die blasse Wintersonne hervor, die bei eisigen Temperaturen, die weiße Landschaft zum Glitzern bringt.

Warm eingepackt toben die Kinder im Schnee, bauen Schneemänner, die verwegene Kopfbedeckungen und rote Wurzelnasen tragen. Auf dem Dorfteich haben sie sich Schlitterbahnen geschaffen und Schlitten sind im Dauereinsatz. Am schönsten ist es jedoch am Sonntag, wenn die Pferde, die sonst auf dem Feld arbeiten, vor die großen Schlitten gespannt werden, die Familien einsteigen, sich in dicke Decken wickeln, und im Konvoi ins Nachbardorf in die Kirche fahren. Im Dorf kennen sich alle und man hilft sich gegenseitig. Vor der Kirche treffen Sophia, Max und Karoline auf Minna Ulldahl, Karolines Großmutter.

Minna wohnt in einer kleinen Wohnung auf dem Gut. Dort ist die energische Person als Köchin angestellt. Sie steht jeden Tag in der Küche am Herd und scheucht das Personal, das ihr zur Seite steht. Sie ist schon sehr lange Witwe, die Kinder Max und Erwin hat sie allein großgezogen.

Erwin, der ältere ihrer Söhne, inzwischen 33 Jahre alt, ist Melker und arbeitet auch auf dem Hof. Karo liebt ihren Onkel. Er ist immer zu Späßen aufgelegt und tobt mit ihr herum. Manchmal darf sie auch beim Melken zuschauen, wobei er vorher zu ihr sagt:

“Aber du bist brav und bleibst auf dem Futtergang. Versprochen?“ „Klar, Onkel Erwin!“

Die vielen Kühe die angekettet nebeneinander in dem großen Stall stehen, verbreiten, während sie vorne in dem langen Futtergang von den Stalljungen mit Heu und Rüben gefüttert und hinten von den Melkern gemolken werden, einen ihr ganz vertrauten, speziellen Geruch. Auch die Geräusche kennt sie genau, das Kauen der Rüben, das Schlürfen aus der Kuhtränke und das zufriedene Muhen der Viecher. Karo nimmt alles begeistert auf. „Darf ich auch mit helfen?“ Der lange Emil, der gerade eine Schubkarre mit geschnitzelten Rüben hereinfährt, guckt sie freundlich an. „Hier ist die Forke gnädiges Fräulein, aber spieß dich bloß nicht damit auf, dann bekomme ich Ärger mit deinem Onkel.“ Er grinst. Sie hat natürlich Mühe mit dem für sie viel zu großen Gerät zu hantieren, doch so schnell gibt sie nicht auf und Emil hilft ihr ein bisschen dabei.

Ihr Onkel und seine Helfer sind derweil dabei eine Kuh nach der anderen zu melken. Sie stellen einen Eimer unter das volle Euter, setzen sich auf den einbeinigen Melkschemel, drücken den Kopf, der mit einer nicht mehr ganz sauberen Mütze, auch scherzhaft Schmierdeckel genannt, bedeckt ist, in die Seite der Kuh und massieren mit Melkfett die Zitzen. Gleichmäßig strullt die Milch in feinen Strahlen in den Eimer. Anschließend wird sie durch große Filter in die Milchkannen gegossen. Karo schaut fasziniert zu und lässt sich ab und zu den Schaum, der zurückbleibt, schmecken. In der Hofmolkerei wird das weiße Lebensmittel zu Käse, Butter und Quark verarbeitet.

Das Gut Waldhausen mit dem schönen weißen Herrenhaus, der Pappelallee, die geradewegs zum Portal führt, dem Park, der das Gebäude großzügig umgibt, ist ein ansehnliches Anwesen. Die mit einigem Abstand errichteten langgezogenen Bauten für das Gesinde und die sich daran anschließenden Stallungen gehören natürlich dazu. Hier sind etliche Menschen beschäftigt und haben ein bescheidenes Auskommen. Es sind einfache Landarbeiter, die hier arbeiten und wohnen.

Graf Claus von Eschenheim ist ein strenger, doch gerechter Arbeitgeber, den man oft mit dem Pferd über seine Äcker und Weiden reiten sieht, natürlich auch um seine Leute zu kontrollieren. Seit einem Reitunfall ist seine Frau Leonore ans Haus gebunden und braucht manchmal Pflege. Groß und schlank, mit langen, blonden Haaren, die zu einer eleganten Außenrolle hochgesteckt sind, und mit dichten Wimpern umrahmten, dunkelblauen Augen, die jeden offen anblicken, ist sie eine Schönheit.

Diese freundliche, gutmütige Person ist bei ihren Dienstboten sehr beliebt. Oft sagt sie:„Ach, machen sie doch nicht so viele Umstände!“ Dass das Personal diese Gutmütigkeit nicht schamlos ausnutzt, dafür sorgt Minna Ulldahl. Sie ist streng und hat alles fest im Griff.

Die Gräfin lässt ihrer Köchin freie Hand, und die schaltet und waltet auch am liebsten, ohne sich von jemanden reinreden zu lassen.

Sie ist schon so lange wie sie denken kann auf dem Gut, hier fühlt sie sich wohl. Ihre Eltern waren Tagelöhner und Minna und ihre Schwester Erna wuchsen hier auf. Sie haben als Kinder so manchen Unsinn ausgeheckt. Als Erna ihren Freund August Karsubke aus dem Dorf heiratet, und die beiden nach Berlin ziehen, empfindet sie so etwas wie Verlust. Mit ihrer Schwester hat sie sich immer bestens verstanden. Nun können sie sich nur noch Briefe schreiben. Später, als sie mit dem Landarbeiter August Ulldahl eine Familie gründet, fühlt sie sich dem Hof noch mehr verbunden. Es sind schwere Jahre, als ihr Mann in jungen Jahren einer schweren Krankheit erliegt, aber sie wird von der Gutgemeinschaft aufgefangen, und ihre Söhne können einigermaßen unbeschwert aufwachsen. Erwin, den ersten Sohn, kann man immer bei den Tieren im Kuhstall oder im Pferdestall finden, falls er wieder mal vermisst wird. So ist es auch verständlich ihn einen Beruf erlernen zu lassen, in dem er ständig mit Tieren zu tun hat. Als Obermelker hat er eine verantwortungsvolle Aufgabe, die ihn voll und ganz ausfüllt. Es macht ihm auch Freude, mit jungen Menschen umzugehen, und seinen Helfern etwas beizubringen.

Max dagegen ist schon als Junge ein talentierter Bastler, alles Material das er in die Finger bekommt, wird zu praktischen Teilen oder Spielsachen verwandelt. Das können kleine Flöten, Peitschen, Holzpuppen oder andere Dinge sein. Statt im Stall hält er sich fast immer in der Tischlerei Bohnhoff im nahegelegenem Dorf Waldhausen auf.

„Du Minna, dein Max muss unbedingt Tischler werden, der hat das Talent dazu! Ich möchte, dass er nachmittags nach der Schule schon mal ein bisschen hilft. Und wenn er seinen Schulabschluss hat, kann er bei mir lernen, Kost und Logis sind frei.“ Albert Bohnhoff sitzt bei Minna in der kleinen Stube auf dem Sofa. Minna guckt skeptisch zu ihm rüber; „Meinst du wirklich, das Max das Zeug dazu hat?“ In ihrer Familie waren die Männer immer Landarbeiter, und eigentlich hatte sie gedacht ihr zweiter Sohn würde nach der Schule auch auf dem Gut anfangen. Aber nach einigen schweren Atemzügen hat sie sich durchgerungen und sie sagt; „Na ja, wenn du meinst, das die Tischlerei das Richtige für ihn ist, kannst du es ja mal mit ihm versuchen.“ Doch im Grunde ihres Herzens ist sie sehr froh, das es sich so gefügt hat.

Max, der heimlich gehorcht hat, macht einen Freudensprung. Endlich kann er seinen Traumberuf erlernen. Er ist Albert Bohnhoff sehr dankbar, dass er seine Mutter überzeugt hat. Denn Minna zu etwas zu überreden, von dem sie nichts hält, ist weiß Gott ein schweres Stück Arbeit. Doch Max wird ihr beweisen, wozu er fähig ist.

Jahre später wird er die Tischlerei sogar als Meister von seinem alten Lehrherrn, der keine eigenen Kinder hat, übernehmen.

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Politischer Wandel

Karoline wächst in einer Zeit auf, die politisch im Umbruch ist. Von der Weimarer Republik bis zum Nationalsozialistischen Regime ist es nur ein kleiner Schritt. Anfang der dreißiger Jahre ist immer öfter von Adolf Hitler zu hören.

Nach dem 21.März1933, der als der Tag von Potsdam in die Annalen eingegangen ist, tritt das Ermächtigungsgesetz in Kraft. Es bedeutet, dass Hitler gesetzgebende und ausführende Gewalt hat. Ein Einparteienregime entsteht, und als nächstes werden die Gewerkschaften aufgelöst. Es ist jetzt sogar möglich aus politischen Gründen in Konzentrationslager eingewiesen zu werden.

Die Gelder der Gewerkschaften werden später für die NS-Freizeitorganisation >Kraft durch Freude< eingesetzt. So können Millionen Menschen Urlaub machen, die sich vorher noch niemals so etwas leisten konnten. So gewinnt der Führer neue Anhänger.

Durch Arbeitsdienst und andere Maßnahmen, wie Straßenbau und die allgemeine Wehrpflicht, die im März 1935 trotz des Versailler Vertrages, der viele Einschränkungen enthält, wieder eingeführt wird, ist es gelungen die Massenarbeitslosigkeit einzudämmen. Vor diesem Hintergrund ist es wohl auch zu verstehen, das viele Menschen Hitler vertrauen und in die Partei eintreten.