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Ob bei einer außergewöhnlichen Busfahrt, während einer Ehekrise, in der Zirkusmanege oder in einer Geisterstadt im mittleren Westen der USA, überall stellt sich die Frage nach dem Leben und dem Tod, nach der Welt dazwischen und dem, was uns jenseits des weißen Lichts erwarten könnte. Ruben Schwarz lässt uns in mehr oder weniger kurzen Geschichten die Luft anhalten, bringt uns zum Schaudern und Bangen, aber auch zum Nachdenken. Die Angst vor dem Ende ist möglicherweise vollkommen unbegründet, denn vielleicht ist unsere Welt nur eine von vielen. Prädikat: Spannung garantiert.
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Seitenzahl: 227
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ENDSTATION
Ruben Schwarz
2024
© 2024 Ruben Schwarz
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Lonas Trip
Liebes (-) Tagebuch
TOMBMEADOWS
Hinter tausend Stäben
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Lonas Trip
Hinter tausend Stäben
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Lonas Trip
Ruben Schwarz (2022)
Das Erste, was Lona empfindet, ist die Stille, die sie umgibt wie ein Kokon aus Watte. Sie fühlt sich leicht und ist kein bisschen außer Atem. Eben erst muss sie wohl aufgestanden sein, jedenfalls kommt es ihr so vor. Sie hat gelegen. Genau kann sie sich an ihren Morgen nicht erinnern. Und da ist der Nebel, durch den sie kaum weiter als ein paar Meter sehen kann. Sie trägt ihren hellblauen Jogginganzug und die Laufschuhe von PUMA, die schon bessere Zeiten erlebt haben, sich ihren Füßen jedoch auf den vielen gemeinsamen Kilometern so optimal angepasst haben, dass sie sie erst ersetzen wird, wenn sie eines Tages buchstäblich auseinanderfallen.
Vermutlich sind es Nadelbäume, deren düstere Konturen sich zu ihrer Rechten hinter dem weißlichen Nebelvorhang abzeichnen. Der Asphalt zu ihren Füßen glänzt nass, ein paar feuchte braune Blätter liegen umher. Außer ihr ist hier anscheinend niemand unterwegs.
Es muss Herbst sein, es ist ihr aber weder zu kalt noch zu warm, auch spürt sie keinerlei Wind. Hat sie ihre heutige Laufrunde schon hinter sich oder will sie gerade erst loslegen? Seltsamerweise kann sie sich nicht erinnern, und ebenso seltsam ist es, dass sie das nicht im Geringsten stört.
Weiter hinten im Nebel entdeckt sie ein trübes Licht, das langsam näherkommt; nein, es sind zwei Lichter. Vielleicht ein Auto? Geräusche kann sie noch immer nicht vernehmen. Lona steht direkt neben der Straße, und erst jetzt fällt ihr das Haltestellenschild auf, ein grünes H in einem grünen Kreis auf gelbem Grund, welches keine fünf Meter von ihr entfernt steht. Sie geht darauf zu. Unterhalb des Schildes schält sich eine rechteckige Metallfläche aus dem Nebel, auf der sich vermutlich der Fahrplan befinden sollte. Es gibt aber keinen, die Fläche ist jungfräulich weiß.
Sie dreht sich um und sieht dem Bus entgegen. Die erleuchtete Frontscheibe teilt die Fetzen aus kondensierter Flüssigkeit, die noch eben reglos in der Luft hingen, wie einen Vorhang. Jemand sitzt am Steuer, natürlich tut er das. Es ist wahrscheinlich ein Mann, obwohl Lona bisher nur die Konturen seines Oberkörpers sieht. Der Dieselmotor gibt ein beruhigendes Nageln von sich, das durch den Nebel seltsam gedämpft und verfremdet wirkt.
Sie wird mitfahren, da ist Lona sich ganz sicher. Sie ist es gewohnt, schnell und entschlossen Entscheidungen zu treffen. Sinnvolle Alternativen kann sie allerdings auch nicht erkennen. Das Fahrzeug hält direkt neben ihr, die Tür öffnet sich mit dem gewohnten Fauchen, und der Fahrer wendet ihr sein Gesicht zu. Der Jüngste ist er nicht mehr, ein untersetzter Mann mit einem liebenswürdigen Lächeln. Der weiße Haarkranz, der seinen ansonsten kahlen Kopf einrahmt, ist kurzgeschnitten. Er trägt ein blauweiß kariertes Hemd, dessen obersten Knopf er geschlossen hat. Das Gesicht ist von ausgeprägten Falten um die Augen und in den Mundwinkeln gezeichnet. Er nickt freundlich. „Und?“, sagt er mit einer weichen, nicht sehr tiefen Stimmlage.
„Wohin fahren Sie?“, fragt Lona und staunt über ihre Stimme, die nicht ihre eigene zu sein scheint, seltsam verfremdet und dünn klingt.
„Streng nach Fahrplan“, gibt der Fahrer Auskunft. Seine Augen sind hellblau und blicken geradezu gütig wie die eines guten Freundes, eines väterlichen Freundes, eines Lieblingsonkels. „Bis zur Endstation.“ Lona greift nach der Haltestange und erklimmt die Stufe des Einstiegs. Einen Moment bleibt sie zögernd beim Fahrer stehen. Sie hat keinen Fahrschein. Sie fährt sonst nie Bus, nimmt gewöhnlich das Auto, daran erinnert sie sich.
„Setz dich erstmal hin, Mädchen“ sagt der Fahrer, während sich die Tür mit einem Zischen hinter Lona schließt. Mädchen, was soll das? denkt sie für einen Moment, aber es fällt ihr schwer, dem Alten dafür böse zu sein. Er sieht aus, als hätte er das Renteneintrittsalter schon um einige Jahre überschritten, und sie selbst ist schließlich … wie alt? Sie lässt ihren Blick kurz durch das Innere des Busses schweifen. Zuerst sieht es aus, als wäre sie der einzige Fahrgast, aber ganz hinten sitzt eine alte Dame mit weißer Dauerwellenfrisur in einem cremefarbenen Wollmantel. Lona setzt sich auf einen der vorderen Plätze auf der rechten Seite ans Fenster.
Wie alt ist sie eigentlich? Der Fahrer hat sie zum Nachdenken gebracht. Melina ist jetzt elf und Dominiks Achtunddreißigsten haben sie erst am vorletzten Wochenende gefeiert. Dann muss sie … ja natürlich, sie ist vierunddreißig. Immer noch. Wie kann man sowas vergessen?
Der Bus setzt sich in Bewegung. Im Innenraum klingt das Motorengeräusch nur sehr schwach. Die Fahrbewegungen spürt man kaum. Das Haltestellenschild gleitet an ihr vorbei, und der Bus wird schneller. Der Nacken des Fahrers, über den mehrere waagerechte Falten von einem Ohrläppchen zum anderen verlaufen, ist sauber ausrasiert, der Kragen des Hemdes ist exakt gebügelt. Draußen, jenseits der Frontscheibe sieht Lona nur milchiges Weiß. Er fährt viel zu schnell, denkt sie, aber ohne wirkliche Besorgnis. Zumindest bei dieser schlechten Sicht ist der Bus eindeutig zu schnell, dennoch fühlt sie sich gut aufgehoben.
Es war richtig, dass sie eingestiegen ist. Andererseits hat es auch keine anderen sinnvollen Optionen gegeben. Sie hat einsteigen müssen. Es ist beinahe wie ein Zwang gewesen. Wohin fährt der Bus? Der Fahrer ist offensichtlich nicht sehr auskunftsfreudig. An welcher Haltestelle ist sie eingestiegen, und wohin muss sie überhaupt? An Dominik und Melina hat sie sich immerhin erinnert, und der Rest wird auch noch kommen. Nach und nach. Amnesie? Fühlt sich das so an? Wie man hört, ist es ein furchtbares Gefühl, sich an nichts zu erinnern. Nicht an seinen Namen, seinen Heimatort, seine Wohnung, ob man verheiratet ist oder nicht, und wohin … Aber sie ist kein bisschen beunruhigt. Der Bus ist eindeutig ein sicherer Ort; für sie der sicherste Ort auf Erden im Moment. Sie vermisst nichts. Das Ziel wird sich schon finden. Ihre persönliche Haltestelle, oder auch die Endstation, das wird sich noch herausstellen.
Hatten sie sich gestritten, Dominik und sie? Das tun sie normalerweise nie. Und wenn, dann geht es um unbedeutende Dinge, und es führt nie zu ernsthaftem Groll. Aber sie ist zum Laufen gegangen, das weiß sie noch. Ist sie dabei von ihrer Wohnung aus gestartet (haben sie vielleicht ein eigenes Haus?) oder ist sie mit dem Auto los? Welches Auto? Ihr guter alter Lupo, na klar. Den hatte sie schon vor Melinas Geburt; das ehemals leuchtende Rot ist schon deutlich blasser geworden. Sie hat ihn abgestellt auf dem … So langsam beginnen die vielen Erinnerungslücken doch ein bisschen zu nerven. Der Parkplatz am … Lona schüttelt mit dem Kopf und blickt dann nach draußen. Der weiße Nebel hinter der Fensterscheibe ist undurchdringlich.
Sie dreht sich kurz und unauffällig um zu der alten Dame hinten im Bus. Man will ja nicht aufdringlich wirken. Die Frau nickt ihr lächelnd zu. Mit beiden Händen hält sie eine braune Tasche, die auf ihrem Schoß ruht. Die Straße verläuft in sanften Kurven. Lona beobachtet, wie der Fahrer mit routinierten Bewegungen die Lenkung bedient, und denkt, dass es schön wäre, etwas zum Lesen dabei zu haben. Sie betrachtet die Hände in ihrem Schoß. Der rechte Ärmel ihrer Joggingjacke ist feucht und schmutzig. An ihrer rechten Hüfte und am oberen Teil des Hosenbeins haften ein paar nasse Blätter. Sie streift sie mit der Hand ab, so dass sie zu Boden fallen. Peinlich, hoffentlich ist dem Busfahrer ihr Aufzug nicht aufgefallen. Mit der Hand streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Pferdeschwanz, den sie sich immer zum Laufen bindet, hat sich offensichtlich gelöst. Gut, dass der Bus nicht so voll ist. Sie freut sich auf ihre Dusche.
Der Wagen hält mit dezent quietschenden Bremsen am Straßenrand an, und die Vordertür öffnet sich erneut. Ein junger Mann steigt ein, offensichtlich ein Punk. Den Fahrer, der nur kurz zu ihm aufschaut, würdigt er keines Blickes. Die halblangen, vermutlich schwarzgefärbten Haare des Punks stehen ihm wie Stacheln vom Kopf ab, das Gesicht ist ungewöhnlich blass, die Wangen sind eingefallen und unter den Augen trägt er dunkle Schatten. Der schmale Körper steckt in einer schwarzen, abgeschabten Lederjacke und die dürren Beine zeichnen sich in den hautengen Jeans detailreich ab. Auch der neue Mitreisende macht keinerlei Anstalten, einen Fahrpreis zu entrichten. Mit großen Schritten stapft er in seinen klobigen schwarzen Stiefeln an Lona vorbei, während der Bus schon wieder anfährt. Kaugummi kauend blickt er kurz auf sie herab und lässt sich kurz danach etwa in der Mitte des Busses auf einen der Sitze fallen.
Ich muss hingefallen sein, denkt Lona und betrachtet ihren schmutzigen Jackenärmel. Beim Joggen hingefallen, umgeknickt? Vielleicht ist sie auf dem feuchten Waldweg ausgerutscht. Die Fingerknöchel des kleinen und des Ringfingers ihrer rechten Hand weisen kleine Schürfwunden auf, die diese Vermutung unterstützen. Sie läuft seit Jahren mindestens jeden zweiten Tag dieselbe Strecke rund um den … ja, wo denn eigentlich genau? Immer, wenn sie ihren Nachtdienst beendet hat. Ihren Nachtdienst im … auf ihrer Etage. Wenn sie die alten Herrschaften mit ihren Tabletten versorgt und denjenigen, die nicht mehr in den gemeinschaftlichen Speisesaal kommen können, ihr Frühstück in die Zimmer gebracht hat. Um die Morgenhygiene kümmert sich dann die Frühschicht. Dieses Mal ist es Nuri gewesen, die erst seit Kurzem in der Residenz Rosengarten arbeitet. Nuri ist eine zauberhafte Person, die ebenso energisch und belastbar wie warmherzig und hilfsbereit ist. Nuri ist als Nachfolgerin für Dagmar gekommen, die nach ihrem zweiten Bandscheibenvorfall in den vorzeitigen Ruhestand gegangen ist. Es hat lange gedauert, bis Christine einen Ersatz gefunden hat. Wer weiß, vielleicht hat sie sich auch absichtlich Zeit gelassen, denn wenn die Mitarbeiter so dumm sind, dauerhaft für zwei zu arbeiten, warum sollten sie dann nicht auch ein paar Monate lang die Arbeit von drei Kollegen machen? Lona bemerkt, dass die anfängliche Gelassenheit, die sie seit ihrem … Aufwachen? … empfunden hat, zum Teil von ihr abgefallen ist. Sie ärgert sich sogar ein bisschen über Christines zwanghafte Sparpolitik. Aber wenn sie fair bleiben will, muss sie sich eingestehen, dass Christine, die Leiterin, nichts dafürkann. Die Sparpolitik kommt von oben. Christine ist nur diejenige, die sie umzusetzen muss. Dafür, dass sie chronisch unterbesetzt sind, werden sie immerhin auch noch mies bezahlt. Lona verzieht verächtlich das Gesicht.
Aber sie lässt es sich bei der Arbeit nicht anmerken. Jedenfalls gelingt ihr das meistens. Die alten Herrschaften können nichts dafür. Sie, Dennis und die anderen aus ihrem Team sind oft die einzigen Menschen, die viele der Bewohner überhaupt noch zu sehen kriegen.
Lona fällt plötzlich auf, dass die alte Dame hinten im Bus eine gewisse Ähnlichkeit mit Frau Semper hat, die außer von einer ehemaligen Nachbarin seit Jahren keinen Besuch mehr bekommt. Frau Sempers Tochter lebt in Speier und ist selbst nicht mehr gut zu Fuß. Lona erinnert sich, dass die Tochter ihre Mutter zuletzt ein paar Tage nach Weihnachten besucht hat. Ein Neffe hatte sie mit dem Wagen gefahren und schon nach kurzer Zeit wieder zum Aufbruch gedrängt.
Aber zwischen der Frau im Bus und Frau Semper besteht wirklich nur eine schwache Ähnlichkeit. Lonas Lieblingsschützling, ja, so kann sie es wirklich nennen, war nämlich seit einem halben Jahr auf den Rollstuhl angewiesen und hat in ihren letzten Wochen kaum noch das Bett verlassen. Und ja, Frau Semper ist tot. Das hat Lona für einen Moment vergessen. Sie weiß, woran Frau Semper gestorben ist, aber auch daran erinnert sie sich gerade nicht.
Der Bus hält erneut. Lona sieht draußen neben einem Haltestellenschild, unter dem ebenfalls eine leere Tafel ohne Fahrplan angebracht ist, ein kleines Mädchen stehen. Es trägt einen grünen Mantel und eine rote Strickmütze. Lona schätzt die Kleine auf höchstens sieben oder acht Jahre. Das Mädchen steigt ein und sagt mit einem dünnen Stimmchen höflich: „Hallo.“
„Hallo, Kleine“, sagt der freundliche Busfahrer. Auch Lona begrüßt das Mädchen, als es an ihr vorbeigeht und sich schräg hinter ihr auf die linke Seite des Mittelgangs setzt. Lona dreht sich noch einmal zu dem Mädchen um und nickt ihm lächelnd zu. Sie findet es befremdlich, dass keine erwachsene Begleitperson in der Nähe ist. Das Kind hat ganz allein im Nebel an einer verlassenen Bushaltestelle gewartet. Unverantwortlich!
Nachdem die Vordertür geschlossen ist und der Bus sich in Bewegung setzt, dreht Lona sich halb zu dem Kind um und fragt: „Na, wo fährst du denn so ganz alleine hin?“ Sie weiß, dass sie das nichts angeht, hat aber das drängende Gefühl, sich um die Kleine kümmern zu müssen. Die Situation kommt ihr seltsam vor.
„Ich muss bis zur Endstation“, sagt das Kind. Ihr schmales, blasses Gesicht erinnert Lona an Melina, als sie in diesem Alter war, und es wird ihr schmerzlich bewusst, dass sie ihre Tochter vermisst. Dabei ist Melina nur in der Schule und wird spätestens um vierzehn Uhr zu Hause sein. Zu Hause … Es ist Lona entfallen, wo das ist, aber das wird schon wieder.
„Und deine Mama lässt dich ganz allein mit dem Bus fahren?“, hakt sie nach. Der Punk, der ein paar Reihen hinter dem Mädchen sitzt, schaut noch immer Kaugummi kauend zu ihr nach vorn, und dreht den Kopf dann zum Fenster. Seine langen dürren Beine hat er seitlich im Mittelgang ausgestreckt.
„Die Mama weiß ja, wo ich bin.“ Der Busfahrer dreht sich zu Lona um und nickt wohlwollend. „Es ist alles in Ordnung“, sagt er und schaut dabei beunruhigend lange nach hinten, während der Bus zügig die Straße entlang brummt. Gerne würde Lona sich noch weiter mit dem Kind unterhalten, sie nach ihrem Namen fragen, aber sowohl das Kind selbst als auch der Fahrer machen auf sie den Eindruck, als seien weitere Unterhaltungen im Moment nicht erwünscht.
Zum letzten Mal hat Lona Frau Semper vor ein paar Tagen lebend gesehen. Es ist der vierzehnte Oktober gewesen, an das Datum erinnert sie sich. An jenem Morgen hat es lange gedauert, bis Lona Frau Semper zu Ende gefüttert hatte. Die kleine, dünne Person war allen in der Residenz Rosengarten ans Herz gewachsen. Früher hatte sie im Gemeinschaftsraum stundenlang mit anderen Bewohnern Halma oder Canasta gespielt und jedes Mal begeistert in die Hände geklatscht, wenn sie gewonnen hatte. Aber seit ein paar Wochen war sie beängstigend schwach gewesen. Doktor Briesch konnte keine akuten Ursachen für ihre Schwäche diagnostizieren, außer, dass ihr Herz nun einmal schon sehr lange und unermüdlich geschlagen hat, wie er es ausdrückte. „Kreislauf und Stoffwechsel sind medikamentös gut eingestellt“, hatte er gesagt. „So kann die Gute noch locker einige Jährchen durchhalten. Nur der alte Körper kann eben keine großen Sprünge mehr machen.“ Lona hatte sich damals ein bisschen über Doktor Briesch geärgert, der ihr ziemlich empathielos vorgekommen war.
An dem bewussten Morgen hatte Lona Frau Semper dabei geholfen, sich in eine sitzende Position aufzurichten, ihr das Kopfkissen aufgeschlagen und stützend hinter ihren Rücken geschoben.
„Kommen Sie, Emily“, sagte sie und führte der alten Dame den Löffel an die Lippen. „Ein bisschen was müssen Sie noch essen, damit sie wieder zu Kräften kommen, ja?“ Frau Semper öffnete gehorsam den Mund ein Stückchen und ließ sich mit einem weiteren Löffel Haferbrei mit Früchten füttern. Sie behielt es lange im Mund und schluckte die kleine Menge in mehreren Portionen hinunter. Dabei sah sie Lona mit ihren braunen Augen an, und Lona wusste genau, was die alte Frau in diesem Moment dachte. Sie kämpfte nämlich nur Lona zuliebe mit jedem weiteren Löffel, den sie ihr einflößte. In Wirklichkeit wollte sie nicht essen. Sie wollte auch nichts trinken. Nie mehr. Vor kurzem hatte Emily Semper ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr leben wolle. Es hatte ein bisschen gedauert, bis sie es geschafft hatte, ihren Wunsch durch die Blume zu äußern. Wie genau sie das Gespräch auf dieses Thema gebracht hatte, weiß Lona nicht mehr.
„Kindchen, ich bin so alt geworden. Und ich werde dieses Bett sowieso nicht mehr verlassen.“ Sie hatte ein paar beängstigend flache Atemzüge getan, bevor sie weitersprach. „Mir macht´s nichts aus, jetzt zu gehen.“ Ganz leise hatte sie gesprochen und danach ein schüchternes Lächeln gezeigt, das aussah wie bei einem jungen Mädchen. Lona erinnert sich, wie die Worte ihres Lieblingsschützlings sie erschüttert hatten, obwohl es nicht das erste Mal gewesen war, dass sie von einem alten und kranken Menschen Ähnliches zu hören bekam. Sie erinnert sich auch an die schmalen, weißen Hände, die Emily auf der Bettdecke abgelegt hatte, an die deutlich hervortretenden Äderchen und die vielen Pigmentflecken darauf. Sie erinnert sich auch an das Licht einer von Schleierwolken gedämpften Oktobersonne, das durch die zitronengelben Vorhänge gedrungen war und einen Teil des dunkelbraunen Sekretärs neben der Tür angestrahlt hatte, dem einzigen eigenen Möbelstück, das die alte Dame aus ihrer Wohnung in die Residenz hatte mitbringen können. Auf dem Sekretär standen einige Fotos in silbernen Rahmen, eins davon zeigte das rosige Gesicht eines kleinen Jungen. Der Rahmen trug einen schwarzen Trauerflor oben links in der Ecke.
Lona war nichts Besseres eingefallen als ihren Schützling mit billigen Kalendersprüchen abzuspeisen. Dass sie bestimmt bald wieder ganz gesund sein würde, dass sicher ihre Tochter bald wieder zu Besuch käme, dass sie nicht aufgeben dürfe und ähnlichen Unsinn, an den sie selbst geglaubt hatte. Aber es hatten an diesem Morgen schließlich noch zwei weitere Bewohner auf ihr Frühstück gewartet, und im Büro war noch das Protokoll der vergangenen Nacht für die Tagschicht zu erstellen. Dominik musste um 7.30 Uhr aus dem Haus, und sie hatte versprochen Melina heute zur Schule zu fahren, wo das Kind erst zur zweiten Stunde Geografie hatte. Falls das Auto ansprang, das in letzter Zeit zunehmend einen eigenen Willen entwickelte.
Lona denkt an das aufwühlende Gespräch, das sie drei Tage vor Emily Sempers Tod mit Dennis geführt hatte. Dennis war der Kollege, der sich bei den Nachtschichten mit Lona abwechselte. Sie hatten sich kurz im Büro auf eine Tasse von dem widerlich bitteren Kaffee getroffen, den die alte Kaffeemaschine ausspuckte, und den man nur mit Zucker und Milch herunterbekam. Dennis hatte …
Der Bus hält an. Lona ist so tief in ihre Erinnerungen abgedriftet, dass sie ihre Umgebung beinahe vergessen hat. Der Anblick, der … Es steigt ein Mann ein. Es ist ein Mann, das ist an seinem Körperbau und seiner Kleidung – einer dunkelblauen Arbeitshose und einem schwarzrot karierten Flanellhemd – deutlich erkennbar. Lona will gleich wieder wegsehen, schafft es aber nicht, denn die Erscheinung bannt ihren Blick auf eine beinahe hypnotische Art und Weise, wie es nur überirdische Schönheit oder unsägliches Grauen schaffen. Sie sieht den neuen Fahrgast zunächst nur von der Seite, und da, wo sich normalerweise der Kopf befindet, ist ein großer, annähernd runder blutiger Schwamm. Ein Teil seines Haarschopfes hat sich von der Kopfhaut gelöst und hängt ihm wie ein fransiges rotes Tuch in den Nacken.
Der unbefangene Blick des Busfahrers und das freundliche Nicken, mit dem er seinen neuen Fahrgast begrüßt, wirkt in dieser Situation beinahe noch absurder als der Anblick des Ankömmlings selbst. Als dieser sich nach hinten wendet, kann Lona das einzige verbliebene Auge sehen. Die rechte Gesichtshälfte des Ankömmlings scheint unversehrt, während die linke vollständig fehlt. Alles, was sich vielleicht früher mal links von seiner Nase befunden hat, besteht jetzt aus schartigen Knochensplittern und losen, rostbraunen Hautfetzen. So ist es auch nur ein Mundwinkel, der Lona für einen Moment schief angrinst, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagt.
Lona hat plötzlich das Gefühl, als sei es im Bus eiskalt. Sie spürt, wie sich ihre Brustwarzen fast schmerzhaft zusammenziehen, als seien es zwei versteinerte Rosinen. Der Mann hat dunkle Haare, von denen ihm einige Strähnen ins halbe Gesicht hängen. Andere enden irgendwo im blutigen Sumpf seines halbierten Schädels. Als er langsam an Lonas Platz vorbeigeht, wippt sein halber Skalp träge in seinem Nacken auf und ab. Auf der linken Schulter kleben winzige Knochensplitter mit Flocken aus weißlich gelber Hirnmasse. Der Ärmel und das linke Hosenbein sind von Blut getränkt.
Lona atmet hektisch und tief ein, und bemerkt im selben Moment, dass sie wohl sehr lange die Luft angehalten hat. Ihr Magen rebelliert. Ätzende Flüssigkeit steigt ihre Speiseröhre empor, und plötzlich hat sie Spuren von dem Porridge auf der Zunge, den sie heute Morgen offenbar noch vor ihrem Aufbruch gefrühstückt hat. Wahrscheinlich zwischen Tür und Angel, weil sie wie immer im Zeitdruck ist. Das Zeug ist schauderhaft sauer, aber sie schluckt es tapfer herunter, und um sich nicht übergeben zu müssen, fokussiert sie ihren Blick auf den blauweiß gemusterten Stoff der Rückenlehne vor ihrem Sitzplatz. Es ist der einzige Doppelsitz, der sich zwischen ihr und der Vordertür des Busses befindet.
Der Zombie – das Wort schießt Lona spontan durch den Kopf - setzt sich schräg hinter Lona auf einen Platz am Mittelgang, direkt hinter das kleine Mädchen und zwei Reihen vor dem Punk. Zombie, denkt sie noch mal. Er ist ein Zombie. Er ist tot. Zweifelsfrei. Niemand steigt in einen Bus, dessen Gehirn zum Teil auf seinem Hemd und zu einem weiteren Teil wer weiß wo ist. Sie möchte sich umdrehen und ihn ansehen, möchte sich davon überzeugen, dass sie sich geirrt hat, dass sie einer Halluzination erlegen ist. Aber sie traut sich nicht. Sie will, dass es eine Halluzination bleibt. Soweit sie das beurteilen kann, hat keiner der anderen Fahrgäste schockiert oder zumindest überrascht reagiert, als der Zombie den Bus bestieg. Der Busfahrer hat ihm nur freundlich zugenickt, als sei es das Normalste von der Welt, wenn Fahrgäste mit halbierten Schädeln öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Das kleine Mädchen hat weder entsetzt aufgeschrien noch zumindest leise zu weinen begonnen.
Plötzlich ist Lona sich sicher, dass sie für einen Moment eingenickt war und das ganze nur … Oder sie schläft vielleicht immer noch? Vielleicht schläft sie überhaupt die ganze Zeit. Nicht unwahrscheinlich, dass sie in diesem Moment zu Hause in ihrem Bett liegt. Mit einem Mindestmaß an gesundem Menschenverstand muss jeder zu diesem Ergebnis kommen.
Aber der Bus fährt weiter und Lona starrt nach vorn, ist sich beinahe sicher, dass sich ihre Halswirbel versteift haben und sie den Kopf selbst dann nicht drehen könnte, wenn sie es wollte. Aber sie will ja gar nicht. Sie will nicht, dass sie wach ist und kaum drei Meter von ihr entfernt tatsächlich eine lebendige Leiche sitzt, deren Anblick einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Dabei hat sie schon häufig tote Menschen gesehen. Das bringt die Arbeit in einer Seniorenresidenz mit sich. Und tote Menschen sehen nicht immer schön aus, selbst wenn sie ihren letzten Atemzug im Bett getan haben. Nicht so friedlich wie Frau Semper, Emily, wie sie sich gern nennen ließ, weil sie ihren Vornamen Emilie nicht mochte. Emilie sei vorsintflutlich, hatte sie mal zu Lona gesagt. Er klänge als stamme sie aus dem vorigen Jahrhundert. Dabei war Lona davon überzeugt, dass Frau Semper damit nicht das 20. Jahrhundert meinte, denn in diesem war sie selbst schließlich auch geboren. Mit dem vorigen Jahrhundert war im Fall von Frau Semper eindeutig das neunzehnte gemeint.
Emily Semper jedenfalls ist eine schöne Leiche gewesen. Natürlich nur auf die Weise wie eine Vierundachtzigjährige schön sein kann. Die Kolleginnen hatten Lona berichtet, Frau Semper hätte total friedlich und entspannt ausgesehen, als man sie am Morgen in ihrem Bett vorfand. Ihre Hände lagen geöffnet auf der glattgestrichenen Bettdecke, beinahe als habe sie noch vorgehabt sie selbst zu falten. Ein bisschen hat Lona es bedauert, in Emilys Todesnacht keinen Dienst gehabt zu haben. Vielleicht hätte sie ihren Lieblingsschützling noch einmal in seinem Zimmer aufgesucht, vielleicht hätte sie ihr in den letzten Minuten beistehen können.
Aber sie weiß ja, dass Frau Semper ziemlich sicher nicht allein gewesen ist. Es ist zwar nicht mehr als eine Vermutung, aber sie glaubt die Person zu kennen, die in Emilys letzten Minuten bei ihr war. Jedoch hat Lona keine Ahnung, wie sie mit diesem Verdacht umgehen soll. Emily ist tot, daran lässt sich nichts mehr ändern. Und sie hatte schließlich mehr als einmal den Wunsch geäußert, hatte sogar darum gefleht, dass man ihr helfen möge einen Schussstrich zu ziehen. Weil nichts mehr kommen würde, wie sie sagte, weil schließlich alles schon erlebt sei, was es für sie zu erleben gab.