Und dann kam Hannes - Hella Westphal - E-Book

Und dann kam Hannes E-Book

Hella Westphal

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Beschreibung

Es ist die Geschichte zweier junger Menschen, die sich am 08.09.1963 zufällig bei einer Familienfeier in Poppenbüttel treffen. Er lang und dünn mit schwarzen Haaren, die er wie Elvis mit Pomade zu einer Tolle geformt hat; sie ein schlankes junges Mädchen vom Lande, das in Winterhude bei einer Familie im Haushalt arbeitet. Sie sehen sich und wissen, dass sie zusammengehören. Dieses Buch umspannt mehrere Jahrzehnte, Hannes' und Hannas Leben ausführlich beschreibend. Und weil man nicht verleugnen kann, woher man kommt, bekommen auch die Eltern, die es wahrlich nicht immer leicht hatten, eine Plattform. Alltagsgeschichten ihrer Eltern, der Kriegsgeneration, Flüchtlinge und Ausgebomte, sie alle bekommen ein Forum.

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Über die Autorin:

Hella Westphal, Jahrgang 1943, in einem kleinen Ort direkt an der Ostsee geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen, ist geprägt durch eine turbulente Kindheit mit sechs Geschwistern. Als Kriegskind geboren, erlebte sie schon früh den Andrang der Flüchtlinge. Auch das kleine Bauernhaus war bis unters Dach mit Fremden belegt. Nach ihrer Familiengeschichte »Grüne Inseln im Sand« und dem Roman »Emmi und Karoline« werden in ihrem neuesten Werk »Und dann kam Hannes« Geschichten, die das Leben schrieb, lebendig.

Inhalt

Prolog

Das Mädchen vom Lande

Willi und Ella

Die neue Familie

Hannes

Dora

Georg

Jens und Hannes

Hohnerkamp, ein neuer Abschnitt

Hannes

Lieblingsschwester

Kleine Schwester

Hanna und Hannes

Kasernenleben

Nun wird es ernst

Eiskeller

Auf einmal zu dritt

Rosige Aussichten

Diesmal ist alles anders

Die Sonne scheint in Bayern

Hausgemeinschaft

Ein kleines Paradies

Wolken am Himmel

Wie sich alles weiterdreht

Reise nach Jugoslawien

Frust und Freude

Wieder zu Hause

Alkohol

Verkehrsüberwachung

Radfahrwege

Lanzarote

Lena und Hanna

Gemeinsamkeit

Epilog

Prolog

Ganz zu Anfang geht jeder seinen eigenen Weg. Du wirst geboren, bist nackt und unschuldig, ein leeres Buch, in das jeder, der mit dir zu tun hat, etwas hineinschreibt. Erst sind es im Idealfall die Eltern, dann kommen diverse Leute hinzu. Geschwister, Großeltern und Bekannte, dann die Lehrer, die echten Freunde und solche, von denen du meinst, es wären deine Freunde. Das Buch enthält viele Seiten, die im besten Fall dicht beschrieben sind mit Liebe, Fürsorge und Anerkennung, aber es gibt auch Abschnitte voller Pflichten, Enttäuschungen und Fehlschlägen. Unschuldig bist du auch nicht mehr. Letztendlich bestimmt du selbst, und nur du selbst, was du aus deinem Leben machst. Der eine wächst über sich hinaus und kämpft, während der andere resigniert den Kopf in den Sand steckt. Das Erstaunliche an diesem Buch ist, dass es dich bis ans Ende deines Lebens begleitet. Zwar vergisst du es zeitweise, dennoch wird eifrig immer weiter hineingeschrieben. Es gibt aufregende Lebenswege voller Abenteuer und Gefahren, aber auch solche, die mittelmäßig, langweilig und unausgefüllt dahinplätschern. Manchmal kannst du nicht selbst bestimmen, wie es weitergehen soll, bis dein Wille, etwas zu verändern, so groß wird, dass nichts dich aufhalten kann. So etwas macht dich stark und ist dick unterstrichen in deinem persönlichen, einst leeren und nun immer dichter beschriebenen Buch.

Hier geht es um Personen, von denen absolut nicht die Weltgeschichte abhängt, aber es sind Menschen mit Lebenserfahrung, die zuerst allein und dann gemeinsam ihren Weg beschreiten.

Und – wie könnte es anders sein? – es geht, wie meistens im Leben, um die Liebe. In diesem Fall um die große Liebe!

Wenn das Dasein eine Zielscheibe ist und der Schuss zufällig ins Schwarze trifft, kann das Schicksal alles bisher Dagewesene auf den Kopf stellen, besonders, wenn man gerade nicht damit rechnet. Zum Schutz der handelnden Personen sind alle Namen geändert.

Das Mädchen vom Lande

1962. Ich bin gerade achtzehn Jahre alt geworden und denke seit längerer Zeit darüber nach, Fuhlensee, meinen geliebten und gehassten Geburtsort, zu verlassen. Die vergangenen Jahre waren hart, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass einer mit mir hätte tauschen wollen.

Fuhlensee ist ein kleines Nest an der Ostsee. Wunderschön gelegen mit dem kleinen Binnensee, der durch den Broeck mit der Ostsee verbunden ist, und einem feinen, weißen Sandstrand, der mit grünen Dünen und in Richtung Weißenhaus von einer sich stetig ändernden Steilküste begrenzt wird. Nun kann man sich natürlich fragen, weshalb ein junges Mädchen hier nicht leben will, wo andere so gerne Urlaub machen. Es ist ja auch ein herrliches Plätzchen, wobei dennoch nicht vergessen werden darf, dass es in den Fünfziger-, Sechzigerjahren in unserer Gegend nicht viel Abwechslung gibt. Was man als Kind noch als Abenteuerland betrachtet hat, wird mit der Zeit klein und eng.

Die Sommer sind heiß und arbeitsreich, sodass man um Mitternacht erschöpft auf sein Bett, das sehr wohl auch nur ein Strohsack sein kann, fällt. Es gibt nichts anderes als Arbeiten und Schlafen – wohingegen die langen Wintermonate kalt, öde und für junge Leute schrecklich langweilig sind.

Es ist nicht immer leicht, mit sechs Geschwistern aufzuwachsen, und manchmal ist es ziemlich turbulent. Jeder, der ältere Brüder hat, kann sicher ein Lied davon singen, wie kleine Schwestern getriezt werden. Trotzdem hatte ich als Kind unendlich viel Freiraum. Die Sommer waren einfach wunderbar, und ich kann mich nur an schönes warmes Wetter erinnern. Es gab immer jemanden zum Spielen und Toben. Die Tage am Strand mit Butterbrot, eingewickelt in Pergamentpapier, und Saft in der Flasche, mit irgendwelchen Urlaubskindern zu baden, zu schwimmen, danach in der Sonne zu braten, dem Lärmpegel der fröhlich schreienden und lachenden Menschen zuzuhören und manchmal auch dabei einzudösen, waren unbeschreiblich schön. Am späten Nachmittag nach Hause zurückzukommen und noch mal durch den großen Obstgarten zu stromern, um Augustäpfel, Pflaumen, Kirschen, Erdbeeren oder Himbeeren zu naschen, manchmal auch alles auf einmal, auch auf die Gefahr hin, Bauchschmerzen zu bekommen, kann man nur als herrliches sorgloses Leben beschreiben!

Da wurden auch die Wintertage, mit viel Frost und Schnee, für die Kinder aus Fuhlensee und aus der näheren Umgebung zum Ereignis. Der Binnensee war meistens zugefroren, sodass man Schlittschuh laufen, Eishockey spielen, oder einfach nur schlittern konnte. Danach durchgefroren am warmen Kachelofen wieder aufzutauen, heißen Kakao zu trinken und ein geröstetes Brot zu vertilgen sind schöne Momente. Dazu gehören auch die Badetage im Sommer direkt in der Ostsee, oder an kalten Tagen in der Zinkwanne in der Küche vor dem warmen Kohleherd.

Und erst Weihnachten. Die Geschenke fielen bei so vielen Kindern natürlich bescheiden aus, aber die Geheimnistuerei in der Vorweihnachtszeit, das Hämmern und Sägen, die selbst gebackenen Kekse, das mehrstimmige Singen mit den Geschwistern und das Warten am Heiligen Abend, bis endlich die Glocke läutete, werden in meiner Erinnerung immer einen besonderen Platz haben.

Doch die Kindheit geht schnell vorüber. Als unser geliebter Vater, der Spaßmacher der Familie, viel zu früh an einer Krebserkrankung stirbt, bin ich gerade 13 Jahre alt. Alle Leichtigkeit und Fröhlichkeit sind mit ihm davongeflogen. Urplötzlich hat sich ein Schleier aus Hoffnungslosigkeit über unser Heim gesenkt. Und unsere Mutter ist vor Trauer und Sorgen nicht ansprechbar.

Trotzdem werden automatisch die alltäglichen Dinge verrichtet. Es wird weiter in die Schule gegangen, und die größeren Kinder versorgen die Kühe und arbeiten auf dem Feld. Notwendigerweise muss jeder, der zwei Hände hat, mit anpacken.

Meine Mutter Ella ist aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, den Bauernhof, der ihr völlig verschuldet hinterlassen wurde, zu einem Saisonbetrieb umzubauen. Sie hat schon vor Jahren angefangen, einige Gäste zu bewirten, und ein, zwei Zimmer vermietet, da lebte mein Vater noch. Der Grundstein für einen Gastbetrieb ist also schon gelegt.

Nun muss nur noch ein Geldgeber gefunden werden. Dies erweist sich als besonders schweres Unterfangen, da ihr keiner zutraut, so einen Betrieb zu führen. Bei mehreren Banken wird Ella abgewiesen und das Klinkenputzen kostet viel Kraft. Mutlosigkeit und auch ein bisschen Wut machen sich bei ihr breit, bis auf einmal der Geschäftsführer einer Brauerei in Lütjenburg bei uns auf dem Hof erscheint. Er macht unserer Mutter ein faires Angebot. Sie bekommt das Geld, das sie braucht, um die Schulden abzutragen, und die Brauerei hat für die nächsten zehn Jahre einen guten Kunden, einen Großabnehmer in der Saison. Ella ist erleichtert, denn es gibt wieder einen Hoffnungsschimmer, dennoch sind es sehr harte Jahre in denen sie oft, viel zu oft, an ihre Grenzen gehen muss. Das Vieh wird verkauft, und die Ländereien an umliegende Bauern verpachtet. Damit entledigt sie sich einer weiteren Verantwortung.

Aus den bescheidenen Anfängen ist mit den Jahren ein gut gehender Betrieb mit einem großen Campingplatz, einem Verkaufsstand und einer Gastwirtschaft entstanden.

In der Saison herrscht wahnsinniger Betrieb. In der alten Waschküche, neben dem ehemaligen Pferdestall, werden zwei große Kessel mit Holz angeheizt. Jeden Tag kochen Frauen dort literweise Eintopf, der günstig von den Zeltlern gekauft und in Töpfen oder Kannen abgeholt wird. Diesen Service nutzen auch die Jugendgruppen, die in riesigen Zelten hinter der Scheune lagern.

Wir erleben auch hautnah deutsche Geschichte. Ein Spielmannszug aus Ostberlin wird 1961 im Urlaub vom Mauerbau überrascht. Es ist eine muntere Truppe, die immer ein paar kesse Sprüche auf Lager hat, eben typisch Berliner Schnauze. Doch als die Meldung am 13. August durch das Radio und die Presse verbreitet wird, sind selbst sie sprachlos. Die jungen Leute drücken sich in kleinen Grüppchen herum und beratschlagen, was zu tun ist, denn sie sind direkt betroffen von dieser Wahnsinnsentscheidung der DDR. Soll man im Westen bleiben und es darauf ankommen lassen, seine Verwandten und Freunde nicht mehr sehen zu können, oder wieder in den Osten in die alten Zwänge zurückkehren? Sie haben uns nicht mitgeteilt, wie sie sich entschieden haben. War es vorher noch an der Tagesordnung, in West- oder in Ostberlin zu arbeiten, ist es von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich. Einige haben es vielleicht nicht einmal mehr geschafft, zu ihren Familien zu kommen. In Berlin spielen sich während des Mauerbaus dramatische Szenen ab. Von einer Stunde zur anderen werden ganze Häuserzeilen zugemauert. Aus Verzweiflung springen einige Ostberliner in letzter Minute in die Freiheit oder in den Tod.

In Fuhlensee geht indessen die Hektik unverändert weiter. Etwas mehr als hundert Essen, die Ella auf dem alten Kohleofen zubereitet, werden innerhalb von zwei Stunden serviert und von den meist zufriedenen Gästen verzehrt. Nun zahlt es sich aus, dass sie als junges Mädchen Köchin gelernt hat.

Die Kartoffeln, die für die Mahlzeiten nötig sind, werden schon am frühen Vormittag in der alten Waschküche geschält. Die Frauen sitzen auf Hockern um eine große, mit Wasser gefüllte Wanne und bearbeiten die Knollen blitzschnell mit einem scharfen Messer. Die geschälte Kartoffel landet in der Wanne. Kann sich jemand vorstellen, was für Mengen jeden Tag gebraucht werden? In dem Jahr, als unser Vater gestorben ist und jeder in der Familie seinen Beitrag entweder in der Küche oder auf dem Feld leisten will, schäle ich, mit dreizehn Jahren, in der Runde Kartoffeln. Sechs Wochen in den Sommerferien, jeden Vormittag. Kartoffeln schälen kann ich perfekt!

Die Hitze in der Küche ist durch den großen Kohleherd enorm, sodass die Bestellungen aus der Gaststube schwitzend, mit hochroten Köpfen, abgearbeitet werden. Berge von Geschirr stapeln sich in der kleinen Waschküche. Sie werden mit der Hand – natürlich mit der Hand, wie sonst – von zwei Frauen abgewaschen und abgetrocknet.

Nachmittags gibt es Kaffee und Kuchen, abends Bauernfrühstück und Schinkenbrot, später Eisbecher. Von morgens bis nachts ist die Familie, unterstützt von einigen Helfern, auf den Beinen.

Nach den sechs Wochen Hamburger Ferien wird es schon etwas ruhiger und bricht ganz ab, wenn die letzten Rheinländer ihre Zelte abgebaut haben und abgereist sind.

Jetzt können auch die Sachen erledigt werden, die vor lauter Arbeit liegen geblieben sind. Alles wird gründlich gereinigt, der Pavillon ausgeräumt und geschlossen, sodass man, wenn alles wieder auf Vordermann gebracht ist, auf einmal nicht mehr weiß, wie die Tage vergehen sollen. Und erst der Winter! Für junge Leute ist die Langeweile unerträglich. Natürlich ist es herrlich, einen Herbst- oder Winterspaziergang zu unternehmen in dieser schönen Umgebung, dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass das alles sein soll, was ich vom Leben erwarten kann.

Ich will weg! Ich sehe einfach keinen Sinn mehr darin, im Sommer bis zum Umfallen zu schuften und im Winter einer anderen Tätigkeit nachzugehen, die nicht immer Freude bereitet, die aber notwendig ist, weil das Geld zum Leben gebraucht wird. Und wenn es tatsächlich Spaß macht, muss trotzdem im Frühjahr wieder gekündigt werden, weil zu Hause die Arbeit wartet.

Im letzten Winter haben meine ältere Schwester Jutta und ich in Lensahn bei Opal in der Strumpffabrik hauchdünne Strümpfe eingetütet. Saubere Arbeit in trockenen, warmen Räumen. Früh- und Spätschicht, ein Job, der von allen am lukrativsten ist, besonders, als ich endlich achtzehn geworden bin und im Akkord arbeiten darf. Zur Frühschicht werden wir bei jedem Wetter um vier Uhr dreißig in Fuhlensee von Heini Beck, der eine Tankstelle in Kaköhl betreibt, mit einem alten PKW abgeholt und ab Kaköhl in einem Bus, der auch schon mal bessere Tage gesehen hat, in die Fabrik gefahren. Auf dem Weg dorthin steigen in jedem Dorf Frauen zu, die auch bei Opal arbeiten. In Lensahn eingetroffen geht es schnell an der Stechuhr vorbei zu unseren Arbeitsplätzen. Die Vorarbeiter haben schon Paletten mit Strümpfen an die Plätze gestellt, die jetzt im Akkord eingetütet werden. Eine angenehme Arbeit im Sitzen, und dabei kann man sich sogar noch mit seiner Nachbarin unterhalten. So entsteht auch die Freundschaft zu Marina, die bald mit einer Freundin und deren Schwester nach München will. Sie träumt von einem besseren Leben und ich träume bald mit ihr. Ich möchte mich einklinken, schließlich bin ich im Dezember achtzehn geworden und fühle mich entsprechend erwachsen, bekomme zu Hause aber umgehend zu spüren, dass man erst mit einundzwanzig volljährig ist und die Erziehungsberechtigte noch ein Wörtchen mitzureden hat.

Die Pläne, mit Marina nach München zu ziehen, lösen sich daher schnell auf, denn meine Mutter ist entschieden dagegen. »Nee, Hanna, nach München lasse ich dich nicht gehen. So eine Großstadt birgt so große Gefahren für junge Mädchen, da mag ich gar nicht drüber nachdenken. Überleg doch mal, wie weit das weg ist.«

Da ich im Moment nicht so einen guten Draht zu meiner Mutter habe, entgegne ich ein bisschen unfreundlich. »Ach, Mutti, wenn es nur an der Entfernung liegt, dann gehe ich eben nach Hamburg, da ist ja noch Tante Resi, die wird schon auf mich aufpassen. Hier kann und will ich nicht bleiben.«

Und wenn es noch so schmerzlich ist, es ist die richtige Entscheidung. Entweder entwickele ich mich weiter, oder ich bleibe hier, verblöde und heirate womöglich aus Frust einen Bauern. Ella hat letztendlich auch gemerkt, dass sie mich nicht halten kann.

Obwohl ich an mir selbst gescheitert bin, eine Schneiderlehre hingeschmissen und mich danach nicht mehr getraut habe, eine andere Lehre zu beginnen, weiß ich eines ganz genau: Nie im Leben werde ich einen Bauern heiraten und hier in diesem Kaff versauern. Generell habe ich zwar nichts gegen Bauern und die Landwirtschaft, ich habe sogar immer gerne mit auf dem Feld gearbeitet, dennoch stelle ich mir meine Zukunft anders vor.

Wenn München nicht erlaubt ist, dann eben Hamburg, wo meine Patentante wohnt, zu der ich immer ein gutes Verhältnis gehabt habe.

Ich fiebere dem Tag entgegen, an dem ich endlich, endlich mein Leben selbst gestalten kann, ohne darüber nachzudenken, dass man sich immer irgendwie anpassen muss. Egal was das Leben für einen bereithält, man kann nicht so tun, als hätte es die Familie oder die Vergangenheit nie gegeben. Das werde ich noch früh genug in aller Deutlichkeit erfahren.

1962 ist das Jahr, in dem ich meine Zelte in Fuhlensee abbreche und im Herbst, nach einer wie immer sehr anstrengenden Saison, zu meiner Tante nach Hamburg ziehe. Bei ihr und dem gutmütigen Brummbären Onkel Walter habe ich mich schon immer sehr wohlgefühlt. In ihrer kleinen Altbauwohnung im dritten Stock, mit der Toilette auf halber Treppe, habe ich schon als kleines Kind in der winzigen Schlafkammer übernachtet und mit anderen Kindern in den Trümmerfeldern der Lindenallee gespielt, wo nur einzelne Mietshäuser, darunter das Haus, in dem Walter und Resi wohnen, den Krieg überstanden haben. Natürlich kann ich nur vorübergehend bei ihnen bleiben, darum überlegen wir auch gemeinsam, was ich am besten machen könnte.

Als ich mit meinem neu erworbenen braunen Lederkoffer, in dem meine wenigen Habseligkeiten verstaut sind, auf dem Hamburger Hauptbahnhof aussteige, komme ich mir einen Moment verloren vor. Das betriebsame Hasten der vielen Menschen, das ohrenbetäubende Quietschen der Bremsen und die lauten Durchsagen nehme ich mit allen Sinnen wahr.

Endlich bin ich angekommen in der Großstadt, nun kann mein neues Leben beginnen!

Da ahne ich noch nicht, wie oft ich mich vor Heimweh fast krank fühlen werde. Auch die Hoffnung, von dem Saisonbetrieb befreit zu sein, soll sich leider nicht erfüllen, doch im Moment bin ich überwältigt von einem Gefühl der Freiheit und des Aufbruchs. Mir steht die Zukunft offen!

Nach mehrfachen Remplern im Gedränge entdecke ich endlich meine Tante, die wie immer sehr städtisch elegant gekleidet ist. Mann, bin ich froh, sie zu sehen, denn ich hätte nicht gewusst, wie ich zu ihnen hätte kommen sollen; vielleicht wäre ein Taxi die Lösung gewesen? Freudig erregt laufe ich auf Resi zu. »Hallo, Hanna, da bist du ja endlich. Der Zug hatte, wie immer, mal wieder Verspätung. Ich warte schon eine ganze Zeit. Wie war die Reise? Onkel Walter ist zu Hause geblieben, aber den wirst du ja gleich sehen. Hast du einen neuen Koffer? Der sieht ja toll aus. Wie geht es deiner Mutter?«

Ich lasse den Wortschwall über mich ergehen, denn Resi kann ohne Punkt und Komma reden. Es ist manchmal ein wenig ermüdend, aber da sie ihr Herz auf dem rechten Fleck hat, kann ich es ihr nicht übelnehmen.

Wir verlassen gemeinsam den Hauptbahnhof. Die vielen Straßen, der Autoverkehr und überall Leute, die auf den Gehwegen entlangeilen, Geschäfte mit fantastischen Auslagen, die Eindrücke erschlagen mich. Ich kann gar nicht so schnell alles aufnehmen, zumal Resi unentwegt schnattert. Wir nehmen die Straßenbahn, und nach einmaligem Umsteigen in die U-Bahn sind wir bald in Eimsbüttel in der Lindenallee.

Man kann mit der U-Bahn, der S-Bahn, der Straßenbahn oder mit dem Bus in jeden Stadtteil gelangen. Nur für eine Dorfpflanze wie mich ist es nicht so leicht, bei diesem Gewirr von Straßen den Überblick zu behalten. In Fuhlensee gibt es nur die Dorfstraße in Richtung Kaköhl, einen Abzweiger nach Döhnsdorf und einen nach Sechendorf. Das war’s!

Walter wartet schon mit Kaffee und Kuchen auf uns. »Na, Hanna, hattest du eine gute Reise?«

»Ich kann mich nicht beklagen, es hat alles gut geklappt, danke.«

Der neue Koffer hat natürlich auch zwei neue Schlösser, nur leider habe ich in der Aufregung die Schlüssel zu Hause liegen lassen. Onkel Walter kann nicht abwarten, bis seine Frau in ihrem Sammelsurium einen kleinen Schlüssel findet, der passt: Ein Schloss ist schnell aufgebrochen. Nun probiert Resi das andere aus, und tatsächlich, der Schlüssel flutscht hinein und der Verschluss ist geöffnet. Der arme Walter, der muss sich nun aber was anhören. Ich kann nicht anders, ich muss laut lachen.

Wir überlegen gemeinsam, was ich in Zukunft arbeiten könnte. Vielleicht leichte Büroarbeit? Hm, das wird wohl nicht gehen, denn wo soll ich wohnen? Und überhaupt fehlen mir einige Voraussetzungen. Steno und Schreibmaschine zum Beispiel. So kommen wir nach langem Hin und Her zu der Erkenntnis, dass ich am besten im Haushalt untergebracht bin. Meiner Vorstellung nach aber nur so lange, bis ich etwas Besseres gefunden habe.

Neben dem Lesen der Anzeigen jeden Tag spielt Resi auch Stadtführerin. Und das nicht mal so schlecht. Erstaunlich, denn auch sie ist in einem Dorf aufgewachsen.

Auf dem alten Ohlsdorfer Friedhof, der beeindruckend groß ist und auf dem sogar Busse fahren, füttern wir die zutraulichen Eichhörnchen. Die Binnen- und die Außenalster, Planten un Blomen, der Hafen, die Schiffsbegrüßungsanlage an der Elbe, alles zeigt und erklärt sie mir ausführlich. Am Wochenende werden Besuche in Rahlstedt oder in Poppenbüttel bei Verwandten getätigt.

Ich genieße die Abwechslung in meinem neuen, aufregenden Leben in vollen Zügen und denke nicht an mein altes Zuhause. Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen, meine ältere Schwester Jutta zurückgelassen zu haben, verschwende keinen Gedanken an die kleine Sabrina, denn im Moment bin ich egoistisch genug, nur an mich selbst zu denken.

Erst viele, viele Jahre später bin ich in der Lage, vorurteilsfrei einzugestehen, wie schwer sich meine kleine Schwester durchschlagen musste, bis auch sie Fuhlensee verlassen konnte. Jutta hingegen ist nur zwei Dörfer weitergezogen. Sie hat das gemacht, was ich nie und nimmer wollte: einen Bauern geheiratet.

Willi und Ella

21. Mai 1927. Charles Lindbergh überquert im Alleinflug den Atlantik und wird in der Nähe von Paris jubelnd empfangen. Am Vortag ist er auf Long Island, New York, gestartet. Eine großartige Pionierleistung, die in allen Medien bejubelt wird.

Auch Willi Hansen, der mit fast dreißig Jahren immer noch Junggeselle ist, hat davon in der Zeitung gelesen. Er ist allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Es ist nicht so, dass er den Zustand der Ehelosigkeit akzeptiert, doch er hat sich schon früh vorgenommen, nur aus Liebe zu heiraten. Bis jetzt ist ihm noch keine Frau begegnet, mit der er sein Leben verbringen möchte. Viele Möglichkeiten, eine kennenzulernen, gibt es auf dem Lande nicht. So genießt er erst mal die schöne Landschaft direkt an der Ostsee, mit dem kleinen Binnensee vor der Haustür, auf dem die Fischer mit ihren flachen Booten am Abend ihre Netze auslegen. Willi liebt das Meer, auf das er bei der Feldarbeit blicken und das er bei unruhigem Wetter sogar hören kann. Er lebt für die Natur und ist mit Leidenschaft Bauer, wenngleich das zu dieser Zeit noch schwere körperliche Arbeit bedeutet.

Als Nachkömmling einer kinderreichen Familie, von allen verwöhnt, ist er schon als kleiner Bengel zu mancherlei Streichen aufgelegt gewesen. Daran ändert sich auch nicht viel, als er älter wird, denn er hat immer einen im Sinn. Als großes Schulkind überlebt er eine schwere Diphtherie, an der eine ältere Schwester stirbt. Er erbt den Bauernhof von seinen Eltern, die erst als Pächter, dann als Besitzer dieses Anwesen in dieser herrlichen Gegend betreiben. Sein Vater, der Tagelöhner auf dem Gut war, hat sich drei Pachtstellen gesichert, als das Land aufgesiedelt wurde. Ein Hof im Dorf und ein anderer in Döhnsdorf für seine älteren Söhne, und Packhus für sich selbst.

Ende des 15. Jahrhunderts wurden für den kleinen Seehandel mit Schweden große Speicher in Strandnähe gebaut, in denen Holz und Granitplatten gelagert wurden. Die Handelsschiffe fuhren so weit wie möglich in die Fuhlenseeer Bucht, wo Fischerboote die Fracht übernahmen und zum Schluss, wenn sie aufgrund mangelnder Tiefe nicht mehr rudern konnten, die Ladung den Pferdefuhrwerken der Bauern übergaben. Getreide ging im Gegenzug zurück. Der Handel florierte gut, bis die Eisenbahn etwa um 1885 den Schiffsverkehr zurückdrängte. Das 1850 gebaute Haus mit Büro und kleiner Gaststube, wo die Männer sich aufwärmen konnten, wurde von Familie Hansen als Bauernhaus genutzt und steht heute noch unversehrt an seinem Platz. Aus der Bezeichnung „Packhüser“ für die Speicher wurde im Laufe der Zeit „Das alte Packhus“. Im Alltagsgebrauch typisch norddeutsch eben „Packhus“.

Anfangs wird die Pacht mit Naturalien beglichen, denn Geld ist Mangelware.

Die Töchter haben nach und nach zwecks Heirat ihr Zuhause verlassen. Noch ist Willis Lieblingsschwester Marie da, die viele Tränen vergießt, weil ihr Verlobter nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Zu ihrer Schande ist sie auch noch schwanger. Da gibt es nur eins: Sie muss heiraten! Wie die Familie das hinbekommen hat, ist nicht überliefert, aber sie hat ihren Otto geheiratet, und soweit bekannt ist, sind sie sehr glücklich geworden. Das Kind des gefallenen Verlobten adoptiert er, und es werden noch drei weitere Kinder geboren. So ist nur noch Willi allein in Fuhlensee.

Nachdem erst sein Vater und kurz darauf seine Mutter sterben, wird sein Haushalt von einer älteren Hausdame geführt, sodass keine Notwendigkeit für eine Veränderung besteht. Doch die kündigt sich eines Tages trotzdem an, als Familie Scholl mit Pferd und Kutsche auf den Hof fährt. Mit den Eltern sind auch ihre drei schmucken Töchter dabei. Die Familien kennen sich, und Willi ist erstaunt, wie erwachsen die Älteste geworden ist. Sie ist wunderschön mit ihren dunklen Haaren, den hellblauen Augen und dem schön geschwungenen Mund. Sie schaut ihn verwundert an, als er sie fragt, ob sie mit ihm über die Felder gehen möchte. Etwas verunsichert nickt sie und sie marschieren los. Seine Freude über die Natur ist ansteckend und sie ist begeistert dabei, wenn er sie auf etwas Besonderes aufmerksam macht. Der Blick über den Binnensee auf die Ostsee ist bei strahlend blauem Himmel einmalig. Sie spüren die Verbundenheit und Ella verliebt sich auf der Stelle in diesen Mann, der zwar elf Jahre älter ist als sie, aber im Herzen ein großer Junge, der immer zu Scherzen aufgelegt geblieben ist. Außerdem findet sie ihn sehr attraktiv, mit pechschwarzen Haaren und blauen Augen, die sie immer wieder bewundernd von der Seite anschauen. Da haben sich zwei Menschen gefunden, die auf einer Wellenlinie sind – und natürlich bleibt es nicht bei diesem einen Treffen. Sie merken immer mehr, dass sie füreinander geschaffen sind.

So steht einer baldigen Hochzeit nichts im Wege. Sie feiert ihren zwanzigsten Geburtstag als Ella Hansen in ihrem geliebten Packhus. Nie mehr möchte sie woanders leben. Die zuvor erlernten Kenntnisse in Haushaltsführung und Kochen kann sie hier jetzt gut gebrauchen. Sie ist mit Herz und Verstand Bäuerin.

Willi liebt Kinder, und Ella möchte am liebsten eine ganze Fußballmannschaft. Das Glück ist perfekt, als 1932 der erste Junge geboren wird. Danach kommen im Wechsel drei Mädchen und zwei Jungen auf die Welt. Ich, 1943 geboren, bleibe die Jüngste bis 1951, als für mich völlig unvorbereitet unser Nachkömmling Sabrina zur Welt kommt. Frau Schneider, die Hebamme, ist bei jeder Geburt unterstützend dabei. Immer wenn ein Baby das Licht der Welt in Packhus erblickt, kommt Willis Cousine Resi und führt den Haushalt, bis Ella wieder ganz auf den Beinen ist. Die beiden haben viel Spaß zusammen, denn wenn Willi Fisimatenten macht, bleibt kein Auge trocken. Selbst Ella muss im Wochenbett so lachen, dass ihr der Bauch wehtut.

Wir Kinder fühlen uns alle gut aufgehoben und werden von unseren älteren Cousinen, die bei Ella die Haushaltsführung erlernen, wunderbar betreut.

Unser Vater ist, nicht immer zur Freude seiner Frau, neuen Dingen gegenüber sehr aufgeschlossen. So haben wir im Ort lange das einzige Telefon, welches dann auch oft von unseren Nachbarn genutzt wird. Kein Vertreter verlässt unser Haus, ohne ein Geschäft zu machen. Egal ob es um landwirtschaftliche Geräte, teure Garderobe oder einen Staubsauger geht, Willi kauft alles, weil er eben nicht Nein sagen kann. Wir besitzen sogar ein Auto, was in diesen Zeiten auf dem Dorf ein Novum ist. Der DKW wird kurz nach dem Krieg konfisziert. Die Beamten stehen auf einmal in der Küche und halten Ella einen Wisch unter die Augen. Es hat keinen Zweck, sich zu weigern, und so gibt sie wutentbrannt die Papiere und den Schlüssel heraus. Jahre später steht das Auto wieder, ziemlich abgefahren, auf dem Hof. Es eignet sich immer noch für kleine Fahrten, zum Beispiel, um mit der ganzen Kinderschar die Großeltern in Gronau zu besuchen.

Papa, bekannt für seine Hilfsbereitschaft, wird zum Ortsgruppenleiter gewählt, und weil er nicht ablehnt, bringt es ihm nach dem Krieg eine Internierung bei der britischen Besatzung ein. Er kommt nach Neumünster ins Lager, wo er sich mit einem Lehrer aus dem Nachbarort die Decken teilt. Hunger ist ihr ständiger Begleiter, und wenngleich die Pakete von Ella mit Lebensmitteln vollgepackt sind, gelangt nur ein Teil zu ihnen, denn sie werden vorher geöffnet. Papa ist vollständig informiert über das Geschehen in Packhus, denn Ella versteckt die Briefe in ihren selbst gebackenen Broten, die meistens bei ihm ankommen, wohingegen Speck und Wurst oft von den Wachleuten einbehalten wird.

1944/45, als der Westen von Flüchtlingen aus dem Osten überschwemmt wird, ist auch Schleswig-Holstein davon betroffen. Jeder, der über Wohnraum verfügt, muss Zimmer abgeben für Vertriebene. So ist auch unser Haus, obwohl wir ja schon eine große Familie sind, bis unters Dach mit Flüchtlingen belegt. Die armen Leute müssen irgendwo unterkommen, und wenn es in den Nissenhütten ist. Diese Behausungen aus Blech, im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß, sieht man noch in den Fünfzigerjahren, bis endlich die letzten Familien in richtige Wohnungen ziehen können.

In dieser Zeit wächst eine Person über sich hinaus, die die Fäden zusammenhält: Mithilfe einiger uns zugewiesener Flüchtlinge, die fleißig mit auf dem Feld arbeiten, die Schweine versorgen und die Kühe melken, kommt unsere Mutter über die Runden. Sie lässt sich nicht einschüchtern, schlachtet schwarz, wenn es sein muss, selbst wenn sie von jemandem angezeigt wird, der in ihrem Haus Unterschlupf gefunden und sogar von der Schlachtung profitiert hat. Denn alle, die bei uns untergekommen sind, werden von ihr mit Lebensmitteln unterstützt.

Dem Dorfpolizisten, der bald darauf erscheint und sie verhaften will, setzt sie entgegen: »Wenn Sie mich verhaften, dann können Sie auch gleich meine sechs Kinder mitnehmen, denn die kann ich nicht hierlassen! Und schau’n Sie sich ruhig mal um. Die ganzen Menschen, die hier bei mir untergekommen sind, müssen doch versorgt werden.« Sie steckt ihm ein paar Würste zu, sodass er von seinem Vorhaben ablässt.

»Frau Hansen, dass mir nicht noch mal Klagen kommen, dann kann ich für nichts garantieren.« Er hebt die Hand zum Gruß und verschwindet. Sie schlachtet auch weiterhin schwarz, wenn es erforderlich ist.

Die Zeit im Lager hat bei unserem Vater Spuren hinterlassen. Er, der schon immer schlank war, ist jetzt vollkommen abgemagert und wird von Mutti wieder hochgepäppelt. Anfangs ist er noch so schwach, dass er im Bett liegen muss. Für jedes Kind hat er ein Messer aus Horn geschnitzt und den Namen des Kindes hineingeschnitten. Ich halte meins in Ehren.

Bald ist er wieder der Alte, und sein Humor ist unschlagbar. Es wird wieder viel gelacht in Packhus.

Die Nachkriegszeit ist geprägt von vielen Entbehrungen, die uns auf dem Land jedoch nicht so gravierend vorkommen, da wir ja trotz allem immer genug zu essen haben. Davon profitieren alle, die bei uns arbeiten und wohnen. Keiner der Bettler, die von Papa scherzhaft Monarchen genannt werden, geht ohne eine deftige Mahlzeit oder einen Packen Brot mit Speck von unserem Hof. Im Winter, wenn das Korn auf der Scheundiele gedroschen wird, arbeiten sie sogar bei uns. Da wird jede Hand gebraucht, auch wenn wir Kinder uns ein wenig zurückhalten wegen der wilden Burschen, die nicht gerade angenehm riechen.

Willi und Ella sind ein gutes Gespann, sie arbeiten Hand in Hand und sind glücklich über ihre Kinderschar. Der Älteste ist schon verheiratet und beschert ihnen ihr erstes Enkelkind, als die kleine Sabrina gerade mal aus den Windeln ist.

Die neue Familie

Die erste Zeit in Hamburg vergeht wie im Fluge.

Trotz der vielen Unternehmungen vergessen Resi und ich aber nicht, jeden Tag die Zeitung nach Arbeitsangeboten durchzusehen. Dabei stoßen wir endlich auf eine einfache Anzeige: Da sucht eine Familie mit vier Kindern ein Hausmädchen.

Die Adresse – Winterhude, Asternweg 36 – lässt auf eine gehobene Wohngegend schließen. Resi, die selbst als junges Mädchen in einem Haushalt gearbeitet hat, meint: »Da melden wir uns mal. Aber eins sag ich dir, Hanna, wenn du nicht mit am Tisch sitzen darfst, dann gehst du da nicht hin.« Ich überlasse meiner Tante die Entscheidung. Nach einem kurzen Telefonat ist ein Treffen beschlossen.

Mit der Straßenbahn fahren wir zur Station Maria-Louisen-Straße, um von dort ein paar Straßen weiter in den Asternweg zu gelangen. Das kleine, von außen unscheinbare Flachdachhaus ist schnell gefunden. Als ich die Messingklingel betätige, bin ich ein bisschen aufgeregt. Schnelle Schritte sind hörbar, dann wird die Tür geöffnet und eine sympathische Frau um die vierzig begrüßt uns herzlich: »Kommen Sie doch bitte herein.«

Augenblicklich fühle ich mich in der Umgebung wohl. Das Haus ist von innen hell, freundlich und warm, alle Räume sind farblich schön gestaltet. Die zwei Kinderzimmer und das Elternschlafzimmer oben haben ein Bad. Die geräumige Küche ist mit allem ausgerüstet, was man sich wünschen kann.

Das riesige Wohnzimmer ist mit einem großen Esstisch, um den mindestens acht Stühle stehen, und einer modernen Sitzecke in Naturtönen ausgestattet. Die alten Mahagonimöbel bilden einen schönen Kontrast dazu. Durch ein großes Fenster schaut man in den Garten, der eher eine Wiese ist. Er wird durch ein Fleet begrenzt, von denen es in Hamburg etliche gibt. Frau Groß bittet uns ins Wohnzimmer. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagt sie, und fügt an mich gewandt hinzu: »Ich nehme an, dass Sie ein bisschen kochen können?«

Ich schüttele verneinend den Kopf, denn im Moment traue ich mir gar nichts zu.

»Aber Kartoffeln können Sie doch kochen, oder?«

»Ja, das kann ich.«

»Na, sehen Sie, mehr kann ich auch nicht.« Damit ist das Eis gebrochen. »Sie bekommen 200 Mark im Monat, Kost und Logis sind natürlich frei. Mittwoch-und Sonnabendnachmittag und jeden Sonntag haben Sie Freizeit. Ach ja, und gegessen wird zusammen im Wohnzimmer. Mit den Kindern haben Sie auch nicht viel Arbeit, denn die sind ja schon groß. Der Älteste ist vierzehn und der Jüngste fünf Jahre alt. Haben Sie Lust, uns zu unterstützen, Hanna?« Und ob ich Lust habe – und auch Resi kann nur noch zustimmend nicken.

Im November 1962 beginnt mein neues Leben als Hausmädchen. Meine Patentante begleitet mich zu meinem Antritt. Ich trage den neuen braunen Koffer, der ja nun dank Onkel Walter nur noch ein funktionierendes Schloss hat, in den voll ausgebauten Keller, denn dort befindet sich mein kleines Zimmer. Noch nie hatte ich ein Zimmer für mich allein, immer musste ich einen Raum mit anderen teilen. Nichts hatte man für sich, nicht mal die persönlichsten Sachen, jeder war in der Lage, darin herumzuwühlen, und meine kleine Schwester wusste bald besser in meinen Habseligkeiten Bescheid als ich selbst.

»Mutti, guck mal, was ich bei Hanna gefunden hab. Zigaretten! Ich glaub, sie raucht heimlich.« Womit die Tochter des Hauses den Nagel auf den Kopf getroffen hat, denn tatsächlich habe ich mir heimlich das Rauchen angewöhnt. Im dunklen Zimmer und immer bei geöffnetem Fenster habe ich so lange gepafft, bis ich richtig inhalieren konnte. Es ist mir jetzt auch egal, dass das kein Geheimnis mehr ist.

Und nun kann man mal sehen, wie tolerant meine neue Familie ist. Obwohl alle von ihnen Nichtraucher sind, beklagt sich nie jemand über den Zigarettenrauch.

Ja, in diesem Haus ist eben alles anders. Hier habe ich mein eigenes, wenn auch kleines, Reich und kann jederzeit die Tür hinter mir zumachen.

Es gibt hier unten noch zwei große Räume mit Fenstern zum Garten, in denen die großen Jungen untergebracht sind, und – was für ein Luxus – dort ist noch ein Badezimmer. Eine Zentralheizung sorgt für eine gleichmäßige Wärme im ganzen Haus. Meine hässlichen Frostbeulen verschwinden Gott sei Dank auf Nimmerwiedersehen.

Noch nie bin ich so zuvorkommend behandelt worden wie hier in dieser Fabrikantenfamilie, noch nie habe ich so viel Lob bekommen für meine Arbeit, und noch nie habe ich mich so wohlgefühlt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so hervorragend kochen und so prima mit Kindern umgehen kann, und dass es dabei auch noch richtig Spaß bringt. Kein Wunder, wenn man jeden Mittag über den Klee gelobt wird. So sind alle Seiten überaus zufrieden.

Nur die Heimwehattacken, die mich ohne Vorwarnung überfallen, machen mir zu schaffen. So sehr ich mir gewünscht habe, meinen Heimatort zu verlassen, so sehr vermisse ich jetzt das Dorf und meine Familie. Vielleicht wäre es nicht ganz so schlimm, wenn ich mal etwas von ihnen hören würde. Ich schreibe fleißig Briefe an meine Mutter und meine Schwester Jutta, aber sie bleiben fast immer unbeantwortet. Ich kann es nicht verstehen, zumal ich ein gutes Verhältnis zu Jutta hatte. Wie sehr muss ich sie verletzt haben, als ich mich entschieden habe, wegzugehen. Es tut mir leid, doch es ist mein Leben, und es war endlich an der Zeit, mich aus der Enge zu befreien und mich weiterzuentwickeln.

Die Zeit als Hausmädchen nutze ich, um mich weiterzubilden. Vielleicht bekomme ich ja doch noch einen Job im Büro. Abends bringe ich mir nach getaner Arbeit auf einer Schreibmaschine das Zehnfingersystem bei. Mit Lara, einer Tochter von Resi, die gerade eine Weltreise beendet hat, lerne ich die englische Sprache. All diese Fähigkeiten machen mich nicht dümmer, führen aber nicht zu einer Büroanstellung. So bleibe ich letztendlich vier Jahre bei Familie Groß, ohne es auch nur einen Tag zu bereuen.

Meine Freizeit genieße ich in vollen Zügen. Selbst wenn ich mich am Anfang dauernd verlaufe und oft genug jemanden fragen muss, weil ich nicht weiterweiß, komme ich bald sehr gut zurecht. Ich staune über die großen Geschäfte am Jungfernstieg und in der Langen Reihe. Das Angebot in der Innenstadt ist grandios. Dennoch lasse ich mich nicht verführen und spare den Großteil des Geldes, das ich verdiene. Mit einem Paar Schuhe, natürlich mit hohen Absätzen, sogenannte Stöckelschuhe, und einer neuen Handtasche wird die Kleidung farblich ergänzt. Mit der Zeit bin ich so modisch auf dem neuesten Stand.

Frau Groß möchte gerne, dass ich jemanden kennenlerne, mit dem ich auch mal ausgehen kann. »Hanna, das geht doch nicht, dass Sie jeden Abend allein in Ihrem Zimmer sitzen. Es wäre doch nett, wenn Sie einen hätten, der mal mit Ihnen ins Kino geht oder Sie auch mal zum Tanzen ausführt.«