Heimatwelt - Ruben Schwarz - E-Book

Heimatwelt E-Book

Ruben Schwarz

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Beschreibung

Zwei Völker leben auf der Morgenwelt, wo die Sonne niemals untergeht: Die Bewohner von Blue-Crab-Haven, eine moderne, raumfahrende Zivilisation, und die Agrianer, die jeglichen technischen Fortschritt ablehnen. Von der heranrückenden Nachtseite und ewiger Kälte bedroht, zetteln Letztere einen Krieg um Ressourcen, Macht und eine neue Heimat an, während Erstere eine Expedition ins All starten, um ihre gemeinsame, ursprüngliche Heimatwelt zu suchen: Terra. Was sie dort finden, wird ihr Leben für immer verändern … Lassen Sie sich von Ruben Schwarz in eine Welt von Übermorgen entführen, in der positronische Schiffssysteme ein Eigenleben entwickeln und Super-Intelligenzen eingreifen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Über das Buch:

Zwei Völker leben auf der Morgenwelt, wo die Sonne niemals untergeht: Die Bewohner von Blue-Crab-Haven, eine moderne, raumfahrende Zivilisation, und die Agrianer, die jeglichen technischen Fortschritt ablehnen. Von der heranrückenden Nachtseite und ewiger Kälte bedroht, zetteln Letztere einen Krieg um Ressourcen, Macht und eine neue Heimat an, während Erstere eine Expedition ins All starten, um ihre gemeinsame, ursprüngliche Heimatwelt zu suchen: Terra.

Was sie dort finden, wird ihr Leben für immer verändern …

Lassen Sie sich von Ruben Schwarz in eine Welt von Übermorgen entführen, in der positronische Schiffssysteme ein Eigenleben entwickeln und Super-Intelligenzen eingreifen.

 

Über den Autor:

Ruben Schwarz wurde Mitte der 1950er Jahre im Herzen des Ruhrpotts geboren und ist in Rufweite des heutigen Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen aufgewachsen. Obwohl Deutsch in der Schule von Anfang an zu seinen Lieblingsfächern gehörte, kam er erst sehr spät zum Schreiben. Nach der Schule absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Industriekaufmann, wechselte jedoch nach wenigen Jahren in den Medienvertrieb, wo er viele Jahre für große Tageszeitungen in Essen und Düsseldorf tätig war. Familie und Beruf hatten in diesen Jahren den Vorrang. Gelesen hat Ruben Schwarz stets gern und viel. Neben Science-Fiction kamen dabei u.a. die Klassiker der Weltliteratur zu ihrem Recht. Am meisten geprägt wurde er jedoch von seinem Lieblingsautor und Vorbild Stephen King. Das spiegelt sich in seinen eigenen Werken wider. Angefangen hat alles, als Ruben Schwarz eines Tages ein Buch las, bei dem ihm der Gedanke kam, dass er das selbst wohl besser hätte schreiben können. Inzwischen gibt es von ihm sechs Thriller und zwei Science-Fiction-Romane. Großen Wert bei seinen Büchern legt er auf glaubhafte Charaktere, die einen Hintergrund und eine Vergangenheit haben. Ruben Schwarz lebt heute in zweiter Ehe am Rand des Bergischen Landes. Seine Heimatstadt Essen kann er aber von dort aus glücklicherweise in dreißig Minuten erreichen.

 

Impressum:

6/2024

© telegonos-publishing www.telegonos.de

Str. Des Friedens 14, 17194 Vollratthsruhe

© Ruben Schwarz

(Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der Website)

Lektorat, Covergestaltung: Alexandra Balzer

Bildrechte: Adobe Stock

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowieso Übersetzung, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

 

 

 

Jeder Planet ist Erde, für diejenigen, die auf ihm leben.

Isaac Asimov, russisch-amerikanischer Science-Fiction-Autor und Biochemiker

 

„Euere Schuld, Deichgraf!“schrie eine Stimme aus dem Haufen.

Aus Der Schimmelreiter von Theodor Storm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

HEIMATWELTENScience-Fiction

Ruben Schwarz

 

Inhalt

 

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

 

 

 

1

 

Der Seewind blies scharf aus Südosten und riss die winzigen weißen Dampfwölkchen, die Tilly mit jedem ihrer tiefen Atemzüge ausstieß, rasch mit sich fort in Richtung der Dünen. Den kleinen Personengleiter hatte sie am Rand des Hochmoors abgestellt, etwa acht Kilometer von hier entfernt. Das tat sie immer, wenn sie das Dorf Horastede besuchte, zum einen aus Respekt vor der Kultur der Dorfbewohner, denen ihre einfache und naturverbundene Lebensweise wichtig war, und zum anderen, weil sie nunmehr seit Jahrzehnten ihre langen Wanderungen und Läufe durch die Natur liebte, und jede Gelegenheit dazu nutzte, die sich ihr bot.

Natürlich spürte Tilly inzwischen, dass ihr Alter seinen Tribut forderte; sie rannte längst nicht mehr so schnell und fühlte sich am Ende einer Trainingseinheit deutlich erschöpfter als früher, aber für eine Frau Mitte der Siebziger war sie in sehr guter körperlicher Verfassung. Was natürlich unter anderem der Tatsache geschuldet war, dass sie das Angebot des Sanitariums in Blue-Crab-Havenkonsequent wahrnahm und sich dort regelmäßigen Zellduschen unterzog.

Blue-Crab-Haven lag einige hundert Kilometer vom Dorf Horastede entfernt, ebenfalls an der Küste des Horischen Meeres, und war die einzige Großstadt auf Renova.

Mit regelmäßigen, raumgreifenden Schritten lief Tilly über den festen und etwas feuchten Sand des Meeressaums. Die Flut stand hoch, schäumende Wellenkämme rollten mit Macht über das geflutete Watt und schwemmten allerlei Meeresgetier auf den Strand. Hellbraune Seevögel wurden von der herannahenden Läuferin aufgeschreckt und erhoben sich widerwillig mit ärgerlichem Kreischen in die Luft. Der Horas sorgte für starke Gezeiten. Bei Ebbe zog sich das Wasser viele Kilometer weit ins Meer zurück. Im Moment befand sich der Gasriese zwar auf der anderen Seite von Renova, dennoch sorgte sein Gravitationsfeld auch auf dieser Seite des Mondes für Hochwasser.

Die Küstenlinie verlief jetzt in einem weiten Bogen nach rechts, also in westliche Richtung. Die Dünen waren hier flacher und wichen weiter ins Landesinnere zurück. Das Deichvorland bestand aus Salzwiesen, die zum Teil sumpfig und bereits vom Salzwasser überflutet waren. Deshalb wandte Tilly sich dem Binnenland zu und erklomm den flachen mit Gräsern und Schalklee bewachsenen Deich. Von der Deichkrone aus konnte man weit über das fruchtbare Marschland blicken, wo die Bauern von Horastede ihre Bolkschafe weideten und ganzjährig Silberwurz und Gerstklamm anbauten, aus dessen Körnerfrucht sie Brot und Klammkuchen backten. Auf dem Rücken trug Tilly einen silbernen Gravo-Tornister mit mehreren Fächern. Darin hatte sie ein paar haltbare und schmackhafte Spezialitäten als Mitbringsel für einen Freund verstaut, die sie zu Hause am Food-Printer repliziert hatte, weil es sie Horastede nicht gab.

Nach ein paar hundert Metern erreichte Tilly die Stelle, an der sich die breite Fahrrinne wie ein schnurgerader Priel vom Meer durch die Salzwiesen grub und an einem mächtigen Siel-Tor endete, das von den herandrängenden Wassermassen bereits geschlossen worden war. An der Landseite des Tors erstreckte sich der kleine See, wo sich der Hafen von Horastede befand. Fünf hölzerne Schiffe in unterschiedlichen Größen, aber allesamt Einmaster, waren an den beiden Stegen vertäut, ein weiteres war zum Ausbessern auf eine Helling gezogen worden.

Fischer und Kauffahrer tummelten sich auf den Stegen und auf dem kleinen Hafengelände, wo es ein paar Verkaufsstände und eine Schankwirtschaft gab. Schiffszimmerleute werkelten auf der Lastadie, wo offensichtlich an einem neuen Segler gearbeitet wurde, von dem bisher nur der vollständig beplankte Rumpf existierte. Andere hämmerten und sägten in ihren zur Hafenseite offenen Werkhütten. Die Rufe von Männern und Frauen und das Hämmern aus der Schmiede war bis hier oben auf dem Deich zu hören.

Tilly stieg an der steileren Landseite des Deichs hinunter und umrundete im Laufschritt den See und die Helling. Ein paar Frauen und Männer vom Schiffsvolk, die gerade keine Beschäftigung hatten, winkten grüßend zu ihr herüber. Andere betrachteten sie mit finsteren Blicken, die meisten aber ließen sich bei ihrem Werk nicht stören und beachteten die Ankommende nicht. Häufig ließ sich hier kein Besucher aus Blue-Crab-Haven blicken, und viele der Dorfbewohner kannten Tilly, denn sie kam an den seltenen Tagen, an denen sie frei hatte, gern hierher. Ein mit behauenen Steinen gepflasterter Karrenpfad führte von hier aus zum Dorf. Von Weitem konnte man die Torffeuer sehen, deren Rauch aus den Kaminen der niedrigen Häuser quoll.

Als sie das Dorf erreichte, ging Tilly langsamer. Erstaunt schritt sie zwischen zwei hölzernen Wachtürmen hindurch, die in einer Höhe von vielleicht vier oder fünf Metern durch einen Wehrgang miteinander verbunden waren. Soweit sie es von hier aus erkennen konnte, schien das ganze Dorf von hölzernen Palisaden eingefriedet zu sein. Die oben angespitzten Pfähle waren über drei Meter hoch. Das viele Holz musste von weit her aus dem Hinterland herangeschafft worden sein. Vielleicht war es sogar auf dem Seeweg hierher gelangt. Auf jeden Fall waren Wachtürme und Palisaden neu. Es befand sich allerdings niemand auf den Türmen, und überhaupt war keine Menschenseele am Tor zu sehen. Tilly schlenderte durch die Gassen und beobachtete das Treiben zwischen den Häusern, Ställen und Werkhütten und auf dem Marktplatz, in dessen Mitte sich ein runder, aus groben Steinen gemauerter Ziehbrunnen befand.

Das Leben im Marschland war für die meisten Familien zwar auskömmlich, aber nicht unbedingt leicht. Solide Steinhäuser waren selten. Einige der Hütten, überwiegend die der Fischer, waren aus Holz, aber die meisten Bauernhäuser hatte man beinahe steinzeitlich mit Blöcken aus Grassoden errichtet. Die Dächer bestanden aus Reet oder getrocknetem Seegras. So auch das Haus von Tillys altem Freund Keno.

Keno Rizos war ein Sohn von Rizo, dem ehemaligen Waffenmeister der sogenannten Agrianer, einer Sippe, die vor Jahrzehnten Krieg gegen einen anderen Clan geführt hatte. In einer Zeit, als sie alle diesen Mond, auf dem sie lebten, noch als Morgenwelt bezeichnet hatten. Einer Zeit, in der noch niemand von ihnen gewusst hatte, woher sie ursprünglich stammten. Keno war ein paar Jahre jünger als Tilly, aber im Gegensatz zu ihr, sah man ihm an, dass er ein Greis war. Das harte Leben in der Marsch und die primitive medizinische Versorgung durch den Wundheiler des Dorfes, der gleichzeitig Seiler auf der Lastadie war, forderten ihren Tribut.

Aber die Marschleute wollten es nicht anders. Ganz bewusst lebten sie das Leben ihrer Vorväter und -mütter. Von moderner Technik, vollautomatischen Häusern, Nahrungsmittel-Replikatoren und Raumschiffen, die zu fernen Welten reisten, wollten sie nichts wissen. Und sie waren nicht die einzigen. Es gab noch weitere solcher Siedlungen auf Renova, sowohl in der Harunebene als auch im Umland der ehemaligen Todeszone und an der alten Festung am Fuß der zerklüfteten Tenso-Berge.

Sie alle waren Abkömmlinge der Menschen, die sich damals dem Aufbruch ins Weltall verweigert hatten und stattdessen hiergeblieben waren. Viele von ihnen verspürten einen Hauch von Verachtung für die Bewohner von Blue-Crab-Haven und jene in den anderen kleinen, aber modernen Städten, die es im Binnenland und an den Küsten gab. Für die meisten von ihnen war es der einzige Kontakt zu moderner Technik, wenn sie einen der Patrouillengleiter beobachteten, die gelegentlich in großer Höhe Dorf und Hafen überflogen.

Aber nicht alle dachten gleich. Keno hielt zwar ebenfalls nichts von moderner Technologie – in dieser Hinsicht war er dogmatisch wie fast alle Dörfler – aber er mochte Tilly. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Und zwar seit Jahrzehnten; sie hatten ihre Kindheit gemeinsam verlebt.

Kenos Haus lag am Rand des Dorfes, an der dem Deich abgewandten Seite auf einer kleinen Warft, die er vor vielen Jahren selbst zusammengetragen und mit Steinen, Torf, Lehm und getrocknetem Gras verfestigt hatte. Damals, als seine Frau Dorida noch gelebt hatte. Als die gemeinsamen sechs Kinder noch klein, und die Eltern noch jung gewesen waren. Das Haus war niedrig, die Grassoden hatte Keno von außen mit Lehm verfugt, die Fenster waren, wie bei allen Häusern im Dorf, nicht mehr als schmale Schlitze, die er bei Sturm und Regen mit Stroh verstopfen konnte. Grauer Rauch stieg aus dem gedrungenen Kamin. Tilly dehnte ihren Oberkörper und atmete tief durch, bis sich ihr Puls ein wenig normalisiert hatte. Dann klopfte sie an die niedrige Holztür.

Statt sie zu öffnen, kam Keno von der Seite hinter einer Mauerecke hervor und schritt auf Tilly zu. Offenbar hatte er sich hinter dem Haus bei seinem kleinen Gemüsegarten aufgehalten. Auf seinem nach vorn gebeugten Rücken trug er eine aus getrocknetem Schilf geflochtene Kiepe, die mit gepressten Torfquadern gefüllt war.

„Tilly“, rief er erfreut. Der von grauen Barthaaren umrahmte Mund öffnete sich zu einem Lächeln. Die kleinen Augen, die von ebenfalls grauen, wildwuchernden Brauen beschattet wurden, blitzten in dem faltenreichen Antlitz.

„Keno.“ Tilly hob die Hand zum Gruß und ging auf den alten Freund zu. Seit sie ihn zum letzten Mal besucht hatte – das mochte gut fünf oder sechs Wochen her sein – schien er sichtlich gealtert zu sein. Gut möglich, dass sie den Freund in absehbarer Zeit verlieren würde. „Ich dachte mir, ich schau noch mal vorbei, bevor es los geht.“ Sie deutete mit der Hand hinauf in den grauen Himmel. Keno war in die übliche schmutzig-braune Tunika aus grob gewebter Bolkschaf-Wolle gehüllt und trug ebensolche Beinlinge und halbhohe Stiefel aus synthetischem Leder, das der örtliche Schuhmacher bei einem Kauffahrer zu erwerben pflegte, welcher mit seinem Ein-Mast-Segler regelmäßig zwischen Blue-Crab-Haven und Horastede pendelte. Eine dunkelgraue Gugel bedeckte Hals und Schultern, den Kapuzenteil hatte Keno jedoch nach hinten geklappt, sodass sein graues krauses Haar zu sehen war.

„Ach, es geht bald los?“, fragte der Mann. Er ließ seine Kiepe mit einem Ächzen neben seiner Haustür ins Gras fallen. „Warum du unbedingt da hinausmusst, in diese todbringende Kälte, werde ich wohl nicht mehr begreifen.“ Kenos Stimme war im Laufe der Jahre immer höher und weicher geworden, wie es bei alten Männern oft der Fall war. Tilly zuckte mit den Schultern.

„Dafür verstehe ich ganz gut, was dir an Horastede gefällt“, entgegnete sie. „Ein Leben wie im Heimatmuseum“, fügte sie lachend hinzu und machte eine kreisende Armbewegung in Richtung des Siels und des Hafens. Keno beantwortete die ironische Bemerkung mit einer Geste, die einen Kinnhaken imitierte.

„Aber komm erst mal rein in die gute Stube“, forderte Keno sie auf. „Ein warmer Becher Würzwein zur Stärkung wird dir nach dem langen Weg guttun.“ Er öffnete die Tür, die ihm selbst nur bis zu den Schultern reichte, obwohl er sich ohnehin grundsätzlich nach vorn gebeugt fortbewegte.

„Wenn´s dir nichts ausmacht, alter Freund“, sagte Tilly, „ich würde gerne noch ein bisschen die frische Luft genießen. Der Wind vom Meer tut gut. Und ein Becher mit klarem Wasser würde mir durchaus genügen.“ Sie wusste, dass ihr Freund immer nur sehr wenig von diesem edlen Tropfen – der ihr persönlich überhaupt nicht schmeckte – bevorratete, und diesen nur für liebe Gäste bereithielt. Der Rebensaft kam über verschiedene Handelswege aus einer Region mit relativ hohem Sonnenstand beinahe tausend Kilometer von hier entfernt, und war dementsprechend teuer. Zwischen dem Anbaugebiet und Horastede waren mehrere Flussläufe und ein nicht allzu hoher Gebirgszug zu überwinden, und außerdem rotteten sich in dem unwegsamen Gelände immer wieder räuberische Banden zusammen, derer die Aufsichtsbehörden aus der Hauptstadt nur schwer habhaft werden konnte, weil es sich eigentlich um Bauern handelte, die nach einem erfolgreichen Raubzug sofort wieder auf ihren Höfen untertauchten.

Deshalb mussten die fahrenden Händler bewaffnete Söldner beschäftigen, die sie auf ihren Handelsreisen beschützten, was die Güter, wie zum Beispiel den Wein, sehr teuer und wertvoll machte.

„Wie du willst“, sagte Keno, „dann setz dich nur schon mal auf die Bank, ich komme gleich.“ Daraufhin verschwand er mit seiner Kiepe im Haus. Tilly schlenderte zu einer niedrigen Bank, die ein paar Meter vom Haus entfernt am Rand der Warft stand, und von wo aus man einen guten Blick sowohl auf das Dorf und den Deich als auch weithin über das flache Marschland mit seinen Feldern und Grachten hatte. Ihr war etwas aufgefallen, wonach sie den Freund befragen wollte. Seufzend nahm sie auf der Bank Platz und legte die Tasche neben sich ab.

Das grob gefertigte Sitzmöbel bestand aus dem preiswerteren Sirisholz, das ganz in der Nähe wuchs. Es splitterte leicht und hielt Wind und Wetter weitaus weniger stand als die hochwertigeren, robusten Stämme des Tulabaums, die dem Schiffsbau vorbehalten und schwieriger zu beschaffen waren, weil sie von weiter her aus den Wäldern jenseits des Hochmoors beschafft werden mussten.

Tilly blickte sich um und betrachtete die Kolonne von Dörflern, die mit Schubkarren Steine und Lehmquader zu einer Baustelle am Rande des Dorfes hinter Kenos Haus beförderten. Dort waren andere Frauen und Männer damit beschäftigt, eine Art Wall zu errichten, der bereits hundert Meter lang war, oder sogar länger. Nachdenklich strich sie mit der linken Hand über den rechten Ärmel ihrer Kombination. Der elastische Stoff aus hochwertiger Kunstfaser, den Tilly trug, transportierte den Schweiß von ihrer Haut nach draußen und neutralisierte gleichzeitig unerwünschte Bakterien und Salzkristalle.

„So, hier kommt die Erfrischung“, verkündete Tillys Freund, der gebeugt, aber mit festen Schritten aus der Tür trat. Er trug zwei Becher in den Händen und reichte einen davon Tilly. Das Trinkgefäß bestand aus Steingut und war zu zwei Dritteln mit Wasser gefüllt. Keno selbst hatte für sich einen klobigen Becher aus Holz gewählt.

„Danke“, sagte Tilly und nahm das Getränk entgegen. Keno setzte sich mit einem Ächzen neben sie. „Ja, das ist ein guter Platz“, sagte er. „Dorida hat immer gern hier gesessen. Besonders in ihren letzten Jahren.“ Tilly konnte die Trauer ihres Freundes spüren, die nach so langer Zeit noch immer greifbar war. Und sie glaubte in seinen Augen einen feuchten Schimmer zu entdecken.

„Sag mal, was machen die Leute da?“, fragte Tilly, nicht nur um das Thema zu wechseln, und deutete zu den Männern und Frauen, die am Wall arbeiteten. Es waren bestimmt vierzig oder mehr Dörfler, und mindestens noch einmal so viele sorgten für Nachschub an Material.

„Ach richtig, das weißt du noch nicht“, antwortete der alte Mann. „Horastede wird eingefriedet. Wir müssen uns wappnen. Du hast das Tor und den Zaun gesehen.“

„Ja, habe ich. Aber das habt ihr doch all die Jahre nicht gebraucht.“ Tilly war ehrlich überrascht, denn bisher hatte es nie einen Grund für derlei Sicherheitsmaßnahmen gegeben. „Aber jetzt“, sagte der Mann und machte ein verdrießliches Gesicht. „Frag Tamme, was ihm die Späher berichtet haben.“ Tamme Sorbens war der Bürgermeister von Horastede, ein verhältnismäßig junger Mann, den Tilly nur flüchtig kannte. Sorben, seinem Vater, war Tilly früher öfter begegnet.

Als sie den Freund fragend anblickte, berichtete er weiter. „Es gibt ziemlich eindeutige Anzeigen dafür, dass die Agrianer von Westerstedt aufrüsten. Sie haben innerhalb weniger Monate mehr als hundert Söldner und Bauernkrieger rekrutiert, und ihre Schmiedefeuer brennen Tag und Nacht in den Essen.“

Mit so etwas hatte Tilly nicht gerechnet. Abgesehen von seltenen kleinen Überfällen auf fahrende Händler im Hinterland hatte sie nie etwas von ernsthaften Konflikten unter den einzelnen Dörfern und Bauernschaften gehört. Sie merkte, dass sie Keno eine Weile mit offenem Mund angestarrt hatte. „Aber warum meldet ihr das nicht dem Rat? Eine Einheit des Aufsichtsbehörden oder ein Vertreter der Ranger kann das ganz schnell aufklären.“ Keno blickte sie aus seinen grauen Augen unter den wilden Augenbrauen eindringlich an.

„Du weißt, dass eine Einmischung von außen für uns nicht in Frage kommt. Und selbst wenn ich mir sowas wünschen würde, Tamme Sorbens hat da eine klare Haltung.“ Tilly war bekannt, dass der Bürgermeister von Horastede so etwas wie ein Häuptling war. Er war zwar von den Ältesten gewählt worden, hatte aber umfassende Befugnisse.

„Hm…“, brummte Tilly. „Und ihr seid sicher, dass sich die Aktivitäten von Westerstedt gegen euch richten? Ich meine, es kann ja auch ganz andere Gründe haben, dass sie Waffen herstellen.“ Ein solcher anderer Grund fiel ihr allerdings selbst nicht ein. Die RegionWesterhammenim Binnenland lag der Nachtseite von Renova am nächsten. Und die Grenze der Nachtseite verschob sich. Sie rückte näher. Extrem langsam zwar, aber ihr Mond rotierte. Früher hatten sie alle angenommen, Tages- und Nachtseite von Renova würden dauerhaft gleichbleiben. Diesen Eindruck konnte man gewinnen, weil sich über Jahre hinweg nichts deutlich veränderte.

Darum hatten sie ihre Heimat früher Morgenwelt genannt: Weil in der Region, in der sie gelebt hatten, ein ständiger Morgen herrschte, die Sonne immer zwei bis drei Hand breit über dem Horizont stand. Weil es sich bei Renova um einen Mond des HORAS handelte, der diesen als Trabant zwar umkreiste, der Sonne jedoch dabei immer dieselbe Seite zuwandte. Darum veränderte sich weder in Blue-Crab-Haven noch in Horastede oder jeder anderen Siedlung auf Renova der Sonnenstand. Lediglich der Gasriese HORAS wanderte in einem festen Intervall über den Himmel und verdeckte regelmäßig für eine gewisse Zeit die Sonne, wenn das nicht, wie im Moment, die Wolken ohnehin taten.

Aber schon vor Jahren hatten Messungen ergeben, dass sich die Klimazonen unendlich langsam veränderten. Es waren in Gebieten Schneefälle aufgetreten, in denen es zuvor so etwas nie gegeben hatte. Die Zone, in der keine Vegetation gedieh, und wo Wasser zu Eis wurde, kroch unfassbar langsam, aber unaufhaltsam über Renova. Innerhalb von zehn Jahren hatte sich die Nachtseite um mehr als zwei Kilometer den besiedelten Gebieten genähert.

Wann das ewige Eis die ersten bewohnten Gegenden erreichen würde, war also absehbar. Sicher waren es bis dahin noch Jahre, aber das Land in der Übergangszone würde schon früher von Ernte zu Ernte schlechtere Erträge hervorbringen. Also war es nur eine Frage der Zeit, wann sich die betroffene Bevölkerung nach Alternativen umsehen musste.

Tilly musste sich eingestehen, dass sie sich über das Problem bisher kaum ernsthafte Gedanken gemacht hatte. Denn die meisten Siedlungsgebiete auf der Tagseite würde das Problem in frühestens hundert Jahren betreffen. Blue-Crab-Havenaller Wahrscheinlichkeit nach sogar erst in über vierhundert Jahren. Die ganze Stadt hatte man ohnehin als riesenhafte Wabenkonstruktion erbaut. Wohn-, Verwaltungs- und Geschäftskomplexe waren gigantische Dodekaeder, die beliebig miteinander kombiniert werden konnten und aus ultraleichtem Duramitron-Kunststoff bestanden. Man würde sie, zwar mit nicht unbeträchtlichem Aufwand, aber weitaus besser als feste Bauten, unter Zuhilfenahme von Kraftfeldern an einen beliebigen anderen Ort verlegen können, wenn dies irgendwann erforderlich werden würde.

Die gesamte Zivilisation von Renova würde mit ihrer Besiedlung vermutlich im Laufe von Jahrtausenden, Nomaden gleich, um den ganzen Mond herumwandern müssen, während hinter ihnen ehemalige Siedlungen, Städte, Häfen, Äcker und Wälder unter einem Eispanzer in jahrhundertelangem Dauerfrost mit Temperaturen von minus vierzig Grad Celsius und mehr versanken und sich gleichzeitig vor ihnen neue, fruchtbare Landschaften aus dem Eis herausschälten Und dieses Schicksal drohte den Westerstedtern bereits in wenigen Jahren. Kein Wunder, dass sie sich darüber Sorgen machten. Aber dem konnte man Abhilfe schaffen. Man musste nicht über Krieg nachdenken. Natürlich würde der Rat diesen Menschen bei der Umsiedlung behilflich sein.

Tilly und Keno hatten eine Weile geschwiegen und hinaus auf die grüne Landseite des Deichs geblickt. Über dem Siel und dem Hafen kreisten ein paar hellbraune Seevögel, sogenannte Maravis, und gaben kreischende Laute von sich. „Welche anderen Gründe sollte es für diese Aufrüstung geben?“, fragte Keno und trank ein paar Schlucke aus seinem Becher. Er schaute Tilly dabei nicht an.

„Wir können euch helfen“, erwiderte Tilly. „Der Rat wird es nicht dulden, dass es auf Renova zu Blutvergießen kommt. Über dieses Zeitalter sollten wir wohl hinaus sein. Die Ressourcen von Blue-Crab-Haven reichen für alle. Du weißt genau, dass in den Versorgungszentren so viel Nahrungsmittel und jedes andere Material, das sich ein Bewohner nur wünschen kann, im Überfluss repliziert werden kann. Ihr müsst hier nicht …“

„In einem Heimatmuseum leben, ich weiß schon“, unterbrach Keno ihren Redefluss. „Und ich wiederhole: Du wirst mich nicht davon überzeugen, auf meine alten Tage ein Vasall eurer positronischen Maschinen zu werden. Wenn ihr uns zwingen wollt, müsst ihr uns einsperren.“ Tilly versuchte, den Blick des alten Freundes zu ergründen, und kam zu dem Schluss, dass er nicht ernsthaft verärgert war. Seine Augen blitzten angriffslustig und gleichzeitig freundlich. Sie trank einen Schluck Wasser und legte ihre freie Hand auf Kenos. „Bis das Eis nach Westerhammen kommt, dauert es noch lange“, sagte sie. „Es ist also noch Zeit. Aber du musst mir versprechen, wenn es zu Übergriffen von irgendeiner Seite kommt, wendest du dich an mich. Ich kenne Leute, mit denen zusammen wir eine gute Lösung finden werden.“ Sie fixierte seine Augen. „Versprochen?“, hakte sie nach. Keno antwortete nicht, aber er brummte in seinen Bart und nickte einmal kurz. Sie beendeten das Thema. Hoch über dem Meer zog ein silbrig glänzender Transportgleiter seine Bahn Richtung Hauptstadt.

Schräg hinter ihnen, jenseits der Warft, waren weiterhin die Arbeiten am Verteidigungswall in vollem Gange. Hämmern, Sägen und Rufen wehten zu ihnen herüber. Was dort entstand, sah aus wie ein zweiter Deich, nur etwas niedriger und steiler als der Seedeich, und natürlich war er bisher noch nicht begrünt. Soweit Tilly wusste, besaßen die Westerstedter keine Schiffe; sie lebten weitab des Meeres. Wenn sie kommen würden, dann von der Landseite her, über diesen Wall. Während das Meer gegen den anderen Deich anstürmte.

Sie saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander. Tilly und Keno hatten schon immer gut miteinander schweigen können. Es wurde nicht Abend. Es gab keine Dämmerung. Die Sonne wurde weiterhin von den Wolken verdeckt. Der Seewind blies ohne Unterlass. Auf dem Marktplatz unter ihnen wimmelte das Dorfleben. Im Hafen wurde ein Schiff mit Kisten und Fässern beladen. Wahrscheinlich würde man es mit dem ablaufenden Wasser aus dem Siel rudern und draußen im Priel die Segel setzen. Tilly war es, die irgendwann das Schweigen brach.

„Ich hab Hunger, mein Alter“, sagte sie. „Wollen wir reingehen und was essen?“ Keno blickte auf die Tasche, die neben Tilly auf der Bank lag.

„Was hast du denn da wieder für ein Zeug angeschleppt? Sicher wieder sowas Exotisches.“ Er grinste, und dabei bekam er noch mehr Falten, und seine Augen wurden zu Schlitzen. Tilly wusste, dass Keno einer Abwechslung zu seiner gewohnten Bolak-Rübensuppe und zum Körnerbrei nicht abgeneigt war, und die schmackhaften Leckereien aus einem Replikator durchaus zu schätzen wusste. Vor allem das Synthocarn, welches von einem echten Rhinohirsch-Filet oder der Keule eines Feldgrindels, die sie früher auf dieser Welt gejagt hatten, weder geschmacklich noch in der Konsistenz zu unterscheiden war.

„Okay, wenn du solchen Hunger hast“, sagte Keno, „dann lass uns reingehen. Und jetzt mach ich uns doch einen schönen heißen Würzwein mit Silbernelken.“ Die beiden erhoben sich von der Bank, und am anderen Ende des Dorfes wurde gerade eins der Holzschiffe vom Anleger in Richtung Siel-Tor gerudert, das sich inzwischen durch den Sog des ablaufenden Wassers geöffnet hatte. Jenseits des Tors, draußen im Priel, würde das Schiffsvolk die Segel setzen und in See stechen.

 

 

2

 

Der kleine Gleiter senkte sich langsam mit leisem Summen auf das Dach eines der großen zwölfflächigen Gebäudemodule der Raumflotten-Verwaltung. Das weitläufige Wabensystem fußte oberhalb der Steilküste in etwa zwanzig Metern Höhe und erhob sich von dort aus um mehrere Stockwerke weiter empor. Die Stadt Blue-Crab-Havenerstreckte sich über knapp sieben Kilometer entlang der Küste, sowohl oberhalb als auch unterhalb der naturbelassenen Steilküste. Der untere Teil der Stadt wurde durch einen künstlichen Deich mit einem integrierten Gezeitenkraftwerk gegen die Meeresfluten geschützt, und war durch mehrere Aufzugssysteme mit der Oberstadt verbunden.

Die Straßen zwischen den Häuser-Waben wimmelten vor Menschen, Bots und Fahrzeugen, die teilweise am Boden fuhren und teilweise durch die Luft schwebten. Ein immerwährendes unüberschaubares Schwärmen, das doch einer unsichtbaren Ordnung folgte. Zwischen vielfarbigen Gebäuden, Plätzen und Straßen gab es überall Grünanlagen, die sich zum Teil auch vertikal an Hausfassaden klammerten, spiralförmig emporwanden und auf Dächern fortsetzten. Die Schwerkraft schien in Blue-Crab-Haven keine große Rolle zu spielen.

Als die ovale Tür des Gleiters nach oben schwang, kletterte Tilly die schmalen Metallstufen hinunter und beendete mit den Fingerspitzen auf ihrem Multi-Kom am Handgelenk den Transportauftrag. Der Gleiter erhob sich und schwirrte davon. Tilly betrat den Gravo-Lift. Kurze Zeit später schritt sie durch einen transparenten Flur, durch dessen Wände hindurch man sowohl in alle angrenzenden Räume blicken als auch den bewölkten Himmel und die umgebende Stadt sehen konnte. Männer und Frauen in Overalls mit unterschiedlichen Farben, die ihr begegneten, nickten ihr freundlich zu. Ein paar nahmen sogar für einen kurzen Moment Haltung an. Denn Tilly Narbeths war die technische Leiterin der Abteilung für Raumaufklärung und Erkundung, und das schon seit mittlerweile vierzehn Jahren.

Es hatte sich verdammt viel getan, seit sich die Besatzung des Schiffs ohne Namen nach dem erfolglosen Versuch, Terra zu finden, dafür entschieden hatte, sich fest auf der Morgenwelt anzusiedeln. Neunundfünfzig Jahre war das jetzt her. Eine lange Zeit, und dennoch kaum mehr als ein Wimpernschlag, wenn man bedachte, wie die Gesellschaft auf Renova seither aufgeblüht war, und welchen technischen Fortschritt sie vollbracht hatte.

Tilly unterstanden acht schnelle Langstrecken-Boote der Falcon-Klasse, eine sogenannte Flottille. Somit durfte sie sich Flottillen-Admiralin nennen. Die Dienstgrade hatten die Renovianer aus der Tradition der ehemaligen Solaren Föderation von Terra übernommen, wie so viele andere Begriffe auch. Unter anderem die Entfernungsangaben in Metern und Kilometern, sowie die Zeitrechnung, die den Tag in vierundzwanzig Stunden einteilte und das Jahr in dreihundertfünfundsechzig Tage. Da es auf Renova keinen Tag-und-Nacht-Rhythmus gab, der sich für eine neue Zeiteinteilung eignete, hatten sich die terranischen Maßeinheiten angeboten. Allerdings galt der Tag, an dem sich das erste renovianische Parlament konstituierte, als Beginn einer neuen interstellaren Ära. Demnach schrieb man im Aldemarin-System aktuell das Jahr 59 NAZ, was für Neue Aldemarin-Zeit stand.

In der Gründungszeit von Blue-Crab-Haven hatte es im neuetablierten Parlament Bestrebungen gegeben, den Umlaufzeitraum von Renova um seinen Mutterplaneten HORAS zur Grundlage einer lokal angepassten Zeiteinteilung zu machen, aber das hatte zu vielen Missverständnissen geführt und in der Bevölkerung keine Akzeptanz gefunden.

Viele der damaligen Besatzungsmitglieder des SchiffsohneNamen – von ihnen lebte heute kaum noch jemand – stammten ursprünglich von Terra, und an Bord der Föderationsraumschiffe hatte man sich damals ebenfalls an der Terrazeit orientiert.

Uhrzeit dachte Tilly konzentriert, und der Kortikalnode in ihrem Gehirn übertrug die exakte Terrazeit an die Sehnerven, die ihrerseits für ein paar Sekunden leuchtende Ziffern auf Tillys Netzhäute projizierten: 18.22. Der Sonnenstand entsprach jedoch exakt dem von vor einigen Stunden. Der permanente Tag und die fehlenden Winter machten Renova zu einem Himmelskörper, auf dem die Agrar-Techniker das ganze Jahr über anbauen und ernten konnten.

Tilly betrat ihr Büro. Es war nicht besonders groß und beinhaltete außer einem halbrunden durchsichtigen Schreibtisch, der fest mit dem dazugehörigen Sitzmöbel verbunden war, lediglich zwei Wände, die vollständig aus dreidimensionalen Projektionsflächen bestanden. Leise schmeichelnde Musik ertönte und eine Gruppe holografischer Schmetterlinge flatterte schillernd durch den Raum. Ein holografischer Mini-Wasserfall plätscherte in einen kleinen holografischen Teich mit bunt schillernden holografischen Fischen, der von holografischen Natursteinen eingefasst war.

„Guten Abend, Tilly“, sagte eine weiche weibliche Stimme. „Wie war dein Ausflug?“

„Ganz okay“, antwortete Tilly kurz angebunden.

„Kann ich irgendetwas für dich tun?“ fragte der unsichtbare Service-Bot.

„Nein, danke.“ Tilly legte ihren Tornister, den sie auf dem Rücken getragen hatte, neben dem Sessel ab. Ihr lag nichts an einem Small-Talk mit dem bio-positronischen Home-Net, aber es hatte sie bisher noch nicht genügend gestört, um die werksseitige Begrüßungsfunktion dauerhaft zu löschen.

Keno hatte darauf bestanden, ihr zwei der rustikalen Graubrote mitzugeben, die der Bäcker von Horastede aus geröstetem Gerstklamm herstellte. Und die schmeckten tatsächlich – das musste man zugeben – besser als ähnliche synthetische Produkte aus dem Foodprinter.

Tilly ließ sich auf dem Sessel nieder, der ihrem Druck nachgab, und sich leicht nach hinten neigte, und legte die Füße auf der dafür vorgesehenen Polsterfläche ab. Die Schreibtischplatte rückte automatisch näher und passte sich ihrer Position an.

Auf ihren Termin um 18.30 Uhr freute sie sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen war das neue Schiff mit Namen RENA – auf diesem Namen hatte sie bestanden – so gut wie einsatzbereit. Es lag zwar noch immer in der orbitalen Werft in etwa dreihundertzehn Kilometern Höhe, hatte aber schon erste Testflüge absolviert. Zum anderen freute sie sich darauf, Cyrana zu sehen, die Chefkonstrukteurin der Werft. Dass Tilly dem Treffen neben aller Vorfreude auch mit einer gewissen Grundnervosität entgegensah, war der Tatsache geschuldet, dass sie über mehrere Jahre mit Cyrana Thonkrats zusammengelebt hatte. Um es genau zu sagen, hatte ihre Beziehung sechs Jahre, vier Monate und zwei Tage gedauert.

Das Aus war nun zwar auch schon ein paar Jahre her, aber wie so oft nach dem Ende einer Liebe, entstand jedes Mal, wenn Cyrana und sie zusammentrafen, eine gewisse Spannung zwischen ihnen, eine seltsam schmerzhafte Mischung aus Zuneigung und Verbitterung. Die Luft im Raum schien dann regelrecht zu vibrieren. Zumindest war das Tillys Eindruck, denn sie war es schließlich nicht gewesen, die für die Trennung verantwortlich war. Das war Resto Lumbrechts, ein Agrar-Ingenieur aus dem Fachbereich Hydroponik gewesen, in den Cyrana sich verguckt hatte. Ein Mann! Cyrana war da offenbar sehr flexibel, was Tilly all die Jahre zuvor nicht aufgefallen war.

Der Altersunterschied von knapp dreißig Jahren hatte zwischen ihnen nie eine Rolle gespielt, und Tilly glaubte auch nicht, dass das der Grund für Cyranas Neuorientierung gewesen war. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Tilly vor der Zeit mit Cyrana lange Jahre allein gelebt hatte. Irgendwie war es wohl immer ein Risiko, nach so langer Zeit eine neue Beziehung einzugehen. Es schleichen sich Marotten ein. Obwohl Tilly sich nicht vorstellen konnte, welche das bei ihr gewesen sein sollten. Vielleicht hatte Cyrana auch irgendwann gespürt, dass Tilly sich in ihrer Beziehung nie wirklich auf Wolke sieben gesehen hatte. Die Beziehung war für sie angenehm gewesen, befriedigend, aber auch bequem. Es hatte sich wie zu Hause angefühlt, aber nicht aufregend, wenn man von den Monaten der ersten Verliebtheit absah. Nicht so wie damals …

Klar, damals mit Ulianna … Es war die Zeit gewesen, als es nur die beiden Clans auf der Morgenwelt gegeben hatte. Als sie alle noch nicht gewusst hatten, was ein Raumschiff ist.

Tilly war sechzehn Jahre alt gewesen. Sie hatten damals noch nicht das Artefakt gefunden, das sich als riesiges Raumschiff entpuppt hatte, hatten noch nichts geahnt von fremden Welten, und dass sie ursprünglich gar nicht von hier stammten, dass eine fremde Lebensform sie gegen ihren Willen auf die Morgenwelt gebracht hatte, um zu spielen, um sie zu beobachten wie Ameisen in einer Ameisenfarm.

Chiaraner und Agrianer hatten sich misstraut, hatten in getrennten Dörfern gelebt, obwohl sie alle denselben Ursprung hatten. Die Alten hatten ihnen die schlimmsten Horrormärchen über die Angehörigen des jeweils anderen Clans erzählt. Es hatte sich ein Krieg angebahnt, und das oberste Gebot im Clan der Agrianer, zu dem auch Tilly und Ulianna gehörten, war die Fortpflanzung gewesen. Sie mussten so viele wie möglich sein, Krieger aufziehen, um eines Tages für den „großen Kampf“ gerüstet zu sein.

Aber zu dem Zweck hätten auch Tilly und Ulianna, die sich seit der Kindheit kannten und liebten, mit Männern vereinigt werden sollen. Was ihnen beiden jedoch unvorstellbar erschienen war. Sie waren geflohen.

Tilly lehnte sich noch weiter in ihrem Sessel zurück, schloss die Augen und seufzte. Als sei es gestern gewesen, sah sie die mit farnähnlichen Pflanzen überwucherte Hügelkette und die weitläufige Harunebene mit einzelnen, weit auseinanderstehenden Baumgruppen. Und sie sah Uliannas Gesicht, hellbraun, fast bronzefarben wie bei allen, die auf der Morgenwelt geboren waren. Sie sah Uliannas lange seidige Wimpern und die Augen, die aussahen wie zwei feuchte Murmeln aus Bernstein.

 

 

3

 

„Zusammen auf ewig“, sagte Ulianna.

„Zusammen auf ewig“, sagte auch Tilly. Uliannas Gesicht war ganz nah bei ihr, ebenso wie der liebliche Duft, der an die reifen Blüten des Zirbelkrauts erinnerte, das man in üppiger Fülle auf dem Lymbianischen Hochplateau oberhalb der Stadt fand.

„Komm, weiter“, sagte dann Ulianna, und sie beide machten sich wieder auf den Weg. Beide trugen die für ihre Altersgruppe üblichen braunen Jagdröcke aus dem weichen Leder des Feldgrindels. Außer ihren großen Tourenrucksäcken hatten sie die Langbogen geschultert, und an den Hüftgürteln baumelten, neben kleinen Leinensäckchen mit haltbarem Hartbrot, unterarmlange Jagdmesser in braunen Lederfutteralen.

Sie liefen mit großen Schritten, aber ohne Hast den flachen Hang der mit farnähnlichen Pflanzen bewachsenen Hügelkette hinunter, und vor ihnen breitete sich die ausgedehnte Harunebene aus.

„Wenn wir den Lorrbach erreichen, bevor der große HORAS aufgeht, können wir gut unsere Spuren verwischen“, sagte Tilly, die von den beiden die Anführerin war. Sie trug ihre rotblonden Haare zu mehreren Zöpfen geflochten, die hinter dem Kopf ineinander verknotet waren.

Am Fuß des Hangs angekommen fielen sie in einen lockeren Laufschritt, der sie im Slalom um verschiedene Gruppen von Kamisiobüschen und Tulabäumen herumführte. Als Ulianna ein wenig hinter ihr zurückblieb, drehte Tilly sich im Laufen zu ihr um.

„Bist du müde?“

Ulianna schüttelte den Kopf. Die langen, fast schwarzen Haare wurden von einer warmen Windbö aus Osten verwirbelt. Ihr Gesicht wirkte mutlos und zweifelnd.

„Was ist los mit dir, Liebste?“, fragte Tilly. Sie verlangsamte ihre Schritte, bis Ulianna aufholte. „Machst du dir Sorgen?“

Ulianna schüttelte wieder den Kopf, sagte aber dann: „Wie stellst du dir das denn in Zukunft vor? Wo sollen wir wohnen? Was sollen wir essen?“

Sie erreichten jetzt den baumlosen Teil der Harunebene, die sich fast bis zum Horizont erstreckte. Im fernen Dunst erhoben sich die Ausläufer des Kesharrgebirges.

„Ich dachte, das hätten wir besprochen, Ulianna“, sagte Tilly erstaunt. „Bist du nicht mehr sicher? Was haben wir für eine Wahl?“ Tillys Atemfrequenz hatte sich mittlerweile deutlich erhöht. Ulianna ging es offenbar nicht anders. Sie waren geübte Läuferinnen, aber schließlich schon seit Stunden unterwegs.

Tilly blieb abrupt stehen. Sie war aufgewühlt. Ulianna lief noch ein paar Schritte und drehte sich dann zu ihr um. Schwer atmend schaute sie Tilly aus tiefgründigen, feucht schimmernden Augen an.

„Liebste“, sagte Tilly und ging langsam auf Ulianna zu. „Welche Alternative haben wir denn? Wie können wir sonst zusammen sein? Der Kodex macht uns unglücklich. Das weißt du.“

„Ja, das weiß ich“, entgegnete Ulianna und legte ihre Hände auf Tillys Schultern. „Sei nicht böse, ich will nur dich. Lass uns weitergehen. Der große HORAS geht bald auf.“

Tilly drückte Ulianna an sich und küsste sie auf beide Wangen. Durch die Kleidung spürte sie die erhitzte Haut der Freundin.

„Dann komm“, sagte sie und lief los. Nach einiger Zeit erreichten sie das Bett des Lorrbachs, der sich in vielen Windungen durch die Ebene schlängelte. Der Bachlauf war an dieser Stelle drei Mannslängen breit und hatte eine starke Strömung. Dafür war er aber kaum knietief. Sie kletterten über große, runde Steine und stiegen vorsichtig mit ihren Stiefeln ins Bachbett. Der Untergrund war eben und bestand aus kleinen Kieseln, und da das Wasser nicht einmal bis an den oberen Rand ihrer Schaftstiefel reichte, konnten sie bequem hindurch waten, ohne dass die Strömung ihnen etwas anhaben konnte.

Sie folgten dem Bach für etwa vierhundert oder fünfhundert Mannslängen und kletterten dann ans gegenüberliegende Ufer.

Tilly lächelte erleichtert, als sie sich umdrehte und in der Richtung, aus der sie gekommen waren, keine Wächter ausmachen konnte.

„Wir schaffen es“, sagte sie zuversichtlich und ergriff Uliannas Hand. Die lächelte ebenfalls und nickte dabei.

„Da, schau“, sagte sie. Über den Horizont erhob sich die mächtige Wölbung des großen HORAS, der von breiten orangeroten und gelben Streifen überzogen war. Die mächtige Scheibe würde in kurzer Zeit höher steigen und dann für eine Weile die Sonne verdecken, die stets reglos zwei bis drei Handbreit über dem Horizont verharrte. Schon immer. Dann würde es etwas dunkler werden, aber nicht sehr. Wirkliche Dunkelheit gab es in der Morgenwelt nie. Die Morgenwelt war der Ort, an dem sie lebten und der sie ernährte. Und Tilly hoffte von Herzen, dass die Morgenwelt das auch für sie beide tun würde. Wenn sie ab jetzt ganz allein waren, ganz auf sich gestellt.

„Wenn wir da hinten …“, Tilly deutete in Richtung der Berge. In einiger Entfernung endete die baumlose Ebene und es begann lichter Wald, „… die Bäume erreichen, werden sie uns nicht mehr finden.

---ENDE DER LESEPROBE---