Endstation Nordsee - Ilka Dick - E-Book

Endstation Nordsee E-Book

Ilka Dick

4,3

Beschreibung

Die Welt von Aenne Jannen wird jäh erschüttert, als die Leiche ihres Vaters in den Amrumer Dünen gefunden wird: Erk Jannen wurde brutal ermordet. Während sich ihre Mutter hinter eine Mauer aus Schweigen zurückzieht, kämpft sich Aenne durch einen Strudel aus Trauer und Verzweiflung und macht sich schließlich selbst auf die Suche nach dem Mörder. Doch sowohl ihre Nachforschungen als auch die der Kriminalpolizei laufen ins Leere. Bis an derselben Stelle eine zweite Leiche entdeckt wird ...

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Ilka Dick, 1972 in Lüneburg geboren, studierte nach dem Abitur Lehramt für Sonderschulen in Hamburg und Bremen. Nach den Stationen Lübeck und Berlin zog es sie für zwei Jahre auf die Nordseeinsel Amrum. Heute lebt die Autorin mit ihrer fünfköpfigen Familie in der Nähe von Rendsburg und ist als Sonderschullehrerin für Hörgeschädigte tätig. »Endstation Nordsee« ist ihr erster Roman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

© 2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: time./photocase.de Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-200-7 Insel Krimi Originalausgabe

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Für Arno

Prolog

»Ist es jetzt so weit?«

Sie hob fragend den Kopf und sah zu der zierlichen Dame, die gegenüber auf der anderen Seite des Bettes Platz genommen hatte. Klare blaue Augen blickten ihr entgegen, umrahmt von feinen Fältchen. Diese Augen hatten es schon oft gesehen, doch für sie war es das erste Mal.

Die Dame nickte kaum merklich. »Sie macht sich jetzt auf den Weg.«

Auf den Weg. Die Worte klangen schwer in der Stille des Raumes nach. Nur der leise rasselnde Atem der alten Frau im Bett war zu hören.

Vorsichtig nahm sie ihren Stuhl und rückte näher an das Bett heran. Das Rutschen der Stuhlbeine über den Holzfußboden kam ihr unnatürlich laut vor, wie ein Fremdkörper, der die eigentümliche Ruhe in dem Zimmer störte.

Es war einst das Wohnzimmer des kleinen Hauses gewesen, doch es war schon vor geraumer Zeit zweckentfremdet worden. Anstelle des Sofas stand nun das wuchtige Pflegebett vor der großen Fenstertür, durch die man auf die Terrasse treten konnte. So hatte die alte Frau während der vergangenen Monate vom Bett aus auf die Terrasse und den dahinterliegenden Garten blicken können. Auf dem kleinen Tisch neben dem gemütlichen Ohrensessel lagen nun statt eines Buches und der Lesebrille Verbandsmaterial und der Plastikordner des ambulanten Pflegedienstes. In der Ecke vor dem Bücherregal befand sich unter einer Decke verborgen ein Toilettenstuhl. Doch den konnte die alte Frau schon lange nicht mehr benutzen.

Morgens, wenn die Sonne hinter den Apfelbäumen im Garten aufging, tauchten ihre Strahlen den ganzen Raum in ein warmes, goldenes Licht. Jetzt jedoch hatte sich die Dämmerung über den Garten gesenkt, und ein schummriges Zwielicht herrschte im Zimmer.

Die Dame erhob sich, um die Stehlampe anzuschalten. Der Lichtkegel fiel auf das Bett der alten Frau. Ihre Hände ruhten auf der Bettdecke. Sie sahen weiß und zerbrechlich aus. Unter der dünnen Haut des Handrückens zeichneten dunkle Adern ein zartes Geflecht. Zaghaft ergriff sie erst die eine, dann die andere Hand. Sie drückte sie leicht, doch sie spürte keine Reaktion. Die Hände fühlten sich fremd an, kalt und schlaff. Das waren nicht mehr die Hände, die sie kannte und die ihr so vertraut waren. Die warmen, kräftigen Hände, die für eine Frau immer ein bisschen zu groß gewesen waren. Mit Schwielen an den Handflächen, rau und trocken. Diese Hände hatte sie geliebt. Sie hatten ihr Wärme und Geborgenheit gegeben, Schutz und Halt. Kleine Hand in großer Hand. Damals, als noch alles gut gewesen war.

Sie drückte ein wenig fester zu. Ob sie das noch fühlt?, fragte sie sich. Ob sie weiß, dass ich hier bin? Dass ich mein Versprechen halte?

Als hätte die Dame vom Hospizverein ihre Gedanken erraten, sagte sie leise: »Reden Sie mit ihr. Sie spürt, dass Sie da sind. Sie hat auf Sie gewartet. Sprechen Sie ihr Mut zu, sagen Sie ihr, dass sie gehen kann. Dass Sie sie gehen lassen.«

Sie gehen lassen. Ich will sie aber nicht gehen lassen!, dachte sie und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. In ihrem Kopf breitete sich ein dumpfer Schmerz aus. Seit Stunden hatte sie nichts gegessen. Sie hatte keinen Bissen herunterbekommen, nachdem man sie frühmorgens angerufen hatte: »Sie sollten jetzt kommen. Es dauert nicht mehr lang.«

Sie war sofort aufgebrochen, hatte die Strecke irgendwie hinter sich gebracht. Viel zu schnell war sie gefahren, nur um rechtzeitig da zu sein. Das hatte sie versprochen, und sie hatte es geschafft.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nur verschwommen nahm sie das Gesicht der alten Frau wahr. Es war von der langen Krankheit gezeichnet und hatte kaum noch etwas mit den weichen Zügen gemein, die sie so gut kannte. Die Haut, die sich über die Wangenknochen spannte, war blass und durchscheinend. Die eingefallenen Wangen ließen die gerade Nase unnatürlich stark hervortreten, und die einst so vollen Lippen bildeten nur noch einen zarten blassblauen Strich, der sich bei jedem Atemzug kaum sichtbar bewegte. Das graue, immer noch lange Haar war ordentlich zurückgekämmt.

Sie blinzelte die Tränen weg und suchte den Blick der alten Frau. Doch die dunklen, leicht geöffneten Augen starrten geradeaus aus dem Fenster, als ob sie einen imaginären Punkt in der Ferne fixierten. Alles andere schien nicht mehr zu existieren.

Was sieht sie wohl dort draußen in der Dämmerung?, überlegte sie. Sieht sie ihren Garten, den sie so liebt? Die Margeriten und Geranien, die in den Kübeln auf der Terrasse blühen? Der Sommer war die Zeit im Jahr, die sie am allermeisten mochte.

Oder sieht sie den Himmel? Die Wolken vorbeiziehen? Wie oft hatten sie früher auf der Wiese hinter den Apfelbäumen im Gras gelegen, jede von ihnen einen frisch gepflückten Apfel in der Hand, und die Wolken am Himmel bestaunt? Sie hatten sich die schönsten Figuren ausgemalt, von weißen Wolken auf blauen Hintergrund gezaubert. »Siehst du da den Drachen? Mit dem ganz langen Schwanz?«– »Ja! Und da, da drüben, das sieht aus wie ein Fahrrad. Ich erkenne genau die beiden Reifen.«– »Nein, das ist eine Brille. Eine Brille mit ganz großen Gläsern.« Sie meinte, die Stimmen zu hören, das weiche Gras in ihrem Rücken und den süßsäuerlichen Geschmack des Apfels auf ihrer Zunge zu spüren.

Ein röchelndes Husten holte sie zurück in das Zimmer. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie lautlos geweint hatte. Verstohlen fuhr sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen.

Der Atem der alten Frau ging jetzt schneller, klang angestrengter. Hilfesuchend blickte sie zu der Dame von der Sterbebegleitung, die begonnen hatte, mit einem feuchten Lappen sachte die Stirn und die Lippen der alten Frau zu benetzen. »Gehen Sie weiter, alles ist gut. Sie sind nicht allein«, sprach die Dame besänftigend auf sie ein. Ihre Stimme war fest und warm. Dann sah sie kurz auf und sagte: »Versuchen Sie es, reden Sie mit ihr. Es wird sie beruhigen.« Und nach einer Pause: »Sie können das, ich bin mir ganz sicher.«

Sie zögerte. Was sollte sie jetzt sagen?

Der Kloß in ihrer Kehle fühlte sich übermächtig an. Sie schluckte schwer, atmete einmal tief durch und richtete sich auf. Die Dame nickte ihr ermutigend zu.

Und so begann sie zu sprechen. Zunächst stockend, mit tränenerstickter Stimme, die richtigen Worte suchend. Doch mit jedem Wort, das über ihre Lippen kam, wurde es leichter, und schließlich strömten die Sätze, die noch gesagt werden mussten, wie von selbst aus ihr heraus. Der Atem der alten Frau beruhigte sich wieder. Er wurde langsamer, gleichmäßiger, und ein seltsamer Friede legte sich über das Gesicht der Sterbenden.

Später wusste sie nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Irgendwann waren die Abstände zwischen den Atemzügen immer größer geworden, bis der Atem der alten Frau schließlich ganz ausgesetzt hatte. Sie hatte es geschafft. Sie war gegangen.

Bedächtig, so als wollte sie niemanden stören, erhob sich die Dame vom Hospizverein. Mit einer behutsamen Bewegung schloss sie die Augen der Verstorbenen.

»Ich lasse Sie dann jetzt mal allein. Wenn Sie mich brauchen, ich bin nebenan.« Sie verließ das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.

Nun war sie allein. Und als ob ihr von einer Sekunde zur nächsten alle Kraft genommen worden wäre, sackte sie in sich zusammen. Sie legte ihre Stirn auf die Brust der Toten, deren Hände sie noch immer fest umschlossen hielt. Eine unendliche Traurigkeit breitete sich in ihr aus. Sie spürte, wie die Tränen zurückkehrten, erst zaghaft, dann immer drängender, bis sie sich mit aller Macht unaufhaltsam ihren Weg bahnten. Ihr Rücken begann zu zucken, zu beben. Dann wurde ihr ganzer Körper von einem gewaltigen Weinkrampf geschüttelt.

Sie weinte um die alte Frau, die sie nun für immer verloren hatte. Sie weinte um das Gute, das unwiederbringlich vorbei war. Und sie weinte um sich selbst, um ihr eigenes Leben.

Im Zimmer war lange Zeit nichts anderes zu hören als ihr lautes Schluchzen. Erst allmählich wurde es leiser, bis es am Ende ganz versiegte.

1

1972

»Los, Einstein, nun mach schon. Wie lange dauert das denn noch?« Arfst breitete theatralisch seine Arme aus. »Ich kipp bei der Hitze sonst gleich um!«

Er tat so, als ob er torkelte, und stützte sich mit einer Hand auf Luises nackter Schulter ab.

»Arfst!«, rief Luise in gespielter Empörung. »Nehmen Sie Ihre Hand da weg, junger Mann!« Lachend schlug sie ihm auf die Finger und zupfte den Schulterträger ihres Bikinis zurecht.

»Ach, Luischen, nun hab dich doch nicht so.« Arfst grinste breit.

»Nenn mich nicht Luischen!«

»Ich bin gleich so weit«, rief Liv und blickte durch den Sucher ihrer neuen Kamera. Sie hatte sie erst vor Kurzem von ihren Eltern zu ihrem neunzehnten Geburtstag geschenkt bekommen. Vorsichtig drehte sie am Objektiv, um die passende Belichtungszeit einzustellen. »Ihr müsst noch ein Stück da rüber.« Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm nach rechts. »Ja, genau so. Die Sonne muss euch ins Gesicht scheinen. Stopp, das reicht!«

»Frauen und Technik«, meinte Erk trocken und stellte sich ganz nah hinter Luise. Für diese Bemerkung stieß sie ihm den Ellenbogen in die Rippen. »Aua!«, schrie Erk übertrieben auf und hielt sich den Bauch.

»Ach, du Armer.« Luise drehte sich um und tätschelte mit ihrer Hand lächelnd seine Wange. »Als ob du Technikgenie auch nur den Hauch einer Ahnung von diesem Apparat hättest.«

»Männer können alles.« Er grinste sie unverfroren an, was ihm einen erneuten Hieb in die Rippen einbrachte.

»So, jetzt schaut mal alle hierher.« Liv wedelte mit dem Arm. »Ihr müsst in die Kamera gucken!«

»Halt, ich will auch noch in die Nähe dieses schönen Mädchens.« Hans drängelte sich an die Seite von Luise und versuchte, Erk ein Stück nach hinten zu schieben. Doch Erk ließ sich nicht so leicht abdrängen.

»Du hoffst wohl, dass so wenigstens ein bisschen Schönheit auf dich abfärbt, was?« Erk lachte laut über seinen eigenen Witz, und die anderen stimmten mit ein.

»Man soll ja bekanntlich die Hoffnung nie aufgeben«, gab Hans unbeeindruckt zurück.

»Seid ihr da vorn bald mal fertig?« Nun war es an Liv, langsam ungeduldig zu werden. »Ihr müsst jetzt stillstehen und in die Kamera schauen.« Sie blickte durch den Sucher. »Ja, so ist es gut. Und lächeln!«

Ihre vier Freunde standen, nur mit Badesachen bekleidet, lachend am Strand, den Wind in den Haaren, die Sonne auf der gebräunten Haut. Und hinter ihnen nichts als die Weite des Kniepsandes. Das würde ein gutes Bild geben. Sie drückte auf den Auslöser.

»Fertig!« Liv ließ die Kamera sinken.

»Na endlich. Und jetzt los!« Arfst rannte in Richtung Nordsee. Im Laufen drehte er sich zu seinen Freunden um und winkte. »Kommt schon! Wer zuerst im Wasser ist.«

»Hey, das zählt nicht! Ich krieg dich noch.« Hans sprintete hinterher.

»Kinder.« Luise schüttelte den Kopf und schob sich eine ihrer blonden Haarsträhnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr.

»Soll ich noch ein Foto von euch beiden machen?«, fragte Erk.

Liv, die zu ihnen getreten war, sah Luise fragend an. »Gute Idee, oder?«

Luise nickte. »Ja klar.«

Nachdem Liv an der Kamera die Blende und die Belichtungszeit überprüft und die Entfernung neu eingestellt hatte, drückte sie Erk den Apparat in die Hand und erklärte ihm, wo sich der Knopf für den Auslöser befand. »Ich habe fünf Meter eingestellt. Du musst fünf Schritte weit weggehen.« Dann stellte sie sich neben Luise.

»Und ich dachte, Männer können immer alles«, flüsterte Luise ihr ins Ohr, so laut, dass auch Erk es hören konnte.

»Wartet’s nur ab«, erwiderte Erk, während er die Entfernung mit ausholenden Schritten abmaß. Er drehte sich um und hob die Kamera vor das Gesicht. »Und nun, Mädels, schenkt mir euer schönstes Lächeln!«

Luise und Liv legten sich gegenseitig den Arm um die Schultern und strahlten um die Wette in die Kamera.

Nachdem Erk das Foto geschossen hatte, kam Luise eine Idee. Sie flüsterte sie Liv so leise ins Ohr, dass Erk es nicht mitbekommen konnte. »Ich hätte so gern auch ein Foto nur von Erk und mir, du weißt schon. Das wäre die Gelegenheit.«

»Meinst du?« Liv sah Luise unschlüssig an, doch ehe sie etwas anderes sagen konnte, hatte Luise sich schon zu Erk umgedreht.

»Du, Erk, Liv würde auch noch gern ein Foto von uns beiden machen. Wie sieht’s aus?«

»Warum nicht?« Er grinste schief.

»Na gut…« Liv nahm die Kamera von Erk entgegen. »Dann geht mal wieder ein Stück zurück.«

»Wir könnten uns doch auch mal hinsetzen, direkt auf den Strand, sähe das nicht gut aus?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sich Luise im Sand nieder. Sie winkelte ihre nackten Beine ein wenig an und streckte sie zur Seite, sodass ihre schlanken Knie und Unterschenkel gut zur Geltung kamen. Mit einer raschen Handbewegung streifte sie das Band ab, das ihr Haar im Nacken zusammengehalten hatte. Ihre langen blonden Haare fielen offen über ihre Schultern.

»Nun komm schon.« Luise blickte zu Erk auf und lächelte ihn verheißungsvoll an. Einladend klopfte sie mit der Hand neben sich auf den Sand.

Erk fuhr sich verlegen mit den Fingern durch seine beinahe schulterlangen dunklen Locken. Dann ging er neben Luise in die Hocke.

»Okay, dann schaut mal her.« Auch Liv musste in die Knie gehen. Das Bild, das sie diesmal durch den Sucher sah, ließ sie schlucken. Luise guckte direkt in die Kamera. Ihr Blick war klar, strahlend, voller Freude und Zuversicht, hatte gleichzeitig aber auch etwas Herausforderndes, etwas Triumphierendes. Erk hingegen schaute nicht in die Kamera. Sein Blick ruhte auf Luise. Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Hingabe. Und Begierde.

Die Erkenntnis traf Liv wie ein Schlag: Sie hatte keine Chance. Sie hatte nie eine gehabt. Erk war vergeben. Und die Frau, die er anbetete, war nicht sie.

Mechanisch betätigte sie den Auslöser. »Fertig. Ihr könnt aufstehen.« Hastig wandte sie sich ab und ging hinüber zu dem Platz, wo sie ihre Taschen abgestellt und ihre Handtücher und Decken ausgebreitet hatten. Sie beugte sich tief über ihren Beutel und wühlte nach der kleinen Ledertasche für die Kamera. Auf keinen Fall wollte sie, dass die beiden irgendetwas bemerkten. Hoffentlich war sie nicht rot im Gesicht geworden!

»Danke!«, hörte sie Luise rufen. »Ich bin schon sehr gespannt auf das Foto.«

»Ich geh dann mal zu den Jungs.« Erk erhob sich. »Kommt ihr mit ins Wasser?«

»Wir kommen gleich nach. Oder?«

Liv nickte wortlos. Sie hatte die Kameratasche gefunden und verstaute den Apparat darin.

»Dann bis gleich.« Erk setzte sich in Richtung Wasser in Bewegung, zunächst langsam, bis schließlich auch er zu rennen begann.

»Einstein, weißt du was?« Luise hatte sich auf ihr Handtuch gesetzt, die Arme um ihre Beine geschlungen und blickte Erk versonnen hinterher. »Heute tu ich es.«

»Was?« Liv sah ihre Freundin verständnislos an und ließ sich neben ihr auf die Decke sinken.

»Na, was schon? Es!« Luise lächelte vielsagend. »Ich weiß, dass Erk es auch will. Wir haben uns für später verabredet, und ich werde nicht länger Nein sagen.«

»Aber…« Liv starrte Luise ungläubig an. Dass es so weit schon ging, hatte sie nicht geahnt. Oder hatte sie es nicht sehen wollen? Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, ihrer Freundin das Vorhaben auszureden. »Aber du… du bist doch noch nicht mal achtzehn!« Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.

»Na und? Das ist ja wohl egal. Außerdem sind es bis dahin eh nur noch ein paar Wochen.« Luise reckte ihr Kinn trotzig nach vorn. Ihr Blick wirkte entschlossen, und Liv meinte, wie schon vorhin, als sie das Foto von Erk und Luise geschossen hatte, etwas Triumphierendes darin zu entdecken.

»Und was ist mit Verhütung? Hast du daran mal gedacht?«, hakte Liv nach.

»Ach, keine Sorge, ich pass schon auf.« Luise legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter ihrem Kopf. »Es wird bestimmt gut werden.« Verträumt starrte sie in den blauen, wolkenlosen Himmel.

Liv schloss die Augen. Verflucht, Luise würde es wirklich wahr machen! Und sie hätte Erk damit endgültig verloren. Nicht dass sie ihn jemals gehabt hätte, sie und Erk waren nie ein Paar gewesen. Doch sie hatten immer einen guten Draht zueinander gehabt, und Liv hatte sich Hoffnungen gemacht, dass da noch mehr sein könnte als Freundschaft. Sie hatte gehofft, dass Erk ihre Gefühle erwiderte. Wie töricht sie gewesen war! Wie dumm!

Aus dem Augenwinkel blickte sie verstohlen zu Luise hinüber. Luise war so schön. So perfekt. Alles an ihr war makellos. Ihre Haut, ihr Haar, ihr Gesicht, ihr ganzer Körper. Warum sollte sich jemand in sie verlieben, wenn er stattdessen Luise haben konnte?

»Mit dir kann man immer so gut reden«, »du bist so klug und intelligent«, »du bist so besonders«– all das bekam Liv immer wieder zu hören. Besonders! Welcher Junge wollte schon mit einem Mädchen zusammen sein, das besonders war? Liv wollte einfach nur schön sein, schön und begehrenswert, nicht interessant und speziell.

Sie schaute an ihrem Körper hinab. Ihre Haut war nicht braun gebrannt. Sie war hell oder besser gesagt käseweiß und mit zahllosen Sommersprossen übersät. Ihr Haar war auch nicht voll und lang wie das von Luise, auf ihrem Kopf wuchsen dünne rotblonde Haare, die zu einem praktischen Bob geschnitten waren, der sich bei Wind oder Regen sofort in ein struppiges, gewelltes Chaos verwandelte. Und auf Amrum gab es viel Wind und Regen. Sie war zwar schlank und groß, aber nicht wohlproportioniert. Egal, wie viel sie auch aß, sie war immer zu dünn, und ihre Oberweite war alles andere als üppig. Liv hatte das Gefühl, dass nichts an ihr makellos war. Nichts, außer vielleicht ihr Verstand. Wie hatte sie sich da bei Erk nur Hoffnungen machen können?

Luise hatte sich auf die Ellenbogen gestützt und blickte sie auffordernd an. »Ab ins Wasser«, verkündete sie gut gelaunt. Sie stand auf und streckte sich. Die Sonne ließ ihr blondes Haar noch heller leuchten.

Doch Liv schüttelte den Kopf.

»Komm schon, Einstein! Eben wolltest du doch noch. Die Jungs warten.«

Einstein, dachte sie ärgerlich, ich kann diesen Spitznamen nicht mehr hören!

»Ich bleibe lieber hier und genieße noch ein bisschen die Sonne.«

»Wie du willst. Dann brat hier mal schön allein vor dich hin. Ich jedenfalls brauche eine Abkühlung.«

2

2014

»Mama, ich bin fertig!«

Die helle Mädchenstimme drang laut und vernehmlich aus der geöffneten Tür des Kinderzimmers. Als sich in dem kleinen reetgedeckten Friesenhaus nichts rührte, wurde die Stimme energischer.

»Ma-ma! Ich bin fertig! Du musst dir das angucken!« Immer noch kam keine Antwort. »Wo bist du denn?«

»Ich bin im Bad«, tönte es gedämpft hinter der geschlossenen Badezimmertür. »Ich bin gleich…« Ehe Aenne Jannen den Satz beenden konnte, flog die Tür auf, und ihre Tochter Beeke kam hereingestürmt.

»Guck mal, Mama! Das da, das bin ich.« Sie hielt ein Blatt in der Hand und zeigte mit ihren kleinen klebrigen Fingern auf die Figur, die sie gezeichnet hatte. »Mit Haaren!«

An den Kopf des Mädchens mit den lila Gummistiefeln und dem leuchtend gelben T-Shirt hatte sie lange braune Wollfäden geklebt.

»Und das da«, jetzt wanderte der Finger zu der zweiten Person, »das ist Onno. Ich habe extra rote Wolle genommen. Sieht doch schön aus, oder?«

Der Kopf des Jungen war von einem dichten Büschel kurzer roter Wollschnipsel eingerahmt. Die zwei Kinder hielten sich an den Händen und lachten. Daneben hatte Beeke einen Geburtstagskuchen mit Herzen gemalt.

Aenne lächelte. »Ja, das ist dir wirklich gut gelungen, und Onno wird sich bestimmt freuen, aber jetzt«, sie versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, »raus mit dir! Auf Klo will ich meine Ruhe.«

»Jaja.« Nur widerwillig trollte sich Beeke wieder. »Wann fahren wir denn endlich los? Ist es schon drei?«

»Es dauert nicht mehr lange. Wenn der große Zeiger auf der Neun steht, ist es Viertel vor drei, und dann geht’s los. Aber jetzt– Tür zu!«

Geräuschvoll zog Beeke die Tür ins Schloss.

Aenne seufzte. Noch nicht einmal auf der Toilette hatte sie ihre Ruhe. Trotzdem musste sie schmunzeln. Beeke war so aufgeregt! Heute hatte ihr bester Freund Onno Geburtstag. Er wurde fünf Jahre alt, genauso alt wie Beeke. Die beiden waren unzertrennlich, seit sie im Kindergarten vor gut einem Jahr in dieselbe Gruppe gekommen waren.

Nachdem Aenne im Bad fertig war, ging sie hinüber ins Kinderzimmer. Beeke kniete auf einem kleinen, bunt lackierten Holzstuhl, den Kopf tief über ihren Basteltisch gebeugt. Sie hatte heute extra ihr schönstes Kleid angezogen, das mit den großen Blumen, das an eine Sommerwiese erinnerte. Einige ihrer dichten Locken, die sich nicht im Pferdeschwanz bändigen ließen, fielen ihr locker ins Gesicht. Mit angestrengter Miene fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, während sie versuchte, ihr Kunstwerk in Geschenkpapier zu verpacken.

Aenne trat an den Tisch heran und gab Beeke einen Kuss ins Haar. Ihre Tochter hatte die gleichen widerspenstigen Locken wie sie selbst, nur waren sie bei Beeke noch dunkelblond. In ein paar Jahren würden sie bestimmt genauso dunkelbraun wie ihre sein. Aenne sog den Duft des Kinderhaares ein. »Na, Rübe, kann ich dir helfen?« Sie ging neben dem Tisch in die Knie.

»Ja, der Tesafilm klebt überhaupt nicht und vertüddelt sich immer!« Anklagend hielt sie die rechte Hand hoch, an deren Fingern zerknitterte Tesafilmstreifen hingen.

»Na, dann lass mich mal machen.«

Gemeinsam gelang es ihnen, das Bild in das Papier einzuschlagen, ehe sie es mit einer dicken grünen Schleife an dem eigentlichen Geschenk befestigten, einem neuen Kinderschnitzmesser für Onnos Werkzeugkiste. Ein Blick auf die Uhr sagte Aenne, dass sie nun allmählich aufbrechen sollten. Sie erhob sich. »So, es ist so weit, wir müssen los.«

»Juhu!« Beeke sprang auf und hüpfte zur Tür.

»Aber vorher noch Hände waschen!«, rief ihr Aenne hinterher. »Mit Seife!«

Mit einem Stöhnen verschwand Beeke im Badezimmer.

Aenne stieg die offene weiße Holztreppe in den Wohnbereich des Hauses hinab. Die Stufen knarrten unter ihren nackten Füßen. Feine Staubkörner tanzten in den Sonnenstrahlen, die durch die Sprossenfenster auf den Dielenfußboden fielen. Im Vorbeigehen griff Aenne nach ihrer Handtasche, die auf dem Tresen lag, der die Küche vom Wohnbereich trennte, und kramte darin nach dem Autoschlüssel.

»Mama! Welche Schuhe?« Beeke kam die Treppe heruntergesprungen.

»Die Sandalen. Es ist noch so schön warm. Aber nimm auch die Fleecejacke mit, ja? Heute Abend kann es schon wieder kühler sein. Hast du das Geschenk?«

»Ja-ha!« Beeke war bereits im Windfang verschwunden. Sie zog ihre Sandalen an und lief nach draußen zum Auto. Die Fleecejacke hing noch an der Garderobe. Seufzend nahm Aenne die Jacke vom Haken, schlüpfte in ihre Clogs und folgte ihrer Tochter.

Das Dorf Steenodde, in dem Aenne mit ihrem Mann und ihrer Tochter wohnte, lag auf der Wattseite im Osten von Amrum. Es war das kleinste und ursprünglichste Dorf der Insel, nicht viel mehr als eine überschaubare Ansammlung von reetgedeckten Häusern mit großzügigen Gärten. Hier lebten nur an die siebzig der insgesamt etwa zweitausendzweihundert Einwohner Amrums. Es gab keinen Bäcker, keine Geschäfte, keine Post, aber einen eigenen Badestrand und einen kleinen Segelhafen.

Dieser Hafen war der Grund gewesen, warum es Aenne, die im Nachbardorf Nebel aufgewachsen war, nach Steenodde gezogen hatte. Das war schon in ihrer Jugend so gewesen, und als das Haus vor ein paar Jahren zum Verkauf angeboten worden war, hatte sie ihr Glück zunächst kaum fassen können. Sie hatte sich auf Anhieb in das alte rote Friesenhaus mit dem wilden Garten verliebt. Doch es waren nicht die gemütlichen Räume mit den Sprossenfenstern und den hell getünchten Holzdecken gewesen, nicht die weiße Haustür mit den filigranen Holzschnitzereien oder die alte Kletterrose, die mit ihren dichten rosa Blüten den Durchgang zur kopfsteingepflasterten Terrasse einrahmte. Es war der Ausblick, der sie sofort in den Bann geschlagen hatte. Fast von jedem Zimmer aus hatte man eine atemberaubende Sicht über das Wattenmeer. Am Horizont zeichneten sich die Nachbarinsel Föhr und die Hallig Langeneß ab, deren Warften wie Maulwurfshügel, aufgereiht auf einer Perlenschnur, aus der Nordsee ragten. Das Beste allerdings war die Sicht auf den kleinen Hafen. Aenne blickte direkt auf die Landungsbrücke mit den Bootsliegeplätzen. Und dort lag »Knut«, ihr altes Segelboot und ihre große Leidenschaft.

Momentan dümpelten die Boote ruhig an ihren Liegeplätzen in der lauen Spätsommersonne. Zwei Kinder waren mit ihren Eltern und einem Kescher am Strand unterwegs, weiter hinten jagte ein Hund ein paar Möwen hinterher.

Ob ich gleich mal ein bisschen rausfahre, wenn ich Beeke abgeliefert habe?, überlegte Aenne, als sie ihren alten VW-Bus die schmale Straße am Hafen entlanglenkte. Doch ein Blick auf das glatte Wasser und in den wolkenlosen Himmel sagte ihr, dass es heute bestimmt windstill bleiben würde, und so verwarf sie die Idee gleich wieder. Sie würde sich etwas anderes Schönes vornehmen. Vielleicht auf einen Kaffee zu Sönke und Momme ins Café Knülle am Nebeler Badestrand? Oder bei Insa vorbeischauen und zusammen mit ihrer Freundin und Kollegin an den Strand gehen und ein bisschen klönen? Vielleicht hatte Insa heute keinen Dienst. Auf jeden Fall wollte sie raus, das schöne Wetter genießen und Sonne tanken. Der Herbst kam schnell genug nach Amrum.

Aenne und Beeke verließen Steenodde und fuhren ein kurzes Stück über die Landstraße bis nach Süddorf. Dort bogen sie in die Inselstraße ein, die von Süd nach Nord fast über die gesamte Länge der Insel führte und die drei Hauptorte Wittdün, Nebel und Norddorf miteinander verband. Sie mussten nach Norden, um zum Schullandheim »Ban Horn« zu gelangen, wo Onno zu Hause war.

Als sie Nebel erreichten, musste Aenne auf Höhe der Windmühle kurz anhalten, weil eine Gruppe von Spaziergängern die Straße überquerte. Als wenig später ein paar Radfahrer die Fahrbahn kreuzten, stoppte sie abermals. In Norddorf, das sie bald darauf erreichten, das gleiche Spiel. Immer wieder musste Aenne abbremsen und anhalten, um Spaziergänger über die Straße zu lassen oder Fahrradfahrer zu überholen. Sie holte tief Luft und übte sich in Gelassenheit.

Aenne war auf Amrum geboren und aufgewachsen, die Insel war ihre Heimat und das Leben hier ihr Alltag. Doch einen Teil dieses Alltags musste sie viele Wochen im Jahr mit den zahlreichen Urlaubern teilen, die Amrum besuchten. Ihr war durchaus bewusst, dass die meisten Insulaner vom Tourismus lebten, und das auch oft sehr gut, sie und ihre Familie eingeschlossen. Ebenso konnte sie verstehen, dass es so viele Menschen nach Amrum zog, auf diese wunderschöne Insel, die sie selbst so sehr liebte. Und dennoch konnte sie an manchen Tagen die Massen von Urlaubsgästen, die in der Hauptsaison zu Tausenden auf der Insel einfielen und sie fest in Beschlag nahmen, nur schwer ertragen. Sie mochte es nicht, wenn es überall von Menschen wimmelte. Wenn im Restaurant kaum ein Tisch zu bekommen war, die Schlangen beim Bäcker schier endlos schienen und die Fähren restlos überfüllt waren. Daher war es für sie jedes Mal eine Erleichterung, wenn die Hochsaison vorbei war und die Insel Stück für Stück wieder in die Hände der Einheimischen überging.

Jetzt, Anfang September, da der allergrößte Besucheransturm überstanden war, brach für Aenne die schönste Zeit des Jahres an. Es war, als ob die Insel einmal tief durchatmen und Kraft tanken konnte, um sich für die bevorstehenden Herbststürme zu wappnen. Aenne mochte die klare, kühle Luft am Morgen und den zarten Nebel, der sich in der Frühe über die Wiesen und das Watt legte. Sie mochte das Spätsommerlicht, das alles mit seinem warmen Glanz überzog, und die Sonne, die kürzer schien, aber immer noch genug Kraft zum Wärmen besaß. Auch die Nordsee war oft noch warm genug für ein Bad. Alles zusammen machte den perfekten Spätsommer aus.

Heute ist so ein perfekter Tag, dachte Aenne, als sie über den kleinen Hügel in Norddorf fuhr und auf den schmalen Oodwai zum Schullandheim gelangte. Vor ihr breitete sich der nördlichste Teil Amrums aus. Links im Westen erhoben sich die mächtigen Dünen, dahinter funkelte die Nordsee in der Nachmittagssonne. Auf der Landseite direkt am Dünenrand lag das Ziel ihrer Fahrt, das Schullandheim »Ban Horn« mit seinen charakteristischen Flachbauten. Rechter Hand erstreckten sich die Marschwiesen bis hin zu dem Teerdeich, der die Insel an dieser Stelle zum Watt abgrenzte. Auf den Wiesen tummelten sich Scharen von Ringelgänsen, Pfuhlschnepfen und Alpenstrandläufern. Im Hintergrund war die Nachbarinsel Föhr zu sehen, die bei Niedrigwasser von der Odde, der Nordspitze Amrums, aus zu Fuß erreicht werden konnte.

Aenne kurbelte das Fenster herunter, um kühle Luft ins Wageninnere zu lassen. Die Klimaanlage des alten Busses war schon lange kaputt. Sie atmete tief die salzige Luft ein. Das Geschnatter und Geschrei der Ringelgänse war bis hierher zu hören. Ein Schwarm Knutts stieg gleich einer Wolke in den blassblauen Himmel auf und zog wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt seine Kreise, um sich dann wieder etwas weiter entfernt auf den Marschwiesen niederzulassen.

Beeke beugte sich in ihrem Kindersitz nach vorn und blickte nach links, wo zwischen den Dünen der Strandaufgang von Norddorf zu erkennen war.

»Huhu, Papa!«, rief sie und winkte in diese Richtung.

»Aber Rübe, Papa ist doch heute gar nicht da. Er kommt erst heute Abend wieder.«

»Ach ja.« Beeke klang enttäuscht. »Bin ich dann noch wach?«

»Wenn er die frühe Fähre erwischt, dann vielleicht.«

»Oh Mama, bitte! Ich muss Papa doch unbedingt von Onnos Geburtstag erzählen. Und von meinem Bild.«

»Na klar, wir werden mal schauen.« Aenne nickte zustimmend.

Ihr Mann, Dr.Jan Rosenboom, war Biologe und leitete das Naturzentrum des Öömrang Ferian, dessen Ausstellungsräume sich am Strandaufgang von Norddorf befanden. Heute hatte er frühmorgens die erste Fähre aufs Festland genommen, um an einem Doktorandentreffen an der Universität Kiel teilzunehmen. Als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der dortigen biologischen Fakultät betreute er von der Insel aus die Forschungsarbeiten zweier Doktoranden.

Am Schullandheim parkte Aenne den Bus auf dem sandigen Vorplatz und schaltete den Motor aus.

Beeke schnallte sich ab, zog die Schiebetür auf und sprang aus dem Wagen. »Ich laufe schon mal vor«, verkündete sie und war im nächsten Augenblick hinter der Hagebuttenhecke, die den Eingang zum Innenhof umrahmte, verschwunden.

Aenne hängte sich ihre Tasche um, nahm Beekes Jacke und folgte ihr.

Das Schullandheim bestand aus mehreren verschachtelten Flachbauten mit dem zweckmäßigen Charme der fünfziger Jahre. Wind, Wetter und die salzhaltige Nordseeluft hatten deutliche Spuren an den Gebäuden hinterlassen. Die Personalwohnung, die Onno mit seinen Eltern bewohnte, lag im hinteren Gebäudetrakt, etwas abseits der Zimmer, die von den Klassen und ihren Betreuern genutzt wurden. Onnos Vater hatte als abgeordneter Lehrer des Landes Schleswig-Holstein für zwei Jahre die Leitung des Schullandheims übernommen.

Als Aenne durch die Glastür in den großen Vorflur trat, sah sie Beeke mit Onno und seiner Mutter Susanne an der Wohnungstür stehen. Bunte Luftballons schmückten den Eingangsbereich. Beeke drückte ihrem Freund soeben die Geschenke in die Hand.

»Da ist ein Messer für deine Kiste drin, und das«, sie zeigte auf das längliche Päckchen, »das ist ein Bild für dich. Hab ich gemalt.«

Aenne beschlich eine leise Wehmut, als sie die beiden betrachtete. Schon Onnos nächsten Geburtstag würden sie nicht mehr gemeinsam feiern, denn es blieb ihnen nur noch knapp ein Jahr, bis Onnos Vater in den Schuldienst aufs Festland zurückkehren und die Familie Amrum wieder verlassen musste. Das bedeutete für Beeke, von einem Freund Abschied nehmen zu müssen. Und es würde nicht der letzte Abschied sein. Die meisten Menschen, die zum Leben und Arbeiten nach Amrum kamen, gingen nach ein paar Jahren wieder zurück aufs Festland. Aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen und bezahlbarem Wohnraum war die Fluktuation hoch. Nur die wenigsten konnten oder wollten dauerhaft auf Amrum sesshaft werden. Zwar blieben viele Ehemalige der Insel verbunden und kehrten regelmäßig als Gäste zurück. Doch es war nicht dasselbe. Für die zurückbleibenden Insulaner wurde das Leben dadurch ebenfalls nicht unbedingt leichter, und bei manch einem Einheimischen hatten entsprechende Erfahrungen zur Folge, dass er oder sie sich nicht gerade offen und aufgeschlossen, sondern eher distanziert und skeptisch gegenüber Zugezogenen verhielt.

Aber was soll’s, dachte Aenne und schob die Gedanken beiseite, noch ist es nicht so weit. Heute kann Beeke den Tag mit ihrem Freund verbringen, und was morgen ist, ist morgen.

Sie trat hinter ihre Tochter und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du musst doch nicht alles verraten. Lass Onno erst mal auspacken.« Sie ging in die Knie und fuhr an Onno gewandt fort: »Na, Großer, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Bist du jetzt wirklich schon fünf?«

»Klar!« Er nickte und streckte seine Hand mit gespreizten Fingern in die Höhe. »Und ich hab ein neues Fahrrad bekommen. Es ist blau und hat sogar eine Gangschaltung. Mit drei Gängen!«

»Oh, das will ich sehen«, rief Beeke und war gleich darauf mit Onno in der Wohnung verschwunden.

»Tschüss, Beeke!«, rief ihr Aenne hinterher. »Ich hole dich später wieder ab.« Sie drehte sich zu Onnos Mutter um. »Und jetzt erst mal hallo!« Die beiden Frauen umarmten sich. »Auch dir herzlichen Glückwunsch zu deinem tollen Sohn. Fünf Jahre!«

»Danke. Kaum zu glauben, was? Aber leider feiern wir das auch schon seit heute Morgen um fünf.« Grinsend verdrehte sie die Augen und deutete ein Gähnen an.

»Und– wie viele Kinder habt ihr eingeladen?«

»So viele Kinder wie Lebensjahre, mehr muss wirklich nicht sein. Die großen Partys kann er feiern, wenn er sechzehn wird.« Sie lachte. »Wir werden nachher eine kleine Strandrallye machen, Stockbrot und Lagerfeuer, das ganze Programm.«

»Na, dann viel Spaß. Beeke freut sich auf jeden Fall schon riesig. Hier ist noch ihre Fleecejacke, falls es nachher kühler wird.« Sie drückte Susanne die Jacke in die Hand. »Abholen um halb sieben?«

»So um und bei.« Susanne nickte zustimmend.

Hinter Aenne wurde die Glastür geöffnet, und die nächsten Gäste trafen ein. Nach einer kurzen Begrüßung der Kinder und Mütter verabschiedete sich Aenne. Sie trat in den Innenhof hinaus, hielt kurz inne und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie spürte die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut.

Freiheit! Dreieinhalb Stunden nur für mich, dachte sie. Herrlich!

Einen kurzen Moment blieb sie noch stehen, dann machte sie sich beschwingt auf den Rückweg zum Bus.

Der Anruf kam, als Aenne gerade den Parkplatz erreichte. Sie angelte ihr Handy aus der Tasche, strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und nahm das Gespräch an.

»Mama? Was gibt’s?«

Sie klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter, um nebenbei in der Tasche nach dem Autoschlüssel zu suchen.

»Wie– ich soll jetzt kommen? Sofort?« Aenne hörte auf, in der Tasche zu kramen, und nahm das Telefon wieder in die Hand. »Aber warum denn? Ich kann jetzt nicht. Ich hab gerade Beeke weggebracht und wollte–«

Ihre Mutter fiel ihr ungeduldig ins Wort.

»Ich muss kommen? Was heißt ›muss‹? Ich hab wirklich was anderes vor, ich wollte endlich mal–«

Erneut fuhr ihre Mutter dazwischen.

»Was ist denn mit Papa? Und wieso Polizei?«

Sie wartete auf eine Erklärung, doch vergeblich.

»Und warum kannst du mir das nicht am Telefon sagen? Ich habe wirklich keine Lust–«

Es raschelte in der Leitung, bis sich am anderen Ende eine Männerstimme meldete.

»Oh, moin, Oke. Was machst du denn bei meiner Mutter? Und was ist überhaupt los?«

Aenne lauschte angestrengt ins Telefon. Auf ihrer Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Wieso war Oke Bendixen, der Inselpolizist, bei ihrer Mutter? Und wo war ihr Vater?

»Ja, ich habe verstanden, es ist dringend. Aber was ist denn nun mit Papa?« Allmählich wurde Aenne nervös. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was sollte diese Geheimnistuerei?

Doch auf der anderen Seite der Leitung herrschte Schweigen.

»Okay, okay, ich komme vorbei. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Sie beendete das Gespräch und ließ das Handy wieder in der Tasche verschwinden.

3

Hatte sie eine Ahnung gehabt?

Irgendein Gefühl, das sie gewarnt hätte vor dem, was sie erwartete?

Später sollte sie denken, dass sich das Unheil ganz leise angekündigt hatte. Ein unmerkliches Ziehen in der Magengegend, als sie den Weg nach Nebel, den sie eben erst gekommen war, wieder zurückfuhr. Ein vager Gedanke, der leise, aber bedrohlich Gestalt annahm und sich in ihrem Kopf ausbreitete wie aufziehender Nebel. Irgendetwas stimmte nicht. Doch Aenne hatte versucht, dieses Gefühl zu ignorieren.

Das Haus ihrer Eltern lag am Ende des Oonwai, einer kleinen Sackgasse im Zentrum von Nebel. Direkt hinter dem Haus breiteten sich die Salzwiesen aus, die, nur begrenzt durch einen schmalen Küstenstreifen, in die Weiten des Wattenmeeres übergingen.

Als Aenne in den schmalen, ungepflasterten Weg einbog, erkannte sie sofort Oke Bendixens Dienstauto, den blauen Polizeiwagen mit Nordfriesländer Kennzeichen. Er parkte am Straßenrand vor dem Steinwall, der das Grundstück ihres Elternhauses umgab. Dichte dunkelrote Rosen hingen zwischen Lavendelbüschen über den Felssteinen. Noch standen sie in voller Blüte.

Vor dem Polizeiwagen stand ein weiteres Fahrzeug, ein schwarzer Passat Kombi mit Flensburger Autokennzeichen. Aenne glaubte nicht, ihn vorher schon einmal gesehen zu haben. Das Ziehen in ihrem Magen wurde stärker.

Sie lenkte den Bus die großzügige Auffahrt hinauf und parkte vor der Garage. Die Tore waren geschlossen. Sie nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz, stieg aus dem Bus und ging den ordentlich geharkten Kiesweg entlang. Er führte durch den gepflegten Vorgarten, vorbei an ausladenden Hortensienbüschen, bis zur Haustür des weiß getünchten Friesenhauses. Leise knirschten die hellen Steinchen unter ihren Sohlen.

Die Haustür war nicht verschlossen, so wie fast immer. Sie trat in die geräumige Diele. Durch die angelehnte Wohnzimmertür konnte sie gedämpfte Stimmen hören. Sie kamen ihr nicht bekannt vor.

»Hallo! Ich bin’s«, rief sie.

Schlagartig verstummten die Stimmen.

»Papa? Mama?«

Doch es war Oke Bendixen und nicht einer ihrer Eltern, der aus der Tür trat. »Oh, hallo, Aenne, da bist du ja…«

Auf der Stirn des Polizisten standen kleine Schweißperlen. Er nestelte an der Hosentasche seiner Uniform und zog ein Taschentuch heraus. Es war ein Stofftaschentuch, frisch gebügelt, weiß mit braunem Rand. Er betupfte sich damit die Stirn und ließ es wieder in der Hosentasche verschwinden. Dann fuhr er sich mit einer Hand über die Glatze und versuchte, die letzten noch etwas längeren Haare, die ihm neben dem dunklen Haarkranz geblieben waren, zu richten und glatt zu streichen. Hatte Aenne es sich nur eingebildet, oder zitterten seine Hände?

»Äh, komm doch erst mal rein.« Oke hielt die Wohnzimmertür auf und bedeutete Aenne, einzutreten.

»Na, ist Papa mal wieder zu schnell gefahren? Du kennst ihn doch.« Aennes Stimme sollte locker und fröhlich klingen, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen.

Sobald sie in das Zimmer eingetreten war, spürte sie die bedrohliche Schwere, die in der Luft hing. Sie legte sich wie eine Schlinge um ihr Herz und zog sich langsam zu.

Ihre Mutter Luise Jannen stand vor dem großen Panoramafenster, den Blick nach draußen gerichtet. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Rücken kerzengerade dem Zimmer zugewandt. Ihre kleine, zarte Silhouette zeichnete sich dunkel gegen das hereinfallende Sonnenlicht ab. Ein eigentümlicher Kontrast zu der atemberaubenden Aussicht auf den hell beschienenen Garten, die Wiesen und das Wattenmeer.

»Mama?«, fragte Aenne vorsichtig. »Wo ist Papa?«

Ihre Mutter reagierte nicht. Sie stand still. Steif und reglos.

Was ging hier vor?

Aenne wandte sich Oke und den zwei anderen Besuchern zu, die auf dem weißen Ledersofa Platz genommen hatten. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie war sich sicher, dass sie sie noch nie zuvor gesehen hatte. Der Mann, er war der Ältere von beiden, hielt ein Notizbuch mit abgegriffenem Ledereinband in den Händen. Vor ihm auf dem gläsernen Couchtisch lagen mehrere kleine, durchsichtige Tüten. Darin befanden sich verschiedene Gegenstände, die Aenne jedoch nicht erkennen konnte. Die Frau neben ihm war mittleren Alters. Als sie Aennes Blick bemerkte, erhob sie sich und kam auf sie zu.

»Frau Aenne Jannen?«

»Ja?« Aenne nickte langsam, fragend.

Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. Sie war kalt, doch der Händedruck kräftig. »Guten Tag, mein Name ist Wolf, Kriminalhauptkommissarin Katharina Wolf, Kripo Flensburg. Das ist mein Kollege, Kriminaloberkommissar Heiner Ahrens. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass–«

Die Kommissarin konnte den Satz nicht beenden. Aennes Mutter fiel ihr ins Wort.

»Aenne.« Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war weiß, ohne jede Regung. Mit klarer Stimme sagte sie: »Dein Vater ist tot.« Pause. »Jemand hat ihn erschossen.«

Die Schlinge hatte sich zugezogen. Es nahm Aenne den Atem.

Tot?

»Aber…«

Stille.

Aenne machte einen Schritt zurück. »Nein.«

Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

»Wie… tot?« Ihr Blick glitt irritiert zwischen der Kommissarin und ihrer Mutter hin und her.

Luise Jannen nickte. Es war mehr eine Andeutung als eine Bewegung.

Katharina Wolf schaute Aenne mit ernster Miene an. »Heute Morgen hat ein Bufdi von der Schutzstation Wattenmeer in den Dünen beim…« Sie stockte. »In der Nähe dieses kleinen Leuchtturmes…«

»Am Quermarkenfeuer«, sprang Oke Bendixen ihr bei.

»Ja, am Quermarkenfeuer, dort in der Nähe hat er in den Dünen eine männliche Leiche gefunden. Die Person wurde mit einem Schrotgewehr erschossen. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, doch es handelt sich bei dem Toten um Ihren Vater.«

Es handelt sich bei dem Toten um Ihren Vater.

Das Blut in Aennes Ohren rauschte. Wie von fern hörte sie sich sagen: »Aber… aber das kann doch unmöglich mein Vater sein, er ist doch… er hat doch… Vielleicht ist es ja nur eine Verwechslung? Ja, es ist bestimmt eine Verwechslung, so muss es sein. Um diese Zeit arbeitet mein Vater immer. Waren Sie schon im Laden?« Sie drehte sich zu Oke um. »Er ist bestimmt im Laden. Du kennst ihn doch.«

Sie sah ihn flehentlich an, doch er erwiderte nur stumm ihren Blick.

»Dann ist er vielleicht in Norddorf, wegen des neuen Geschäftes, das könnte doch sein. Da war er in letzter Zeit häufig, da müssen Sie es probieren«, sagte sie nun wieder an die Kommissarin gewandt. »Oder musste er aufs Festland? Hatte er einen Termin? Ich weiß es nicht genau…« Sie strich sich fahrig die Haare aus dem Gesicht. »Sein Handy! Haben Sie ihn schon auf dem Handy angerufen? Ich kann das eben machen.« Sie begann, hektisch in ihrer Tasche zu wühlen. »Mama, sag du doch auch mal was! Du musst doch wissen, wo er steckt.«

Keine Reaktion.

»Frau Jannen«, fing die Kommissarin erneut an. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie zu begreifen ist. Setzen Sie sich doch bitte erst einmal.«

Aenne hörte auf, in der Tasche nach ihrem Handy zu suchen, und hob den Kopf. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich will erst wissen, was mit meinem Vater ist.«

Sie spürte Okes Hand auf ihrem Arm.

»Aenne, ich war mit Frau Wolf und Herrn Ahrens bei der… äh…« Das Wort »Leiche« wollte ihm nicht über die Lippen kommen. »Ich war mit in den Dünen. Glaub mir, ich würde dir so gern etwas anderes sagen, aber…« Seine Stimme wurde brüchig. »Es ist wahr. Erk ist tot. Und er wurde erschossen.« Er schaute zu Boden, holte abermals sein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich.

Aennes Schultern sackten nach unten. Ihre Knie drohten nachzugeben. Das Ziehen im Magen wurde unerträglich.

Erschossen!

»Aber warum? Wer sollte denn auf Papa schießen?«

»Ich weiß es nicht, Aenne, ich weiß es nicht.« Okes Augen schimmerten feucht.

»War es ein Unfall? Etwa einer dieser bekloppten Typen, die heimlich die Fasane abknallen?«

»Nein«, meldete sich nun Heiner Ahrens zu Wort. Auch er hatte sich erhoben und war hinter dem Couchtisch hervorgetreten. »Die Schussverletzungen am Leichnam deuten darauf hin, dass Ihr Vater aus kurzer Entfernung erschossen wurde. Allem Anschein nach vorsätzlich.«

»Moment mal– Sie glauben, jemand hat absichtlich auf ihn geschossen? Jemand wollte ihn umbringen? Aber wieso?« Der Boden unter Aennes Füßen schien zu wanken.

»Um das herauszufinden, sind wir hier. Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wollen Sie sich nicht doch einen Moment setzen? Ich möchte Ihnen auch einige Gegenstände zeigen, die wir bei Ihrem Vater gefunden haben.« Er deutete auf die Tüten, die auf dem Tisch lagen. »In seinen Jackentaschen haben wir–«

»So hören Sie doch auf!« Aenne wich ein paar Schritte zurück. »Ich will ihn sehen. Wo ist er?«

»Aenne!« Die Stimme ihrer Mutter durchschnitt messerscharf die Luft. »Du musst jetzt–«

»Ich muss gar nichts. Wo ist er?«

»Hans hat ihn vor einer Stunde abgeholt und ins Kastbarshüs gebracht«, antwortete Oke. Hans Boyens war Tischler und gleichzeitig Bestatter auf der Insel. »Dort wird er bleiben, bis er später mit der letzten Fähre aufs Festland gefahren wird, in die Rechtsmedizin nach Kiel.«

»Dann fahr ich da jetzt hin.« Aenne wandte sich zum Gehen. Bis zu dem reetgedeckten Anbau der St.-Clemens-Kirche in Nebel, der als Leichenhalle der Insel genutzt wurde, war es nicht weit.

»Nein!« Oke griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück. »Aenne, tu das nicht. Erk ist…« Er suchte nach den richtigen Worten. »Er… er wurde sehr heftig getroffen. Sein Kopf, sein Gesicht, die Brust, überall. Behalte ihn so in Erinnerung, wie er war«, betonte er nachdrücklich. »Bitte.«

Aenne blieb stehen. »Moment.« Ein Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf. »Wenn der Leichnam so zugerichtet ist, wie könnt ihr dann sicher sein, dass es Papa ist? Ich sag’s ja, es muss sich um eine Verwechslung handeln!«

»Du weißt doch– seine Narbe an der Hand. Seine Kleidung. Die Papiere, die er bei sich trug. Und noch einige andere Sachen, die wir bei ihm gefunden haben.«

»Herr Bendixen hat Ihren Vater anhand all dieser Dinge identifiziert«, schaltete sich der Kommissar erneut ein. »Aber zusätzlich werden wir noch eine DNA-Analyse beantragen.« Jetzt wandte er sich an Aennes Mutter: »Deshalb brauchen wir eine Zahnbürste, Haarbürste oder etwas in der Art von Ihrem Mann.«

»Ja, natürlich.« Luise Jannen ging in Richtung Wohnzimmertür, um die benötigten Dinge aus dem Bad zu holen.

»Mama.« Aenne machte einen Schritt auf sie zu und packte sie am Arm. »Willst du denn gar nicht zu ihm? Sehen, was passiert ist? Es geht um Papa!«

Ihre Mutter hielt in ihrer Bewegung inne und schaute ihr gerade in die Augen. »Ich kann nicht.«

»Du kannst nicht?« Aenne hörte sich hysterisch auflachen. »Du willst nicht.« Sie ließ den Arm ihrer Mutter wieder los. »Ich will aber.« Energisch drehte sie sich um, ließ ihre Mutter und die Polizisten stehen und stolperte aus dem Zimmer.

4

»So, dann schlaf schön, meine Große.« Jan Rosenboom beugte sich über seine Tochter, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie auf die Stirn. Er nahm die Bettdecke und kuschelte sie noch etwas tiefer darin ein. »Hast du Tuchi?«

»Mmh.« Beeke holte ihr altes zerschlissenes Schnuffeltuch unter dem Kopfkissen hervor. Sie drückte es in einer Hand fest zusammen und hielt es sich vor Nase und Mund, um gleich darauf die Hand wieder sinken zu lassen. »Aber Na fehlt noch. Papa, bringst du mir Na?«, fragte sie mit müder Stimme.

»Ja klar.« Jan stützte seine Hände auf die Oberschenkel und erhob sich von der Bettkante. »Hast du denn irgendeine Ahnung, wo sie vielleicht sein könnte?«

Es war jeden Abend das Gleiche, Tuchi oder Na, eins von beiden fehlte immer und war in den Untiefen des Kinderzimmers oder gar des ganzen Hauses verschwunden. Doch heute wollte Jan kein Aufheben davon machen. Heute nicht.

»Irgendwo hier, glaube ich.« Beeke gähnte und schloss die Augen.

Das ist ja sehr hilfreich, dachte Jan und blickte sich im Zimmer um. Doch er hatte Glück. Er entdeckte Beekes Stofftier unter dem kleinen Basteltisch, auf dem noch die Wachsmalstifte und die Reste des Geschenkpapiers für Onnos Geburtstag lagen, bückte sich und angelte die Gans unter dem Tisch hervor. Beeke hatte sie von seinen Eltern zur Geburt geschenkt bekommen. Damals war sie noch weiß gewesen, doch mittlerweile hatte sie eine undefinierbare gräuliche Farbe angenommen, und der Hals war vom vielen Herumschleppen lang und dünn geworden.

»Hier ist sie«, sagte Jan und drückte seiner Tochter das Kuscheltier in die freie Hand. Sie umschloss den Hals mit ihren kleinen Fingern und ließ die Gans unter der Decke verschwinden. »Und nun wird aber geschlafen. Es ist wirklich schon spät.« Er gab Beeke abermals einen Kuss und knipste die Nachttischlampe aus. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Papa«, murmelte Beeke in ihr Schnuffeltuch. Im Hinausgehen hörte er noch, wie sie leise sagte: »Und du vergisst wirklich nicht, Mama nachher zu erzählen, dass ich mit Onno Erster bei der Strandrallye geworden bin?«

»Nein, ganz bestimmt nicht.« Er zog die Kinderzimmertür bis auf einen schmalen Spalt zu. »Versprochen. Und jetzt gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Jan ließ das Licht im Flur brennen und ging mit schweren Schritten die Treppe in den Wohnbereich hinunter. In der Küche öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Flasche Bier heraus. Das Ploppen des Bügelverschlusses hallte unnatürlich laut in der Stille des Hauses nach.

Auf dem Tresen lag eine Nachricht von Aenne, in aller Eile auf den Rand der Tageszeitung geschmiert: »Bin mit Knut draußen«.

Mehr nicht.

Jan nahm einen Schluck aus der Bierflasche und trat ans Fenster. Dunkelheit hatte sich über das Wattenmeer gelegt, und die ersten Sterne zeigten sich am klaren nachtblauen Himmel.

Irgendwo da draußen war seine Frau. Er blickte auf die Uhr. Schon nach neun. Langsam wurde er unruhig. Er wusste, dass er sich eigentlich keine Sorgen machen musste, wenn Aenne mit Knut unterwegs war. Sie wusste, was sie tat. Sie segelte in den Gewässern um Amrum, seit sie ein kleines Kind war. Nichts war ihr fremd, es war ihr Revier. Sie ging kein unüberlegtes Risiko ein. Aber heute? Heute war alles anders.

Was war bloß passiert?

Er nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Sein Schwiegervater, erschossen. Ermordet. Viel mehr wusste er nicht. Und glauben konnte er von dem wenigen noch gar nichts.

Aenne hatte am Nachmittag versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Er war schon auf der Rückfahrt von Kiel gewesen und hatte kurz am Baumarkt in Bredstedt haltgemacht. Er hatte die Zeit, die ihm bis zur nächsten Fähre geblieben war, nutzen wollen, um sich verschiedene Gartenhäuser anzusehen, denn auf der Insel gab es keinen Baumarkt. Jetzt, da der Herbst vor der Tür stand, wollte er zu Hause einen neuen Schuppen aufstellen. Sie brauchten mehr Platz für die Fahrräder, die Gartenmöbel und das große Trampolin, das Beeke zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt bekommen hatte.

Das Handy hatte er natürlich im Auto liegen lassen. Er gehörte nicht zu den Menschen, die permanent online und zu jeder Zeit erreichbar sein mussten. Doch heute hätte er sich das gewünscht. Denn erst als er in der Warteschlange auf dem Fähranleger gestanden hatte, hatte er die Nachricht auf der Mailbox bemerkt.

Aenne war kaum zu verstehen gewesen, so leise und abgehackt hatte sie gesprochen. Ziemlich wirr und durcheinander hatte sie irgendetwas von ihrem erschossenen Vater, Rechtsmedizin und Gesicht gestammelt. Im Hintergrund war das Brummen des VW-Busses zu hören gewesen. Sie musste während der Fahrt angerufen haben.

Jan hatte sofort versucht, sie zurückzurufen, doch da war es schon zu spät gewesen. Er hatte sie nicht mehr erreicht, Aenne hatte ihr Handy ausgeschaltet. Auch zu Hause war niemand ans Telefon gegangen. Also hatte er seinerseits eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und es danach bei seiner Schwiegermutter versucht. Ohne Erfolg.

Die Überfahrt hatte unerträglich lange gedauert. Es war auch noch die »Uthlande« gewesen, die einen Zwischenstopp auf Föhr einlegte, weshalb sie für die Fahrt eine halbe Stunde länger brauchte als die Direktfähren. Im Gegensatz zu vielen Amrumern, die die Fährfahrten in der Regel als ein nervtötendes, aber leider notwendiges Übel über sich ergehen ließen, fand Jan normalerweise Gefallen daran. Er mochte es, langsam, Stück für Stück, Abstand zum Festland zu bekommen und zugleich viele Dinge, seien es wichtige oder unwichtige, hinter sich zu lassen. Es erfüllte ihn noch immer mit freudiger Erwartung, wenn er die Insel am Horizont auftauchen sah. Den Leuchtturm machte er stets als Erstes aus. Dann die Odde, den Fähranleger in Wittdün und natürlich Steenodde mit seinem kurzen hellen Sandstrand und der Landungsbrücke. Wenn die Fähre schon nah genug war, konnte er sogar den Giebel seines Hauses erkennen. Die Insel hatte ihn schon bei seinem ersten Besuch magisch angezogen. Seit er Aenne kannte, war sie sein Zuhause.

Heute jedoch war die Fahrt eine einzige Qual gewesen. Immer wieder hatte er versucht, Aenne zu erreichen. Doch vergeblich. Schließlich war Jan in seiner Verzweiflung auf die Idee gekommen, die Polizei anzurufen, und hatte Oke Bendixen ans Telefon bekommen. Mit knappen Sätzen hatte dieser ihm das Ungeheuerliche geschildert. Sein Schwiegervater war in den Dünen am Quermarkenfeuer erschossen aufgefunden worden. Und Aenne war zum Kastbarshüs gefahren und hatte die Leiche ihres Vaters gesehen. Es war unvorstellbar. Wer sollte seinen Schwiegervater umgebracht haben? Wer sollte ihm so etwas antun?

Jan betrachtete sein Spiegelbild im Fenster. Mit einer Hand strich er sich über die Stirn und das Gesicht. Er fühlte sich auf einmal unendlich müde. Abermals blickte er auf die Uhr. Halb zehn. Die Landungsbrücke lag verlassen im gelblichen Licht der Laternen. Und immer noch kein Zeichen von Aenne. Was macht sie nur da draußen?, überlegte er. Eine halbe Stunde gebe ich ihr noch, danach rufe ich die Küstenwache.

Er wandte sich vom Fenster ab und ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten. Aenne war allgegenwärtig. In dem geblümten Porzellankrug vom Flohmarkt, der auf dem großen Esstisch stand, gefüllt mit einem Strauß bunter Dahlien. In dem alten Sessel ihrer verstorbenen Großmutter, den sie in einem dunklen pinkfarbenen Stoff hatte beziehen lassen– ihr »Bonbon«, wie sie ihn nannte. In dem Klavier gleich neben dem vollgestopften Bücherregal. In den Zeitschriftenstapeln auf dem Fußboden, den zahlreichen Fotografien an den Wänden.

Aenne.

Er hatte sofort gewusst, dass sie es war. Die Einzige und Richtige. Es war auf der Landungsbrücke hier in Steenodde gewesen, an einem sonnigen Tag im August. Jan war wegen seiner Doktorarbeit auf die Insel gekommen. Mit dem kleinen Schiff des Öömrang Ferian hatte er sich gemeinsam mit zwei Zivildienstleistenden auf den Weg zu den Seehundbänken machen wollen, als sie die Landungsbrücke heruntergekommen war, auf dem Rückweg von ihrem Boot. Sie kannte Nanning, den Kapitän ihrer Schiffstour, und war kurz stehen geblieben, um ihn zu begrüßen.

Sie war so klein, fast einen Kopf kleiner als er. Jan erinnerte sich daran, wie sie vor ihm gestanden hatte. Die kastanienbraunen Locken, wild und unbändig, schimmerten in der Sonne. Dazu die blauen Augen, offen, interessiert und gleichzeitig dunkel und geheimnisvoll. Die Sommersprossen auf der sonnengebräunten Haut. Und das Lächeln. Ihr Lächeln, das eine markante Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen entblößte. Das zwei tiefe Grübchen um ihre Mundwinkel zauberte. Und das die Welt um sie herum zum Leuchten brachte. Es war dieses Lächeln gewesen, das ihn irgendwo ganz tief mittendrin getroffen hatte. Von da an war sein Herz besetzt gewesen.

Das war nun schon über sieben Jahre her, und Jan wusste, dass es die bisher besten Jahre seines Lebens gewesen waren. Aenne war bunt. Sie brachte Farbe und Wärme in sein Leben. Sie war frei und gab ihm dennoch so viel Halt. Als ihnen zu all dem Glück auch noch Beeke geschenkt worden war, wusste er, dass er endgültig angekommen war.

Doch was machte der Tod seines Schwiegervaters jetzt mit seiner kleinen Familie? Dieser Mord? Aenne hatte ihrem Vater immer sehr nahegestanden. Sie waren ein Herz und eine Seele gewesen, aus demselben Holz geschnitzt, wie ihr Vater es einmal selbst formuliert hatte. Sie lachten über dieselben Dinge, hatten einen ähnlichen Blick auf die Welt um sich herum und teilten dieselbe große Leidenschaft: das Segeln. Ihr Vater hatte Aenne so viel bedeutet. Wie würde sie mit diesem Verlust umgehen? Mit diesem Verbrechen? Jan spürte eine unbestimmte Angst in sich aufsteigen, Angst, dass die heutigen Geschehnisse ihr Leben für immer verändern würden.

Und Beeke?

Großer Gott, sie mussten das alles morgen ja auch noch Beeke erklären, was und wie auch immer.

Jan stöhnte. Er rieb sich den Nacken und nahm einen weiteren großen Schluck aus der Bierflasche. Zum Glück hatte Aenne es am Nachmittag noch irgendwie geschafft, ihre Freundin Insa anzurufen und sie zu bitten, sich um Beeke zu kümmern. Insa hatte Beeke vom Kindergeburtstag abgeholt, sie nach Hause gefahren und war bei ihr geblieben, bis er gekommen war. Gut, dass es Insa gab! Schon so manches Mal war sie eingesprungen und hatte Beeke betreut, wenn Aennes Eltern verhindert waren und Jan und Aenne gemeinsam auf dem Festland einen Termin wahrnehmen mussten oder wichtige Besorgungen zu erledigen hatten. So mussten sie Beeke nicht jedes Mal den langen Weg bis nach Flensburg, Husum oder Kiel mitnehmen. Jetzt war Insa gegangen, Beeke schlief, und Jan war allein.

Er trat zurück ans Fenster. Allmählich steigerte sich seine Unruhe.

Aenne, komm nach Hause, flehte er.

Da sah er zwei Lichter auf die Hafeneinfahrt zuhalten. Langsam zeichneten sich die Umrisse eines Bootes ab, das Knuts Liegeplatz ansteuerte. Das war sie!

Jan stellte die Flasche ab, eilte aus dem Haus und lief ihr entgegen. Laut rief er ihren Namen.

Die Wellen klopften leise gegen den Bootsrumpf und wiegten das Segelboot im seichten Rhythmus des Meeres. Auf und ab, auf und ab, im ewig gleichen Takt. Aenne lag zusammengekauert auf der Holzbank im Heck. Sie hatte den Motor ausgestellt und die Pinne festgemacht. Die Segel hatte sie erst gar nicht gehisst. Sie hatte sich auf der Seite zusammengerollt und hielt die Beine mit ihren Armen fest umschlungen. Wie lange sie wohl schon so dalag? Minuten? Stunden? Sie wusste es nicht. Es war ihr auch egal. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Mittlerweile war es kühler geworden. Die Kälte kroch in ihre Glieder, und Feuchtigkeit legte sich auf ihren Körper. Doch von alldem spürte Aenne nichts.

Mein Vater ist tot. Dieser eine Satz drehte sich immer und immer wieder in ihrem Kopf. Eine Endlosschleife. Und doch weigerte sich irgendetwas in Aenne, diese vier Worte tiefer in ihr Bewusstsein vordringen zu lassen. Irgendetwas in ihr stemmte sich dagegen, den Gedanken weiter oder gar zu Ende zu denken.

Sie hatte nicht geweint. Etwas war blockiert und hielt die Tränen unter Verschluss. So als wollte eine innere Barriere sie vor der Wahrheit schützen. Vor der Katastrophe. Ihr war, als stünde sie neben sich und betrachtete eine fremde Person. Eine fremde Person, die auf einer Bank in einem Boot irgendwo in der Nordsee trieb. Hatte sie einen Schock? Fühlte sich so ein Schock an? Sie hatte keine Ahnung.

Sie zog die Beine noch ein wenig dichter an den Körper heran. Ihr Blick wanderte hinauf in den klaren dunklen Abendhimmel. Über ihr spannte sich die samtene Schönheit des endlosen Firmaments. Nirgends war der Sternenhimmel weiter, nirgends leuchtender als hier draußen. Alles war so ruhig und friedlich. Der große Wagen, Kassiopeia, der Polarstern, alles war noch an seinem Platz. Dort, wo es hingehörte. Der Mond stand als schmale Sichel hoch über dem Horizont, unbeeindruckt zog er seine Bahn. Nichts hatte sich verändert, die Welt war wie immer.

Und meine eigene Welt?, fragte sich Aenne. Von einer Sekunde zur nächsten aus ihrer Umlaufbahn geschleudert? Zerrissen, zerschossen, zerstört? Einfach so, von jetzt auf gleich, während alles andere seinen gewohnten Gang ging? Während sich die Erde weiterdrehte, so als wäre nichts geschehen?

Das konnte nicht sein.

Das durfte nicht sein.

In der Ferne sah Aenne die Lichter von Wittdün. Etwas weiter entfernt schickte der Leuchtturm seine Strahlen im steten Rhythmus unbeirrt über das Wasser. Sie wollte nicht zurück auf die Insel. Sie wollte nicht zurück an den Ort, an dem sie dem Grauen ins Auge geblickt hatte. Nicht dorthin, wo ihr Vater auf so brutale Weise ums Leben gekommen war. Und wo sie sich würde fragen müssen, was genau geschehen war.