Endge - Tina Loran - E-Book

Endge E-Book

Tina Loran

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Beschreibung

Ein neuartiger, psychologischer Roman mit dem richtigen Mix von Abenteuer- und Detektivcharakteristik. Endge - Der Weg in die Freiheit fordert den Leser heraus, gewisse Weltansichten für möglich zu halten und fördert einen wertschätzenden Umgang zwischen Andersdenkenden. Ella und ihr Sohn Leon werden auf geheimnisvolle Weise zu einer Expedition eingeladen. Doch schon bei der Vorbereitung zu dieser besonderen Reise, die beweisen soll, dass die Erde flach ist, scheint ein Saboteur am Werk. So wird das Training im Eis zur ersten Herausforderung für das gesamte Team. Und die Expedition selber wird ganz anders als alle es sich vorgestellt haben.

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Gewidmet meinem Vater und meinem Sohn und allen den Menschen, die es nicht zulassen, dass ihre Theorien und Glaubenssätze sie von ihren Mitmenschen trennen.

Und meinem Mann, Belle, Heike und Ping, die in den wichtigsten Momenten an mich geglaubt und unterstützt haben, und allen den Menschen, die andere Menschen in schwierigen Situationen uneigennützig unterstützen und helfen.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1 LASS DIE KOMMENTARE KOMMENTARE SEIN

2 ÜBERRASCHUNGEN VOR DEM GEBURTSTAG

3 DAS FORSCHERTEAM

4 LETZTE VORBEREITUNGEN

5 DER FLUG

6 ENDLICH ANGEKOMMEN

7 DIE ERSTE VORSTELLUNGSRUNDE

8 DER TRAURIGE ANRUF

9 DIE ZWEITE VORSTELLUNGSRUNDE

10 DER STRENGE GERUCH UND DER ANRUF

11 DIE BESONDERE VORSTELLUNGSRUNDE

12 DER GESELLIGE ABEND

13 DAS GEFÄHRLICHE VIDEO

14 DAS VIDEO UND SEINE MÖGLICHEN URHEBER

15 EINE SCHWESTER NAMENS SARAH

16 UM HAARESBREITE

17 NATRIUMPICOSULFAT ZUM FRÜHSTÜCK

18 ERSTER BEIM FRÜHSTÜCK

19 DIE SUCHANFRAGE

20 ÜBERWACHUNG

21 DER BEWEIS VOM BEWEIS

22 ENDLICH TRAINING

23 DAS GESPRÄCH UND DER GEHEIMGANG

24 DIE LETZTE VORSTELLUNGSRUNDE

25 AUFKLÄRENDE WORTE UND NEUIGKEITEN

26 DIE ANNÄHERUNG

27 NOCH MEHR TRAINING

28 DIE KALTE NACHT

29 GEFÜHLE FÜR STEVEN

30 DAS EHRLICHE GESPRÄCH

31 VERDIENTE PAUSE

32 EIN MITGEHÖRTES GESPRÄCH

33 DAS KLÄRENDE GESPRÄCH

34 DER NEUE TEAMLEITER

35 EINEN MONAT TRAINING

36 ES GEHT LOS UND ZU ENDE

37 DER NEUE PLAN

38 VERSTECKEN IN DER ANTARKTIS

39 UMDREHEN

40 DER ZAUN

41 DER EINGANG

42 WILLKOMMEN IN ENDGE

43 EINE GESCHICHTE DURCH DIE ZEIT

44 DIE NEUN ERDFLÄCHEN

45 TRAUM ODER REALITÄT?

46 GEDANKEN

47 DER AUFBRUCH

48 DAS NOTRUFSIGNAL

49 WIEDERSEHEN MIT DER ZIVILISATION

50 DAS SICHERE ZIMMER

51 ALLE ERLEBNISSE

52 DAS SCHAUSPIEL

PROLOG

Christian hatte die Familie noch im ersten Lebensjahr von Leon verlassen und meldete sich nur sporadisch zu gewissen Feiertagen oder besonderen Anlässen. Für Ella war das nicht vorhersehbar gewesen, da sie Leon einen liebevollen Vater gewünscht und gedacht hatte, dass Christian genau diese Kriterien erfüllen würde. Im Grunde hatte er auch alle Eigenschaften für diese wundervolle Aufgabe gehabt, aber manchmal schlägt das Leben andere Wege ein.

Christian war ein charmanter, zuvorkommender, junger, großer Mann. Seine langen, blonden Haare und seine blauen Augen verzierten sein etwas unförmiges Gesicht. Das änderte nichts an seiner innerlichen Schönheit. So hatte er auch Ella herumgekriegt.

Sie wollte sich eigentlich auf ihr Studium konzentrieren, aber die netten, regelmäßigen Schmeicheleien und die wiederholten Anfragen zu einem Rendezvous ließen auch nach Monaten nicht nach. Mit der Zeit fand sie Gefallen an ihm und es passierte, was passieren musste. Sie wurden noch während ihres Studiums ein Paar. Und auch wenn sie weiter studierte, so ließ der Eifer zum Studieren nach und die meiste Zeit verblieb bei gemeinsamen Unternehmungen.

Kurz vor Ende ihres Studiums wurde sie schwanger. Ella fing nie einen Job im studierten Bereich an, da sie nirgendwo mit ihrem Babybauch genommen wurde. Sie zogen in eine gemeinsame Wohnung und Christian unterstützte sie, wo immer er konnte und bezahlte für alles, wenn es um sie und das ungeborene Baby ging. Er arbeitete auch nach der Geburt als Yoga- und Meditationslehrer weiter und verdiente damit sehr gutes Geld.

Eines Abends kam er sehr nachdenklich nach Hause. Auf Ellas Nachfragen wich er aus.

Ungefähr eine Woche nach dem besagten Abend setzte sich Christian mit Ella zusammen. „Ich merke, dass ich für dieses Leben noch nicht bereit bin. Ich liebe dich und Leon, aber ich kann mich nicht mehr im Spiegel anschauen. Du musst wissen, dass ich kurz vor der Geburt von Leon ein Angebot bekommen hatte in Tibet in ein Kloster zu gehen und dort für einige Jahre zu lernen. Ich hatte abgelehnt. Ich hätte dich in dieser Situation nicht allein lassen wollen. Das war ein einmaliges Angebot und ich hatte es abgehakt. Mein Freund Julian kam nun letzte Woche zu mir und meinte, dass er in zwei Wochen nach Tibet fliegt und dort auf unbeschränkte Zeit in ein Kloster geht. Den Kontakt hat er durch einen Geschäftspartner seines Vaters, der häufiger in China ist. Ich habe lange überlegt und würde gerne mitgehen. Aber ohne deine Zustimmung werde ich nicht gehen.“

Schweigen.

Dann schüttelte Ella mit dem Kopf und Tränen liefen ihre Wange hinunter. „Sag doch bitte was“, flüsterte Christian.

Ella schwieg weiterhin und schaute auf den Boden. Er versuchte, ihren Blick einzufangen und eine Antwort zu erhaschen. Doch diesen Abend sollte er keine weitere Reaktion mehr erhalten. „Ich werde darüber nachdenken“, meinte sie nur kurz und ging Richtung Schlafzimmer.

„Bitte, geh nicht. Lass uns darüber reden“, rief Christian.

Ella drehte sich um und sagte langsam und ruhig: „Ich werde dir heute keinerlei Antwort geben. Du hast mich so lange Zeit aus deinen Wünschen und Plänen herausgehalten und möchtest, dass ich jetzt zügig nebenbei eine solche Entscheidung treffe? Das werde ich nicht tun. Lass mich jetzt nachdenken.“ Mit diesen Worten verschwand sie im Schlafzimmer.

Den restlichen Abend kümmerte sie sich um Leon und vermied den Kontakt zu Christian. Dieser verließ zwei Stunden später die Wohnung und kam erst am nächsten Morgen wieder.

Es dauerte noch bis zur Mittagszeit, bis Ella das Wort ergriff. Sie standen beide in der Küche und Leon schlief im Wohnzimmer. „Christian, ich möchte nur das Beste für dich und das Beste für Leon. Ich habe mir immer eine Familie gewünscht und einen liebevollen Vater für mein Kind. Das, was du gestern gesagt hast, hat mich sehr getroffen und alle meine Zukunftswünsche zerstört. Doch auch wenn ich dich noch nicht so lange kenne, so kenne ich dich doch. Solch ein Angebot zweimal in so kurzer Zeit zu bekommen, ist, wie zwei Sechser im Lotto, nahezu unmöglich. Also ist es vielleicht genau dein Weg. Allerdings hast du einen Sohn, der gerne einen Vater an seiner Seite hätte. Doch braucht er keinen Vater, der es für sein restliches Leben bereuen würde, dieses Angebot abgelehnt zu haben. Der deswegen ein armseliges Häufchen Elend wird und die Schuld dabei bei seiner Familie sucht. Ich werde dir diese Entscheidung nicht abnehmen. Ich lasse dich frei und sage dir, dass ich deine Entscheidung, egal, wie du sie triffst, mittragen und nicht nachtragend sein werde.“

„Ich soll also da bleiben?“

„Das habe ich auf keinen Fall gesagt. Das ist keine einfache Ja-Nein-Frage. Es bezieht auch deinen Sohn mit ein. Was soll ich dazu sagen? Du willst es eindeutig hören, wie: ‚Ich will, dass du hier bleibst.‘ Diese Antwort wirst du nicht von mir hören. Ich will, dass du glücklich bist. Ich will aber auch, dass Leon glücklich ist. Und ich kann nicht gerade behaupten, dass ich glücklich bin, wenn du nach Tibet gehst. Du solltest die Verantwortung für diese Entscheidung selbst tragen. Und ich sage es gerne noch einmal: Ich werde deine Entscheidung mittragen und nicht nachtragend sein. Du musst aber auch wissen, dass du nicht nach drei Jahren zurückkommen kannst und denkst, dass du mit Leon da weitermachen kannst, wo du aufgehört hast. Er wird sich weiter entwickelt haben und sich nicht an dich erinnern. Du wirst ihm fremd sein. Ich werde ihm eine gute Mama sein und das mit dir oder ohne dich.“

Mit dieser Antwort hatte Christian nicht gerechnet. Er war überfordert. „Danke. Ich muss überlegen.“

„Ja, tue das. Und bitte lass dir Zeit mit deinen Überlegungen und entscheide weise.“

Leon war im Wohnzimmer aus seinem Mittagsschlaf aufgewacht und hatte angefangen zu schreien. Ella ging hin und nahm ihn auf den Arm. Christian verließ wieder die Wohnung: „Ich gehe spazieren und komme heute Abend wieder. Wenn du mich brauchst, dann rufe mich auf mein Handy an.“ Ella nickte.

Am Ende entschied sich Christian für Tibet. Ella hatte sich schon seelisch darauf vorbereitet, denn sie hatte gespürt, dass es für Christian essenziell gewesen war, diese Gelegenheit zu nutzen. Sie war allerdings überrascht von den Vorbereitungen, die Christian traf. Er überschrieb die Wohnung an Ella. Sein Erspartes, außer die Kosten, die für den Flug und die Reise anfallen würden, überwies er auf Ellas Konto. Auch unterschrieb er beim Notar eine Zustimmung, dass Ella alle Entscheidungen bezüglich Leon allein treffen könne. Er dachte wirklich an alles.

Und dann war er weg.

1 LASS DIE KOMMENTARE KOMMENTARE SEIN

Ella saß an ihrem Computer und prüfte ihre E-Mails. Es war ein langer Tag, voll mit Arbeit und Erledigungen gewesen. In der Früh hatte sie rechtzeitig ihren Sohn geweckt, damit er fertig angezogen und schon gefrühstückt von seiner Oma abgeholt werden konnte. Leon ging nicht in die Schule, sondern er lernte von zu Hause aus. Er war von Geburt an ein sanfter, eigensinniger und wissbegieriger Junge gewesen. Es stellte sich schnell heraus, dass es für ihn förderlicher wäre, nicht in den Kindergarten und später nicht in die Schule zu gehen.

Sie schaute durch ihre abonnierten YouTube-Kanäle. Zwar hatte sie selbst keinen Kanal, aber sie schrieb gerne fundierte Kommentare zu gewissen Themen, mit denen sie sich beschäftigte. Vor einiger Zeit informierte sie sich über die Art und Weise der Hundeerziehung. Es gab Trainer, die an Alphahunde glauben und körperliche Strafen in Kauf nehmen, um den Hund zu erziehen und es gab Trainer, die meinen, einen Hund ausschließlich mit positiven Rückmeldungen erziehen zu können. Ella versuchte beide Seiten zu verstehen und sah sich verschiedenste Videos dazu an und kommentierte dementsprechend ausführlich. Sie wohnte selber mit einem Hund zusammen, mit dem sie viel über Hundeerziehung gelernt hatte. Bei den Kommentaren gab sie sich Mühe, keine minderwertige Kritik zu äußern, sondern wirklich offen für beide Seiten zu sein. Sie erhielt dafür nicht immer Verständnis und bekam für ihre Art und Weise auch Kritik. Doch meistens konnten ihre Kommentare die Spaltung beider Gruppen verkleinern und eine Wertschätzung untereinander entstehen lassen. Sie hatte sich auch schon mit Elektroautos und Benzin- und Dieselautos auseinandergesetzt und mit Religionen, Ernährungsweisen und mit Verschwörungstheorien. Ihr derzeitiges Thema waren die Flacherdler. Eine Theorie, bei der Menschen glauben, dass die Erde flach sei. Für Ella war diese Theorie sehr abwegig gewesen. Doch genau deswegen wollte sie die Argumente dieser Menschen kennenlernen. Es fiel ihr rasch auf, dass der Umgang zwischen Flacherdlern und Kugelerdlern extrem abwertend war. Beide Seiten bezeichneten einander als dumm und ignorant. Als Ella begann ihre Kommentare zu schreiben, wurde sie von beiden Seiten beschimpft und kritisiert. Sie war vorher noch nie auf so viel Emotionalität und Antipathie getroffen. Das war neu für sie. Bei allen anderen Themen, die sie schon vorher betrachtet hatte, gab es auch unschöne Antworten und Kritiken. Aber dieses Level an Hasskommentaren und Reaktionen kannte sie nicht. Auch an diesem Tag hatte sie wieder viele solcher negativen Kommentare bekommen. Allerdings gab es glücklicherweise viel mehr positive Reaktionen, wie: „Es ist immer wieder wunderbar, deine Worte zu lesen. Du versuchst wirklich eine gewisse Objektivität zu behalten. Deine Fragen sind interessant und lassen bestimmt beide Seiten über ihre Theorien nachdenken.“ Auch wenn Ella nicht schrieb, um Aufmerksamkeit und Lob zu erhalten, sondern um sich selber darüber im Klaren zu werden, welche Theorie mehr Sinn ergibt und Logik hat, so las sie doch gerne die Kommentare auf ihre Kommentare. Bei den Flach- und Kugelerdlern kam sie jedoch nach längerer Zeit zu der Erkenntnis, dass es eine Frage des Glaubens war, für welche der beiden Theorien sich jemand entscheidet. Beide Seiten hatten ihre Argumente. Ihr Fazit schrieb sie an diesem anstrengenden Abend auf: „Nach mehrmonatigem Suchen, Erforschen, Verstehen und Diskutieren kann ich mich auf keine Seite dieser beiden Theorien stellen. Für mich besitzen beide Theorien Stärken und Schwächen. Solange ich nicht selber das Ende der flachen Erde oder den Globus aus der Luft gesehen habe, ist es für mich nur Glaube und kein Wissen. Beides wird schwer zu verwirklichen sein. Somit bleibt es für mich Glaube. Danke für jeden, der mich bei dieser Reise kommentiert hat und mich versucht hat zu überzeugen oder mir einen Einblick in sein Wissen gegeben hat.“

Es klopfte an der Haustür. Das war sicher Leon mit seiner Großmutter. Ella stand auf und öffnete die Tür. Sie bekam eine freudige Umarmung von Leon. Oma Birgit kam hinter ihm hinein und hatte zwei volle Taschen dabei. „Ich habe noch Lasagne für uns gemacht, da du sicher nicht dazu gekommen bist, Abendessen zu kochen. In der anderen Tüte sind einige Früchte und Gemüse vom Wochenmarkt. Ich hatte heute früh gesehen, dass du kaum noch was Frisches hast.“

„Danke dir, Mama. Du bist die Beste. Du hast Recht. Ich habe nur noch eine Banane und zwei Zucchini.“

Beide schauten sich kurz dankbar an. Leon verschwand in seinem Zimmer. Ella und Oma Birgit bereiteten zusammen den Tisch für das Abendessen vor. Währenddessen fragte Oma Birgit: „Was hast du zu Leons Geburtstag vor? Soll ich den Geburtstagskuchen übernehmen? Oder soll ich die Deko machen?“

„Ich habe mir diesmal sogar einen Tag vor und nach seinem Geburtstag freigenommen und wollte diesmal den Kuchen selbst machen. Vielleicht kannst du dir noch ein paar Gedanken zur Deko machen. Luftballons und Papierschlangen habe ich schon. Am Nachmittag kommen seine Freunde und ich bereite eine Schnitzeljagd vor. Könntest du den Schatz vorbereiten? Eine alte Holzkiste und für insgesamt fünf Kinder Schätze?“

„Das klingt toll mit der Schnitzeljagd. Ich habe da eine richtig alte Holzkiste. Die ist dafür super geeignet. Und dann gehe ich morgen in den Trödelladen und kaufe Schätze.“

„Was für Schätze?“, rief Leon aus seinem Zimmer.

Beide Frauen legten ihren Zeigefinger auf den Mund. „Gar nichts“, meinte Ella. „Das Essen ist fertig. Du kannst kommen, wenn du Hunger hast.“

Kurze Zeit später saßen die drei am Tisch und aßen die Lasagne. „Über was für einen Schatz habt ihr gesprochen?“, fragte Leon noch mal.

„Das kann ich dir nicht sagen. Das ist eine Überraschung“, antwortete Ella und streichelte ihrem Sohn sanft über den Kopf.

Als alle satt waren und Ella allen noch ein Eis anbot, lehnte Oma Birgit ab. „Ich muss nach Hause. Es ist spät geworden.“

Sie packte ihre Sachen und verabschiedete sich.

Ella und Leon machten es sich noch mit ihrem Eis auf der Couch gemütlich. „Mama?“

„Ja?“

„Muss ich häufiger so lange zur Oma? Ich finde es doof, wenn du so wenig Zeit für mich hast wie heute.“

„Nein, das war eine Ausnahme. Ich habe etwas vorgearbeitet und Überstunden gemacht und dann musste ich noch zum Gemeindeamt und zur Zulassungsstelle. Das kommt so schnell nicht wieder vor.“

„Dann ist gut. Ich mag Oma, aber sie ist nicht du.“

Dann umarmte er seine Mutter.

Kurz darauf fragte er: „Meinst du, dass Papa zu meinem Geburtstag kommt? Er hatte doch beim letzten Anruf gesagt, dass er versucht an meinem 10. Geburtstag zu kommen.“

„Das weiß ich nicht. Er meinte nur, dass er es versuche. Ich denke, dass er wirklich sehr gerne kommen würde, aber manchmal stehen einige Hürden im Weg.“

„Bin ich es ihm nicht wert?“

„Nein, du bist es absolut wert. Wir wissen nicht, wo er gerade ist und was er macht. Wir können es nicht beurteilen, wie schwer es für ihn sein muss, hierherzukommen. Du wirst ihn sicher in naher Zukunft kennenlernen. Und vielleicht wird er wieder ein Teil deines Lebens.“

„Mama, ich habe das Gefühl, dass das nicht passieren wird. Er wird kommen, aber nicht bleiben. Außerdem kenne ich ihn schon. Ich muss ihn nicht mehr kennenlernen.“

Diese Aussage verwirrte Ella etwas. Aber sie dachte, dass Leon meinte, dass er seinen Papa noch aus Babyzeiten kennen würde. Dass Leon das nicht dachte, davon konnte Ella nichts wissen.

Der restliche Abend war ruhig und sie sprachen über den anstehenden Geburtstag und die Vorbereitungen. Dass Ella sich drei Tage freigenommen hatte, verriet sie nicht und auch die Schnitzeljagd behielt sie für sich. Pünktlich gegen 10 Uhr abends meldete sich Ellas Hund zur Gassirunde. Die Hündin war schon 15 Jahre alt und begnügte sich mit wenigen, kleinen Pippirunden. Ella nahm die Leine und zog sich eine leichte Jacke über und ging mit der Hündin kurz hinaus. Danach gingen sie ins Bett.

2 ÜBERRASCHUNGEN VOR DEM GEBURTSTAG

Ella und Leon wachten zwischen acht und neun Uhr auf und frühstückten gemeinsam in der Küche. Leon aß Haferflocken mit Mandelmilch, Rosinen und Apfel. Ella trank ihren Tee und machte sich aus zwei Eiern Rührei.

Als sie noch beim Essen waren, klopfte es an der Tür. Die Oma konnte es nicht sein, da Ella erst vor zehn Minuten mit ihr gesprochen und sie sich in dem Moment in einem Geschäft der nahegelegenen Stadt befunden hatte. Für die Post war es zu früh und die meisten ihrer Freunde arbeiteten zu dieser Zeit.

Sie ging also zur Tür und schaute durch das Schlüsselloch. Dabei fragte sie: „Wer ist denn da?“ Die Antwort überraschte sie so sehr, dass sie im ersten Moment vergaß zu reagieren.

„Ich bin es, Christian. Kannst du mir aufmachen?“ Es vergingen einige Sekunden. „Hallo? Ist jemand da?“

Ella erwachte aus ihrer Überraschungsstarre. „Ja, klar. Ich mache dir auf. Warte kurz.“

Sie nahm den Schlüsselbund vom Schlüsselbrett und sperrte die Tür auf. Leon kam aus der Küche angerannt, da er auch wissen wollte, wer so früh vorbeischaute.

Da standen sie nun alle drei im Flur, überrascht, unsicher und zögernd. Bis Ella den ersten Schritt wagte: „Leon, das ist dein Papa. Christian, das ist dein Sohn Leon.“

Kurz stand Leon wie angewurzelt da, als er sich dann entschied auf seinen Vater zuzulaufen und ihn zu umarmen. Christian hatte nicht mit einer solchen, freudigen Reaktion gerechnet. Doch er genoss die Umarmung sehr und legte seine Arme sanft um seinen Sohn. Ella bekam Tränen in den Augen, als sie Leon so sah und wahrnahm, dass auch Christian diese Umarmung sehr guttat.

Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich Leon zu seiner Mama um und sagte: „Ich wusste, dass er kommt. Habe ich es nicht gesagt?“

„Ja, das hast du, Leon. Du hast es wohl gespürt.“ An Christian gerichtet, meinte sie: „Komm rein. Und schließ die Tür hinter dir. Möchtest du etwas trinken?“

„Hast du Wasser oder einen Tee?“

„Ja, ich mache dir einen Tee. Ihr könnt hier im Wohnzimmer bleiben. Ich bringe auch noch etwas zum Essen. Wir waren gerade beim Frühstücken.“

„Danke, Ella.“

Ella verließ das Wohnzimmer und bereitete die Getränke und das Essen in der Küche vor. In dieser Zeit unterhielten sich Vater und Sohn miteinander. „Warum kommst du erst jetzt?“

„Ich bin doch rechtzeitig zu deinem 10. Geburtstag hier.“

„Das meine ich nicht, Papa. Wo warst du die ganzen anderen Jahre? Und ich möchte einfach die Wahrheit wissen. Du musst mir nicht vorschwindeln, dass du es immer wieder versucht hast, aber dir dann lebensbedrohliche Umstände dazwischengekommen sind. Ich bin froh, dass du es heute geschafft hast, herzukommen.“

„Du bist deiner Mama sehr ähnlich. Sie hat dich gut erzogen.“

„Sie hat mich nicht erzogen. Sie hat mich so sein lassen, wie ich bin und hat mir geholfen, meine guten Seiten weiterzuentwickeln und meine schlechten Seiten zu akzeptieren und lieben zu lernen. Und so kann ich auch die schlechten Seiten bei anderen akzeptieren. Also, wie ist deine Antwort?“

Christian war sehr erstaunt über eine solche erwachsene und aufbauende Antwort. Er hatte sich lange Zeit auf diese Frage vorbereitet und hatte sich wirklich Ausreden zurechtgelegt. Alle diese Sätze wurden hinfällig und er antwortete direkt aus seinem Herzen. „Leon, ich liebe dich wirklich. Da darfst du keinen Zweifel haben. Doch es zog mich so sehr in die Ferne und ich sehnte mich nach gewissen Erfahrungen, ohne die ich heute nicht derjenige wäre, der ich bin. Ich habe jeden Tag mal mehr und mal weniger an dich gedacht. Ich hatte keine Sehnsucht danach in deiner Nähe zu sein, weil ich wusste, dass es dir mit deiner Mama hervorragend gehen würde und ich dir kein guter Vater vor Ort sein könnte, auch wenn ich gewollt hätte. Seit einem Jahr stieg diese Sehnsucht, dich zu sehen und deine Fragen zu beantworten und dich in meinen Armen zu halten. Deswegen habe ich angefangen, alles zu organisieren, um heute hier zu sein.“

Leon nickte. „War es im Nachhinein die richtige Entscheidung für dich?“

Christian schaute Leon in die Augen. „Ja, das war es. Da bin ich mir ganz sicher. Genauso wie die Entscheidung heute hier zu sein.“

„Hast du dir manchmal gewünscht, dass Mama nicht schwanger geworden wäre?“

„Das habe ich nie. Ich hörte deinen Herzschlag und sah dein Strampeln, als du noch im Bauch warst. Und die sieben Monate nach deiner Geburt war ich immer wieder stolz, dein Vater zu sein. Ich ging nicht, weil ich mich gegen dich entschieden habe, sondern weil ich diesen anderen Weg gehen musste, um der Vater zu sein, den du brauchst.“

„Ich denke, dass du sehr hohe Anforderungen an dich hast. Aber es ist sicherlich so, dass du den Weg gehen musstest, um dein Glück zu finden. Wäre das aber nicht auch mit uns möglich gewesen?“

„Zuerst war ich im Kloster und dort waren keine Frauen und Babys erlaubt und ich hätte euch nicht besuchen dürfen.“

„Aber du warst doch nicht zehn Jahre im Kloster?“

„Ich war fünf Jahre im Kloster und besuchte dann noch andere abgelegene Gegenden. Vor zwei Monaten war ich noch im einsamen Osten von Russland. Dort gibt es nicht mal mehr normale Straßen und nur vereinzelt Ansiedlungen von Menschen.“

Nun kam Ella wieder ins Wohnzimmer und stellte die Getränke und das Essen auf den Tisch. Ayamé, der ältere Hund von Ella, machte sich bemerkbar und Leon reagierte prompt. „Ich gehe kurz mit ihr nach draußen.“

Er stand auf und schnappte sich die Leine. Ayamé kam sofort. „Bis gleich.“

„Bis gleich, Leon. Danke dir.“

Die Tür schlug sanft zu und Ella und Christian waren allein in der Wohnung. „Danke, dass du mich reingelassen hast, Ella.“

„Es ist zwar eine lange Zeit vergangen, aber ich stehe zu meinem Wort. Ich bin froh, dass du zu Leons Geburtstag kommen konntest. Er ist wirklich sehr neugierig darauf, wie und wer du bist und er hat viele Fragen. Bleibst du länger?“

„Ich weiß es noch nicht.“

„Hast du eine Bleibe oder möchtest du hier übernachten?“

„Ich hatte vor, mir etwas zu suchen, wenn ihr es nicht möchtet, dass ich hier bleibe.“

„Für mich ist es ok. Die Couch hier ist eine Schlafcouch und Bettzeug habe ich auch. Wir fragen aber noch, was Leon lieber mag.“

„Na klar.“

Als Leon zurückkam, hatte er nichts dagegen, dass sein Vater bei ihnen übernachten würde.

„Hattet ihr heute etwas Bestimmtes vor, von dem ich euch abhalte? Oder könnte ich etwas Zeit mit Leon verbringen? Oder euch begleiten?“

„Wir wollten heute alles für meinen Geburtstag einkaufen. Da kannst du sicherlich mitkommen, oder Mama?“ Ella nickte.

„Natürlich kann er mitkommen. Wir können jemanden gebrauchen, der uns hilft, die Taschen zu tragen.“

Sie verbrachten einen schönen Tag zusammen und lachten viel. Ella hatte immer gedacht, dass sie schon seit langer Zeit über Christian hinweg sei, doch sie merkte, dass sie sich immer noch zu ihm hingezogen fühlte. Und wenn sie ihn gemeinsam mit Leon über die Wiese rennen sah, dann fühlte sie diesen Wunsch nach einer Familie wieder aufkommen. Doch seine Antwort, dass er nicht weiß, wie lange er bleibt, schreckte sie ab, ihren versteckten Gefühlen weiter nachzugehen. Trotzdem fühlte sie sich gelegentlich ertappt, wenn sie Christian beobachtete und er ihren Blick liebevoll mit einem Lächeln erwiderte. Es fühlte sich immer wieder so an, als wären sie nie getrennt gewesen.

Am Abend waren alle müde und Leon ging sehr früh schlafen. Ella musste allerdings noch einige Stunden arbeiten und setzte sich an ihren Rechner. Als sie nach drei Stunden fertig war, schaute sie gewohnheitsmäßig auf YouTube und bei den Kommentaren vorbei. Es gab viele Antworten auf ihren letzten Kommentar. Auf ihrer E-Mail-Adresse erblickte sie allerdings eine ungewöhnliche Nachricht. Sie hatte folgenden Wortlaut: „Hallo Ella, wir haben aufmerksam deine Kommentare auf YouTube verfolgt und denken, dass du genau die richtige Person wärst, um unser Team zu komplettieren. Wir können dir leider nicht über diesen Weg schreiben, worum es geht. Aber vielleicht wäre es möglich, mit dir zu reden. Morgen kommt mit dem Express-Versand ein Paket für dich an. Darin ist ein Handy. Wir werden dich darauf anrufen und dir alles erklären. Viele herzliche Grüße, Das Forscherteam“

Ella las die E-Mail mehrere Male und hielt sie für ziemlich merkwürdig. Doch sie dachte sich nicht viel dabei und tat es eher als Scherz ab. Als sie noch die anderen Mails prüfen wollte, spürte sie plötzlich die Hände von Christian auf ihren Schultern. „Musst du noch lange arbeiten?“

„Ich bin schon fertig und wollte jetzt ins Bett gehen.“ Mit diesen Worten wand sie sich unter den Händen von Christian heraus, auch wenn sie die kurze Berührung sehr genossen hatte. Sie stand auf und ging in Richtung Badezimmer. Er ergriff zärtlich ihre Hand. „Es war ein schöner Tag mit euch.“

„Ja, das war es. Aber ich möchte nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Ich muss mein Herz schützen.“ Mit diesen Worten wandte sie sich aus seinem Handgriff und verschwand im Badezimmer.

Als sie später ins Bett ging, hatte sich Christian schon schlafen gelegt.

In der Nacht konnte Ella nicht schlafen. Die E-Mail beschäftigte sie, weil sie so bestimmt und geheimnisvoll gewesen war. Also stand sie auf und ging aufs Klo. Sie wollte sich danach noch ein Glas Wasser aus der Küche holen und erschrak, als sie einen Schatten vor dem Kühlschrank sah. „Ich bin es nur“, hörte sie die Stimme von Christian. „Ich konnte nicht schlafen und wollte mir was zu trinken holen. Ich wollte dich nicht erschrecken“, meinte er.

„Ich konnte auch nicht schlafen.“ Sie ging sanft an ihm vorbei zum Kühlschrank und holte sich das gekühlte Wasser heraus. Dabei berührte sie aus Versehen seinen Arm. Ihre Blicke trafen sich. Er bewegte sich in dem Moment näher zu ihr, sodass sie voreinander standen. Ella bekam Wohlfühlgänsehaut und war diesmal zu schwach, um zurückzuweichen. Sie machte den nächsten Schritt und ergriff vorsichtig seine Hand. Dann war es um beide geschehen. Ihre Lippen berührten sich auf sinnlichste Art und Weise. Alle vorherigen Gedanken waren verflogen und nur der Augenblick zählte. Sie verschwanden gemeinsam im Schlafzimmer und genossen den Moment im Miteinander.

3 DAS FORSCHERTEAM

Am nächsten Morgen stand Christian sehr früh auf und bereitete das Frühstück vor. Die Hundedame Ayamé schaute ihn mit treuen Blicken an und er verstand. Er nahm die Leine und sie machten zusammen eine kleine Gassirunde.

Als sie zurückkamen, war Leon schon wach. „Ich dachte, du bist nicht mehr da.“

„Ich bin nur mit Ayamé spazieren gegangen und habe für euch Frühstück gemacht. So schnell wollte ich nun auch nicht wieder weg.“

„Woher soll ich das wissen? Bis jetzt hast du noch nicht gesagt, wie lange du bleibst“, entgegnete Leon.

„Du hast Recht. Ich habe mich nicht festlegen wollen. Aber es ist eigentlich nicht fair, dir und deiner Mama gegenüber. Ich bleibe ganz sicher bis zu deinem Geburtstag. Wäre das erstmal so für dich in Ordnung?“

„Ja.“

Sie gingen dann gemeinsam in die Küche und begannen zu frühstücken. Leon stellte weiterhin viele Fragen an seinen Vater.

Nach einiger Zeit gesellte sich auch Ella dazu, die nicht ganz wusste, wie sie sich Christian gegenüber verhalten sollte. So sagte sie nur: „Guten Morgen, ihr zwei“, und setzte sich auf ihren Stuhl.

Doch sie kam erst gar nicht zum Essen, denn da klingelte es schon an der Tür. Leon schaute fragend seine Mama an. „Ich gehe hin“, meinte sie. „Ihr könnt sitzen bleiben.“ Sie ging zur Eingangstür. „Guten Morgen. Wer ist da?“

„Ich habe ein Paket für Ella Kova?“

„Ein Paket?“

„Ja, ein Express-Paket. Ich darf es nur Ella Kova persönlich geben.“

Ella machte die Tür auf und fand einen jungen Mann vor, ganz leger gekleidet, ohne erkennbares Firmenlogo, mit einem kleinen Paket in der Hand. „Sind sie Ella Kova?“

„Ja, das bin ich. Ich habe aber nichts bestellt.“

„Das ist auch keine Bestellung. Es ist wohl eher eine Art Geschenk. Hier bräuchte ich eine Unterschrift von Ihnen“ Er holte einen Zettel und einen Stift aus seiner Tasche hervor.

„Ich möchte hineinschauen, während sie noch da sind, falls es etwas ist, was ich nicht will.“ Sie machte das Paket auf und fand ein simples Handy. Es sah eher aus wie aus den letzten Jahrzehnten, als es noch keine Smartphones gab. „Ich nehme es. Danke.“ Sie unterschrieb auf dem Zettel und verabschiedete sich.

Sie war sehr gespannt, ob der versprochene Anruf kommen würde. Sie nahm das Handy aus dem Paket und bemerkte, dass es schon an war.

Nun kamen auch Leon und Christian aus der Küche. „Wer war es?“, fragte Leon.

„Die Post. Es ist ein Handy.“

„Lass mal sehen“, meinte Leon neugierig. Aber als er bemerkte, dass es ein altes Handy ohne Zusatzfunktionen und kleinem Bildschirm war, ließ das Interesse schnell nach.

Es klingelte. Alle starrten auf das Handy. Ella nahm es in die Hand und drückte auf das „Anruf annehmen“-Symbol.

„Hallo Ella. Bist du allein?“

„Nein, wieso?“

„Das, was wir mit dir besprechen wollen, ist für keine weiteren Ohren bestimmt.“

„Vor meinem Sohn habe ich keine Geheimnisse. Er wird es also so oder so erfahren, was wir jetzt besprechen.“ Als sie noch diese Worte sagte, schaute Christian sie verständnisvoll an und verschwand mit Leon wieder in der Küche.

„Okay. Jetzt bin ich allein.“

„Sind noch Handys oder andere smarte Geräte in unmittelbarer Umgebung?“ Sie dachte kurz nach, musste das aber verneinen. Ihr Smartphone war in der Küche und Laptop und Computer waren im Arbeitszimmer. „Gut. Dann werden wir dir gleich einiges erzählen und du versuchst bitte nichts zu sagen. Am Schluss werden wir dir Fragen stellen. Du notierst dir bitte auf einem Zettel die Nummer der Frage und deine Antwort. Auf keinen Fall den gesamten Wortlaut der Frage. Diese Antworten schickst du uns dann per Mail. Hast du das alles verstanden?“

„Ja.“

„Also, wir sind ein kleines Expeditionsteam, welches sich im letzten halben Jahr gefunden hat. Wir rekrutieren ein Team von 16 Leuten. Zurzeit sind wir 15. Den letzten Monat haben wir darüber diskutiert, wen wir als Letztes im Team haben wollen. Nun sind wir auf dich gekommen und würden dich gerne dabeihaben. Wir wollen in die Antarktis reisen und uns persönlich davon überzeugen, ob die Erde eine Kugel oder flach ist. Wir sind als Kernteam überzeugte Flacherdler. Wir werden von einer Familie unterstützt, die uns alle Kosten bezahlen und sich um alle finanzielle Belange kümmern. Wir müssen leider aufpassen, welche Personen wir mitnehmen. Unsere Expedition muss geheim bleiben. Bei jemandem, der von einer Erdkugel überzeugt ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass er unsere Expedition ausplaudern würde. Wir haben nun in dir genau die richtige Person gefunden, die als neutrale Person mitkommen könnte. Dein letzter Kommentar: ‚Solange ich nicht selber das Ende der flachen Erde oder den Globus aus der Luft gesehen habe, ist es für mich nur Glaube und kein Wissen‘, hat uns überzeugt. Wir würden dir gerne diese Möglichkeit geben, dass aus Glaube Wissen wird und du dir ein eigenes Bild machen kannst. Wir haben auch ganz sicher vor, die Ergebnisse unserer Expedition zu veröffentlichen, egal, wie sie ausfallen. Du hast sicherlich noch Fragen, aber hier sind erstmal die wichtigen Fragen, die wir gerne von dir beantwortet hätten: Könntest du dir vorstellen, an der Expedition teilzunehmen? Das ist die erste Frage. Die zweite Frage lautet: Gibt es etwas, was dich von der Expedition abhalten könnte? Wenn ja, was? Und die letzte Frage lautet: Wenn die Herausforderungen geklärt wären, die dich von der Reise abhalten, könntest du dir vorstellen, mitzukommen? Also bitte schreibe uns einfach eine E-Mail und wir treten dann wieder in Kontakt mit dir.“

Aufgelegt.

Ella war total perplex und vergaß zu atmen. Es war surreal, was sie gerade gehört hatte. Sie dachte auch daran, dass vielleicht jemand versuchte, sie reinzulegen. Trotzdem setzte sie sich kurz an ihren Computer und schrieb: „1. Ja. 2. Job, Geld und Sohn. 3. Ja.“ Diese Antwort schrieb sie in der E-Mail.

Sie war noch nicht mal richtig aufgestanden, um wieder zu Leon und Christian in die Küche zu gehen, da klingelte das Haustelefon. Sie hob ab. „Wir treffen uns heute um 13 Uhr in der Pizzeria ‚Margarita‘.“

Und wieder aufgelegt. Leon kam aus der Küche und bemerkte die Stille und Starrheit, die seine Mutter umgab. „Was hast du?“ Sie schaute ihn erschrocken an, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass er zu ihr ins Arbeitszimmer kommen würde. Sie erzählte ihrem Sohn immer die Wahrheit. Und sie wusste, dass sie eine solche Geschichte auf keinen Fall vor ihm geheim halten würde. Davon ausgehend, dass die Geschichte kein schlechter Scherz war, würde sie ihm davon erzählen. „Wo ist Christian?“

„Der wäscht das Geschirr.“

„Leon, komm mal rüber.“ Ella erzählte ihrem Sohn nicht alles bis ins kleinste Detail, aber sie gab ihm einen groben Überblick.

„Dann komme ich heute Mittag mit, oder?“

„Ja, das denke ich auch. Falls das alles wahr ist, möchte ich wirklich gerne an dieser Expedition teilnehmen.“

„Und ich werde auf keinen Fall die Zeit hier bei Oma bleiben. Und auch nicht bei meinem Vater, falls er überhaupt so lange hier bleiben würde. Ich komme mit.“

„Ich kann dir nicht sagen, was sie von dieser Idee halten. Aber ich kenne deine Hartnäckigkeit. Versuchen kannst du es. Und behalte im Hinterkopf, dass uns vielleicht nur jemand einen Streich spielt.“ Leon nickte.

Christian trat in das Arbeitszimmer, während er an der Tür klopfte. „Was wollen wir heute machen?“

„Ich habe immer noch nicht gefrühstückt und hole das erstmal nach. Und so gegen 13 Uhr gehen Leon und ich in die Stadt. Da müssen wir was erledigen.“

Christian merkte an Ellas Worten, dass sie beide alleine in die Stadt wollten und antwortete nur: „Dann würde ich in der Zeit mit Ayamé spazieren gehen und wenn du willst, etwas staubsaugen.“

„Das wäre super“, antwortete Ella.

Ella und Leon machten sich rechtzeitig auf zur bekannten Pizzeria „Margarita“. Kurz vor 13 Uhr waren sie dort und wollten sich einen Tisch nehmen. Doch sie wurden von der Kellnerin an einen einsamen Tisch in der Ecke geleitet. Es war für drei gedeckt.

Sie mussten nicht lange warten, da kamen zwei Personen auf sie zu. Ein Mann in seinen 50ern und mit sehr kurzen, weißen Haaren. Sein Gesicht war schlank, fast hager. Er erweckte nicht viel Vertrauen. Die andere Person, auch ein Mann, etwas jünger, schwarze Haare, sympathisches Gesicht, lächelte etwas, als er näher kam. Sie schauten sehr erstaunt, als sie sahen, dass ein Junge bei Ella saß.

Sie tauschten Blicke miteinander aus und der jüngere Mann nahm sich vom Nebentisch einen Stuhl mit. „Hallo, ich bin Steven. Das ist Marc“, stellte sich der jüngere, sympathischere Mann vor.

„Ich bin Ella. Und das ist mein Sohn Leon.“

„Wir dachten, wir treffen uns alleine.“

„Das kann ich mir denken. Aber Sie haben sicherlich auch meine Antworten auf die Fragen gelesen. Und wieso sollte ich ihn nicht mitnehmen, wenn ich keine Geheimnisse vor ihm habe und er Ihnen etwas zu sagen hat.“

Beide Männer waren sehr erstaunt und blickten erwartungsvoll auf Leon. Der bemerkte erst ein bisschen später, dass er die volle Aufmerksamkeit hatte, weil er vorher noch in Gedanken vertieft war. „Ich möchte mit“, sagte er nur kurz.

Diese Worte ließen den älteren Mann Marc etwas abfällig lächeln. Steven staunte und runzelte die Stirn. „Hat deine Mama erzählt, wo wir hinwollen?“

Leon nickte eifrig. Dann fing der hagere Mann an zu erzählen: „Am Montag nächster Woche beginnen wir das Training für die Reise. Es wird ein schwieriges, hartes Training, um bei allen möglichen Notfällen oder Situationen richtig reagieren zu können. Das Training wird in Nordnorwegen stattfinden und dauert zwei Monate. Danach geht es zur Antarktis. Die Expedition dort wird vier Wochen dauern. Insgesamt haben wir also eine schwierige Expedition, die vier Wochen dauert plus das Training von zwei Monaten vor uns. Das ist nichts für kleine Kinder.“

Natürlich schwand Leons Enthusiasmus bei dieser Beschreibung mit jedem Satz. Aber die Aussage, dass es nichts für kleine Kinder wäre, weckte seinen Ehrgeiz. „Sehr geehrter Herr Marc, entschuldigen Sie, wenn ich nicht einer Meinung mit Ihnen bin. Ich möchte zuerst noch weitere, nähere Informationen bekommen. Zum Beispiel, wie viele Personen werden wir sein? Sind diese Leute alle in Topform? Wenn es ein Training gibt, dann ist es doch möglich, sich in sicherer Umgebung auf die schwierigen Situationen vorzubereiten. Und dann wäre es auch möglich, dass ich Ihnen zeigen kann, dass ich sehr wohl geeignet für diese Reise bin. Und falls Sie noch entscheidende Fragen an mich haben, so stellen Sie diese gerne.“

Ella war sehr stolz auf ihren Jungen. Und die Männer staunten nicht schlecht über diese Antwort.

Steven, der den Gedanken des Jungen, mitzukommen, gar nicht mehr so abwegig fand, versuchte auf die Fragen einzugehen. „Also zuerst dürft ihr beide uns gerne duzen. Wäre das in Ordnung?“ Mutter und Sohn nickten. „Das Training ist dafür da, dass sich alle an die klimatischen Bedingungen gewöhnen und für eventuelle Notfälle trainiert wird, die bei einer gewöhnlichen Expedition höchstwahrscheinlich nicht eintreten werden. Außerdem steht es jedem offen, sich während des Trainings zu entscheiden, nicht mitzukommen. Wir wollen wirklich nur diejenigen mitnehmen, die sich der Reise gewachsen sehen. Wir haben acht Profis engagiert, die regelmäßig solche extremen Expeditionen machen. Und wir wollen acht, nennen wir sie mal, Nicht-Profis mitnehmen. Deine Mutter sollte die achte Person sein. Es gibt auch noch zwei weitere Personen, die nachrutschen werden, falls jemand vom Kernteam abspringt. Was denkst du eigentlich darüber, dass dein Sohn mit möchte, Ella?“

Sie überlegte kurz. „Als ich ihm von der Expedition berichtet hatte, wuchs seine Begeisterung von Minute zu Minute. Er war sich irgendwann sicher, dass, wenn ich gehen würde, er mitkommen würde. Ich habe ihm aus meiner Sicht alle Schwierigkeiten einer solchen Reise erzählt und dass es für ihn langweilig sein könnte und er sehr diszipliniert sein müsste. All das hat ihn nicht von seiner Meinung abgebracht. Deswegen ist er jetzt hier. Und ich habe ihm gesagt, dass er euch davon überzeugen muss, mitkommen zu dürfen.“

„Wäre denn damit das Problem Sohn gelöst?“, meinte Marc etwas genervt.

„Mein Sohn ist kein Problem.“

„So hat Marc das sicherlich nicht gemeint. Aber du hast in der zweiten Antwort deinen Sohn genannt. Wäre es für dich einfacher, mit auf die Reise zu kommen, wenn dein Sohn mitkommt?“

„Ja, es wäre einfacher, aber ich bin kein Profi und kann nicht einschätzen, ob eine solche Expedition für einen fast zehnjährigen Jungen machbar ist. Wenn mir Profis sagen würden, dass Leon die Expedition schaffen kann, dann könnte ich mir das auch vorstellen. Aber wenn Profis meinen, dass es eine zu große Belastung für ein Kind ist, dann würde ich ihn lieber zuhause bei seiner Oma lassen.“

„Wir können sicherlich beim Training beurteilen lassen, wie sicher oder unsicher die Mitnahme von einem Kind ist.“

Leon meldete sich nochmal zu Wort: „Wenn ich es richtig verstanden habe, kann ich beim Training sowieso dabei sein, weil es sicher ist. Nur die Expedition in die Antarktis wäre möglicherweise zu hart für mich, aber da könnte ein Profi das letzte Wort haben.“

„Okay, das klingt vernünftig. Wir müssen das trotzdem mit dem ganzen Team absprechen“, sagte Steven.

„Dann wären die anderen Probleme, die dich von der Reise abhalten, dein Job und das Geld“, entgegnete Marc. „Was meinst du damit?“

„Das ist schnell erklärt. Ich kann in meiner jetzigen Arbeit nicht plötzlich drei Monate Urlaub nehmen. Die werden mir sicherlich kündigen. Und einen solchen Job wiederzufinden, wird kompliziert werden. Und außerdem fehlt mir das Geld für die Ausrüstung, die Flüge und alles Weitere.“

„Das ist wirklich kein Problem. Wir haben dir am Telefon von der Familie erzählt, die die Expedition unterstützt. Sie kommen für alle finanziellen Kosten auf. Sie können dir den Gehaltsausfall erstatten und dich in der Zeit unterstützen, in der du eine neue Arbeit suchst. Und alles andere wird auch übernommen.“

„Das ist wirklich ein sehr entgegenkommendes Angebot. Ich werde zwar versuchen, unbezahlten Urlaub zu bekommen, aber ich denke, mein Arbeitgeber wird sich nicht darauf einlassen.“

„Geld soll absolut kein Hinderungsgrund sein“, betonte Steven nochmal.

„Gibt es sonst noch Fragen?“, mischte sich Marc wieder ein.

Ella schüttelte den Kopf. „Jetzt gerade nicht.“

„Kommt ihr dann mit?“

Ella schaute zu Leon. Der lächelte und nickte kurz mit seinem Kopf. „Okay, dann würden wir zu zweit mitkommen. Und falls mein Sohn nicht in die Antarktis mit kann, darf er zumindest beim Training dabei sein.“

„Wie ich gesagt habe“, meinte Steven, „muss ich das erst mit dem Team absprechen. Aber, ganz ehrlich, ich sehe darin kein Problem.“

Er schaute Leon wohlwollend an. „Seid am Sonntag um 11 Uhr am Flughafen in Zeltweg. Bitte nehmt persönliche Dinge mit, die ihr für euch braucht. Um Winterkleidung werden wir uns vor Ort kümmern. Welche Größe habt ihr?“

„Ich habe mal S, mal M. Kommt immer auf die Firma an. Und mein Sohn hat Größe 146.“

„Gut. Dann wisst ihr jetzt Bescheid. 11 Uhr Flughafen Zeltweg. Wenn ihr dort auf einen Arbeiter trefft, sagt ihm, dass ihr für den angemeldeten Privatflug um 12 Uhr dort seid, dann werden sie euch zum richtigen Ort führen. Reisepass bitte nicht vergessen. Soll euch ein Taxi abholen und hinbringen?“

Ella nickte. „Das wäre gut.“

„Und nicht vergessen, niemandem von dieser Expedition erzählen. Je weniger Eingeweihte es gibt, desto sicherer ist es.“

Mit diesen Worten schaute Marc besonders streng zu Leon, der sich dabei etwas beleidigt fühlte. „Ich habe die Ernsthaftigkeit verstanden. Auch wenn ich es gerne meinen Freunden erzählen würde, so werde ich schweigen wie ein Grab.“

Marc nickte.

Die beiden Männer standen auf und verabschiedeten sich. Steven griff noch in seine Tasche und holte einen Briefumschlag heraus. „Falls ihr noch Besorgungen machen müsst oder in der jetzigen Vorbereitung Kosten auf euch zukommen, soll euch dieses Geld unter die Arme greifen.“

Er gab es Ella, die sich dafür bedankte.

„Dann sehen wir uns nächsten Sonntag wieder. Bis dahin, alles Gute“, sagte Steven noch.

„Bis bald“, konnte Ella noch entgegnen, dann waren sie schon durch die Tür gegangen.

Da kam ein Kellner und wollte die Bestellung aufnehmen.

„Hast du noch Lust auf Pizza? Oder wollen wir einkaufen gehen?“, fragte Ella Leon und zeigte dabei auf den Briefumschlag.

„Einkaufen“, meinte Leon.

Ella erklärte dem Kellner, dass sich ihre Pläne geändert hatten und sie nur die Getränke bezahlen wollten. Sie gab ihm noch ein großzügiges Trinkgeld. Und dann standen sie auf und verließen die Pizzeria.

Beide waren sehr aufgeregt und konnten ihr Glück kaum fassen, als sie den sehr hohen Betrag im Umschlag sahen. Sie würden wirklich kaufen können, was sie nur wollten. „Ich muss in den nächsten Bücherladen“, meinte Ella.

„Und ich in das Spielzeuggeschäft um die Ecke.“

Sie schauten sich kurz an und schüttelten dann den Kopf.

„Du hast Recht, Leon. Wofür jetzt Bücher? Die nächsten drei Monate werde ich andere Dinge im Kopf haben.“

„Und ich brauche wohl auch kein Spielzeug. Vielleicht sollten wir einfach unseren normalen Vorbereitungen nachgehen, sodass ich noch meinen Geburtstag feiern kann.“

„Und danach setzen wir uns gemeinsam hin und überlegen uns, was wir noch für die Reise brauchen.“

„So machen wir das.“

So gingen sie die letzten Dinge für den Geburtstag kaufen, wie Deko, Knabbereien für die Gäste und Zutaten für den Kuchen.

Als sie dann vor der Wohnungstür standen, schaute Leon ernst und sagte: „Lass uns bis zu meinem Geburtstag so tun, als würden wir nicht auf diese Reise gehen und lass uns Papa und Oma nichts erzählen.“ Sie nickte.

Der nächste Tag vor Leons Geburtstag war bespickt mit Vorbereitungen: Kuchen backen, dekorieren, die Schnitzeljagd vorbereiten und den Schatz verstecken.

Und der Geburtstag war dann ein voller Erfolg.

Am Abend saßen Ella, Leon und Christian erschöpft auf der Couch und die Stille durchdrang den Raum. Es waren nur noch zwei Tage bis zum Flug, nur noch ein Tag für Vorbereitungen und Einkäufe. Ella fühlte sich etwas überfordert und begann zu reden: „Christian, wie lange wolltest du jetzt noch bleiben?“

Christian sah etwas überrascht aus wegen dieser Frage. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Leon und ich müssen am Sonntag auf eine längere Reise und werden drei Monate nicht zuhause sein.“

Nun sah Christian sie sehr überrascht an. „Drei Monate? Am Sonntag?“

„Papa, das hat nichts mit dir zu tun. Es ist eine tolle Gelegenheit, eine solche Reise zu machen und wir können es nicht verschieben.“

„Leon hat Recht. Es hat nichts mit deinem derzeitigen Besuch zu tun. Es ist nur wichtig, dass du weißt, dass wir ab Sonntag für eine längere Zeit nicht mehr da sein werden.“

„Und das ist wirklich eine ganz feste Sache?“

„Ganz fest“, meinte Leon. „Ich bin sehr froh, dass du zu meinem Geburtstag gekommen bist und ich dich noch einmal sehen durfte. Aber für uns steht fest, dass wir am Sonntag wegmüssen.“

„Wenn du möchtest, kannst du auch hier in der Wohnung bleiben. Aber Oma Birgit kann auch nach meiner Wohnung schauen und sie wird auch Ayamé nehmen, denn sie kann leider nicht mehr mit auf eine solche Reise, auch wenn ich sie gerne dabeihaben würde.“