Empty Your Mind - Bruce Lee - E-Book

Empty Your Mind E-Book

Bruce Lee

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Beschreibung

Bruce Lee ist vor allem als Kampfkünstler bekannt, doch er war auch ein tiefgründiger Denker. In seinen nun zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlichten privaten Notizbüchern teilt er mit uns seine persönlichen Gedanken zu allen wichtigen Themen aus den Bereichen Psychologie und Philosophie. Besonders spannend ist seine Auffassung von den geistigen Prinzipien, die gute Kampf- und Lebenskünstler*innen ausmachen. Zusammen mit rund 100 Fotos ist Empty Your Mind ein Jubiläumsband zum 50. Todestag des Meisters am 20. Juli 2023, auf den all seine Fans und Praktizierenden der Kampfkünste nicht verzichten können.    Vom Time Magazine wurde Bruce Lee als eine der 100 wichtigsten Persönlichkeiten ausgezeichnet. Seit seinem frühen Tod im Jahr 1973 nur noch an Einfluss gewonnen.  In den 32 Jahren seines kurzen Lebens hat Bruce Lee eine unglaubliche kreative und spirituelle Kraft freigesetzt. Kurz vor seinem Tod schreibt er: "Im Grunde bin ich schon immer ein Kampfkünstler aus Berufung, und ich bin Schauspieler von Beruf. Vor allem jedoch hoffe ich, mich auf meinem Weg als Künstler des Lebens zu verwirklichen." Darunter verstand Bruce Lee eine vollkommene körperliche, geistige und spirituelle Integrität. Bruce Lees Bandbreite ist erstaunlich und reicht von der Psychologie von Angriff und Verteidigung bis zu der Lehre von Yin und Yang und der Einheit aller Dinge; von dem Zustand völliger Gelöstheit und tiefer Konzentration bis zu den philosophischen Ideen eines Laozi, Platon und Descartes. Den von ihm begründeten Kampfkunststil Jeet Kune Do zeigt er hier auf faszinierende Weise als einen persönlichen Befreiungsweg. Kung-Fu ist weit mehr als ein Körpertraining. Es ist ein Weg der Selbsterforschung und der Kunst, die Essenz des Geistes mit dem Ausdruck des Körpers zu verbinden. Empty your Mind ist ein Geschenk für alle Aktiven auf dem Weg der Kampfkunst.

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Bruce Lee

Empty Your Mind

Die universelle Weisheit des Kung Fu

Herausgegeben von John Little

Aus dem Amerikanischen Englisch von Bernhard Kleinschmidt

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Bruce Lee ist vor allem als Kampfkünstler bekannt, doch er war auch ein tiefgründiger Denker. In seinen nun zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlichten privaten Notizbüchern teilt er seine persönlichen Gedanken zu allen wichtigen Themen aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und natürlich zu dem von ihm begründeten Kampfkunststil Jeet Kune Do. Besonders spannend sind seine Gedanken zu den geistigen Prinzipien, die gute Kampf- und Lebenskünstler*innen ausmachen. Zusammen mit rund 100 Fotos ist Empty Your Mind ein Jubiläumsband zum 50. Todestag des Meisters am 20. Juli 2023, auf den all seine Fans und Praktizierende der Kampfkünste nicht verzichten können.

Bruce Lee, der vom TIME Magazine zu einem der »100 größten Männer des Jahrhunderts« ernannt wurde, hat seit seinem frühen Tod im Jahr 1973 nur noch an Einfluss gewonnen. Seine Reflexionen zu östlicher und auch westlicher Philosophie und Lebensauffassung sind inspirierend und immer auf seine eigenen Erfahrungen bezogen: Erfahrungen, die jede und jeder von uns auch machen kann. Die Palette ist erstaunlich und reicht von der Psychologie von Angriff und Verteidigung über die Lehre von Yin und Yang und der Einheit aller Dinge bis hin zu dem Zustand völliger Gelöstheit und tiefer Konzentration sowie zu den Philosophen Laotse, Platon und Descartes.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Einführung

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Teil 6

Teil 7

Teil 8

Dank

Quellen

Für Shannon und Ian …

 

weil Bruce und Brandon ihnen die Freude einer glücklichen Ehe gewünscht hätten, die sich einstellt, wenn zwei Seelen sich mit Geschick zusammenfinden

Vorwort

Der Weg eines Künstlers

Es gibt nicht sehr viele wahrhaft außergewöhnliche Menschen, denen wir im Leben begegnen. Diese wenigen bemerkenswerten Persönlichkeiten haben eine entscheidende Wirkung auf uns, wenn der von ihnen gewählte Lebensweg unseren kreuzt. Findet so eine Begegnung an einem bestimmten Punkt unserer Existenz statt, kann sie unser Schicksal sogar entscheidend prägen.

Ich glaube, dass die meisten von uns nur eine Handvoll Menschen nennen können, die einen solchen Einfluss auf sie hatten. Vielleicht haben unser Vater oder unsere Mutter uns inspiriert, ein*e Lehrer*in oder ein*e Freund*in, ein*e Autor*in oder eine historische Persönlichkeit. Da Sie dieses Buch in Händen halten, überlegen Sie vielleicht, ob Bruce Lee zu den wenigen Personen gehören könnte, die Ihr Leben zutiefst geprägt haben.

Mein eigenes Leben wäre zweifellos ganz anders verlaufen, wäre ich nicht an jenem bedeutsamen Tag im Jahre 1963 Bruce begegnet. Ich bin dankbar für die neun Ehejahre, die ich mit diesem besonderen und besonders begabten Menschen teilen durfte. Es war ein Abenteuer, weil er allen so unglaublich viel Energie vermittelt hat, und es war eine Freude, gemeinsam mit ihm eine Familie zu gründen. Daneben habe ich vieles von Bruce gelernt, was mich auch in den Jahren nach seinem Tod weiterhin geleitet hat.

Wenn ich darüber nachdenke, was Bruce in seinem kurzen Leben alles geleistet hat, drängt sich mir der Gedanke auf, dass die Energie der Seele nie durch das Vergehen des physischen Körpers ausgelöscht wird. Schon als ganz junger Mann hat Bruce oft von einer »geheimnisvollen Kraft« in seinem Innern gesprochen, von der er sich auf seinem Lebensweg hat führen lassen. Es zeugt von einem außergewöhnlichen Talent, dass er in der Lage war, diese geheimnisvolle Gabe, die in ihm brannte, zu erkennen und wertzuschätzen. Er wusste instinktiv, dass sein Leben eine Bestimmung hatte, und während er die Weisheit alter Zeiten durch sich sprechen ließ, richtete er zugleich seinen Willen darauf, seine Visionen zu verwirklichen.

Bruce hat oft gesagt, den Unterschied zwischen den Menschen mache nicht das aus, was im Laufe ihres Lebens geschieht, sondern die Art und Weise, wie sie auf Umstände reagieren, von denen die ganze Kraft eines gut gelebten Lebens auf die Probe gestellt wird. Die Konturen seines eigenen Lebens lassen die Punkte erkennen, an denen er zentrale Entscheidungen zu treffen hatte, und vielleicht auch den Einfluss der geheimnisvollen Kraft, die ihn auf seinem Weg geleitet hat. Es war kein Zufall, dass Bruce sein Studium des Kung-Fu unter Meister Yip Man begonnen hat, der ihm die umfassendere Bedeutung der Kampfkunst über den körperlichen Aspekt hinaus vermittelte. Auch dass Bruce an der University of Washington als Hauptfach Philosophie wählte, war nicht zufällig; es lag an seinem Wunsch, die Kampfkunst mit einem philosophischen Geist zu durchdringen. Und nicht von ungefähr hat sich Bruce bei der Entwicklung seiner schauspielerischen Fähigkeiten gegen ein künstliches Image entschieden, sondern dafür, sein wahres Selbst zu enthüllen und auszudrücken. Außerdem war er zeitlebens ein Autodidakt, der durch intensives Lesen und Schreiben sein Potenzial ständig zu erweitern wusste.

Bruce war ein ausgesprochen gebildeter Mensch, weil er keine Gelegenheit versäumte, durch eine »Tatsache« oder eine »Situation« mehr über sich zu lernen. Als Mann des Wissens war er fähig, seine intellektuellen Erfahrungen nach innen zu wenden und sie zu einem Werkzeug der Selbstkultivierung zu machen. Als Philosoph hat er die spezifischen Prinzipien seiner Kunst auf das größere Unterfangen angewandt, das Leben als »echter« Mensch zu leben.

Eine außergewöhnliche Eigenschaft von Bruce war die Fähigkeit, andere an seinem Lernprozess teilhaben zu lassen, während er ihn verinnerlichte und lebte. Ob als Lehrer, Schauspieler, Autor oder Redner, er konnte seinen persönlichen Weg der Selbstfindung mitteilen. Er hätte es wohl so ausgedrückt, dass er in seiner Kampfkunst und durch das Medium des Films »sich einfach nur selbst zum Ausdruck brachte«. Oberflächlich betrachtet könnte man das als »Charisma« bezeichnen, doch auf einer tieferen Ebene sollte die Fähigkeit, die eigene Seele offenzulegen, als »Kunst« bezeichnet werden. So, wie Michelangelo seinen Meißel an einen Marmorblock gesetzt hat, um seinen David hervorzubringen, so hat Bruce die Schichten seiner inneren Seele abgeschält, um der Welt sein wahres Selbst zu zeigen.

Erkennt man nicht instinktiv, dass es sich um eine unverfälschte Persönlichkeit handelt, wenn man Bruce in einem seiner Filme sieht? Und wäre es dann dieser Prozess des Abschälens, der Bruce von anderen Kampfkünstlern und Schauspielern unterscheidet? Für jene von uns, die ihn persönlich kannten, war Bruce als Schauspieler derselbe Mensch, den wir im wirklichen Leben sahen. Er war in jeder Hinsicht etwas Besonderes, im Film wie im Alltag.

Die Worte in diesem Buch sprechen für sich, sodass es für mich kaum nötig ist, etwas zu erläutern. Daher will ich Sie einfach zu dieser Gelegenheit begrüßen, Bruce besser kennenzulernen, indem Sie sich mit seinen Einsichten vertraut machen. Und vielleicht werden Sie sich dadurch auch selbst besser kennenlernen. Das höchste Ziel, das Bruce auf seiner Reise hatte, war innerer Frieden, der wahre Sinn des Lebens. Weil er den Weg der Selbsterkenntnis gewählt hat, statt Fakten zu sammeln, und weil er sich selbst zum Ausdruck brachte, anstatt Imagepflege zu betreiben, hat er seine Bestimmung mit einem friedvollen Geist erreicht. Diese Überzeugung schenkt mir inneren Frieden. »Es dauert ein Leben lang, sich selbst zu erkennen«, hat Bruce gesagt. Er hat keinen einzigen Moment vergeudet.

 

Linda Lee Cadwell

Odyssee einer alten Seele

von Linda Lee Cadwell

Die alte Seele durchstreifte in alle Richtungen das geistige Universum.

Diese Seele war weise, denn sie hatte im Geist der großen Denker der Welt gelebt.

Die Seele war tief, denn ihr Reichtum an menschlicher Erfahrung konnte einen bodenlosen See füllen.

Die Seele hatte große Kraft, geboren aus dem Wissen zahlloser Leben, in denen sie sich selbst beobachtet hatte.

Im Bereich der Nicht-Zeit gibt es viele neue Seelen; oft brechen sie von dort auf, um in der menschlichen Welt zu leben.

Doch die alte Seele verharrte lange im ätherischen Nichts, da sie auf den Ruf eines besonderen körperlichen Gastgebers wartete.

Da geschah es, dass Herz und Geist eines kleinen Jungen nach der Aufmerksamkeit der alten Seele verlangten.

Nun würde der unsterbliche Gast die Menschheit wieder mit seiner Weisheit und seinem Mitgefühl beschenken.

Ganze zweiunddreißig irdische Jahre brannte die Seele mit einer leidenschaftlichen, geheimnisvollen Kraft.

Sie lieferte Nahrung für die Suche des jungen Mannes nach der Wahrheit und setzte eine unvergleichliche kreative und spirituelle Kraft frei.

Wissen und Weisheit, jene zwei Leitsterne, wurden gut genährt vom irdischen Aufenthalt der alten Seele,

Denn die Seele eines Künstlers weilte einen unmerklichen Moment lang im Lauf der Zeit unter uns.

Nicht umsonst, denn nach der Odyssee dieser alten Seele wurde ein Vermächtnis an Einsichten aufgezeichnet,

Damit es Herz und Geist jener bereichert, die es wagen, in den Spiegel des wahren Lebens zu blicken, und um vielleicht ihre Seele reifen zu lassen.

Einführung

Ein »Künstler des Lebens«

Etwa sechs Monate vor seinem Tod hat Bruce Lee einen zutiefst persönlichen Essay geschrieben. Er trägt den Titel »Mein eigener Weg« (In My Own Process) und enthält Einsichten über den Gang des Lebens. Vom Herzen her zeichnete Lee seine tiefsten Gefühle auf, bevor sie den Filter seines Egos passierten.

Über mehrere Wochen hinweg arbeitete er zwischen den Dreharbeiten für Enter the Dragon(Der Mann mit der Todeskralle) und der Entwicklung zusätzlicher Ideen für Game of Death (Bruce Lee – Mein letzter Kampf) immer wieder an diesem Essay. Er notierte alles, was ihm dazu einfiel, in seinem Büro in den Golden Harvest Studios in Hongkong, in seinem Arbeitszimmer in Kowloon Tong und wenn er im Restaurant saß. Insgesamt erstellte er acht Fassungen, die jeweils etwas mehr von seinen Erfahrungen als Kampfkünstler, als Schauspieler und vor allem als Mensch enthielten.

In der letzten Fassung des Essays, den Lee vermutlich nur für sich geschrieben hat, da er nie veröffentlicht wurde, findet sich eine aufschlussreiche Aussage: »Im Grunde bin ich schon immer ein Kampfkünstler aus Berufung, und ich bin Schauspieler von Beruf. Vor allem jedoch hoffe ich, mich auf meinem Weg als Künstler des Lebens zu verwirklichen.«1 – »Künstler des Lebens« bezieht sich auf den Prozess, sich mithilfe des eigenen, unabhängigen Urteilsvermögens vollständig als ganzer Mensch zu verwirklichen, das heißt körperlich, geistig und spirituell. Außerdem geht es darum, zum Zweck von aufrichtiger Kommunikation die eigene Seele zu entblößen, statt sich im gesellschaftlichen Rollenspiel (der Schaffung eines Selbstbilds) zu verfangen. In diesem Sinne hat Lee einmal im Gespräch mit dem Journalisten Pierre Berton gesagt: »Es ist leicht für mich, eine Schau abzuziehen, großspurig aufzutreten und mir dann ziemlich cool vorzukommen. Ich kann allerhand Dinge vortäuschen und davon geblendet sein und ich kann dir eine echt ausgefallene Bewegung vorführen. Aber mich aufrichtig auszudrücken und mir selbst nichts vorzumachen – das, mein Freund, ist ausgesprochen schwer.«2

Bruce Lee war es wichtig, diese Einstellung in alles einfließen zu lassen – sei es in den Umgang mit Freunden, Familienmitgliedern und Geschäftspartnern, sei es in den kreativen Prozess, die Choreografie, die Regie und den Auftritt in Filmen, sei es in das Verfassen von philosophischen Abhandlungen, psychologischen Beobachtungen, poetischen Gedanken und persönlichen Essays. In einem Interview mit Ted Thomas sagte er einmal: »Mein Leben … scheint mir ein Leben der Selbsterforschung zu sein, bei der ich mein Selbst jeden Tag Stück für Stück abschäle.«3 Am deutlichsten ist das in seinen Schriften erkennbar. Egal, um welches Thema es geht, von der chinesischen Kampfkunstkultur bis hin zu tief empfundenen Gedichten, er präsentiert sich als »echter Mensch«, der seine Seele offenlegt.

Zwar hat Bruce Lee an der University of Washington studiert, sich seine Bildung jedoch hauptsächlich durch unersättliche Lektüre erworben. Da er vor der Zeit von Computern und Fotokopierern lebte, hat er sich Stellen, die er für wahr hielt und als hilfreich empfand, von Hand notiert, oft Wort für Wort. Wenn er sich später wieder mit diesen Notizen beschäftigte, hat ihn das zu eigenen Texten angeregt. Dabei handelt es sich um private Aufzeichnungen, in denen er die Gedanken von gleichgesinnten Männern und Frauen reflektierte. In dieses Buch haben wir eine Reihe solcher Textstellen aufgenommen, so etwa Auszüge aus Büchern von Fritz Perls, dem Mitbegründer der Gestalttherapie. Sie sollen die Einflüsse aufzeigen, die auf Bruce Lee einwirkten, sowie die Einstellungen und Weltanschauungen, mit denen er sich identifizieren konnte.

Die Gedanken, denen Bruce Lee bei seiner Lektüre begegnete, tauchten oft in persönlichen Zusammenhängen wieder auf. Zum Beispiel beschäftigt ihn in seinen Essays über Schauspielerei, was Fritz Perls über Selbstverwirklichung im Gegensatz zur Verwirklichung des Selbstbildes sagt. In einer bestimmten Disziplin eine Wahrheit zu entdecken und diese dann auf eine völlig andere Disziplin anzuwenden war eine besondere Begabung von Bruce Lee – er hat Verbindungen gesehen, die andere nicht sahen. Als er zum Beispiel Schriften von Krishnamurti und Alan Watts über Spiritualität las, sah er direkte Anwendungsmöglichkeiten auf den Bereich der Kampfkunst. In den psychologischen Erkenntnissen von Fritz Perls wiederum erkannte er die Möglichkeit, sie nicht nur zur Behandlung von Neurosen und Depression anzuwenden, sondern auch auf die Arbeit als Schauspieler, um ihr mehr Authentizität und Dynamik zu verleihen.

Obgleich diese privaten Aufzeichnungen nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, sind es bedeutsame Zeugnisse, durch die wir die Entwicklung der Überzeugungen und der Kunst von Bruce Lee im Zusammenhang verfolgen können. Neben diesen Notizen enthält das vorliegende Buch zudem seine persönlichen Essays, Gedichte und philosophischen Bemerkungen zu einem breiten Spektrum von Themen. Gleichwohl war Bruce Lee lange Zeit hauptsächlich für seine körperlichen Fertigkeiten und seine taktischen Prinzipien in der Kunst des unbewaffneten Kampfes bekannt. Wie dieses Buch zeigt, wird ihm eine derart oberflächliche Betrachtungsweise ganz und gar nicht gerecht.

Lee war gleichermaßen Dichter, Philosoph, Wissenschaftler, Schauspieler, Produzent, Regisseur, Autor, Choreograf, Kampfkünstler, Ehemann, Vater und Freund. Er hat das Leben in all seinen staunenswerten Aspekten erforscht und war begeistert von dem, was es ihm an Erfahrungen bescherte. Als Denker, der er immer war, faszinierten ihn Einblicke in spirituelle Wahrheiten, die gewonnen werden konnten, indem man bewusst die Wahrnehmung verlagerte. Das soll nicht heißen, dass es nötig wäre, vor der Lektüre dieses Buchs die Vorstellung von Bruce Lee als Kampfkünstler vollständig abzulegen – »die Tasse zu leeren«, wie es in der Zen-Geschichte heißt –, aber es gilt, in sich Raum dafür zu schaffen, dem ganzen Bruce Lee als »Künstler des Lebens« zu begegnen.

In Zukunft werden alle, die sich auf Bruce Lees Kunst und Philosophie berufen, über sämtliche Aspekte seiner Persönlichkeit so gut Bescheid wissen müssen, wie sie jetzt fähig sind, seine Kampftechniken nachzuahmen und seine Maxime zur Kampfkunst aufzusagen. Sie werden verstehen müssen und vor allem ein Gefühl dafür entwickeln, welche Bedeutung die verschiedenen Fassungen des Essays »Mein eigener Weg« haben. Dasselbe gilt für die tiefere Botschaft in den acht Entwürfen von »Der Weg zur persönlichen Befreiung« (Jeet Kune Do).

Große Kunstschaffende kommunizieren durch Kunst. Wenn wir ein Gemälde betrachten, verstehen wir sofort, was der Künstler oder die Künstlerin beim Malen gefühlt und gedacht hat. Dabei stellt die seither verstrichene Zeit kein Hindernis dar, da das Gefühlte so klar und deutlich ist, als wären wir selbst der Künstler oder die Künstlerin. Auch wenn wir die breiten, farbenprächtigen Pinselstriche betrachten, mit denen Bruce Lee das Bild seines Lebens gemalt hat, können wir intuitiv seine Persönlichkeit, seine Leidenschaft, seine tief empfundene Überzeugung, ja seine Seele erfassen. Wenn Kunst, wie er einmal gesagt hat, »die sichtbar gemachte Musik der Seele« ist,4 dann ist dieses Buch seine Symphonie.

Wenn Sie diese Seiten mit der Einstellung lesen, die Bruce Lee als »stilles, vorurteilsloses Gewahrsein« bezeichnet hat, werden Sie feststellen, dass Sie weniger ein Buch lesen als sich mit einem alten Freund unterhalten. Und auch wenn Bruce Lee nicht mehr physisch unter uns weilt, kann er durch seine Texte weiterhin auf eine Weise kommunizieren, die die Grenzen der menschlichen Sterblichkeit überwindet. Während wir seine Gesellschaft genießen, sollten wir auch seinen Rat beherzigen, selbst zu »Künstlern des Lebens« zu werden. Wir würden unseren Freunden und uns selbst einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir Bruce Lee auf einen Sockel stellen und seine Worte und Überzeugungen einfach übernehmen würden. In seinem Brief an »John« – er findet sich in Teil 8 des Buchs – schreibt er in diesem Sinne:

Du wirst sehen, dass deine Denkweise eindeutig nicht dieselbe ist wie meine. Schließlich ist Kunst ein Mittel, »persönliche« Freiheit zu erlangen. Daher ist dein Weg nicht meiner, so wie meiner nicht deiner ist. Egal, ob wir zusammenkommen werden oder nicht, denk immer dran, dass Kunst da »lebt«, wo absolute Freiheit herrscht.5

Es ist gefährlich, zu nah am Gedankenstrom eines anderen Menschen zu stehen – je schneller die Strömung, desto leichter können wir in ihn hineingeraten und von uns selbst fortgerissen werden. Genießen wir es daher einfach, den Gedanken von Bruce Lee zu folgen, wie sie durch diese Seiten strömen; schauen wir zu, wo sie eine Wendung nehmen und wo sie vor Energie nur so tosen und schäumen. Wenn wir einen Schritt zurücktreten und diese Gedanken von dort aus betrachten, wo wir selbst am Ufer des Lebens stehen, können wir den größeren Zusammenhang erkennen, auf den Bruce Lees Finger verweist. Und an diesem Punkt, wo der Gedankenstrom eines einzelnen Menschen auf das Meer der menschlichen Erkenntnis trifft, werden wir schließlich der »ganzen himmlischen Pracht« inne, von der Bruce Lee uns vor so vielen Jahren erzählt hat. Voller Ehrfurcht erfahren wir dann unmittelbar, was es heißt, vollkommen bewusst, vollkommen menschlich, vollkommen lebendig und vollkommen wir selbst zu sein. Denn wie Bruce Lee klug bemerkt hat, können wir nur, indem wir uns selbst erkennen, überhaupt etwas erkennen.

 

John Little

 

Ich kann euch nichts beibringen, sondern euch nur dabei helfen, euch selbst zu erforschen. Mehr nicht.6

 

Bruce Lee

Teil 1

Kung-Fu

Als Bruce Lee im Alter von achtzehn Jahren aus Hongkong in die Vereinigten Staaten, das Land seiner Geburt, zurückkehrte, brachte er die Vision mit, die damals noch wenig bekannte traditionelle Kunst des chinesischen Kung-Fu in Amerika einzuführen.

Tatsächlich hatte er eine Weile die Idee, in den gesamten USA eine Kette von Kung-Fu-Akademien aufzubauen. Mit zunehmendem Wissen und wachsendem Erfahrungsschatz in der Philosophie und der Kampfkunst sah er jedoch keine Notwendigkeit mehr, die traditionellen Werte zu propagieren, sosehr er sie auch verehrte.

Damit soll nicht gesagt werden, dass Bruce Lee sein chinesisches Erbe und die Philosophie Chinas je aufgegeben hätte. Um sein Glaubenssystem und sein Handeln zu begründen, hat er im Lauf der Zeit lediglich nach den gemeinsamen Wurzeln der Menschheit gesucht, statt sich auf eine Nationalkultur zu beschränken. Als er 1972 über den philosophischen Inhalt seiner Filme selbst zu bestimmen begann, stammten die von ihm zum Ausdruck gebrachten Lehren jedoch interessanterweise aus den östlichen Traditionen.

Die folgenden Texte, die sich ausführlich mit chinesischer Philosophie und Kampfkunst beschäftigen, wurden in den frühen 1960er-Jahren verfasst. Sie sind ein wunderbarer Ausdruck dafür, mit welcher Leidenschaft der junge Bruce Lee sich bemüht hat, dem Westen die Schönheit der chinesischen Kultur zu vermitteln.

1-A

Das Dao des Kung-Fu: Eine Studie über den Weg der chinesischen Kampfkunst

Kung-Fu ist eine besondere Fertigkeit, eher eine Kunst als eine Methode zum Körpertraining oder zur Selbstverteidigung. Für Chinesen ist es die subtile Kunst, die Essenz des Geistes mit der Essenz der Techniken zu verbinden, mit denen der Geist arbeiten muss. Das Prinzip des Kung-Fu ist nicht etwas, das wie eine Wissenschaft erlernt werden kann, indem man Fakten sammelt oder unterrichtet. Es muss spontan wachsen wie eine Blume, in einem Geist, der frei von Wünschen und Emotionen ist. Den Kern dieses Prinzips stellt Dao dar, die Spontaneität des Universums.

Für das Wort Dao gibt es in der englischen Sprache keine genaue Entsprechung. Übersetzt man es mit Weg, mit Prinzip oder mit Gesetz, so ist das eine zu enge Interpretation. Laozi, der Begründer des Daoismus, hat es so beschrieben:

Der Weg, der mit Worten ausgedrückt werden kann, ist nicht der ewige Weg; der Name, der ausgesprochen werden kann, ist nicht der ewige Name. Begreift man ihn als namenlos, so ist er der Ursprung von Himmel und Erde. Begreift man ihn als etwas, das einen Namen hat, so ist er die Mutter aller Dinge. Nur ein Mensch, der ewig frei von Leidenschaft ist, kann seine spirituelle Essenz betrachten. Wer voller Begierden ist, kann nur die äußere Form sehen. Diese beiden Dinge, das Spirituelle (Yin) und das Materielle (Yang) bezeichnen wir zwar mit unterschiedlichen Namen, doch im Ursprung sind sie dasselbe. Diese Gleichheit ist das zentrale Geheimnis. Sie ist das Tor von allem, was subtil und wunderbar ist.7

In einem Buch über die Meisterwerke der Philosophie heißt es: »Das Dao ist der namenlose Anfang der Dinge, das universelle, allem zugrunde liegende Prinzip, der höchste und letzte Ursprung und das Prinzip des Werdens.«8 Huston Smith bezeichnet Dao als Weg der höchsten Realität, der hinter allem Leben stehe, oder als die Art und Weise, wie man sein Leben führen solle, um mit dem Universum im Einklang zu sein.9

Obwohl kein einzelnes Wort die Bedeutung von Dao ausdrücken kann, benutze ich hier den Begriff Wahrheit – die »Wahrheit« hinter Kung-Fu, die »Wahrheit«, der alle, die Kung-Fu praktizieren, folgen sollten.

Das Dao wirkt in Yin und Yang, zwei sich gegenseitig ergänzenden Kräften, die hinter allen Phänomenen stehen und in ihnen am Werk sind. Das Prinzip des Yin-Yang, auch als Taiji bekannt, ist die Grundstruktur von Kung-Fu. Niedergelegt wurde Taiji, das »große Äußerste«, erstmals vor mehr als dreitausend Jahren von Zhou Zhunyi.

Das Prinzip des (weißen) Yang verkörpert das Positive, Härte, Männlichkeit, Substanzialität, Helligkeit, Tag, Wärme und mehr. Das Prinzip des (schwarzen) Yin ist das Gegenteil. Es verkörpert das Negative, Weichheit, Weiblichkeit, Substanzlosigkeit, Dunkelheit, Nacht, Kälte und mehr. Grundlegend im Taiji ist dabei die Aussage, dass nichts so beständig ist, dass es keinem Wandel unterliegen würde. Wenn die Aktivität (Yang) also ihr Extrem erreicht, wird sie zu Inaktivität, und diese bildet Yin. Extreme Inaktivität wiederum kehrt zu Aktivität und damit zu Yang zurück. Aktivität ist also die Ursache von Inaktivität und umgekehrt. Dieses System, bei dem das Prinzip abwechselnd zu- und abnimmt, setzt sich kontinuierlich fort. Daraus ist erkennbar, dass die beiden Kräfte (Yin-Yang) nur scheinbar miteinander in Konflikt sind. In Wahrheit sind sie voneinander abhängig; anstatt eines Gegeneinanders ist es ein Miteinander und eine Wechselwirkung.

Die Anwendung der Prinzipien von Yin-Yang im Kung-Fu wird als Gesetz der Harmonie bezeichnet. Es besagt, dass man in Harmonie mit der gegensätzlichen Kraft sein sollte, statt dagegen zu rebellieren. Das bedeutet, dass man nichts tun sollte, was nicht natürlich und spontan ist; es kommt darauf an, jede übergroße Anstrengung zu vermeiden. Wenn Gegner A Kraft (Yang) gegenüber B anwendet, darf B ihm nicht mit Kraft Widerstand leisten. B setzt dem Positiven (Yang) also nichts Positives (Yang) entgegen, sondern gibt A mit Weichheit (Yin) nach und führt ihn in Richtung seiner eigenen Kraft. Das Negative (Yin) begegnet also dem Positiven (Yang). Wenn die Kraft von A ihr Extrem erreicht, verwandelt sich das Positive (Yang) ins Negative (Yin) und B kann A in diesem ungeschützten Moment überrumpeln und mit Kraft (Yang) angreifen. Dadurch ist der gesamte Vorgang weder unnatürlich noch angestrengt; B passt seine Bewegung harmonisch und kontinuierlich der von A an, ohne sich ihr zu widersetzen oder sich anzustrengen.

Durch diese Vorstellung ergibt sich ein eng damit verwandtes Gesetz, das Gesetz der Nichteinmischung in die Natur. Es lehrt den Kung-Fu-Kämpfer, sich selbst zu vergessen und seinem Gegner (Kraft) zu folgen statt sich selbst; er rückt nicht vor, sondern reagiert auf den entsprechenden Einfluss. Die Grundidee besteht darin, den Gegner zu besiegen, indem man ihm nachgibt und seine Kraft nutzt. Daher bringt der Kung-Fu-Kämpfer sich gegenüber seinem Gegner nie zur Geltung, und er stellt sich nie direkt in die Richtung, in die der Gegner seine Kraft lenkt. Wenn er angegriffen wird, leistet er keinen Widerstand, sondern kontrolliert den Angriff, indem er mit ihm mitgeht. Dieses Gesetz illustriert die Prinzipien der Widerstandslosigkeit und Gewaltlosigkeit, die auf der Vorstellung gründen, dass die Zweige einer Tanne unter dem Gewicht von Schnee brechen, während das schlichte Schilf, das schwächer, aber biegsamer ist, ihm widersteht. Im I Ging erläutert Konfuzius das so: »Im Strom zu stehen ist eine Gegebenheit der Natur; man muss ihm folgen und mit ihm dahinströmen.«10 Im Daodejing, der zentralen Schrift des Daoismus, verweist Laozi uns auf den Wert der Sanftheit. Entgegen landläufiger Meinung wird das Prinzip des Yin als Weichheit und Geschmeidigkeit mit Leben und Überleben assoziiert. Weil wir nachgeben können, können wir überleben. Das Prinzip des Yang, das als strikt und hart gilt, lässt uns unter Druck brechen. Daher beschreiben die letzten zwei Zeilen der folgenden Passage aus dem Daodejing gut die Revolutionen, wie viele Generationen sie erlebt haben.

Im Leben ist der Mensch biegsam und weich,

im Tod ist er unnachgiebig und starr.

Alle Wesen, Gräser und Bäume

sind im Leben weich und zart,

im Tod jedoch trocken und verdorrt.

Wer unnachgiebig und starr ist, der ist des Todes Gefährte,

wer weich und nachgiebig ist, der ist Gefährte des Lebens.

Mit unnachgiebigen Waffen siegt man nicht,

der starrste Baum ist am meisten bereit für die Axt.

Wer stark und mächtig ist, stürzt herab,

wer weich und nachgiebig ist, erhebt sich über alle.11

Die Form der Bewegung im Kung-Fu steht in einem engen Zusammenhang mit der Bewegung des Geistes. Dieser wird darin geschult, die Bewegung des Körpers zu lenken. Der Geist will etwas, der Körper gehorcht. Und da der Geist die körperlichen Bewegungen lenken soll, ist es wichtig, ihn zu beherrschen, was jedoch keine leichte Aufgabe ist. Glenn Clark zählt einige der emotionalen Störfaktoren auf, die im Sport auftreten können:

Jedes widersprüchliche Zentrum, jede einschießende, störende, aus der Mitte reißende Emotion unterbricht den natürlichen Rhythmus und beeinträchtigt die Effizienz auf dem Spielfeld wesentlich stärker als körperliche Probleme und Konflikte. Zu den Emotionen, die den inneren Rhythmus des Menschen zerstören, gehören Hass, Eifersucht, Gier, Neid, Stolz, Eitelkeit, Begehrlichkeit und Furcht.12

Um im Kung-Fu die richtige Technik auszuführen, müssen wir uns nicht nur körperlich lockern, sondern auch mental und spirituell, damit der Geist nicht nur beweglich, sondern frei wird. Um das zu erreichen, muss der Kung-Fu-Kämpfer innerlich ruhig bleiben und das Prinzip des Nicht-Bewusstseins (Wu xin) meistern. Das Nicht-Bewusstsein bedeutet keinen leeren Geist, der alle Emotionen ausschließt, und ebenso wenig handelt es sich schlicht um geistige Ruhe. Die ist zwar von Bedeutung, doch der Hauptaspekt des Nicht-Bewusstseins ist das »Nicht-Greifen« des Geistes. Ein Kung-Fu-Kämpfer nutzt seinen Geist als Spiegel, der nichts ergreift und nichts zurückweist; er empfängt, behält jedoch nicht. In diesem Sinne spricht Alan Watts von einem »Zustand der Ganzheit, in dem sich der Geist frei und leicht bewegt, ohne das Gefühl, dass ein zweiter Geist oder ein Ego mit einem Knüppel über ihm steht«.13

Gemeint ist damit, dass wir den Geist denken lassen sollten, was er will, ohne Einmischung eines davon getrennten Denkers oder Egos in unserem Innern. Solange er denkt, was er will, erfordert es keinerlei Anstrengung, ihn loszulassen, und indem diese Anstrengung verschwindet, tut das auch der davon getrennte Denker. Man muss sich um nichts mehr bemühen, denn alles, was im jeweiligen Moment auftaucht, wird akzeptiert, auch das Nichtakzeptieren. Daher ist das Nicht-Bewusstsein nicht ohne Emotion oder Gefühl, sondern ein Zustand, in dem Gefühle nicht an einem haften oder blockiert werden. Es ist ein Geist, der immun gegen emotionale Einflüsse ist. »Wie dieser Fluss, so fließt alles, ohne stillzustehen.«14 Im Nicht-Bewusstsein wird der gesamte Geist so verwendet, wie wir die Augen verwenden, wenn wir den Blick auf verschiedenen Gegenständen ruhen lassen, ohne uns besonders anzustrengen, etwas in uns aufzunehmen. Zhuangzi, ein Schüler von Laozi, schreibt dazu:

Ein Säugling betrachtet den ganzen Tag lang Dinge, ohne zu blinzeln, weil sein Blick auf keinen bestimmten Gegenstand gerichtet ist. Er bewegt sich, ohne zu wissen, wohin er sich bewegt, und hält inne, ohne zu wissen, was er tut. Er geht in seiner Umgebung auf und bewegt sich mit ihr mit. Das sind die Prinzipien der geistigen Hygiene.15

Daher vermittelt die Konzentration im Kung-Fu nicht das übliche Gefühl, die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Sinnesobjekt zu richten; sie ist einfach ein ruhiges Gewahrsein von allem, was hier und jetzt vorhanden ist. Eine solche Form der Konzentration ist auch bei den Zuschauern eines Footballspiels zu beobachten. Statt die Aufmerksamkeit auf den einzelnen Spieler zu konzentrieren, der gerade den Ball hat, nehmen sie das gesamte Spielfeld wahr. Auf ähnliche Weise ist der Geist eines Kung-Fu-Kämpfers konzentriert, indem er nicht auf einem bestimmten Teil seines Gegners verweilt. Besonders gilt das, wenn er es mit vielen Gegnern zu tun hat. Nehmen wir an, er wird von zehn Personen angegriffen, die nacheinander bereit sind, ihn niederzuschlagen. Sobald er einen Gegner aus dem Weg geschafft hat, geht er zum nächsten über, ohne zuzulassen, dass sein Geist bei einem von ihnen innehält. So schnell auch ein Schlag auf den anderen folgen mag, er lässt keine Zeit dazwischentreten. Dadurch kann jeder der zehn Gegner nacheinander besiegt werden. Möglich ist das allerdings nur, wenn der Geist sich von einem Objekt zum anderen bewegt, ohne von irgendetwas »angehalten« oder gar gefesselt zu werden. Ist der Geist hingegen nicht fähig, sich auf diese Weise weiterzubewegen, wird der Kampf mit Sicherheit irgendwann zwischen zwei Begegnungen verloren werden.

Der Geist ist überall präsent, weil er nirgendwo an einem bestimmten Gegenstand haften bleibt. Und er kann präsent bleiben, selbst wenn er auf diesen oder jenen Gegenstand bezogen ist, weil er sich nicht daran klammert. Der Gedankenstrom ist wie Wasser, das einen Teich füllt und immer bereit ist weiterzufließen. Er kann seine unerschöpfliche Kraft wirken lassen, weil er frei ist, und er kann offen für alles sein, weil er leer ist. Vergleichbar ist das mit dem, was Zhang Zhenji als »gelassene Betrachtung« bezeichnet hat. Er schreibt: »Gelassenheit bedeutet die Ruhe des Nicht-Denkens, und Betrachtung bedeutet ein lebhaftes, klares Gewahrsein. Daher ist die gelassene Betrachtung das klare Gewahrsein von Nicht-Denken.«16

Wie bereits erwähnt, streben wir im Kung-Fu nach Harmonie mit uns selbst und mit unserem Gegner. Diese Harmonie ist nicht durch den Einsatz von Kraft möglich, denn der ruft nur Konflikte und Reaktionen hervor. Harmonie entsteht, indem man der Kraft des Gegners nachgibt. Anders ausgedrückt: Die spontane Entfaltung des Gegners wird gefördert, ohne dass man riskiert, sie durch eigenes Handeln zu behindern. Man verliert sich, indem man alle subjektiven Gefühle und alle Individualität aufgibt, um eins mit dem Gegner zu werden. Im eigenen Geist wirken die Gegensätze dann zusammen, statt sich auszuschließen. Wenn unser individuelles Ego und unser bewusstes Bemühen sich einer Kraft überlassen, die nicht uns selbst gehört, erreichen wir das höchste Handeln, das Nichthandeln (Wu wei).

Wu bedeutet »nicht«, wei bedeutet »handeln«, »tun«, »streben«, »sich anstrengen« und »beschäftigt sein«. Nun bedeutet Wu wei keineswegs Untätigkeit. Vielmehr geht es darum, den Geist sich selbst zu überlassen und darauf zu vertrauen, dass er selbstständig arbeiten kann. Im Kung-Fu bedeutet Wu wei, dass die uns leitende Kraft der Geist ist, nicht die Sinne. Im Sparring lernen wir, uns zu vergessen und der Bewegung des Gegners zu folgen, sodass unser Geist ohne irgendwelche störenden Überlegungen frei für eine Gegenbewegung ist. Wir befreien uns von allen Vorstellungen, wir müssten Widerstand leisten, und nehmen eine geschmeidige Haltung ein. Unsere Bewegungen sind nicht von der Idee bestimmt, uns durchzusetzen; unser Geist bleibt spontan, ohne sich irgendwo festzuhalten. Sobald wir anfangen zu denken, wird unser Bewegungsfluss gestört, wodurch der Gegner uns sofort treffen kann. Daher muss jede Bewegung unabsichtlich geschehen und ohne jede Bemühung sein.

Durch Wu wei sorgen wir für das, was Zhuangzi als »stille Leichtigkeit« bezeichnet hat. Diese passive Errungenschaft befreit uns, wie er sagt, davon, uns anzustrengen und zu bemühen:

Ein nachgebender Wille besitzt eine stille Leichtigkeit, weich wie Flaumfedern. Er ist ruhig, weicht vor dem Handeln zurück, scheint unfähig, etwas zu tun. Friedlich und frei von Angst, handelt man zu einem günstigen Zeitpunkt; man bewegt und dreht sich im Einklang mit der Schöpfung. Man stößt nicht vor, sondern reagiert auf die entsprechenden Einflüsse.

 

Leg nichts über dich selbst fest. Lass die Dinge sein, was sie sind, beweg dich wie Wasser, sei in der Ruhe wie ein Spiegel, antworte wie ein Echo, geh so schnell vorüber wie etwas, das nicht existiert, und sei still wie die Reinheit. Wer gewinnt, der verliert. Geh anderen nicht voran, sondern folge ihnen stets nach.17

Das Naturphänomen, das aus der Perspektive des Kung-Fu am stärksten Wu wei ähnelt, ist das Wasser:

Nichts ist schwächer als Wasser,

doch greift es etwas an, was hart ist

oder widerstrebend, so kann nichts ihm standhalten

und nichts kann seinen Weg verändern.18

Diese Passagen aus dem Daodejing erläutern die Natur des Wassers. Es ist so fein, dass es unmöglich ist, eine Handvoll davon zu ergreifen; schlägt man es, so leidet es keine Schmerzen; sticht man hinein, so wird es nicht verwundet; zerschneidet man es, so wird es nicht durchtrennt. Es hat keine eigene Form, sondern passt sich dem Gefäß an, in dem es sich befindet. Wird es zu Dampf erhitzt, ist es unsichtbar, besitzt jedoch genügend Kraft, selbst die Erde zu spalten. Ist es gefroren, so kristallisiert es zu einem mächtigen Fels. Es kann aufgewühlt sein wie die Niagarafälle und ruhig wie ein stiller Teich, erschreckend wie eine Sturzflut und erfrischend wie eine Quelle an einem heißen Sommertag. Das ist auch das Prinzip des Wu wei:

Die Flüsse und Meere sind Herrscher über hundert Täler. Das liegt daran, dass ihre Kraft in der Demut liegt; sie sind Könige von allem. Wenn daher der vollkommene Meister sie führen will, so folgt er ihnen. Obgleich er über ihnen steht, folgt er. Obgleich er über den Menschen steht, empfinden sie ihn nicht als Erniedrigung. Und da er nicht kämpft, kämpft niemand gegen ihn.19

Die Welt ist voller Menschen, die entschlossen sind, etwas Besonderes zu sein oder Probleme zu verursachen. Sie wollen andere überflügeln und herausragen. Im Kung-Fu haben solche Ambitionen keinen Platz, denn wir lehnen jede Form von Selbstbehauptung und Rivalität ab.

Wer versucht, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, kann nicht still stehen. Wer seine Beine zu stark spreizt, kann nicht gehen. Wer sich zu sehr in den Vordergrund spielt, wird ignoriert. Wer zu sehr auf seinem eigenen Standpunkt beharrt, stellt fest, dass nur wenige mit ihm übereinstimmen. Wer sich zu vieles als Verdienst anrechnet, bekommt nicht einmal das, was er verdient. Wer zu stolz ist, wird bald gedemütigt. Dies alles wird verurteilt als ein Extrem von Gier und selbstzerstörerischem Tun. Daher vermeidet jemand, der sich natürlich verhält, solche Extreme.20

 

Wer weiß, redet nicht;

wer redet, weiß nicht.

Verschließ deine Sinne,

mach das Scharfe stumpf,

lös das Verwirrte,

dämpfe das Licht

und bezähme die Unruhe;

denn dies ist die mystische Einheit,

in welcher der Weise nicht berührt wird

von Zuneigung

oder Abneigung,

von Gewinn oder Verlust,

von Ehre oder Schande.

Daher wird er von aller Welt

am höchsten geschätzt.21

Wer wirklich dem Kung-Fu folgt, ist überhaupt nicht stolz. »Stolz«, schreibt Eric Hoffer, »ist ein Selbstwertgefühl, das sich von etwas ableitet, was kein organischer Teil von uns selbst ist.«22 Wer Stolz empfindet, betont den überlegenen Status der eigenen Person in den Augen von anderen. Das ist mit Angst und Unsicherheit verbunden, denn wenn man hochgeschätzt werden will und diesen Status erreicht, fürchtet man automatisch, ihn zu verlieren. Dann wird es zum größten Bedürfnis, den Status zu beschützen, was Ängste erzeugt. Dazu noch einmal Eric Hoffer: »Je weniger Versprechen und Stärke im Selbst liegt, desto drängender ist das Bedürfnis nach Stolz. Man ist stolz, wenn man sich mit einem imaginären Selbst identifiziert; im Kern von Stolz liegt daher Selbstablehnung.«23

Kung-Fu wiederum dient der Selbstkultivierung, und unser inneres Selbst ist unser wahres Selbst. Um dieses wahre Selbst zu verwirklichen, leben wir als Kung-Fu-Praktizierende, ohne von der Meinung anderer abhängig zu sein. Da wir vollständig selbstgenügsam sind, haben wir keine Angst, von anderen nicht geschätzt zu werden. Wir widmen uns der Aufgabe, uns selbst zu genügen und uns für unsere Zufriedenheit nie von der äußeren Beurteilung durch andere abhängig zu machen. Wenn wir Kung-Fu gemeistert haben, halten wir uns – anders als ein Anfänger – zurück, sind ruhig und bescheiden und haben nicht den geringsten Wunsch, uns zur Schau zu stellen. Unter dem Einfluss des Kung-Fu-Trainings nehmen unsere Fertigkeiten einen spirituellen Charakter an, und während wir selbst durch unser spirituelles Ringen immer mehr Freiheit gewinnen, werden wir verwandelt. Ruhm und Status bedeuten uns dann nichts mehr.

Daher ist Wu wei die Kunst der Kunstlosigkeit, das Prinzip des Nicht-Prinzips. Im Hinblick auf Kung-Fu formuliert, weiß man als echter Anfänger nichts darüber, wie man abblockt und schlägt, und erst recht nichts davon, wie man auf sich selbst achtgibt. Versucht der Gegner einen Schlag, so pariert man ihn »instinktiv«. Zu mehr ist man nicht in der Lage. Sobald man jedoch mit dem Training beginnt, lernt man, wie man sich verteidigt und angreift, worauf man achten muss und viele andere technische Tricks. Das führt dazu, dass der Geist in verschiedenen kritischen Augenblicken gewissermaßen »anhält«. Versucht man nun, den Gegner zu treffen, fühlt man sich deshalb ungewöhnlich behindert, denn man hat das ursprüngliche Gefühl von Unschuld und Freiheit vollständig verloren. Während das Training im Laufe der Monate und Jahre reift, ähneln Körperverhalten und die zum Nicht-Bewusstsein strebende Beherrschung der Technik allmählich wieder dem Geisteszustand, der zu Beginn des Trainings vorhanden war, als man nichts wusste und keinerlei Ahnung von Kampfkunst hatte. Dadurch werden Anfang und Ende zu direkten Nachbarn. Ähnlich verhält es sich mit der Tonleiter. Wenn man bei der niedrigsten Tonhöhe anfängt und allmählich zur höchsten aufsteigt, stellt man fest, dass diese neben der niedrigsten liegt.

Ist beim Studium der daoistischen Lehren im Kung-Fu die höchste Stufe erreicht, stellt sich eine Art Einfältigkeit ein, die nichts vom Dao und dessen Lehren weiß und frei von allem Erlernten ist. Man verliert alle intellektuellen Erwägungen aus dem Blick, und es herrscht ein Zustand von Nicht-Bewusstsein. Ist die höchste Vollkommenheit erreicht, tun der Körper und seine Glieder von selbst, was sie tun sollen, ohne dass der Geist sich einmischt. Die technische Fertigkeit ist so automatisch, dass sie völlig getrennt von irgendwelchen bewussten Anstrengungen ist.

Zwischen der chinesischen und der westlichen Gesundheitsbildung gibt es große Unterschiede. Manche sind offensichtlich: Die chinesische Körperarbeit ist rhythmisch, die westliche ist dynamisch und voller Spannung; das Ziel der chinesischen Übung ist es, harmonisch mit der Natur zu verschmelzen, während es aus westlicher Sicht gilt, sie zu beherrschen; die chinesische Körperarbeit stellt zugleich eine Lebensweise und eine geistige Kultivierung dar, während es im Westen lediglich um Sport oder reine Körperübungen geht.

Der Hauptunterschied besteht wohl darin, dass die chinesische Gesundheitsbildung Yin (Weichheit) darstellt, die westliche Yang (Härte). Man kann den westlichen Geist mit einer Eiche vergleichen, die sich dem starken Wind starr und fest entgegenstellt. Wird der Wind zu stark, bricht der Stamm. Der chinesische Geist hingegen ist wie Bambus, der sich bei starkem Wind beugt. Lässt der Wind nach, richtet sich der Bambus wieder auf und ist stärker als zuvor.

Die westliche Gesundheitsbildung ist eine unnötige Verschwendung von Energie. Die übermäßige Beanspruchung und Entwicklung einzelner Körperpartien im westlichen Sport schadet der Gesundheit. Die chinesische Gesundheitsbildung hingegen betont das Bewahren der Energie; das Prinzip besteht immer darin, sich zu mäßigen, ohne ins Extrem zu verfallen. Jede Art von Übung besteht aus harmonischen Bewegungsabläufen, die darauf abzielen, den Grundtonus des Körpers zu normalisieren, statt zu stimulieren. Den Anfang bildet die geistige Übung, deren einziger Zweck darin besteht, einen friedvollen, ruhigen Geist zu erzeugen. Auf dieser Basis wird die normale Funktion innerer Prozesse wie Atmung und Blutkreislauf gefördert.

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Kung-Fu: Der Kern der asiatischen Kampfkünste

Kung-Fu, der Kern der asiatischen Selbstverteidigungskünste, ist eine philosophische Kunst, die dazu dient, die Gesundheit zu fördern und den Geist zu kultivieren. Außerdem bietet sie ein ausgesprochen wirksames Mittel zum Selbstschutz.

Die Philosophie des Kung-Fu gründet sich auf wesentliche Aspekte von Daoismus und Chan (Zen), darunter das Ideal, mit der Kraft des Gegners zu harmonieren, statt sich ihr entgegenzustellen. Wie ein Metzger sein Messer schont, indem er an den Knochen entlangschneidet, so bewahrt man im Kung-Fu seine Kräfte, indem man die Bewegungen des Gegners ergänzt.

Der Begriff Kung-Fu bedeutet »Disziplin« und »Training« auf die höchste Verwirklichung des jeweiligen Ziels hin, sei es eine bessere Gesundheit, die Kultivierung des Geistes oder der Selbstschutz. Dabei wird keine Unterscheidung zwischen dem Gegner und dem Selbst getroffen, weil der Gegner nur der ergänzende (nicht der entgegengesetzte) Teil ist. Es geht nicht darum, zu bezwingen, zu überwinden oder zu dominieren, sondern darum, die eigene Bewegung harmonisch der des Gegners anzupassen. Dehnt er sich aus, zieht man sich zusammen; zieht er sich zusammen, so dehnt man sich aus. Expansion und Kontraktion greifen ineinander, wobei beides zugleich Ursache und Ergebnis des jeweils anderen ist.